Jungs, hier kommt der Masterplan!

Ihr eigenes Engagement verortet sie nahe der „mutigen Architektin und kommunistischen Widerstandskämpferin Margarete Schütte-Lihotzky“, deren Freundin sie lange war: „Ihre Rolle als politische Architektin ist Vorbild“. Als praktizierende, lehrende, publizierende und aktivistisch eingebundene Architektin ist es Gabu Heindl am öffentlichen wie auch bewohnten Stadt-Raum gelegen. Mit „Stadtkonflikte“ erschien kürzlich ein Buch, das an ihrer radikalen Position keinen Zweifel lässt, am Funktionieren demokratischer Konzepte aber schon.

Gabu Heindl, Can Gülcü, Installation zum öffentlichen Grünraum „Freie Mitte“ am Nordbahnhof, Wien 2017. Foto Michael Krebs

Das mit knapp 500 Fußnoten gespickte Kompendium liest sich als philosophisch-wissenschaftliche Abhandlung und Manifest zugleich, dabei muss Demokratie nicht – und kann auch nicht – radikal gegründet werden: „Wir können uns einer demokratischen Gesellschaft nur durch eine Pluralität von Demokratisierungsakten nähern.“ (Ernesto Laclau)

Kritiker*innen auf den Plan gerufen
Ganz allgemein ist Stadtplanung mit der kapitalistischen Ökonomisierung von Gesellschaft konfrontiert: Planung wird geprägt, bestärkt, auch begrenzt, gar durchkreuzt von dogmatischen Imperativen des Wirtschaftswachstums. Stadtkonflikte sind Teil der vielfältigen aktuellen politischen und sozialen Konflikte weltweit. Zu den Brennpunkten urbaner Kämpfe zählen die Privatisierung von öffentlichem Raum, städtischem Boden und Allgemeingütern, die Kapitalisierung von Wohnraum bis hin zu ganzen Stadtteilen. „Dabei wird in großem Maßstab enteignet: Menschen verlieren – und zwar durch gezielte herrschaftspolitische Maßnahmen – Rechte, Freiheiten und Sicherheit (etwa Wohnsicherheit), sie verlieren Möglichkeiten zur Teilhabe an der Stadt“ kritisiert die Autorin. „Die Politiken, die der Kapitalakkumulation zuarbeiten, werden weiter daran gehen, städtischen Raum in ihrem Sinn umzuwandeln, solange keine politische Kraft dagegenhält.“

Gabu Heindl sorgt die Tatsache eines (zeitweiligen, ambivalenten) Erstarkens des Staates, angesichts der bis vor Corona unvorstellbaren „Koste es, was es wolle“-Politik, und betont, dass es nun umso mehr um kritische Reflexion der Zuschreibung „staatlich“ bzw. „kommunal“ gehe, sowie um einen Einspruch dagegen, dass eine kollektivistische, am öffentlichen Gemeinwohl orientierte Politik auf den Protektionismus eines nationalen Wirtschaftsraums reduziert wird. Gut erschlossener Stadtraum sei zum Investitionsstandort für jenes Kapital geworden, das durch fehlende Besteuerung von Krise zu Krise wächst und sich in Form jenes Eigentums an urbanem Raum manifestiert, das nicht für dessen Nutzung gedacht ist, sondern als gebaute Form gestapelter Aktien und Sparbücher.

Politik, Planung und Popular Agency
Ihre Kritik gilt der Politik, die derartige neoliberale Instrumente ermöglicht. Die Autorin attestiert eine massive Demokratiekrise, so werde diese bedrängt und abgebaut durch Machtübernahmen, die sich mit Begriffen wie rechtspopulistisch oder nationalautoritär – „womöglich auch mit dem drastischen Wort Faschisierung“ – bezeichnen lassen. Für den Aufbau des Buchs wird von der gängigen und für neoliberale Stadtplanung synonym gewordenen Abkürzung PPP für Public Private Partnerships ausgegangen. Dem setzt Gabu Heindl andere, oppositionelle „P“s entgegen: Anstelle eines Public, das hier Öffentlichkeit als top-down planend oder aber Planungsverantwortung abgebend meint – als eine Form von Öffentlichkeit, die sich unternehmerisch missversteht und somit selbst abschafft –, nämlich an Private, genauer: an Kapitalmacht-Akteur*innen mit Profit-Interessen, eine Partnerschaft bildend, die aus demokratiepolitischer Perspektive ungleich und vorgetäuscht ist. Anstelle dieses PPP macht Gabu Heindl nun dasjenige von Politik, Planung und Popular Agency stark: „Wenn hier von Politik im Kontext von Architektur und der Verteilung von Raum die Rede ist, geht es dabei nicht um eine Politik der Autonomie von Form oder Kunst, und auch nicht um Politik, die ein Wissen über ein richtiges Gesamt-Modell oder einen ultimativen Verteilungsschlüssel propagieren würde. Sondern es ist ein Politik-Verständnis, das wesentlich postfundamentalistisch, auf Hegemonie-Konflikt hin orientiert und radikaldemokratisch ist.“ Sie verweist darauf, wie sehr kommunikative und partizipative Planungspraktiken heute durch ihre Rolle als Zuarbeiter*innen für neoliberale PPP-Projekte kompromittiert sind.

TINA
Radikale Demokratie betrifft die Demokratisierung von Demokratie in Zeiten ihrer Krise. Dabei lässt sich eine Forderung aus dem Kontext radikaler Demokratietheorie besonders hervorheben, nämlich, dass sie praktisch werden muss. „Demokratie ist ein Prozess politischen Handelns, und das Radikale daran betont die Wichtigkeit seiner hartnäckigen Vertiefung. Konzeptuell gesagt, wird Politik in diesem Buch in einem radikalen Sinn befragt, als ein die Gesellschaft gründendes Machtverhältnis, als der Bereich instituierender Konflikte.“ Das Buch wende sich mit Entschiedenheit radikaldemokratisch dem Alltäglichen und seinen politischen Machtverhältnissen zu. Gebetsmühlenartig ertönt darin die Behauptung, dass sich Stadtplanungspolitik mit dem Siegeszug des Marktliberalismus als politisch-institutionellem Rahmen für maximal unternehmerische Freiheit in den letzten Jahrzehnten scheinbar alternativlos in Richtung Wettbewerb, Konsens und Technokratie entwickelt hat. Das notorische ‚TINA‘-Akronym (TINA für There Is No Alternative – keine Alternative zur Dominanz von Markt und Wettbewerb) präge den neoliberalen Stadtplanungsdiskurs und dazu die vermeintlich ideologiefreie Planung.

Dem entgegen setzt die Autorin ihr radikaldemokratisches Konzept, dem sie u. a. folgende Phänomene zuzählt: Fearless Cities, Sanctuary Cities, Rebel Cities. „Fearless als Kraft in einem Netzwerk gegen rassistische Politik, sanctuary als Raum-Form des Willkommen-Heißens von Neuankömmlingen, rebels als Akteur*innen: Derartige (Selbst-)Zuschreibungen betreffen Städte als Subjekte wie auch Schauplätze eines Neuen Munizipalismus.“ Weil ein Blick auf die Stadt als in diesem Sinn neue (macht)politische Akteurin für Fragen einer radikaldemokratischen Stadtplanung aufschlussreich ist, führt ein Exkurs zu den spanischen Gemeinderatswahlen 2015, im Zuge dessen Ver­tre­te­r*in­nen feministischer und basisdemokratischer Politik-Bewegungen in mehrere Stadtparlamente einzogen. Aus Selbsthilfe-Organisationen und sozialen Bewegungen in der spanischen Humanitätskrise entstanden, wurden sie Teil der Stadtregierungen, u. a. von Madrid, Barcelona, Valencia – als Plattform sozialer (sozialistischer) und vor allem kommunaler Bewegungen. Bei diesen unter dem Begriff Neuen Munizipalismus zusammengefassten Bewegungen handelt es sich um Bottom-up-Initiativen, die sich auf den „Anarcho-Syndikalismus“ der spanischen Revolution der 1930er Jahre beziehen und zugleich „aber ganz bewusst in die Institutionen gehen, also hegemoniepolitisch und dabei experimentierfreudig auf lokaler Ebene an konkreten, auch institutionellen Alternativen zum globalen Neoliberalismus arbeiten“.

The road to hell is paved with good intentions (Karl Marx, Madonna, Pink)
Heutige Anforderungen und Konfliktlagen der Stadtplanung – Wohnbau für die Vielen, Bodenpolitik und Ressourcenschonung, Migration und Teilhabe – erfordern demnach proaktive radikaldemokratische Stadtplanung, um die Privatisierung städtischer Räume zu stoppen und Zukunftsperspektiven einer sozial und ökologisch gerechten Stadt zu entwickeln. „Im Rahmen radikaldemokratischer Planungspraxis könnten wir Planung als eine unvermeidliche Setzung konzipieren, die aber strittig ist.“ Mit einem solchen Setzungsbegriff werden zwei diffizile Bereiche betreten: „Der eine ist das immer schon stratifizierte Feld eines Stellungskriegs, auf dem jene Hegemoniepolitik stattfindet, wie sie Antonio Gramsci theoretisiert hat. Der andere diffizile Bereich ist jener der Operationen, die sich selbst nachhaltig problematisieren.“ Gabu Heindl meint damit Folgendes: In einer postfundamentalistischen Konzeption des Wortes Setzung kommen zwei Bedeutungen des Begriffes, die auf den ersten Blick konträr erscheinen, in sehr nahen Kontakt miteinander. Zum einen macht die Setzung etwas „wirklich“, macht es existent; zum anderen ist Setzung eine „Annahme“, etwas, das nicht unveränderbar für immer gilt, sondern unter Bedingungen:

„Obwohl Gesellschaft nicht ultimativ zu gründen ist, so die postfundamentalistische Theorie, muss sie dennoch provisorisch gegründet werden.“ Und gerade die Unmöglichkeit einer Voll-Gründung ermöglicht Teil-Gründungen. Gesellschaften und gesellschaftliche Räume sind nie gänzlich ohne Ordnung und Fundament. Das heißt: Eine vollständige Abwesenheit von Fundamenten gibt es ebenso wenig wie eine vollständige Präsenz von Fundamenten. Gründungen seien deshalb kontingent und unverzichtbar. „Foundations matter – es kommt auf sie an. Sie sind zugleich unsicher, prekär und von höchster Wichtigkeit für Leute und für gesellschaftliche Gruppen.“

Strittige Konsequenzen
Sobald ein Plan gezeichnet und zur Diskussion gestellt ist, also in diesem Sinn eine Setzung ist, hat er folgende politisch wesentliche Eigenschaften: Er ist allgemein; er ist öffentlich; er ist ausformuliert; und er ist bestreitbar. Und damit könne und müsse der Plan an demokratische Öffentlichkeit gebunden werden und der Streit an demokratische Spielregeln seiner Austragung. Worauf die Autorin hier abzielt, ist die gegenwärtige politische Situation, in der neoliberale Hegemonie durch ganz andere Macht-Formen realisiert wird: nicht allgemein, sondern von Fall zu Fall und dem jeweiligen Investitionsobjekt optimal angepasst; nicht öffentlich, sondern durch Schutz von Privatrecht und mittels interner Vorabsprachen; nicht ausformuliert, sondern möglichst informell, möglichst „geschmeidig und flexibel“ – und insofern entziehen sich neoliberale Vereinbarungen der Strittigkeit und sind daher gerade nicht Setzungen im Sinn öffentlicher Konfliktaustragung und Legitimierung.

Freie Mitte
Was aber die Agency von Architektur betrifft, so biete gegenwärtig ein an Bruno Latour orientierter ANT (Actor Network Theory)-Ansatz einiges an Auseinandersetzung mit ihr. „Im Unterschied zu Ansätzen, die einer Sorge um Identität von Architektur als Disziplin breiten Raum geben, hebt ein radikaldemokratischer Zugang Verhältnisse hervor, in denen Architektur entschieden auf kritische Distanz zu ihrer ‚Identität‘ und zum vorherrschenden Habitus ihrer Handlungsobjekte geht.“ Gabu Heindl fordert alle, also auch Architekt*innen und Planer*innen dazu auf, in Allianzen zu treten, als Expert*innen – bei gleichzeitiger Selbstkritik und Distanzierung von Aspekten jener Machtposition, die mit der Zuschreibung von Expertise einhergeht.
Es geht ihr um die Ausweitung der Rechte auf Stadt. Dazu führt sie auch eines ihrer eigenen Planungsprojekte ins Feld, das sie 2011 gemeinsam mit der Architektin Susan Kraupp für den Wiener Donaukanal entwickelt hat. Zum Zweck der „Einrichtung und Offenhaltung von öffentlichem Raum als Möglichkeitsraum mit niederschwelliger Teilhabe“ – nicht an Kaufkraft gebunden oder daran, wer zur bevorzugten Zielgruppe von raumgreifenden Gastronomien zählt (und wer dort zunehmend weniger geduldet ist) – griffen sie auf „ein Instrument starker planerischer Setzung“ zurück, nämlich auf das Instrument des Bebauungsplans, indem sie für ihren spezifischen Kontext einen „Nichtbebauungsplan“ ausarbeiteten. Dieser ist abgefasst wie ein Bebauungsplan, nur dass er eben reziprok verfährt, indem er dezidiert „nicht zu verbauende Zonen“ als Projektziele ausweist. (Die Kurzfassung der Donaukanal-Partitur-Leitlinien findet sich online unter: https://www.wien.gv.at/stadtentwicklung/studien/pdf/e000012.pdf.) Im Sinn einer von Gabu Heindl propagierten Radikalisierung und Vertiefung demokratischer Verhältnisse zielt eine solcherart orientierte Planung, entgegen tradierter paternalistischer Methoden, auf ein Einrichten und Verteidigen von Infrastruktur, von Spiel- und Möglichkeitsräumen „und das beinhaltet auch den Kampf um Sicherungen, nämlich vor den Zugriffen deregulierter Kapital-Aggression auf Wohn- und Stadtraum“. Sie schlägt dafür ein von queeren Theorien und Theorien zur Care Revolution geprägtes Gegenmodell vor, indem es um lustvolle, auch spielerische Besetzungen im Sinn von Aufladung geht – Besetzungen, auch im affektiven Sinn, von Häusern, Plätzen, öffentlichem Raum. „Dabei geht es mir um konfrontative, kritische Arbeit in solidarischen Öffentlichkeiten: Die Bildung von Bündnissen und Äquivalenzketten soll ein handlungsmächtiges Wir hervorbringen.“

 

Titelzitat: Tocotronic, „Der Masterplan“, 1995

Gabu Heindl „STADTKONFLIKTE. Radikale Demokratie in Architektur und Stadtplanung“,
Mandelbaum Verlag, Wien 2020

Ergänzung zum Bild: Gabu Heindl, Can Gülcü, Installation zum öffentlichen Grünraum „Freie Mitte“ am Nordbahnhof, Wien 2017, Foto: Michael Krebs, Dorothea Trappel (Hg.), „Der Abgestellte Bahnhof. Das Wiener Nordbahnhofgelände und die Freiheit des Raumes“, 2018

Maja Osojnik oder „Was ist schön?“

Zum Beispiel kaputte Klänge, akustische Unfälle und hörbare Fehler, die dann keine mehr sind: Maja Osojnik greift in die Schatzkisten aller Arten von Musik – und wildert darüber hinaus im Bereich von Literatur und bildender Kunst. Lisa Spalt mit einem Porträt über eine Generalistin, die mit allen Mitteln kommuniziert.

Nach einem Lauf durch die Wohnungen, weil bei uns beiden das Netz so schlecht ist, treffen wir zweidimensional aufeinander. Maja Osojnik, freischaffende Komponistin, Klangkünstlerin, Sängerin und frei improvisierende Musikerin, hat Kopfhörer auf. Ihre Audioausgabe funktioniert nicht, und ich habe aufgrund des Bildes auf dem Schirm den Eindruck, sie höre mich nicht. Tatsächlich bildet die Situation ab, was Osojnik über ihre Erfahrungen in den letzten Monaten erzählt. Plötzlich ging man im Pyjama näher ans Leben heran und entdeckte, wie die Venen der Arbeit das ganze Dasein komplett durchwachsen hatten. Die daraus entstandene Lähmung, das Gefühl, dass es immer schwieriger wird, neue Musik aus dem Ärmel zu schütteln, verschwand im ersten Lockdown. Euphorie. Endlich konnte frau die gewonnene Zeit wieder spielerischer mit Musik gestalten. Die Kreativität kam zurück. Dann die ersehnte Öffnung, die ersten Konzerte. Aber obwohl das Publikum da ist, sich auch begeistert, entsteht bei der Musikerin das Gefühl, dass sie für niemanden spielt. Die Zuschauendenzahlen sind quasi elitär begrenzt. Und es gibt keine Outro nach dem Konzert, keine Feiern – nur die schwer zu lesenden Mienen hinter dem Mund- und Nasenschutz.
Dabei ist Osojnik eine Person, die gewöhnlich mit allen Mitteln kommuniziert. Sie ist Generalistin, wie sie selbst sagt, wildert im Bereich von Literatur und bildender Kunst, greift in die Schatzkisten aller Arten von Musik. Lange hatte sie deswegen Angst, niemals was auch immer auf den Punkt zu bringen. Dann kam sie endlich drauf, dass alles zu tun sie einfach ausmacht. Es mussten daher neue Bezeichnungen her für das, was sie produziert. Osojnik macht zum Beispiel „Cinema vor Ears“. Aber fangen wir am Anfang an.
Die Allrounderin erlernt im slowenischen Dorf Kranj das Spiel der Blockflöte, musiziert im Barockensemble. Als Jugendliche merkt sie zwar, dass sie, wenn ihr die Holzflöte aus dem Mund hängt, nicht gerade schick rüberkommt. Aber was solls? Als Mitglied einer Band ist sie andererseits die Coolste, und so betrachtet sie die Blockflöte, die zumindest zu Beginn des Lernens ein billiges Instrument ist, mit den Augen des Punk und Punkt. Als Osojnik neunzehn ist, kommt sie, die vor allem Grunge und Hardcore hört, auf die extravagante Idee, in Wien Blockflöte zu studieren. Mit dem Instrument in der Hand reist sie kurzerhand ins Ausland, geht, ohne je mit dem Professor Kontakt aufgenommen zu haben, zur Aufnahmeprüfung, wundert sich, dass sie am Montag drauf in die erste Unterrichtsstunde kommen soll. Ja, und irgendwie verschafft sie sich eine Übergangswohnung für einen Monat, etwas Kleidung, und dann ist sie Studentin und lebt im Ausland, hat von der Landessprache keine Ahnung. Da muss ihre Entwicklung etwas schneller gehen.
Osojnik definiert ihren Erfolg heute so: Sie macht, was sie will. Schon mit neun Jahren wollte sie „irgendwas mit Musik“, wenn auch nicht klar war, was für eine das sein sollte. Sicher war damals nur: Es macht ihr Freude, kreativ zu sein, kooperativ zu arbeiten, mit anderen gemeinsam Klang zu produzieren. Alles andere hat sich dann später durch den ihr eingebauten Zufallsgenerator gefügt, der ihr gewisse Menschen und Situationen bescherte. So legte sie die Blockflöte deswegen nicht früher weg, weil ihre erste Lehrerin begeisterte Barockmusikerin war. Ja, Osojnik kam irgendwann drauf, dass das nicht ihr Instrument ist. Sie sieht sich als eher laute Person, vielleicht als Tuba. Aber immerhin hat das leise Instrument sie gelehrt, sich zurückzunehmen.
Osojniks heutige Musik ist eklektizistisch. Cut and Paste, das ist wichtig. Sie verwendet aber auch viele selbst aufgenommene Samples. Was sie sammelt? Vor allem kaputte Klänge, akustische Unfälle wie Distortions oder ungewollte Phasenverschiebungen, alle Arten hörbarer Fehler, die dann keine mehr sind. 2009 ist ihr Computer kaputt. Bandkollege Matija Schellander versucht, ein paar Aufnahmen zu retten. Dass die sich als digital zerstört herausstellen, kommt Osojnik gerade recht. Glitches sind kostbar, und immer steht hinter der Arbeit die Frage, was das eigentlich ist, das Schöne. Geraten die Hörenden da nicht manchmal an ihre Grenzen?
Es sei schade, dass so oft gedacht werde, man müsse alles sofort verstehen, findet Osojnik. Die Geschwindigkeit sei das Problem. Es gehe beim Hören aber doch darum, sich Zeit zu lassen, sich einzulassen. Musik kann, meint sie, außerdem unterschiedliche Funktionen haben, bei jeder Art von Kunst sei das doch so. Romane sind vielleicht zum Mitgerissenwerden da, experimentelle Literatur spricht einen anderen Teil der Person an, der sich auch körperlich hingeben muss, der nicht sofort alles einordnen kann. Sich einzulassen ist eine physische Erfahrung, meint sie, eine sinnliche. Und die bietet Osojnik auf der Basis von drei Herangehensweisen: Erstens collagiert sie, bildet die Collage ab, die die Welt in ihrem Kopf hinterlässt. Das erzeugt Ironie, Humor, Sarkasmus. Zweitens spielt sie mit Distanzen, stretcht Noises, die aus der Entfernung wie Blöcke wirken, sodass man sie als komprimierte Melodien erkennen kann. Drittens wird der Sound „durchleuchtet“. Was kann alles weggelassen werden, damit nur noch eine Art Skelett der Musik übrigbleibt? Was ist die Essenz?
Bei allem Experiment arbeitet Osojnik aber dann auch wieder ganz traditionell. Sie notiert. Mit Bleistift auf Papier. Schreibt allerdings – vor allem grafische – Partituren. Da kann sie die Verantwortung über die Musik mit den Musizierenden teilen. Manche Parameter führt sie genau aus, bei anderen überlässt sie die Ausgestaltung den Leuten mit den Instrumenten.
Die visuelle Erscheinung ihrer Partituren hat schließlich auch zum Grenzübertritt ins Reich des Visuellen geführt, zur Zeichnung, zu Objekten. Als Osojnik von Claudia Märzendorfer eingeladen wird, ein Vogelhaus zu entwerfen, erinnert sie sich an einen Brief, den sie seit Jahren bei jedem Umzug wieder einpackt. Er stammt von einer Freundin, die ihn an einen Mann geschrieben hat, aber nicht abschicken wollte. Osojnik sollte ihn aufbewahren. Dann starb die Freundin. Was tun? Osojnik lädt schließlich Menschen ein, ihr ebenfalls einen geheimen Brief zu überlassen. Sie mischt den ersten unter die, die sie zugeschickt bekommt, schneidet alle in Streifen und flicht daraus ein Vogelhaus. Das Schriftstück hat nun die Chance, in Gesellschaft – und irgendwie an die Öffentlichkeit adressiert – von Wind und Wetter beerdigt zu werden.
Die bei diesem Projekt erstmals eingesetzte Technik des Flechtens setzt sie heute auch beim neuesten Produkt ein, der Single „Superandome – Super Random Me“. Zwei Jahre lang hat sie in einem Copy Shop Papierstreifen gesammelt. Nun erhält jedes Exemplar ein individuelles, geflochtenes Cover. Auf dem Tonträger festgehalten ist eine gemeinsam mit Matija Schellander erzeugte Collage aus dem in Zusammenarbeit mit Natascha Gangl entwickelten Klangcomic zu deren Buch „Wendy fährt nach Mexico“. Ja, meint Osojnik, das Projekt hat wohl zur Gründung des langsamsten Labels der Welt geführt. Immerhin musste Natascha Gangl erst einmal ein Buch schreiben, die Band mit ihr dann drei Performance-Programme ausarbeiten, daraus entstand dann eben kein Hörstück, sondern das Produkt „WENDY PFERD TOD MEXICO“ fürs Kunstradio, das 2018 den ersten Preis beim 9. Berliner Hörspielfestival gewann. Schließlich kam die Idee auf, den Klangcomic, in dem Laute zu Ausdrücken wurden und umgekehrt, in ein handfestes Objekt zu verwandeln. Das Label „MAMKA Records“ (Mamka = slowenisch für Oma) wurde gegründet.
Mit Matija Schellander arbeitet Osojnik übrigens bereits seit 2002. Zunächst im „Low Frequency Orchestra“, bei dem auch noch Angélica Castelló, Thomas Grill, kurz Herwig Neugebauer und Mathias Koch mitwirkten. Dann wurde die Rote Rakete – Rdeca Raketa – gegründet. Die Formation – ein elektroakustisches Duo, das sich ständig weiterentwickelt, – besteht jetzt seit 2008. Mit Schellander zu spielen, sagt Osojnik, ist inzwischen, als hätte man einen gemeinsamen Körper. Und dieser Körper ist ein politischer. Aber politisch ist Osojnik auch von allein. Da gibt es die Blaskapelle, die, anstatt öffentlich zu protzen, erst einmal unsichtbar auftritt und dann erratisch choreografiert wird. Das Stück „Die Wende“ wiederum nimmt Bezug auf die Ratschen, die im I. Weltkrieg verwendet wurden, um vor Gasangriffen zu warnen. Die Holzteile der Instrumente werden bei Osojnik durch Gummi ersetzt. Die Dystopie ist wahr geworden, wenn kein Warnen mehr möglich ist. In ihrem ersten Solo-Album „LET THEM GROW“ von 2016 geht es daher folgerichtig einfach um alles: um die seltsamen Verirrungen des Zwischenmenschlichen in unserer Zeit, die Entfremdung zwischen Individuum und Welt, um die Frage nach einer zeitgemäßen Definition von Emanzipation … Es geht um die Scherben innen und außen. Können sie im ultimativen Song zu einem klingenden Mosaik verbunden werden? Der Pressetext beschreibt das Album als „dreckig, sanft, lustvoll, verstört, komplex, kalt, sphärisch, schneidend und feminin“. Da ist alles drin. Hören! 

Maja Osojnik
maja.klingt.org

Neue Single SUPERANDOME – SUPER RANDOM ME
maja.klingt.org/news
mamka.klingt.org
mamka.bandcamp.com

 

Die Commune wird ihre Aufgaben erfüllen.

Die Referentin bringt seit mehreren Ausgaben eine Serie über frühe Anarchist_innen und frühe soziale und politische Bewegungen, die im Zeichen von kämpferischer Befreiung standen. Zur Communardin und Anarchistin Louise Michel und die Pariser Commune von 1871 ist ein Roman von Eva Geber erschienen. Darüber berichtet Andreas Gautsch.

„Im Namen des Volkes: Die Commune ist proklamiert.“ Es gab keinen Diskurs, kein Gegenwort, nur der Ruf: „Es lebe die Commune“ schallte über den Platz. Die Feier schloss mit den Worten: „Die Commune wird ihre Aufgaben erfüllen.“
So schildert Eva Geber in ihrem Roman den historischen 28. März 1871. Zehn Tage zuvor hatte sich die Bevölkerung von Paris erhoben, um ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Eine der berühmtesten Communard*innen war die Revolutionärin Louise Michel. Heute noch gibt es in Frankreich dutzende Plätze und Straßen, die ihren Namen tragen. Hierzulande ist sie weniger bekannt, vielleicht unter politisch und historisch Interessierten oder im überschaubaren Kreis von Anarchist*innen. 2018 erschien nicht nur Eva Gebers Roman über eine der wohl außergewöhnlichsten Persönlichkeiten der Geschichte, sondern sie hat in einem kleinen Begleitband Artikel und Reden von Louise Michel übersetzt und diese somit, nach mehr als 100 Jahren, erstmals einem deutschsprachigen Publikum zugänglich gemacht. Beide Bücher sind im libertären Wiener Verlag bahoe books erschienen.

Der Werdegang einer Revolutionärin
Der Roman erzählt Michels Geschichte detailreich. Geschickt eingewoben sind Verweise sowie Zitate aus ihren Tagebüchern, Artikeln und Gedichten. Er ist wie ein langer Monolog, in dem die Protagonistin als alte Frau, im Lehnstuhl sitzend, umgeben von ihren Katzen, die Ereignisse Revue passieren lässt. Ganz nah an der Erzählfigur wird man mitten ins Geschehen geführt und eine andere Welt eröffnet sich.
Am 18. Mai 1830, im kleinen Ort Vroncourt, in der heutigen Region Grand Est, wurde Louise Michel geboren. Sie war das uneheliche Kind von der Dienstmagd Marie-Anne Michel und dem Sohn des Schlossherrn. Zur Mutter hatte sie Zeit ihres Lebens ein inniges Verhältnis. Der Vater erkannte das Kind zwar nicht an, dessen Eltern jedoch nahmen sich ihrer an und erzogen die Enkelin im Geiste der Aufklärung. „Voltaire, Rousseau und katholischer Mystizismus – was für eine verwirrende, reiche und die Phantasie bestürmende Welt, aus der sich mein Wunsch nach Gestaltung, Veränderung, Revolution entwickelte, der ebenso zu fanatischem Eifer führte, wie es bei der Avantgarde nicht anders sein kann.“
So wurde aus dem aufgeweckten Mädchen, das als Jugendliche in Briefkontakt zu Victor Hugo trat (woraus sich eine lebenslange Freundschaft entwickelte), schließlich eine ausgebildete Lehrerin, die nach Paris ging und 1853 ihre erste Freie Schule eröffnete. Da sie das Schulgeld sehr niedrig ansetzte, konnte sie selbst kaum davon leben. Daneben gab sie mit Kolleginnen Kurse für Frauen, Mütter und junge Menschen im Sinne eines kritischen Geistes sowie einer grundlegenden Rechtskunde und engagierte sich gegen das autoritäre Regime von Napoleon III. Für Michel bedeutete dies auch eine erste nähere Bekanntschaft mit Polizei und Gericht. Aber die Samen proletarischer und republikanischer Bewegungen waren schon gekeimt.

Aufstieg und Fall der Pariser Commune
1870 zettelte Napoleon III. einen Krieg mit Deutschland an, verlor diesen und musste abdanken. Die 3. Republik wurde ausgerufen und es kam zu Wahlen. Die Armee von Kaiser Wilhelm I. stand aber nun vor Paris, und während die neue monarchistisch-konservative Regierung die Kapitulation ausverhandelte, erhob sich die republikanisch gesinnte Bevölkerung von Paris und rief die Commune aus. Die Regierung floh mit regierungstreuen Generälen und ihren Truppen nach Versailles. „Die radikalsten Kräfte forderten den sofortigen Marsch auf Versailles, er wurde dann aber nicht unternommen. Das Streben nach vollständiger Autonomie der Stadt überwog den Wunsch nach einer politischen Revolution in ganz Frankreich. Da die Versailler ja besiegt waren, folgten wir ihnen nicht. Das war der große Fehler.“
Eva Geber lässt die Ereignisse und Stimmung in der Stadt einprägsam wieder auferstehen und die Leser*innen an der in die Commune gesetzten Hoffnung teilhaben. „Wir sprachen über das Ende des Privateigentums ebenso wie über die Notwendigkeit, Heizmaterial aufzutreiben. Es ging um eine neue Form der Frauenarbeit und das Ende der ökonomischen Kluft. Dazu kam der Kampf auf den Barrikaden, Sandsäcke füllen, Organisation der Ambulanzen und der Suppenküchen.“ So viel gab es zu tun. Es ging auch um eine Veränderung des Schulwesens, es sollte öffentlich, obligatorisch und kostenlos sein und frei von religiösen Symbolen. Selbst 150 Jahre später ist in dieser Hinsicht die Pariser Commune unserem gegenwärtigen Bildungssystem voraus. In einem Appell im Pariser „Journal officiel“ vom 11. April forderten die Communard*innen grundlegend andere Produktionsverhältnisse:
„‚Wir wollen die Arbeit, aber das Produkt muss uns gehören, Schluss mit Ausbeutern und Herrn. Arbeit und gutes Leben für alle‘.“

Am 3. April zogen Louise Michel und andere Frauen mit dem 61. Bataillon schließlich nach Versailles, um die Regierung zu bezwingen. Der Versuch scheiterte. Ein Monat später fielen die Regierungstruppen mit Hilfe preußischer Artillerie in Paris ein. Barrikade für Barrikade wurde eingenommen. Louise Michel verteidigte mit ihrem Frauenbataillon eine der letzten in Place Blanche. Das Massaker der Regierungstruppen, bei dem 35.000 Menschen getötet wurden, ging als „blutige Maiwoche“ in die Geschichtsbücher ein. Anschließend kam es laufend zu Verhaftungen und Hinrichtungen. „Im diesem blutigen Mai und Juni starben die Schwalben von Paris, vergiftet von den Fliegen, die sich von den Leichen ernährten.“ In dieser Zeit der Kämpfe und Hinrichtungen dichtete Eugène Pottier den Text der Internationale „Völker hört die Signale!“

In der Verbannung in Neukaledonien
Louise Michel wurde ebenfalls verhaftet und mit anderen Communard*innen auf die Insel Neukaledonien verbannt. Auf dieser Überfahrt im September 1873, eingepfercht in einem Käfig, wurde Michel zur Anarchistin. Eva Geber lässt sie im Roman folgende Beobachtung über die korrumpierende Macht sprechen: „Jeder, der an die Macht gekommen war, wurde zum Verbrecher. Vor allem wenn er charakterschwach und gierig war. Das halte ich für die Regel.“ Diese Regel hat wohl immer noch ihre Gültigkeit, müsste jedoch damit ergänzt werden, dass vor allem ein opportunistisches Verhalten zur Macht führt.
Das Leben auf der Insel machte Michel wenig zu schaffen, sie fand viele neue Betätigungsfelder. Eines davon war die Niederschrift der Legenden, die ihr die Kanaken, so die Selbstbezeichnung der Einheimischen („Kanak“ bedeutet Mensch), erzählten. Einen Auszug davon hat Eva Geber übersetzt und in der von ihr herausgegebenen Textsammlung veröffentlicht.
Im Juli 1880 erfolgte die Amnestierung der Verbannten. „Aber später wollte ich zurückkehren, mein Versprechen einlösen, eine wunderbare Schule errichten, überdies selbst die Indigenen studieren, die Pflanzen, die Tierwelt und die wilde Landschaft genießen. Und die Zyklone. Eine Wilde unter Wilden. So antwortete ich aus voller Überzeugung: ‚Ich werde wiederkommen.‘“

Die Agitatorin
Wieder in Paris stürzte sich Louise Michel in politische Aktivitäten, die sich nun um eine antikoloniale Perspektive erweitert hatten. „Wie können wir für Gleichheit eintreten und diese Frage nicht mitdenken? Ich denke an die Kanak und an die Araber – gleichzeitig mit der Commune hatten die Algerier ihren Freiheitskampf begonnen. Ein großes Versäumnis der Commune war gewesen, dass wir keine Solidarität mit den Aufständischen geäußert hatten. Und wir waren auch nicht beschämt, dass Algerier uns ihre Solidarität mit der Commune versichert hatten.“
Am 9. März 1883 nahm sie an einer Demonstration von 15.000 Arbeitslosen teil, bei der es zu Polizeiübergriffen und Plünderungen kam. Michel kam vor Gericht und bewies dort ihre Schlagfertigkeit und Sympathie für Diplomatie. „Der Richter fragte mich, ob ich an allen Kundgebungen teilnähme? Ich antwortete: ‚An allen Demonstrationen der Elenden.‘ Dann wollte er wissen, welches Ereignis ich mir von besagter Demonstration erhofft hatte. Ich sagte, dass nie eine friedliche Demonstration zu einem Ergebnis führe, aber die Hoffnung bleibe.“

Das Ergebnis waren 6 Jahre Haft und 10 Jahre Polizeiaufsicht. Nach drei Jahren kam die Begnadigung und sie setzte ihre Agitationstätigkeit, zum Missfallen vieler, fort. Ein geistig verwirrter Mann verübte 1888 nach einem Vortrag ein Attentat auf sie. Eine Kugel traf sie an der Schläfe, eine blieb im Hutfutter stecken. Gegenüber dem Richter stellte sie anteilnehmend fest: „‚Der Mann braucht eher einen Arzt als einen Richter‘“. Der Attentäter wurde schließlich freigelassen. Zu den aufkommenden Attentaten, die in den 1890er Jahren von Anarchist*innen verübt wurden, nahm Michel in einem Interview Stellung. Ihr wären andere Methoden lieber, meinte sie, „zum Beispiel Tyrannenmorde, aber wir leben in dieser revolutionären Zeit.“
Michels Biographie ist vollgespickt mit Ereignissen, die ihrem unermüdlichen Eintreten für Gleichheit und Gerechtigkeit geschuldet sind. Diese Energie ist mitunter ansteckend. Doch auch das Herz einer Unermüdlichen verliert an Kraft. Trotz Erkrankungen und Erschöpfung reiste Louis Michel zwar von Vortrag zu Vortrag quer durch Frankreich. Aber sie war bereits gezeichnet. Ihre letzte Vortragsreise, auf die sie sich mit ihrer langjährigen Gefährtin Charlotte Vauvelle begab, führte sie 1904 durch Algerien. Am 9. Jänner 1905 starb sie auf ihrer Rückreise in Marseille. Auf ihrem letzten Weg auf den Pariser Friedhof Levallois-Perret wurde sie von 100.000 Menschen begleitet.
Eva Gebers biographischer Roman bietet eine gute Gelegenheit, sich mit Louise Michel, aber auch mit der Vergangenheit und der Gegenwart auseinanderzusetzen. Der Ruf, der vor 150 Jahren in Paris erschallte, klingt weiterhin nach. Denn die Aufgabe der Commune – die Befreiung von Herrschaft und der Macht des Kapitals – ist bis heute unerfüllt.

 

Literatur:
Eva Geber: Die Anarchistin und die Menschenfresser, bahoe books, 2019 (2. Auflage)
Eva Geber (Hg.): Louise Michel. Texte und Reden. bahoe books, 2019

 

Die Serie in der Referentin ist auf Anregung von Andreas Gautsch bzw. der Gruppe Anarchismusforschung entstanden.

Träumen Waren von Geld?

Zwischen Comics, Malerei, Manifest und einem ausufernden Gesamtwerk der früh verstorbenen Künstlerin Linda Bilda stellt sich die Frage: Kunst als Ware oder doch umgekehrt? Linda Bildas Bildgalaxie hinterfragt den Kapitalismus mit geschickten Kniffen. Die fertige Retrospektive Amor vincit omnia im Lentos durfte Comic- und Popkulturfachwerker Christian Wellmann bereits während des Lockdowns beschnuppern. Mit diesem Vorgeschmack kann die Ausstellung bald besucht werden.

Im Aschehaufen, in dem Kultur mittlerweile vollends unterzugehen droht, wartet geduldig ein bereits fix und fertig installierter Vulkan darauf, endlich auszubrechen. Aber auch für Vulkane gilt bekanntlich ein Ausbrechverbot. Eine mit dir und deinen Sinnen spielende Zur-Schau-Stellung einer alternativen Kunstwelt harrt geduldig im Finsteren darauf, endlich von Schaulustigen begutachtet zu werden. Eine Märchenwelt des ganz normalen neoliberalen Wahnsinns, mit Auswirkungen auf Marginalisierte. Darin ist alles ein Manifest.
Sobald die Museenlandschaft wieder ihre automatischen Glasschiebetüren öffnet, sollte ein ausgehungertes Publikum die äußerst bereichernde Amor vincit omnia-Ausstellung Linda Bildas im Linzer Kunstmuseum Lentos fix am Radar haben. Die Referentin durfte bereits vorab in den Lentos-Keller hinabsteigen, dorthin, wo nun vorzugsweise das subkulturelle Angebot des Hauses kredenzt wird. Dankenswerterweise nicht als prekäre Nischenrandexistenz, der Raum im Untergeschoss eignet sich für dieses, ähem, Subkulturelle vorzüglich, u. a. war das auch 2017 so bei der Turnton-Show von Time’s Up.  

Überraschend verstarb Linda Bilda im Sommer 2019. Nun wird die Wiener Künstlerin mit einer ersten Retrospektive gebührend gewürdigt. Die Ausstellung und der dazu erschienene Katalog präsentieren einen überbordenden Einblick in die schillernden Arbeiten einer faszinierenden Künstlerin. Eine tabubrechende Allrounderin, die in mehreren Kunstgattungen zugegen ist, stets nach neuen Formen der Gestaltung suchend. Ein unerschrockener Geist, der mehr in anarchistischen Zirkeln zu verorten ist, denn in der Kunstwelt. Ihr poetisch-politischer Pop ist Richtung Zukunft gewandt, und zeigt – mit dem Ausstellungstext gesprochen – fürwahr „emanzipatorische Bildpolitik“, durch die sich feministische Kapitalismuskritik als roter Faden zieht. Schonungslos und angriffslustig, sinnliche und politische Wahrnehmung vereinend. Was sie produzierte, formte sich organisch und ganz selbstverständlich stets zum Nächsten – beginnend mit Malerei, Lese- und Diskussionszirkeln, Aktionen im öffentlichen Raum, Zeitschriften, Manifesten, Comix bis hin zu einem von ihr entwickelten Leuchtglas. Alle diese Aspekte ihres Schaffens, die sie oft miteinander verknüpfte, sind in der Amor vincit omnia-Schau allgegenwärtig.
Bilda beschäftigte sich damit, was neoliberale Ökonomien, Arbeit, Waren, Geldflüsse oder Geschlechterverhältnisse miteinander zu tun haben und kritisierte den Kapitalismus bei jeder Gelegenheit. Slogans und Manifeste lassen Buchstaben in ihrem bildnerischen Universum förmlich brennen. Die Aufhebung der Kunst, hineintransformiert in das tägliche Leben und von der Situationistischen Internationale übernommen, sollte ab den 1980er-Jahren ihr künstlerisches Schaffen prägen. Spezielle Beachtung verdient das von ihr erfundene, patentierte und mit zahlreichen internationalen Preisen überhäufte LightGlass, mit dem Motive auf (farbiges) Acrylglas übertragen werden, um mittels Laserschnitt ausgeschnitten und als Intarsien in Glasplatten eingelegt zu werden: Es findet sich in neueren Werken, Glasbildern oder zig öffentlichen Arbeiten.  

Betritt man den ersten Bereich der Ausstellung, befindet man sich inmitten einer Installation, wo dieses patentierte LightGlass mit verblüffenden Lichteffekten ein wahres Raumerlebnis herbeizaubert. Die dreidimensionale, mit Tisch und Stühlen gefertigte Installation Die Goldene Welt lässt farbige Schatten zum Comic werden, der im Raum gelesen wird. Wie an Höhlenwänden, hier als Update für die digitale Konsumgesellschaft. Hinterglas-Malerei goes crazy. In der Goldenen Welt geht es um sehr viel Mammon – ein Vermögen von einer Milliarde Dollar wird FreundInnen mit der Auflage hinterlassen: Der oder die wird es bekommen, die innerhalb eines Jahres den meisten Profit daraus machen wird. Ein Spiel mit sieben Personen, inkl. Gevatter Tod, das zum Mitspielen einlädt. Dieses moderne Märchen ist Chronik und Beschreibung unserer Zeit, in der Ökonomie, Widersprüche, Entwicklungsmöglichkeiten und Destruktivität aufgezeigt werden: Die Welt des strahlenden Geldes und die Welt des Scheins. Inwieweit ist die Wirtschaft die Realität der Welt? Die Goldene Welt basiert auf einem (Print-)Comix und kann auch via interaktiver Webpage weiter erkundet werden1. Im Ausstellungsraum: Eine architektonische Form und kathedralenartige Bögen an der Wand geben der Skulptur den Rahmen. Flankiert wird dies alles von ungewissen Schatten werfenden Plexiglas-Skulpturen, wie Der apokalyptische Reiter, der einen argentinischen Polizisten darstellt. Eine Kakerlake, ebenfalls zur Ordnungsmacht entfremdet, wird zur ironischen Mutation – zum wabernden, angstverbreitenden Schattenspiel. Diese deformierten Boten der Hölle hinterlassen eine sich multiplizierende, schwer irritierende Lichtstimmung im Raum. Autorität und was dahintersteht. Dieses „Ensemble“ wurde nach einer Ausstellung Bildas im Salzburger Kunstverein (2009) rekonstruiert.
Im zweiten Raum zeugen u. a. Comix-Originale auf Transparentpapier, Covers und diverse Materialien des von ihr gegründeten Kunstfanzines ARTFAN, Malereien oder Caro Diario, ein aus Leinwänden gefertigtes Buch, von der Vielfältigkeit und Aktualität ihres Werks. Dazu kommt die besonders hervorzuhebende Serie Digital Questions, eine neuere Arbeit von 2018, die Schwarz-Weiß-Grau-Illustrationen mit LED-Licht-Einsätzen verwendet und den Gebrauch von Handys sehr sarkastisch „beleuchtet“. Das Handy als Ersatzorgan, das den Menschen bereits übernommen hat. Dazu läuft dezent im Hintergrund ein Film-Loop, der eine Aktion Bildas und ihrer Mitstreiterin Arianne Müller zeigt. Ihre Persönlichkeit wird faktisch im Raum präsent, und gibt dir das Gefühl, dass dich Linda Bilda irgendwie durch diese Ausstellung führt. Fast schon wie ein Hologramm …  

Der zur Lentos-Schau erschienene Katalog gönnt uns ein umfassendes Bild ihrer mannigfachen Aktivitäten, so heißt es passend auch im Vorwort: „Das Interesse dieser Publikation ist nicht, Linda Bilda als individuelle Künstlerin für einen Kunstmarkt posthum zu etablieren, sondern die Vielfalt ihrer Aktionsmöglichkeiten mit einer Vielzahl von Texten punktuell zu beleuchten und zu würdigen.“2 Was auch wirklich bestmöglich gelungen ist, es handelt sich um eine augenöffnende Publikation, die mit viel Liebe und Herzblut zusammenmontiert wurde. Das findet man in dieser Form nicht so oft, hierzulande. In dieser Monografie wird dann, auch durch etliche bissfest auf den Punkt verfasste Beiträge sowie durch ausführlichstes Bildmaterial tatsächlich das extrem breite Feld transparent gemacht, das Bilda sozusagen händisch beackert hat.
Seit 1987 schuf sie auch Comics. Korrekter Comix, also Underground-Comix, der Riot-Grrrl-, Free Tek- oder Hard­core (Punk)-Szene mit Sympathie zugewandt. Comix als logischer Weg, der ihre Ansätze perfekt verbindet: Malerei, Manifeste, Politik, Agitprop – in Zeichnung und Wort vereint, Amen. Ihre poetische Leichtigkeit, trotz „schwer verdaulicher“ Themen, beatmet die Bildfolgen mit utopischer Luft, trotzdem auch Optimismus versprühend. Damit ist sie in den Kanon bahnbrechender österreichischer Comiczeichnerinnen, wie Ulli Lust, Edda Strobl, Sibylle Vogel oder neuerdings Nina Buchner, einzureihen. Bildas Stil kommt hier sehr 1970er-mäßig rüber, aber mehr Angela Davis als Janis Joplin. Guido Crepax’ Ästhetik ist da auch nicht weit entfernt. „Da mir die Gesellschaft, die ihre Mitglieder ungleich behandelt, widerstrebt, unterstütze ich alle Ziele der Frauenbewegung und auch Projekte darin. Mir schien Comics ein adäquates Mittel, da oft Klagen über die Ernsthaftigkeit der Diskussionen von verschiedener Seite kamen“3, so Linda Bilda. Zu ihren Comix-Serien gehören NO Politcomics4, als Propaganda für eine fortschrittlichere Gesellschaftsform, Keep It Real5 oder Die Goldene Welt, die ja auch in der Ausstellung zu erfahren ist. Macht, Gewalt, Staat, Demokratie, Anarchie, Widerstand und Sabotage sind wiederkehrende Begriffe in ihren sequentiellen Erzählungen. Der Illusionscharakter der kapitalistischen Ökonomie gehört zu den Grundeinsichten, die LeserInnen und Publikum mittels visueller Denkprozesse vermittelt werden sollen, wie sie im Manifest für emanzipatorische Bildproduktion forderte. Neben diesen Comix veröffentliche sie auch die Zeitschrift Die weiße Blatt (sic!), die sich mit Kunst, Politik und feministischer Kritik beschäftigte. Wie man sieht, ist ihrem ausufernden Produktionsradius nur schwer beizukommen, vor allem in einem kurzen Teaser-Textchen wie diesem, aber Katalog und Ausstellung drehen den Kopf gekonnt in die richtige Richtung. Unbedingt nicht versäumen das.

 

1 www.thegoldenworld.com
2 Katalog Linda Bilda: Amor vincit omnia. Hg. ARTCLUB Wien, C. Schäfer u. H. Schmutz, Verlag für moderne Kunst, Wien, 2020. Vorwort von Hemma Schmutz, Seite 7.
3 Interview mit Linda Bilda: www.grrrlzines.net/interviews/nocomics.htm
4 Eigenverlag, erhältlich bei www.pictopia.at
5 Text- und Comicsammlung, Salzburger Kunstverein, 2009

LINDA BILDA. Amor Vincit Omnia
Viel zu jung und überraschend starb Linda Bilda im Sommer 2019. Das Lentos zeigt eine erste Retrospektive der Wiener Künstlerin. Bilda (geb. 1963) intervenierte bereits früh mit unerschrockenen Aktionen im öffentlichen Raum, gründete mehrere Zeitschriften, produzierte Comics und anmaßende Malereien, organisierte Lese- und Diskussions-Zirkel, schrieb Manifeste, erfand neue Bildtechniken für den öffentlichen Raum und hielt als Erfinderin internationale Patente für ein von ihr entwickeltes Leuchtglas. Ihre Arbeit ringt um eine „emanzipatorische Bildpolitik“.

Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen: Linda Bilda: Amor vincit omnia. Hg. ARTCLUB Wien, C. Schäfer u. H. Schmutz, Verlag für moderne Kunst, Wien, 2020.

Aktuelle Öffnungszeiten und mehr Infos: www.lentos.at

Malen nach Zahlen

Seit 1. Oktober dieses Jahres gibt es die erste und einzige Professur für Critical Data an der Kunstuniversität Linz. Eine genuin interdiszipli­näre Definition des Gegenstandsbereichs scheint dabei ebenso zu fehlen wie eine Open-Source-Strategie – analysiert Barbara Eder. Sie hat außerdem einen größeren Blick auf die Zusammenhänge von Industrie und IT im Land geworfen, und darauf, was im Digitalisierungsdiskurs derzeit alles schief läuft.

Malen nach Zahlen zwischen: 1 = Digitalisierungshimmelblau und 4 = Wirtschaftsstandortschwarz

„Hacker sind wie Künstler: Wenn sie mor­gens gut drauf sind, stehen sie auf und ma­len ein Bild“ – so beantwortete Wladimir Putin beim Sankt Petersburger Wirtschafts­forum im Juni 2017 die Frage des DPA-Journalisten Peter Kropsch nach dem mög­lichen Einfluss russischer Hacker auf den deutschen Bundestagswahlkampf. Der gedachte Vergleich scheint mit Blick auf die aktuelle Stellenpolitik an österreichischen Universitäten nicht allzu abwegig: Mit einer „Visual Culture Unit“, angesiedelt am „Institute für Art and Design“, bemüht die TU Wien sich seit 2014 um die Erweiterung ihrer technischen Studiengänge, unter dem Etikett „Künstlerische Forschung“ präsentierte die Wiener Universität für Angewandte Kunst einige Jahre später eine „Open Hardware Summit“ mit angeschlossenem „Hacker-Space“ und die Universität für künstlerische und industrielle Gestaltung Linz (UFG) springt derzeit mit einer neuen Professur für Critical Data auf den Zug der Zeit auf. Am Güterbahnhof „MINT“ – sprich: Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik – gibt es viel Fördergeld zu holen, weshalb die Beteiligung am Wettrennen auch für Kunstuniversitäten lukrativ ist. Was genau gemeint ist, wenn deren Exponent_innen von „künstlerisch-wissen­schaftlicher Aufarbeitung mit internationaler Beteiligung“ sprechen und was es zu bedeuten hat, wenn dieses ambitionierte Unternehmen in kritischer Absicht betrieben werden soll, ist jedoch nicht immer transparent.

Digitalisierung ist nicht einfach nur nichts Neues – die Telefonie ist etwa seit Mitte der Neunziger Jahre digital –, sondern auch ein Phänomen, dessen soziale Effekte oft und falsch einschätzt werden. Demgemäß ist in aktuellen Calls zum Thema – so etwa dem von der Wiener Kulturstadträtin Veronika Kaup-Hasler lancierten Fördertopf „Digitaler Humanismus“ und dem von der Arbeiterkammer Wien eingerichteten „Digitalisierungsfonds Arbeit 4.0“ – auch von vagen Ahnungen die Rede – obwohl seitens der noch jungen Disziplin der STS – sprich: Science and Technology Studies – derzeit ebenso brauchbare Hypothesen zum Gegenstandsbereich formuliert werden wie von technischer Seite. „Indem wir die traditionsreichen geisteswissenschaftlichen Hochschulen unserer Stadt und die EntwicklerInnen neuer Informationstechnologien miteinander verbinden, wollen wir den Menschen wieder ins Zentrum technischer Innovation stellen“, bemerkte Kaup-Hasler anlässlich der Erstversion des Calls von 2019 – ein Programm, das Wien im Zentrum der „neuen Ära der Digitalisierung“ positionieren soll. Den sogenannten „EntwicklerInnen“ – und damit auch denen, die von namhaften Institutionen zwecks Umsetzung ihrer tollkühnen Ideen zugekauft werden – kommt dabei nicht selten der subordinierte Part zu und auch in Kunstkontexten verhält es sich kaum anders: Die Kräfteverhältnisse sind bei der Arbeit am „Digitalen“ schon im Vorfeld festgelegt, im Zuge der Arbeitsteilung daran bleiben die Geschlechterrollen – Frauen repräsentieren, Männer programmieren – auf erstaunliche Weise analog.

Something is rotten in this digital Age of Hope – und die Missverständnisse sind zahlreich. Wenn Kulturwissenschafter_innen – so etwa Sybille Krämer in ihrem Artikel für ORF-Science vom 7. 10. 2018 – von einer „Virtuellen Maschine“ sprechen, meinen sie damit nicht etwa eine Virtualisierungsumgebung mit Zugriff auf ausgewählte Ressourcen eines Host-Systems, sie sprechen von Metaphern; beim Kommunizieren über Disziplinengrenzen hinweg – die Autorin dieses Textes steht dabei nicht selten auf beiden Seiten der Front – ist ein derartiger Einsatz von Begriffen jedoch nicht unproblematisch; die frisch berufene Professorin an der Kunstuni Linz, Manuela Naveau, scheint dahingehend kaum den entscheidenden Un­terschied zu machen. Laut Presseaussendung vom 12. Oktober 2020 sieht diese sich als „Begleiterin von Studierenden, die sich mit den aktuellen Herausforderungen der Digitalisierung beschäftigen“ – ein löbliches Anliegen, bei dem „der Mensch als Garant für Zufälliges in digitalen Netz­werken“ angesehen wird. Die elegante Ale­a­torik in der Positionierung digitaler Subjekte mag imponieren, in einem Punkt ist sie so beliebig jedoch nicht: Nachdem Wien sich bereits vor zwei Jahren zur Hauptstadt des „Digitalen Humanismus“ erklärt hat, will die oberösterreichische Landeshauptstadt es dieser nun gleichtun.

Am 28. August hat Kanzler Kurz verkündet, dass Linz eine Technische Universität (TU) bekommen soll – ein Vorhaben, das mit notwendigen Investitionen in den „Wirtschaftsstandort Oberösterreich“ be­gründet wird, der seit jeher mit der Voestalpine Linz verknüpft ist. Der weltweit tätige Stahlkonzern ist nicht nur der größte CO2-Emittent des Landes, sondern seit rund zehn Jahren auch von massiven Umsatzeinbußen betroffen – ein Umstand, dem mit der Verknüpfung von „Industrie-Wei­terentwicklung und Digitalisierung“ an der neuen Linzer Ausbildungsstätte begegnet werden soll. Während der Rektor der Johannes-Kepler-Universität (JKU) Linz, Meinhard Lukas, sich von der Idee des Digitalisierungsstandorts Linz restlos begeistert zeigt, kommen die kritischen Stimmen vor allem aus dem Präsidium der Technischen Universitäten – so verkündete Harald Kainz, Rektor der TU Graz, dass Österreich mit drei technischen Universitäten ohnehin gut versorgt sei und zieht dabei die Verteilung in der Bundesrepublik heran, die in drei Bundesländern von der Größe Österreichs – Bayern, Baden-Württemberg und Hessen – über je maximal zwei technische Universitäten ver­fügt. Vorangetrieben wird das Vorhaben der Linzer Digitalisierungs-Universität maß­geblich durch Industriellenvereinigung (IV) und Wirtschaftskammer (WKO), bereits im Präsidium der Wiener FH Technikum haben diese ihre Vertreter_innen – nebst jenen von Kapsch und Schrak – großzügig postiert; in Linz wird künftig auch der Handelsverband mitmischen.

Bis auf Weiteres würde es nicht wundern, wenn die Kunstuniversität Linz nebst der von Gerfried Stocker im Zusammenspiel mit der neuen Critical-Data-Professorin Manuela Naveau jährlich veranstalteten Ars Electronica die sanfte Vorbereitung für die harten Lektionen der Industrie leisten sollte – von offener Partizipation und freier Entfaltung war auch im Zusammenhang mit Stadtteil-Gentrifizierungen oft die Rede, als deren Avantgarde und erste Vertriebene seit jeher Künstler_innen fungierten; in den hellen Gängen des Studiengangs „Interface Cultures“ breitet sich schon jetzt der „kreative“ Geist der Maschine aus – nicht selten in Form von dauerparlierenden Dosen und bewegungssensitiven IP-Kameras, die jeder HTL-Schüler hacken kann; währenddessen wird über Big Data lamentiert und von Naveau mitunter beklagt, dass „Konzerne mit ähnlich gearteten Produkten“ sich zusammenschlössen, „um ihre Datenbanken zu koppeln und so noch bessere Kundenprofile für punktgenauere Produktplatzierung zu erstellen“ – cookiegetriebene Herdenwerbung funktioniert anders und von Koppelungen dieser Art würde man vielleicht nicht so leichtfertig reden, wenn man etwas über das Tabellenformat hinter dem Interface wüsste. Relationale Open-Source-Datenbanksysteme wie MariaDB oder MySQL machten dieses Wissen transparent, stattdessen wurde das kunstuniversitäre Areal jedoch mit Geräten der Firma Apple ausgestattet und besticht bereits die Erstsemestrigen „intutiv“ – mit studentischen Rabatten auf die Laptops und Tablets desselben Konzerns. Ihnen wird vorgesetzt, was gekauft wurde und damit der Grundstein für eine oft lebenslange Kundenbindung gelegt, die in Künstlerkreisen nicht selten als Synonym für technische Kompetenz gilt – damit man auch in Zukunft noch kräftig zubeißen kann.

Nicht immer sind Hacker wie Künstler – im Gegensatz zum Großmogulen-System der Meisterklasse absolvieren sie den Akt der Selbstautorisierung nicht selten hinter dem Bildschirm oder mit Bleistift vor einem weißen Blatt Papier. „Nun weißt Du die Antwort gewiß, und ich habe sie dir nie gesagt. Bei dieser Vorgehensweise gibt es keinen Weg, dich in die Irre zu führen oder die falsche Antwort zu geben“, heißt es etwa gegen Ende der im Februar 1985 verfassten Einleitung zu George Spencer-Browns „Laws of Form“. Im Anschluss an die Explikation der logischen Grundlagen schließen die Leser_innen ganz ohne Lösungsheft. Tätigkeiten wie diese überlässt die „Kreative Klasse“ jedoch gerne anderen. Wenn Manuela Naveau sich wünscht, „dass sie“ – gemeint sind die Maschinen – „hin und wieder nicht oder anders laufen“, nimmt sie kritische IT-Infrastrukturen von dieser Forderung hoffentlich aus. Nicht Künstler, sondern Hacker aller Länder sorgen seit jeher dafür, dass der technische Dauerbetrieb in Krankenhäusern und Rettungsdiensten ohne Unterbrechung funktioniert. Von Digitalisierung reden derzeit jedoch jene, die ein Betriebssystem noch nie von innen gesehen haben. Und der Kuchen, den es zu verteilen gibt, ist von vornherein knapp.

ufg.ac.at

Ein schlechter Tausch: Schutz vor Hass im Netz gegen Meinungsfreiheit

Das ursprünglich aus Radio FRO hervorgegangene Cultural Broadcasting Archive (CBA) organisiert sich neu und wird zum eigenen Verein. Auch aus diesem Anlass reflektiert Ingo Leindecker eine Meinungsbildung, die heute vor allem über das Internet stattfindet: Die gesetzlichen Bedingungen, unter denen wir dort debattieren, haben großen Einfluss auf unsere Meinungs- und Informationsfreiheit. Immer wieder sehen Gesetzesentwürfe weitreichende Einschränkungen vor, die besonders nicht-kommerzielle Initiativen in ihrer Existenz bedrohen.

Das Cultural Broadcasting Archive (CBA): Hier zum Beispiel gibt es überhaupt kein Problem zu lösen. Bild Screenshot CBA, Nov. 2020

Wenn wir heute an einer öffentlichen Diskussion teilnehmen, dann tun wir das vielfach auf den größeren kommerziellen Online-Plattformen, deren Monopolisierung im letzten Jahrzehnt die öffentlichen Diskursräume stark verengt hat. Abgesehen davon, dass diese Systeme ohnehin geschlossene Räume sind, tragen einseitige Algorithmen zusätzlich zur Bildung der bekannten „Filterblasen“ bei, sodass man von konträren Meinungen erst gar nichts mehr erfährt. Das dient vor allem der Profitmaximierung der Plattform selbst, wozu sie die persönlichen Daten ihrer User*innen systematisch sammelt und an Werbekunden verkauft. Derart werden öffentlicher Diskurs und Meinungsbildung zugunsten der ökonomischen Wertsteigerung eines Privatunternehmens reguliert. Die Nutzer*innen selbst verlieren dabei gleich zwei Mal: Sie verlieren wichtige Möglichkeiten zur qualifizierten Meinungsbildung und müssen sich einem Profiling sowie der Monetarisierung ihrer persönlichen Daten aussetzen, um überhaupt am Diskurs teilhaben zu können.

Dass sich diese Systeme neben dieser Instrumentalisierung auch für Missbrauch eignen, haben spätestens der US-Wahlkampf 2016 und der Skandal um Cambridge Analytica gezeigt. Hier wurde deutlich, wie leicht die kollektive Meinungsbildung und sogar der Ausgang von Wahlen beeinflusst werden kann, solange nur die finanziellen Mittel zur Verfügung stehen. Gleichzeitig wird der öffentliche Diskurs durch (gezielte und teils im großen Stil organisierte) Hasspostings und Trolling vergiftet und behindert. Damit wurde evident, dass es einer politischen Regulierung dieser Plattformen bedarf, die User*innen vor solchen Manipulationen und vor Hatespeech schützt.

Die Medienpolitik der Bundesregierung: Diskurs­behinderung statt Förderung von Gemeinnützigkeit, Qualität und unabhängigen Infrastrukturen
Ebenso zeigt es, wie wichtig die Förderung gemeinwohlorientierter, nicht-kommerzieller Infrastrukturen und Algorithmen wäre, um Meinungsfreiheit nicht von den Finanzierungsmodellen der großen Plattformbetreiber abhängig zu machen. Im Sinne der Medien- und Meinungsvielfalt sollten Anreize geschaffen werden, um möglichst demokratische Diskursräume und Beteiligungsmöglichkeiten zu schaffen, von denen öffentliche Meinungsbildungsprozesse profitieren. Daneben muss die Förderung von Qualitätsjournalismus auch endlich für Onlinemedien möglich werden.

Die Bundesregierung geht hier bislang einen anderen Weg: Einerseits werden traditionelle, kommerzielle und qualitativ minderwertige Medien unverhältnismäßig gefördert, während es nach wie vor weder für neue Formen des Digitaljournalismus noch für die dafür benötigten Infrastrukturen Förderinstrumente gibt. Andererseits werden Gesetze vorgeschlagen, die vielfach das Gegenteil dessen erreichen, was sie offiziell bezwecken sollen. Sie schränken nicht nur die Vielfalt im Netz weiter ein, indem sie gemeinnützige Plattformen unnötigen Risiken aussetzen, sondern führen mitunter zur hanebüchenen Umkehr von eigentlich außer Frage geglaubten Rechtsprinzipien wie der Unschuldsvermutung und zu einer völligen Privatisierung der Rechtsdurchsetzung. Die Frage nach der politischen Motivation dahinter drängt sich auf: Entweder man ist schlicht zu kurzsichtig, um Gesetze entlang der Medienrealitäten zu formulieren oder man will Medien- und Meinungsvielfalt bewusst einschränken. Beides sollte die Alarmglocken schrillen lassen.

Neue Gesetzesentwürfe gefährden die Grundrechte
Aktuellste Beispiele sind das Kommunikationsplattformengesetz (KoPl-G, „Hass im Netz-Gesetz“) und das Audiovisuelle-Mediendienste-Gesetz, die nur durch vehementen zivilgesellschaftlichen Widerstand im letzten Moment entschärft werden konnten. Sie sollen Plattformen dazu verpflichten, ihre Diskussionsforen besser zu moderieren. So soll ab einem jährlichen Umsatz von 500.000 € oder einer User*innenanzahl von 100.000 die Einrichtung eines Meldesystems Pflicht werden. Mutmaßliche rechtliche Übertretungen müssen überprüft und innerhalb von 24 Stunden – bei eingehender Prüfung innerhalb von 7 Tagen – gelöscht werden, noch bevor jemals ein Gericht damit befasst wurde, ob es sich tatsächlich um eine Rechtswidrigkeit handelt. Die Kosten dafür sollen die Plattformen offenbar selbst tragen. Bedroht werden Unterlassungen mit Strafen bis zu 10 Mio. Euro. Bei den globalen Megakonzernen mag diese Forderung insofern nachvollziehbar sein, weil ihnen einerseits fast unbegrenzte Mittel zur Verfügung stehen, sie andererseits aber ihre Moderationspflichten weitgehend vernachlässigen und gleichzeitig massiv wirtschaftlich von der User*innenbeteiligung profitieren.

Überraschenderweise wurde (im Gegensatz zum deutschen Netzwerkdurchsetzungsgesetz) im österreichischen Gesetzesentwurf aber kein Unterschied zwischen gewinnorientierten und nicht-kommerziellen Plattformen gemacht. Die anvisierten Untergrenzen sind so angelegt, dass ebenso Projekte wie WikiCommons, WikiData, Github, Respekt.net oder in nicht allzu ferner Zukunft auch das in Linz gegründete CBA – Cultural Broadcasting Archive1 uvm. unter diese Regelungen fallen würden2. Sie leisten einen wichtigen Beitrag zur Informationsfreiheit und Meinungsvielfalt, werden dabei aber weder zur Verbreitung von Hatespeech genutzt, noch haben sie nur ansatzweise die finanziellen Mittel, juristische Beraterstäbe und Moderationsteams zu beschäftigen. Sie werden massiv in ihrer Existenz bedroht, obwohl es hier überhaupt kein Problem zu lösen gibt. Denn Sorgfaltspflichten hinsichtlich rechtlicher Übertretungen ihrer User*innen gibt es für diese Plattformen bereits jetzt.

Neben der fehlenden Treffsicherheit ist es vor allem beunruhigend, welcher gefährlichen Logik die in letzter Zeit vorgeschlagenen Digitalgesetze folgen, die sehr weitreichende Konsequenzen für uns alle haben.

Das KoPl-G konnte zwar schließlich mit einer Ausnahme für nicht-kommerzielle Plattformen abgeschwächt werden. Die nächsten Angriffe auf die Meinungsfreiheit stehen aber bereits vor der Tür.
Ähnlich wie das in den beiden angesprochenen Gesetzen vorgesehen war, sehen auch die geplanten Uploadfilter eine Beweislastumkehr und eine Privatisierung der Rechtsdurchsetzung vor: Anstatt dass ein*e Kläger*in ein Gericht zur – in diesem Fall urheberrechtlichen – Klärung bemüht, ob ein Inhalt rechtswidrig ist, müssen sich User*innen gegen eine Löschung „freibeweisen“, damit der eigene Content überhaupt erst einmal veröffentlicht werden darf – und dann ist die Diskussion meist auch schon längst vorüber. Über die Rechtmäßigkeit bestimmt dann anstatt eines Gerichts ein privates Unternehmen. Das ist Schuldvermutung bei gleichzeitiger Aushebelung der Gerichtsbarkeit. Und abermals ist keine Ausnahme für nicht-kommerzielle Plattformen vorgesehen.

Die Folgen: Medialer Kahlschlag und enormes Missbrauchspotential
Die nationale Umsetzung der EU-Urheberrechtsrichtlinie muss daher mit Argusaugen beobachtet werden. Kommt das Gesetz so wie vorgesehen, werden viele Plattformen aus Angst vor Strafen dazu übergehen, sehr vieles erst gar nicht zu veröffentlichen („Overblocking“) oder auf öffentliche Diskussionsforen bzw. auf user-generated Content im Allgemeinen zu verzichten. Viele kleine Plattformen werden ihren Betrieb einstellen oder stark einschränken müssen. Neue Projekte werden aufgrund des hohen Risikos erst gar nicht mehr entstehen. Die großen Player wie Facebook oder Youtube, die man eigentlich zu erreichen vorgibt, arbeiten unterdessen bereits an selbstlernenden Algorithmen, die die rechtliche Beurteilung automatisiert für sie erledigen sollen. Dann wurde die Rechtsdurchsetzung nicht nur privatisiert, sondern auch noch einem Algorithmus übertragen, der in Zukunft völlig intransparent darüber bestimmt, welche Postings veröffentlicht werden und welche nicht.

Hinzu kommt, dass solche Gesetze erst wieder leicht missbraucht werden können, indem etwa politische Gruppierungen konzertiert missliebige Inhalte auf einer Plattform melden. So könnten im großen Stil Inhalte lediglich mit der Behauptung einer Rechtsübertretung bis auf Weiteres offline genommen werden.

Ein gutes Beispiel dafür liefert etwa der prominente Fall um die Autorin Stefanie Sargnagel 2017, die aufgrund ihrer politischen Äußerungen zur Zielscheibe von rechten Agitator*innen wurde, die auf diese Weise die Veröffentlichung ihrer Postings verhinderten. Dass solche Gesetze genauso indirekt von staatlichen Stellen missbraucht werden können, macht das Ganze noch beunruhigender.

Conclusio: Sobald Gesetze vorsehen, Meinungsfreiheit, Medienvielfalt und grundlegende Rechtsprinzipien gegen welches Interesse auch immer einzutauschen, gehen sie zu 100% an den Interessen der allgemeinen Öffentlichkeit vorbei und müssen daher vehement bekämpft werden.

 

Radio FRO Studiogespräch im Rahmen von It’s Up To Us: www.fro.at/medienvielfalt-staerken

1 www.cba.media, Österreichs größter, gemeinnütziger Podcastprovider der Zivilgesellschaft, der aus der Freien Radioszene heraus entstanden ist.
2 „Welche Online-Plattformen vom neuen ‚Hass im Netz‘-Paket betroffen sein werden“ epicenter.works/content/welche-online-plattformen-vom-neuen-hass-im-netz-paket-betroffen-sein-werden, 13. 11. 2020

Dieser Text erscheint anlässlich des 20jährigen Bestehens des Cultural Broadcasting Archive (CBA): Das CBA ist Österreichs größter, gemeinnütziger und zivilgesellschaftlicher Podcastprovider, der aus der Freien Radioszene heraus entstanden ist. Über 100.000 Podcasts können kostenlos gestreamed werden. Zum 20jährigen Bestehen wurde die Plattform kürzlich relaunched und ein Verein gegründet.
www.cba.media

Von Widerstand, Protest und Totalverweigerung: Geschichte(n) des Kunststreiks

Ob radikaler Aufruf zum Generalstreik, politische Mobilisierung und Organisation oder stilles, temporäres Abwarten: In „Geschichte(n) des Kunststreiks“ erzählt die Kulturwissenschaftlerin und Künstlerin Sofia Bempeza, wie Streikpraktiken im Kunstbereich aussehen, an wen sie sich richten – und was sie erreichen können. Vanessa Graf hat die gerade erschienene Publikation gelesen.

Es wird gestreikt: gegen schlechte Arbeitsbedingungen. Gegen fehlende oder unzureichende Entlohnung, gegen ausbeuterische Machtverhältnisse, gegen die Spielregeln in einem System, das nur allzu oft Profit aus den Schwächsten schlägt, gegen nicht vorhandene Wertschätzung und überfordernde Arbeitszeiten. Der Streik funktioniert für Angestellte und Arbeiter*innen als Druckmittel, als Mittel zum Zweck, manche würden sagen: auch als Waffe. Wie aber formt sich Streik in Kunst und Kultur, wo feste Arbeitsverhältnisse die Ausnahme zur prekären Regel sind, Arbeit sowohl work, eine Tätigkeit, aber auch labor, Lohnarbeit, ist? Was ist der Streik für eine Künstlerin, wie geht Widerstand für einen Künstler?

Genau diesen Fragen geht die Kulturwissenschaftlerin und Künstlerin Sofia Bempeza in ihren „Geschichte(n) des Kunststreiks“ nach: anhand einer Vielzahl an Beispielen aus dem nordamerikanischen und europäischen Raum zeichnet sie nicht nur eine, sondern viele Geschichten des Streiks in Kunst und Kultur nach. Mit ihrer Arbeit schafft Bempeza damit nicht nur den geeigneten Rahmen, um über Kunst- und Kulturstreiks in der Vergangenheit und Gegenwart nachzudenken – sondern auch eine Aktualisierung des Streikbegriffs, der weit über die organisierte Arbeitsverweigerung im Kontext der Arbeiter*innenbewegung hinausgeht.

Kunststreik ist Kritik, Reform und Ablehnung auf einmal
Bempeza sieht dabei Kunststreiks als Angriffe auf die Produktionsregeln des Kunstsystems, „Ansätze, die die Produktion und Vermarktung von Kunst, ihren besonderen Status als eigenständige Arbeit innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise sowie das Künstlersubjekt als Arbeiter_in hinterfragen“. Damit zielen diese Proteststrategien immer auch auf jene, die das System erst ausmachen: Museen, Kulturinstitutionen und den Kunstmarkt. Kunststreiks leisten so außerdem Widerstand in einem Spannungsfeld, das von Kunst als Selbstverwirklichung über kreatives Denken als Dienstleistung bis hin zu überlebensnotwendiger Lohnarbeit reicht.

Mindestens genauso verzweigt und weitreichend wie dieses Feld der Kunst als Arbeit sind auch die Spielarten des Streiks, die Bempeza umreißt. Sie beginnt bei Beispielen aus den 1970ern, wie etwa jenes der amerikanischen Künstlerin Lee Lo­za­no, die den Protest nicht anders als total denken wollte, sich zur Gänze aus der Kunst zurückzog – und sich darüber hinaus ab Beginn ihres allumfassenden Generalstreiks vehement weigerte, mit Frauen zu sprechen oder auch nur in Kontakt zu treten. Besonders letztere, niemals öffentlich begründete Entscheidung wird, wie Bempeza beschreibt, bis heute intensiv diskutiert, wenig akzeptiert und trifft auch bei der Autorin selbst auf Unverständnis.

Über weniger totale, aber regelmäßig wiederkehrende und einander ähnelnde Streikaufrufe wie jene von Gustav Metzger, der Ende der 1970er eine dreijährige Schaffenspause forderte, führt das Buch schließlich bis hin zu jüngeren Protestaktionen in der Kunst. Diese bedienen sich zum Teil immer noch derselben Methoden von Verweigerung oder politischer Organisation (ein Beispiel wäre die litauische Protestveranstaltung Art Strike Biennial, einem Festival, das sich mit Improvisationen, Protestaktionen und Streik gegen die Kulturpolitik in Vilnius richtet), manche haben allerdings auch neue Formen gefunden. So zum Beispiel die Onlineplattform Art Leaks: die ursprünglich in Osteuropa entstandene, nun aber international agierende Protestplattform bietet Kunstschaffenden seit 2011 die Möglichkeit, Missstände in der Kulturarbeit anonymisiert zu veröffentlichen – und damit sichtbar zu machen.

Der Streik in drei Dimensionen
Spannend dabei: Bempeza denkt den Kunststreik über alle Beispiele stets in drei Dimensionen, die sich vermischen, gegenseitig stärken oder einander sogar benötigen. Da wäre zum einen die Verweigerung, ein bewusstes Nein-Sagen zu Arbeitsbedingungen, zum Versprechen von Sichtbar- und Aufmerksamkeit statt Entlohnung oder zum Ausnutzen von Kunstschaffenden als Ideen-Generator*innen für Industrie und Privatwirtschaft. Die zweite Strategie bezeichnet Bempeza mit „temporärer Adraneia“, aus dem Griechischen: ein Nicht-Tun, eine Inaktivität oder ein stilles Abwarten. Diese Strategie hat etwas mit Trägheit zu tun – Adraneia ist das zeitlich begrenzte Schweigen, Fühlen und Nachdenken. Die dritte Streikpraktik schließlich ist die politische Organisation, das Mobilisieren und Intervenieren, um Veränderung zu erzwingen. Bempeza sieht in ihrem Vorschlag der drei Dimensionen eine dringend notwendige Aktualisierung des Streikbegriffs – eine Aktualisierung, die das Denken (und Ausüben) von Streik über Arbeiter*innenstreiks hinaus auch im Kunst- und Kulturbereich miteinbezieht.

Genauso, wie die drei Dimensionen des Kunststreiks für Bempeza nicht vollständig voneinander zu trennen sind, vermischen sie sich auch mit anderen Streik- und Protestbewegungen: der Widerstand, der hier beschrieben wird, ist intersektional. Er kann solidarisch mit der Arbeiter*innenbewegung sein, manchmal kämpft er gegen Rassismus und Imperialismus, oft vermengt er sich mit der feministischen Bewegung und ab und zu steht er für Institutionskritik; in den meisten Fällen auch alles auf einmal.

Die Geschichte(n): viele Inseln im weiten Meer
So eindringlich und überzeugt auch von genau diesen Überlappungen, parallelen Entwicklungen und Verschränkungen geschrieben wird: beim Lesen sind es leider genau oft diese, die zu fehlen scheinen. Die Berichte und Erzählungen der einzelnen Streikpraktiken wirken wie schwindend kleine Inseln in einem riesigen Ozean, wenig vernetzt und mitunter ganz ohne Zusammenhang. Bempeza hakt in den Beschreibungen einen Streik nach dem anderen ab, ohne sich dazwischen ausreichend Zeit für eine Kontextualisierung und Vernetzung zu nehmen: wo also verstecken sich die Wechselwirkungen, auf die hier theoretisch so stark verwiesen wird? Wie lesen sich die verzweigten Geschichten zwischen den Streiks und Verweigerungen?

Zugegeben: Die Autorin gibt nie vor, eine einzige, definitive Geschichte des Kunststreiks erzählen zu wollen. Bereits der Titel verweist auf eine gewisse Vielstimmigkeit; Bempeza schreibt „Geschichte(n)“, ein zaghafter Plural also, und verweist auf Bewegungen und Streikpaktiken, die sich selbst beständig im Fluss befinden, vielleicht (noch) nicht abgeschlossen sind oder es gar nie sein werden. Dennoch: auch eine unvollständige Geschichte, eine Vielzahl an Geschichte(n), kann über lokal verankerten Widerstand, Protest und Aufbegehren blicken und das größere Ganze beleuchten.

Vielleicht ist es genau das, was Bempeza mit den zwei Berichten über die Strike Debt Bewegung in den USA und den Transnationalen Migrant*innenstreik in Wien am Schluss ihres Buches zumindest ansatzweise versucht. Im ersten Fall werden seit 2012 Überschuldung bestreikt sowie gleichzeitig Schuldenerlass gefordert, das Beispiel aus Wien hingegen befasst sich mit der Bestreikung von Alltagsrassismus, einer Normalität, die viele ausschließt, und – besonders spannend – die Sprache als eine „hegemoniale Sprache des Nationalstaates“ an sich. Es wären, so die Autorin, zwei Protestbewegungen, die sehr offensichtlich mehr als nur Kunst bestreiken – gemeinsam haben sie, dass sie beide Protestbewegungen sind, die ihr eigenes Umfeld ins Gericht nehmen, es radikal in Frage stellen und, ähnlich wie auch die besprochenen Kunststreiks, eine gewisse Performativität an den Tag legen. Der Vergleich zum Streik in der Kunst funktioniert besonders dann gut, wenn etwas zutiefst Grundsätzliches bestreikt wird – sei das die Kunst, das Schaffen und ihr Kontext selbst, oder, wie etwa beim Migrant*innenstreik, die Sprache an sich.

Von den großen Fragen der Sprache zum Protest im Kleinen
Bempeza schließt „Geschichte(n) des Kunststreiks“ also mit Überlegungen zu Protest und Sprache und knüpft somit an etwas an, was fast zweihundert Seiten zuvor ihr Buch eröffnete: ein Hinweis zur Sprache nämlich, der nicht nur einen äußerst sympathischen Einblick auf die Schreibweise und das Leseerlebnis gibt, sondern auch selbst als kleiner Protest agiert. „Es entspricht nicht allen akademischen Standards, die der deutschsprachige wissenschaftliche Raum vorgibt oder anerkennt“, warnt Bempeza gleich zu Beginn, die sich als Griechin nämlich dazu entschlossen hat, in einer Fremdsprache zu schreiben. Nur, um im nächsten Satz ohne Entschuldigung zu ergänzen: „Dieses Buch erscheint trotzdem auf Deutsch.“

Das scheint mir abschließend sehr dringend noch eine dritte Sprache zu erfordern: Chapeau!

 

Geschichte(n) des Kunststreiks Sofia Bempeza
mit einem Vorwort von Athena Athanasiou

Die Monografie Geschichte(n) des Kunststreiks versammelt historische wie gegenwärtige Positionen der Verweigerung, der Sabotage, des Dissenses und der politischen Organisation in der Kunst. Dabei ist es das erklärte Ziel der Autorin, zur heutigen Diskussion über (scheinbar) selbständige, kreative Arbeit im Kunstfeld beizutragen. Die von Bempeza diskutierten Kunststreiks setzen sich mit Museen, Kunstinstitutionen und dem Kunstmarkt auseinander – in Form radikaler Institutionskritik, in Gestalt symbolischer Kunstverweigerung und des ästhetischen Widerstands oder als organisierte kulturpolitische Intervention. Das Buch markiert außerdem das Verhältnis von Kunst zu produktiver und unproduktiver Arbeit. (Auszug Verlagstext)

transversal texts, Dezember 2019
ISBN: 978-3-903046-22-1
194 Seiten, 12,– €
Download auf: transversal.at/books/kunststreik

Die grüne Hydra

Im Oktober konnte Lisa Spalt mit dem Text Die grüne Hydra den Literaturwettbewerb Floriana für sich entscheiden. Hier ein Auszug.

Bild Lisa Spalt

Über mir saß wieder dieser bronzene Typ, der mir den Hintern des Pferdes zukehrte und in der Vorderansicht auch unzufriedene Mundwinkel hatte. In diesem Moment verstand ich, dass wir die Fremden fürchteten, weil sie im Gegensatz zu uns Mythen besaßen, die sie mit der Welt verbanden. Die unseren trennten uns von ihr und einander. Man erzog uns dazu, nach unserem Tod als Helden zu glänzen. Und so schufen wir uns eine Welt der Katastrophen, um zu beweisen, dass wir alle im Unterschied zu anderen darin überleben konnten. Ein junger Mann zeigte mir, als ich dabei war, dies zu denken, den Mittelfinger. Er erklärte mir auf diese Weise, dass er zu Calvin gehörte, zur Gruppe der Kleinen Calvinerinnen, die keine Kirchengebäude als Sehenswürdigkeiten anboten, sondern ihren Gläubigen gleißende Kleidung überzogen, welche die Wände heiliger Räume symbolisierte. Eine dieser mobilen Fortschrittskirche assoziierte Kosmetikmarke mit dem Namen Vichy Régime, welche beanspruchte, die neuesten Werte zu repräsentieren, lieferte den Anhängerinnen semitransparente, duftende Fläschchen, die die früheren Kerzen ersetzten. Sie wurden von den Auserwählten dazu benutzt, die Smartphones, über deren Bildschirme die Messen flackerten, daran anzulehnen, damit man die Hände freihatte, zum andächtigen Empfangen von mit göttlichem Fleisch belegten Brötchen.

Später, am Abend, lagen im Hotel Objekte auf dem Kopfkissen, die sich hintersinnig „Lebkuchen“ nannten. Ich kaute das Zeug und sah dabei eine Tiersendung über einen Süßwasserpolypen, der in Symbiose mit den Chloroplasten einer Alge lebt. Die dargebotenen Informationen reimte ich mir so halbwegs mit Hilfe der immer wieder ausgesprochenen lateinischen Bezeichnung des Tieres, anhand von einigen wenigen von mir beherrschten Wörtern der fremden Sprache – zum Beispiel die für „und“, „eins“ und „Gemüse“ – sowie durch intensives Surfen im Internet zusammen. Der Lernvorgang lief ziemlich interaktiv ab und ich kam, weil ich wenig verstand und die Worte in mir verschiedenste Bilder aus Vergangenheit, Gegenwart und Projektion verschmolzen, auf Gedanken, die nur durch eine starke Energie entstehen konnten. Ich vermutete zum Beispiel, es handle sich bei dem Süßzeug um Lebkuchen der Marke Sirius. Der Name hatte etwas mit den sich ankündigenden Hundstagen einer neuen Heißzeit zu tun. Er sollte aber, so tagträumte ich, auch ein Insider-Hinweis auf das Abmelken meiner Daten zum Vorteil einer weit entfernten Zentrale sein. Die Süßigkeiten enthielten relativ sicher essbare Wanzen, die mich nach dem Verschlucken von innen her abzuhören beginnen würden. Ein starkes „Rum-Aroma“, welches wahrscheinlich je nach Sprachzugehörigkeit besessene „Amor“ oder „Amour“ auslösen sollte, überdeckte den bitteren Geschmack der Mikro-Mikros. Die Verpackung der Dinger wiederum versprach, dass sie in die Kategorie Doppelabsahnstufe gehörten. „Gott versorgt dich mit allem, was du brauchst“, dachte ich, „nimm seinen Leib und iss ihn. Dann wird er in seinem Headquarter alias Über-Ich über dich wachen.“ Tatsächlich dachte ich schon seit Längerem, man lasse uns leben. Ich meine: Man ließ uns leben, wie man uns früher arbeiten hatte lassen. Mittlerweile waren unsere Auszucker ja wahnsinnig lukrativ. Und wir glaubten zwar immer noch, wir würden Liebe machen, die niemandem gehöre. Wir dachten immer noch, wir absolvierten – neben einem öffentlichen – auch ein wildes, privates Leben. Aber als ich die Herkunft des Wortes „privat“ gegoogelt hatte, das sich anscheinend vom französischen Verb „priver“ herleitet, – als ich verstand, dass es nichts anderes bedeutete als „jemandem etwas versagen“, wurde mir alles klar. Eigentlich bezog sich unsere Privatheit im Wortsinn der Beschränktheit nur noch darauf, dass die Arbeit, die wir durch unser Überleben leisteten, nicht mehr durch den Luxus schöner intimer Feiern des Umgangs aufgewogen wurde.

Gerade hatte sich im Zuge der Erderwärmung eine unbekannte Art von Flöhen ausgebreitet. Es wurden Gerüchte wiedergeflüstert, die in diesem Zusammenhang von Krankheiten sprachen. Man nannte die Botschaften „Rumors“ und wisperte von Menschen, die von diesen regelrecht besessen wären. In einer ersten Phase hielten die Befallenen alle anderen für Unbekannte. Dann behaupteten sie, die Platzhalter hätten es auf ihre Flöhe abgesehen, welche aber nur sie wegen deren winziger, also beinahe Nichtexistenz mit feinen Finanzinstrumenten liebkosen könnten. Lernten die Besessenen die Unbekannten schließlich näher kennen, misstrauten sie gemeinsam mit ihnen den noch Unbekannteren, bekämpften diese und entzweiten sich dabei mit den ersten Nummern, sodass sie wieder Unbekannte wurden. Bald predigten viele, ein einziges Gesetz durchwalte Mathematik und Natur. Die immer größer werdende Gruppe der Erkrankten wehrte sich aber dennoch gegen Linguistinnen, die das Wort „Ungeziefer“ von der „Ziffer“ herleiteten und erklärten, es meine etwas, das im Übermaß vorhanden sei. Die Berechnenden schlugen ein mathematisches Äquivalent zum Kreuzzeichen und monierten, die Anzahl der Flöhe wäre ganz im Gegenteil immer zu klein. „Manna“ riefen sie, es klang wie „Money“. Auch verwechselten sie zunehmend „Bucks“1 mit „Bugs“2 und sprachen in den höchsten Tönen vom sogenannten „Flohmarkt“. Gerüchte für Gerüche haltend, von denen sie glaubten, sie seien der Vermehrung der Flöhe günstig, marschierten sie daraufhin in Form von Armeen ein in Gebiete, die ihre Regierungen als unrein bezeichnet hatten. Es wurde behauptet, dort wohnten schmutzige Menschen, die die Flöhe unzulässigerweise an sich saugen ließen. Die Angehörigen des Militärs, die die Familie als Fleisch und Blut verlassen hatten, glaubten unterdessen, in den Soldatenröcken ihre Flöhe wie „Franken“, die Währung der Freiheit, mit sich zu schleppen. Doch waren die Tiere in den Taschen, wenn man nachsah, nie zu finden. Tatsächlich bekam man sie nur zu Gesicht, wenn sie im Zuge eines Sprungs vom Himmel fielen. Ein paar findige Köpfe verlegten sich daher darauf, auf dieses Erscheinen in der Abwärtsbewegung der parabelförmigen Kurse zu wetten. Und so begannen wir, während wir uns ganz nebenbei an die Behauptung gewöhnten, dass unauffindbare Werte die wichtigsten seien, den schlimmsten denkmöglichen Fall als „Glücksfall“ zu verstehen.

Der Kreislauf von „Pessimum“ – so die offizielle Bezeichnung der uns über die verschluckten Mikros abgezapften negativen Energie, die man mit den „Rumors“ beförderte – war bald auf nahezu bewundernswerte Weise geschlossen. Gut kalkulierte Geschichten sollten die Gegenwart zementieren, indem ihre Auswirkungen nur, wenn sie der nachhaltigen Produktion des von der Heimatpartei so genannten „Schlechtons“ dienten, von uns zugelassen wurden. Eine von niemandem verordnete, aber lückenlos rückwärtsgewandte dystopische Geschichtsschreibung lieferte die Modelle für unangenehme Figuren, die dadurch überproduktiv wurden. Ja, auch ich selbst verschmolz eines Morgens mit einem jungen, erfolgreichen Drogendealer aus der Folge einer Fernsehserie vom Vortag und konferierte, mit meinen eingeschmolzenen Pfunden wuchernd, mit auserwählten Performerinnen der Szene. Zur Begrüßung und zum Abschied rieben wir uns die Hände. Das Theater war perfekt. Professionell stellten wir den Markt dar, errichteten Stände und verwandelten unsere Gemeinschaft in eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung. Dann begann das Militär, hauptberufliche Storyteller anzustellen, die die phantastischsten Szenarien für zukünftige echte Kriege erdichteten, damit es sich dafür rüsten konnte. Wir erlebten das Beispiel der Folterer von Abu Ghuraib, die eine Folge der Fernsehserie „24 Hours“ für ihre Quälereien zum Vorbild nahmen. Die Produktion von Negativität durch die von ihnen verursachten Schmerzen war derart effizient, dass die ganze, nach dem Pessimum süchtige Welt mit der giftigen Lösung, die man jetzt als einen „Ausweg“ bezeichnete, versorgt werden konnte. Ja, es konnte sogar noch das Bekanntwerden des Zusammenhangs mit der TV-Serie für den Gewinn und die Versorgung weiterer Junkies fruchtbar werden. Alle Bestrebungen einiger Widerstand Leistender, Schlussfolgerungen aus den Vorgängen auf den Flohmärkten zu ziehen, die zu ihrer zukünftigen Eindämmung führen hätten können, wurden unterdrückt. Manche phantasierten noch, die berühmten „vertretbaren Sachen“, die an den Börsen als und mit Pessimum teuer verkauft würden, seien in Wirklichkeit Scheine. Wo wir Bares sahen, sahen sie schräge Bezüge. Für uns aber waren die Auftritte dieser „Realisiererinnen“, wie sich die Leute nannten, Anlass für so viele ärgerliche Gefühle, wie wir uns zum Wohle des allgemeinen Fortkommens gerade noch abpressen konnten. Wir zahlten uns jetzt richtiggehend aus, will sagen: Wir verausgabten uns. Und so sperrte man die Leute in unserem Namen weg. Überhaupt geschah jetzt vieles in unserem Namen. Hinter gepolsterten Türen begründete man dies mit einem im Falle des Zuwiderhandelns gegen den Willen der negativen, also irgendwie nicht vorhandenen Öffentlichkeit drohenden Zusammenbruch der Weltwirtschaft, die als eine Art Wirtshaus verstanden wurde, dessen Überleben vom Überfluss von Pessimum abhängig war, welches den davon trunkenen Menschen wie Milch und Honig aus den Mundwinkeln laufen musste.

 

1 Amerikanisch für „Dollar“
2 Englisch für „Flöhe“ Textauszug aus „Die grüne Hydra“ von Lisa Spalt.

Literaturpreis Floriana
Lisa Spalt gewinnt die FLORIANA 2020. Jury-Statement: „Der erste Preis geht an einen Text, der von seinem Rhythmus und Sound lebt. Dessen Autorin fest im Sattel ihrer Sprache sitzt. Das Chaos nach der modernen Apokalypse mündet in einer Dystopie, in der Ökonomie auf Ökologie prallt. Der Text erzeugt eine experimentelle Fläche, in der die Wirklichkeit als Suada wurzeln kann.“ Alle PreisträgerInnen: Lisa Spalt, Robert Woelfl, Melanie Koshmashrab, Förderpreis für oberösterreichische AutorInnen: Vanessa Graf
literaturpreis-floriana.at

„Es war ein Öko-Krieg“

Der Kraftwerksbau im oberösterreichischen Lambach und die Protestbewegung der 90er: Die Klischees wurden hier nicht bedient. Denn nicht nur „gewaltbereite AktivistInnen“ harrten drei eiskalte Monate auf der Baustelle aus, sondern auch AnrainerInnen und PensionistInnen. Silvana Steinbacher über ein gerade erschienenes Buch, das die Geschehnisse im Winter 1996 nachempfinden lässt.

Es waren drei dichte Monate, und allen, die im Camp dabei waren, sind sie abrufbar. Als im Jänner 1996 die Rodungsarbeiten für den Bau des Kraftwerks Lambach ohne Einbeziehung der AnrainerInnen in Gang gesetzt werden, beginnen UmweltaktivistInnen mit der Besetzung der Baustelle. Sie sollte drei Monate dauern. Thomas Rammerstorfer, er war selbst einer der Protestierenden, und Marina Wetzlmaier lassen in ihrem gerade erschienenen Buch Kampf um die Traun. Der Widerstand gegen das Kraftwerk Lambach diese Zeit wiederaufleben.
Abseits der Fakten und Ereignisse, die von den beiden aufgerollt werden, sind es die Erinnerungen einstiger AktivistInnen und vielleicht auch Rammerstorfers eigener Rückblick, die das Leben im Camp spürbar werden lassen: der Alltag, die eiskalten Winternächte in den Schlafsäcken, die Furcht, vom Feuer erfasst zu werden, an das sich die Frierenden so nahe wie möglich gelegt hatten. Und schließlich die Beschimpfungen durch BefürworterInnen des Kraftwerks, aber auch der Zusam­men­halt der Protestierenden untereinander, der einigen von ihnen bis heute im Gedächtnis geblieben ist. Wetzlmaier und Rammerstorfer gelingt es, diesen Alltag so dicht zu schildern, dass man den Eindruck erhält, dabei zu sein.

Thomas Rammerstorfer, damals 20 Jahre alt, war auch teilweise im Camp: „Sobald jemand davon redet, wird mir heute noch kalt. Es hatte minus 15 Grad im Jänner 1996, minus 10 Grad nahe am Feuer. Die Vielfalt der Demonstrierenden im Camp war ungewohnt. Es waren auch ältere Damen dabei, die Gemeinschaft war toll. Ich kann mich erinnern, dass es gut organisiert war, es wurden auch täglich Pläne für die Lager erstellt, drei bis fünf sind es gewesen. Natürlich befürchtete ich manchmal, dass die Bewegung ins Radikale abgleiten könnte, doch die ersten Anzeichen dafür wurden schnell gebremst. Insgesamt würde ich sagen, war dieses Ereignis nicht nur eine Niederlage. Die OKA hat ihre Politik geändert und registriert, dass es für ihr Image förderlicher ist, ein paar Millionen mehr in den Umweltschutz zu stecken als in Werbung.“

Chronologie der Ereignisse: (partiell)
Im März 1995 erlässt das Landwirtschaftsministerium einen positiven Wasserrechtsbescheid.

1996 beginnen die Rodungsarbeiten

Im April desselben Jahres wird aus Formalgründen der Wasserrechtsbescheid aufgehoben.
Im Herbst 1997 verliert Landeshauptmann Josef Pühringer (ÖVP) bei der Wahl die absolute Mehrheit. Die ÖVP beschließt dennoch mit den Stimmen der SPÖ, sie stellte sich während des Konflikts dezidiert gegen den Bau, die endgültige Errichtung des Kraftwerks.

Ende Mai 2000 wird das Kraftwerk Lambach offiziell eröffnet. In den folgenden Jahren entwickelt sich rund um den Bau ein Naherholungsgebiet.

Marina Wetzlmaier hat während dieses Konflikts noch die Volksschule besucht. Sie ist freie Journalistin und Autorin und hat sich in ihren bisherigen Büchern mit türkischen Moscheevereinen (Mitautor: Thomas Rammerstorfer) und mit der Linken auf den Philippinen beschäftigt. Das aktuelle Buch ist ihr erstes über ein österreichisches Ereignis.

„Mein Spezialgebiet sind soziale Bewegungen und die Frage, wie sie entstehen. Auch Gruppendynamik interessiert mich. Und so hat mich auch dieses Ereignis interessiert. Ich habe mir auch am Beispiel Lambach die Frage gestellt, wie sich Widerstand formiert, welche Formen von Aktivismus festzustellen waren. Der Widerstand auf der Baustelle hatte viele Facetten zu verzeichnen: Tradition, kreativer Widerstand. Es gab also auch kulturelle Aktivitäten während dieser Zeit.“

Die Faktoren
Der Konflikt um das Kraftwerk Lambach spielte sich auf mehreren Ebenen ab. Auf der einen Seite GegnerInnen, Firmen, die sich durch den Bau Profit erhofften, die Politik, vor allem durch die ÖVP und die OKO, heute Energie AG, deren Privatisierungspläne parallel zu den Konflikten um das Kraftwerk Lambach verliefen. Und auf der anderen Seite die im Camp Protestierenden, die zwar intensiv von Global 2000, den Grünen und einigen AnrainerInnen unterstützt wurden, aber gegen diese machtvolle Mauer der Befürwortenden kaum eine Chance hatten. Viele der Protestierenden von damals meinen heute: „Es war ein Okö-Krieg.“

Gerüchte und Verleumdungen
Die Phantasie einiger Befürwortender des Kraftwerkbaus entwickelte sich zur Hochform, wenn es darum ging, die Protestierenden zu verleumden.
Feierte das Gerücht über die Berufsdemonstrierenden damals seine Premiere? Jedenfalls begegnet es uns in schöner Regelmäßigkeit immer wieder, wenn sich eine Protestbewegung formiert. Hohe Summen wurden genannt, die angeblich pro Tag und Person ausbezahlt worden seien. Von wem eigentlich?
Den widerlichen Höhepunkt setzte wahrscheinlich der ehemalige Sprecher der Vöest, der eine namentliche Erwähnung nicht verdient. Er bemühte in einem Kommentar, den ich nicht wörtlich zitieren will, eine Nähe der Protestierenden zum Nationalsozialismus und zu Goebbels. Pühringer gratulierte ihm daraufhin in einem Leserbrief und meinte später, er hätte den Kommentar nicht gelesen.

Plötzliche Wende und weitere Ereignisse:
Mit einem Unfall beginnt eine aufrüttelnde Wende im Camp. Ein Pensionist hält sich an der Kante einer Baggerschaufel fest, stürzt, bricht sich eine Rippe und verliert das Bewusstsein. Der Fahrer wird im Prozess freigesprochen. Der Pensionist überlebt glücklicherweise ohne bleibende Schäden.

Ein weiteres Ereignis: Bei Baggerungsarbeiten werden menschliche Skelette gefunden, ein Baustopp wird beschlossen, schließlich klärt sich, dass diese Überreste über 300 Jahre alt sind. Vorherige Vermutungen, es könnten Skelette von ehemaligen KZ-Häftlingen sein, veranlasste einige, sich zu antisemitischen Äußerungen der übelsten Art hinreißen zu lassen.

In ihrem Resümee führen die beiden AutorInnen recht ausgewogen auch die Perspektiven dieses lange zurückliegenden Konflikts vor Augen.
Als der faktische politische Gewinner ging der damalige Landeshauptmann Josef Pühringer hervor. Bei der nächsten Landtagswahl verlor die ÖVP allerdings 2,51 Prozent, was natürlich nicht 1:1 aus dieser Thematik resultiert. Die Grünen schafften den Einzug in den Landtag. Unterstützt wurden die AktivistInnen damals von der gesamten Prominenz der Grünen, von Peter Pilz über Madeleine Petrovic bis zu Alexander van der Bellen, die alle ins Camp kamen, allerdings auch wesentlich durch die Umweltschutzorganisation Global 2000 mit ihrem damaligen Pressesprecher Lothar Lockl.
Auf kommunaler Ebene zog die Liste „Lebensraum Stadl-Paura“, die ein besonderes Naheverhältnis zu den ehemaligen KraftwerksgegnerInnen zeigte, mit 17,91 Prozent in den Gemeinderat ein.

Eine Niederlage mit „Gewinn“
Im Herbst 1997 fällt die Entscheidung: Die ÖVP beschließt mit den Stimmen der SPÖ, die sich immer gegen diesen Bau ausgesprochen hat, schließlich für die Errichtung des Kraftwerks.
„Problematisch war ganz offensichtlich die Ausgangslage“, stellt Marina Wetzlmaier fest. „Die SPÖ war innerhalb ihrer Fraktion gespalten, denn die Gewerkschaft akzeptierte den Bau mit dem Argument der Arbeitsplätze.“
Die Aktivistinnen hatten auf einigen Seiten übermächtige Gegner. Als Verlierende in diesem Konflikt sehen sich die meisten dennoch nicht. Lothar Lockl wird von Wetzlmaier und Rammerstorfer einige Male zitiert. Er habe in Lambach gelernt, wie sich unterschiedliche Menschen zu einer Gemeinschaft formieren könnten. Bei einigen der Protestierenden entwickelte sich erst durch diesen Konflikt eine ernsthafte Politisierung.
Nicht zu beschönigen ist allerdings auch die Tatsache, dass der Protest in der Bevölkerung teils tiefe Gräben aufgerissen hat, bis hin zu Zerwürfnissen innerhalb von Familien.
Wetzlmaier und Rammerstorfer bleiben in ihrem Buch Kampf um die Traun. Der Widerstand gegen das Kraftwerk Lambach aber nicht ausschließlich in der Vergangenheit, sondern streifen auch – und dies ist eine Qualität des Buches – die Gegenwart.
Das Kraftwerksprojekt Tumpen-Habichen an der Ötztaler Ache in Tirol soll trotz einer Petition mit mehr als 12.000 Unterschriften und anderer Proteste bis spätestens 2022 in Betrieb gehen. Zurück zu Lambach: Rund um den Bau des Kraftwerks entwickelte sich ein Naherholungsgebiet. Die Protestierenden nutzten den Konflikt, um ein Rückbauprojekt der Traun zwischen Welser Wehr und Alm-Spitz zu fordern. Für ihre Verdienste um den Rückbau erhielt die Bürgerinitiative Traun den Landespreis für Umweltschutz und Nachhaltigkeit 2012.
Das aktuelle Buch von Thomas Rammerstorfer und Marina Wetzlmaier präsentiert eine Chronologie der Ereignisse und zeigt auch Methoden und Wege auf, wie bei künftigen Projekten Erfolge erzielt werden könnten.

 

Thomas Rammerstorfer, Marina Wetzlmaier
Kampf um die Traun. Der Widerstand gegen das Kraftwerk Lambach
Verlag Bibliothek der Provinz (vierfärbig)
240 Seiten, 26,– Euro

Lambach.
Im Jänner 1996 begannen die Rodungen für den Bau eines Wasserkraftwerkes an der Traun zwischen Lambach und Stadl-Paura. Eine Protestbewegung wurde aktiv. Anrainer/innen und Umweltschützer/innen aus ganz Österreich besetzten den Wald und lieferten Polizei, Bauarbeitern und Kraftwerksbefürwortern ein dreimonatiges „Katz und Maus“-Spiel. Das Buch erzählt ein bemerkenswertes Stück Zeitgeschichte anhand ökologischer, politischer und ökonomischer Aspekte, und davon, welche Rolle Politik, Medien und Zivilgesellschaft dabei spielen. Das Umschlagen von verbaler in körperliche Gewalt, aber auch das Streuen von Gerüchten, Verbreiten von „Fake News“ und Verschwörungstheorien waren dabei auch im prä-digitalen Zeitalter Teil des Konflikts. Die Front der Kraftwerksbefürworter bemühten sich etwa stets, die Gegner/innen als professionelle und gar bezahlte „Protesttouristen“ darzustellen. Nach einem Baustopp bis Herbst 1997 wurde das Kraftwerk schließlich doch errichtet, allerdings nach ökologischen Gesichtspunkten deutlich optimiert. So endete der „Kampf um die Traun“ einerseits mit einer Niederlage, bewirkte andererseits aber weitreichende Erfolge der Umweltschutzbewegung und des zivilgesellschaftlichen Protests.

Sonja Großmann. Anarchistin im Schatten?

Die Referentin bringt seit mehreren Heften eine Serie von Porträts über frühe Anarchist_innen und den Anarchismus als eine der ersten sozialen Bewegungen überhaupt. Brigitte Rath beleuchtet dieses Mal das Leben und Wirken von Sonja Grossmann – und den Widerspruch, dass sich die anarchistischen Bewegungen in ihren Schriften für die Beseitigung von Hierarchien zwar einsetzten, aber wenige die Gleichstellung der Geschlechter gelebt haben.

Die 1884 im russischen Grodno (heute Weißrussland) geborene Sophie (später meist Sonja) Ossipowna Friedmann kam mit einer älteren Schwester nach England und lernte 1903 im Kreis um den russischen Anarchisten Petr Kropotkin den österreichischen Anarchisten Rudolf Großmann (1882–1942) kennen, besser bekannt unter seinem Pseudonym Pierre Ramus.1 1907 zogen die beiden nach Wien und veröffentlichten die Zeitschrift Wohlstand für Alle und später Erkenntnis und Befreiung. Ab ca. 1912 lebten sie in einem Haus in Klosterneuburg (Schießstättegraben 237), in das an Sonntagnachmittagen häufig Freund_innen und Aktivist_innen zu Besuch kamen. Die ältere Tochter Lilly2 kam am 5. Dezember 1907 zur Welt, die jüngere, Erwina, drei Jahre später. 1912 heirateten Sonja und Rudolf Großmann. Er erwähnte sie ausführlich in seinem stark autobiographisch geprägten, 1924 erschienenen Roman Friedenskrieger des Hinterlandes. Darin charakterisierte er sie „nicht als Gefährtin oder Weib, mit ihm in freier Vereinigung vermählt, sondern als Kameradin, als Anarchistin“.3 Ganz deutlich hob er ihre aktive Rolle im österreichischen Anarchismus hervor.

Überlieferung
Über Sonja Großmann sind wir vor allem indirekt informiert, d. h. sie wird in Briefen oder anderen Ego-Dokumenten erwähnt. Diese vermittelten Beschreibungen zeigen ihre Bedeutung für die österreichische anarchistische Bewegung rund um den charismatischen, aber auch umstrittenen Pierre Ramus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Selbst hat sie kaum schriftlich Spuren hinterlassen. Häufig waren Frauen in sozialen Bewegungen an wichtigen Schnittstellen tätig, ohne selbst schriftlich hervorzutreten. Ihre Tätigkeitsfelder sind schwer zu definieren, variieren und sind dennoch wichtig für die Herstellung und Aufrechterhaltung sozialer Beziehungen, auch wenn die Frauen nur allzu oft im Schatten der Geschichte agierten. Konstellationen wie die hier genannte führen zu Verzerrungen, die auch heute noch eine Rolle spielen – zu Ungunsten der Sichtbarkeit von Frauen. Für Sonja Großmann kann dies deutlich belegt werden.

Der rumänische Schriftsteller, Pazifist und Anarchist Eugen Relgis (1895–1987) beschrieb bei einem Besuch in Wien 1930, dass sie die Administration der Zeitschriften führte.4 Da ihr Name jedoch nicht im Impressum aufscheint, blieb diese Tätigkeit lange unsichtbar. Sie hat wohl auch Übersetzungen vorgenommen, Vorträge organisiert und sich in Diskussionen eingebracht. In den Erinnerungen ihrer Tochter Lilly sind diese Aktivitäten präsent: Manchmal fuhr Sonja mit Pierre Ramus auf Vortragsreisen, wie beispielsweise zu einem Kongress nach Lyon, aber nicht sehr oft, denn sie musste bei den Kindern bleiben. Außerdem übernahm sie die Verantwortung für den Druck von Erkenntnis und Befreiung, fuhr in die Druckerei und schrieb auch selbst. Bei den häufigen sonntäglichen Treffen in Klosterneuburg versorgte sie die Gäste mit Kaffee.5

Sie versorgte die Gäste allerdings auch mit Tipps zu neuer anarchistischer Literatur. In der Korrespondenz zwischen dem Ehepaar Misar und dem Ehepaar Großmann, die sich von 1917 bis 1930 nachweisen lässt, wird der häufige – freundschaftliche – Austausch sichtbar, wie eben auch bei sonntäglichen Treffen. Brieflich versicherte Olga Misar am 3. September 1921: „Ihre Frau dürfte sich aber nicht jedesmal auf Bewirtung einrichten, sondern wir bringen etwas mit + verzehren es gemeinsam.“6 Dieser Eintrag zeigt die Bedeutung und Verflochtenheit von politischer Diskussion und alltäglichem Handeln.

Pädagogisches Interesse
Das Ehepaar Großmann teilte das Interesse für neue, rationalistische, gewaltfreie und koedukative Erziehung, wie sie der spanische Pädagoge Francisco Ferrer (1859–1909) im Model der Escuelas Modernas vertrat. Die Umsetzung der Ideen Ferrers führten Robert Bodansky7, Olga Misar und Pierre Ramus in einem Komitee zusammen, das ein internationales Francisco-Ferrer-Erziehungsheim in Wien errichten wollte. Ein Aufruf, Erziehungsheime im Stile Ferrers zu errichten, erschien im März 1921 in Erkenntnis und Befreiung, dem die oben genannten sowie Malva (Malvine, geb. Goldschmied) Bodansky (1877–?),8 Sonja Ossipowna-Großmann und andere nachkamen und gemeinsam diskutierten.9 Die Verschränkung von privaten und politischen Interessen war einer der Gründe, sich für die Umsetzung dieser neuen pädagogischen Konzepte zu engagieren, denn alle der genannten hatten Kinder, die sie freisinnig erziehen wollten. Das Engagement der Ehefrauen trat dabei besonders zu Tage, da auch in anarchistischen Kreisen Kindererziehung als Aufgabenbereich aber auch Einflussbereich von Frauen galt. Die für das Projekt gespendeten 200 Dollar reichten jedoch nicht aus, ein Haus anzukaufen. Das Ehepaar Grossmann sprach sich daraufhin dafür aus, das Geld an die Kinderfreunde zu spenden.“10

Sonja Großmann war als Aktivistin im Bund herrschaftsloser Sozialisten vertreten. Nachweisen lässt sich ihre Teilnahme an der Landestagung am 25. und 26. März 1922 in Graz, wo sie aufgrund der Erfahrungen der russischen Revolution „umfassendste Landpropaganda“ forderte.11 Auch in der bildlichen Darstellung wird ihre wichtige Position sichtbar. Zentral ist sie in der ersten Reihe neben Ramus platziert, womit eine klare Hierarchisierung verbunden ist. Im Vergleich zu anderen fortschrittlichen politischen Bewegungen, in denen auch häufig die politische Mitarbeit von Ehefrauen nachweisbar ist, die jedoch auch in der bildlichen Darstellung verborgen bleibt, bezeugt diese Darstellung die Praxis ihrer politischen Einbindung.

Historische Un/sichtbarkeit
Auch wenn Ramus in seinen Schriften, beispielsweise in der 1921 erschienen „Neuschöpfung der Gesellschaft durch den kommunistischen Anarchismus“ Freiheit und Gleichheit thematisierte, sind doch komplementäre Rollenaufgaben für die beiden Geschlechter in der Praxis des Familienalltags festzustellen. Damit folgte ihre gleichberechtigte Aufgabenverteilung des „Ehepaars als Arbeitspaares“, wie es die Historikerin Heide Wunder für die frühneuzeitliche Gesellschaft festgestellt hat.12 Diesen Verteilungen liegt eine Trennung von öffentlich und privat zugrunde. Auch wenn sich solche Polaritäten oft vermischen und nicht klar zu trennen sind, übernahm Ramus die historisch sichtbaren Aktivitäten, wie Texte schreiben und sie namentlich zu zeichnen, Vorträge halten, bei internationalen Kongressen präsent zu sein. Dennoch sind die Aktivitäten von Sonja Großmann, oft auf der informellen Ebene angesiedelt und damit für die historische Forschung schwieriger nachweisbar, für den Aufbau und die Funktion von sozialen Bewegungen ebenso wichtig.

Überschreitungen dieser dualen Geschlechterkonzepte werden auch in dem Eintreten von Ramus für Vasektomie, eine Praxis der temporären Sterilisation des Mannes, deutlich. Dass sich Männer aktiv um Empfängnisverhütung kümmern, war zu jener Zeit auf jeden Fall eine Grenzüberschreitung – und ist es wohl, in veränderter Form, auch heute noch. 1933, in einem Prozess in Graz, bei dem Ramus für durchgeführte Vasektomien verantwortlich gemacht wurde, bekam er einen Freispruch, ein Jahr später jedoch eine zehnmonatliche Gefängnisstrafe.13

Auch eine Migrationsgeschichte
Sonja Großmann musste mehrmals in ihrem Leben migrieren und sich damit an neue Lebensverhältnisse anpassen. In ihrer Jugend kam sie von Russland nach England und dann weiter nach Österreich. 1938 gelang mit der jüngeren Tochter und deren Ehemann die Flucht nach London, dann nach Paris, wo sie ihren Ehemann Pierre Ramus zum letzten Mal traf. Er starb auf einem Schiff nach Südamerika ganz plötzlich an einem Schlaganfall. Über London gelangten Sonja und ihre Familie daraufhin in die USA, wo sie am 14. November 1974 in Los Angeles starb. Mit dieser Migrationsgeschichte, teilweise erzwungen, ging auch ein sprachlicher und sicher auch ein kulturell breiter Horizont einher.

Ihr Leben zeigt, wie schwierig es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war, auch in fortschrittlichen anarchistischen Zirkeln traditionelle Geschlechterzuschreibungen aufzubrechen. Wie sieht es heute mit Geschlechterzuschreibungen aus?

 

1 Biographische Verortungen dazu unternahm Reinhard Müller im Oktoberblatt des Kalenders Anarchistinnen aus Österreich 2017.
2 Dr. Elisabeth (= Lilly) Schorr.
3 Pierre Ramus, Friedenskrieger des Hinterlandes, Wien 2014, 222; von 219–239 beschrieb er ihre Erfahrungen mit seiner Kriegsdienstverweigerung.
4 Eugen Relgis, Evocando a Pierre Ramus, in: Hommage à la non-violence, Lausanne 2000, 21.
5 Lilly Schorr, „Mein Vater Pierre Ramus“ – ein Gespräch, in: Hommage à la non-violence, Lausanne 2000, 35.
6 IISG, Ramus Papers, 152, 96–97.
7 Robert Bodansky/Bodanzky Pseudonym: Danton, (1879–1923) Schriftsteller, Liberettist, Schauspieler und Regisseur.
8 Sie engagierte sich auch in der IFFF.
9 Erkenntnis und Befreiung, 3/14 (1921), 4.
10 Erkenntnis und Befreiung, 3/8 (1921), 3.
11 Erkenntnis und Befreiung, 4/20 (1922), 3.
12 Heide Wunder, „Er ist die Sonn’, sie ist der Mond.“ Frauen in der Frühen Neuzeit, München 1992.
13 Reinhard Müller, „Wer pessimistisch in die Zukunft blickt, offenbart seinen schwachen Willen“, Wien 2016, 11–15.

Die Serie in der Referentin ist auf Anregung von Andreas Gautsch bzw. der Gruppe Anarchismusforschung entstanden. Siehe auch: anarchismusforschung.org