Und so …

Die „Jazzpolizei“ würde sich hier schwertun. Aber Klaus Hollinetz ent­wickelt anlässlich von UND JA, AND YES einige lose Gedanken zu Improvisierter Musik und zur neuen CD von den Duos Puntigam/ Wilbertz und Puntigam/Keller. Und orchestriert mit weiterschweifenden Fragen: Ist das nun „Neue Musik“, „Avantgarde“, „experimentell“ – oder was? (Und spielt das noch eine Rolle?)

1.
(Es dunkelt, [tinct, tint] all das unsere spaßanimalische Welt –
James Joyce, Finnegans Wake)
Es atmet, zirpt, kratzt und klingt. Es schabt an Dingen, bringt sie in Bewegung und zum Leuchten, flößt ihnen Luft und Leben ein. Ein paar Töne, die zu flüstern scheinen, oder etwas in einer unbekannten Schrift und Sprache notieren, mit schnellem, sicherem Strich, mit Materialien, die flüchtig und fest zugleich sind, mit Schwingungen, die Zentrum und Ränder zugleich sind. Klare kleine Melodien und dann wieder Klangfolgen mit überraschenden Brüchen, Löchern, Fransen, mit unerhörten Wendungen, die doch gleichzeitig vollständig überzeugen.
Beim ersten Anhören der neuen CD Und Ja, And Yes tauche ich ein in ein unerwartetes Kaleidoskop von Klängen, Ideen und Formen, in ein vergnüglich-nachdenkliches Sammelsurium von Einfällen, die weder völlig zufällig sind noch minutiös genau geplant scheinen. Es sind vierundzwanzig Dialoge, Duos, die sich in freier Folge abwechseln, und die manchmal nicht einmal eine Minute lang sind. Dialoge, die – wie es sein sollte – mehr Fragen aufwerfen, als Antworten zu geben, Antworten, die sich in Stilen und Wendungen ausdrücken könnten, in zu erfüllenden Erwartungshaltungen, in Zuordnungen und Querverweisen.
Werner Puntigams Posaunen- und Muschelhornklänge verbinden alle diese Dialoge mit einerseits Schlagzeug und Perkussion und andererseits einer Feedbacker-Gitarre auf eine nicht dominierende Weise. Was wird hier mit Schlagzeug verstanden? Eine Fülle von Schlagwerk, Selbstklingern, idiophonen Materialien, vom Vertrauten bis ins Unbekannte. Und was nun ist eine Feedbacker-Gitarre? Klänge, die den Bogen spannen von bekannten Saitenklängen bis zu elektroakustischen Feinheiten.

Und welche Musik ist das überhaupt? Die manchmal recht fundamentalistisch auftretende „Jazzpolizei“ tut sich schwer mit freieren Formen der Musik, Formen, die sich in keinen unmittelbaren Kontext fügen, in keine vorgefertigte Kategorie passen, sich keiner Zeit und ästhetisch basierter Tradition verpflichtet fühlen. – Ist das denn noch oder schon wieder Jazz? Ist das nun „Neue Musik“, „Avantgarde“, „experimentell“ oder was? (Und spielt das noch eine Rolle?)
Kann man über Musik schreiben? (Kann man Bilder singen?) – Worüber man nicht schreiben kann, darüber soll man … ja, vielleicht. Ich denke, dass aufmerksames und konzentriertes Zuhören immer noch reichen sollte.

2.
(Erfahrung enthüllt in jedem Objekt, in jedem Ereignis die Erfahrung von etwas anderem –
Jean-Paul Sartre, Saint Genet)

Elliott Sharp, einer der Großmeister der Improvisierten Musik und des Jazz, und ein „Urgestein“ der New Yorker Improvisationsszene, auf dessen Label Zoar auch diese CD erschienen ist, schreibt in seinen eindrücklichen Liner Notes:
„With UND JA, AND YES, Messrs. Puntigam, Keller, and Wilbertz present a virtuosic music that operates across varied moods while traversing barriers of genre and style. This is accomplished not with a flaming sword but with sly humor and pointed technique. These pieces are miniatures and in their own way pay tribute to the master of the miniature, Anton Webern, who distilled primal energy into compact arcs of crystalline sonic purity. In this album, the balance between improvised spontaneity and structural integrity is achieved with the manifestation of pithy statements that never wear out their welcome but instead leave a lasting impression in the ear in much the same way that a powerful flash will imprint upon your visual cortex.“
Das bedarf eigentlich keiner weiteren Interpretation. Aber was ist eine Miniatur nun? Etwas Kleines, Kurzes vielleicht, eine Form, die sich aus den einfachsten Bestandteilen aufbaut, niemals geschwätzig, niemals angestopft und aufgefüllt, beginnt und endet auch schon wieder, und formt dennoch einen vollen und nicht fragmentarischen Bogen. „Minimal“ und „reduziert“ könnte man hier sagen – und diese Worte sind vielleicht zu Keywords in unserer durch Lärm und Hetze verdorbenen Welt mutiert – so als ob Kunst nur durch Subtraktion entstehen würde, durch ein Heraus-arbeiten aus einem amorph gewordenen Ursprung. Hier geht es allerdings um einen präzisen und nicht-reduntanten Einsatz der Mittel.
Außer den launigen und manchmal mysteriösen Titeln, die diese kurzen Stücke haben (nur eines ist länger als drei Minuten), wissen wir nichts von den Intentionen der Musiker, nichts weiteres Schriftliches geben sie zu ihrer Musik preis. Dennoch ist die Musik nicht „abstrakt“, denn sie scheint persönliche und höchst absichtsvolle Subjekte zu umkreisen, ohne sie zu verschleiern. Das unterscheidet sie von den formal abstrakten Konzepten einer Neuen Musik, die sich aus genauen kompositorischen Vorgaben herleitet.
Woran liegt diese Kunst dann, worin besteht sie? Immer schon hat mich interessiert wie eine authentische Improvisierte Musik zustande kommt. Es ist ja ein Rätsel, wie und warum gerade dieser Ton oder Klang auf einen anderen folgt, wenn es keine offensichtlichen Regeln dafür gibt. In einer eher traditionellen Musikauffassung bedeutet Improvisation meist das Variieren oder Fortspinnen von Gegebenem, und nur wenig unterscheidet sich die barocke Orgelimprovisation (über ein Thema zB.) von den doch so streng reglementierten Ritualen im Jazz, wo über eine Skala „improvisiert“ wird, ohne den vorgegebenen Kontext von Melos und Rhythmus zu verlassen.
In einer freien Musik ist das anders. In Ermangelung von anderen Bezeichnungen spricht man gerne von „Instant Composing“ um die Brücke zu einer „ernsteren“ Musikauffassung zu schlagen. Improvisation hat ja einen schlechten Ruf, sie bedeutet nicht nur im alltäglichen Sprachzusammenhang oft etwas Unfertiges, Spontanes, Halbherziges oder Billiges, und wird oft als Gegensatz zu einer komponierten Musik gesehen, die darob eine viel größere Wertigkeit hat. Schon Karl-Heinz Stockhausen hat sich zwischen seiner Phase, in der er sich mit einer seriellen Musik beschäftigt hat, und seinen späteren Formel-Kompositionen und Opern mit improvisierter Musik beschäftigt, die er aber – sich abgrenzend – als intuitive Musik bezeichnet. In Aus den sieben Tagen besteht jede „Partitur“ für eine „Komposition“ aus einem kurzen Gedicht, einem Text, der die MusikerInnen gewissermaßen einstimmen soll auf den Geist einer Musik. Es scheint einen Zwang zur Partitur zu geben, zu einer Abstraktion des später zu Hörenden, ohne die auch heute noch z. B. die Musikförderung nicht auskommen möchte. Keine gute Musik ohne Schrift, möchte man sagen. Einige Gedanken aus Stockhausens Texten waren aber schon längst integraler Bestandteil einer frei improvisierten Musik: Glücklicherweise sind die KünstlerInnen mit Präzision und Sicherheit des Spiels, jenseits aller Virtuosität oder Spielfreude, ihrer theoretischen Aufarbeitung immer einen entscheidenden, selbstbestimmten Schritt voraus.
Dort, wo doch die Vorgaben fehlen, die uns eine „seriöse“ Musiktheorie vorzuschreiben vermeint, scheint die vielbeschworene Freiheit eine Ausdrucksmöglichkeit zu finden. Und Regeln werden nicht von außen hereingetragen, sondern entstehen oder ergeben sich aus dem „Spiel“ selbst. In ihrer Autonomie, die oft ja über die scheinbaren Grenzen der instrumentalen Möglichkeiten hinausgeht, ist eine improvisierte Musik hochpolitisch, ein Feindbild für eine reglementierte Kulturpolitik. Sie lässt sich nicht einfangen, instrumentalisieren und frisst niemanden dankbar aus der Hand.
Doch ist das alles nur ein „anything goes“ einer langsam verblassenden Postmoderne? In ein neo-liberales Weltbild von Nützlichkeit und Warenwert lässt sie sich schwerlich einordnen. (Vielleicht findet man diese Musik als Tonträger deswegen so selten im Netz, meist in den Audiotheken einer interessierten und versierten ZuhörerInnenschaft.)

3.
(Ein Gedicht ist eine Maschine, mit der eine Wahl getroffen wird. –
John Ciardi, How Does a Poem Mean)
Ich selbst brauche für meine Musik viel mehr Zeit und Raum. Manchmal muss es eine Minute nur Rauschen geben, oder nur ein langes und fast unmerkliches Crescendo, bevor sich die Klänge ins Hörfeld vortasten. Es braucht manchmal einen langen Atem, um all die Nuancen aufzuspüren und zu Gehör zu bringen.
Doch in dieser hier besprochenen Musik scheint jeder Ton, jeder Klang, unmittelbar da zu sein, stellt sich vor (oder aus), verschwindet und kehrt vielleicht wieder, ohne sich allzu sehr in rhythmische oder melodische Muster zu verstricken. Diese Miniaturen haben eine Kraft wie Gedichte, eine poetische Form, in die Verdichtung, Konzentration und Metaphorik eingeschrieben ist. Ein „Buch“ mit kleinen Geschichten vielleicht, die sich zu nichts, außer sich selbst verpflichtet fühlen, die wie in einem Aufblitzen gewissermaßen Hör-Blicke in Territorien eröffnen, die irgendetwas zwischen seltsam vertraut, neuartig, unbekannt, anrührend, oder mit einer spröden Zärtlichkeit einfühlsam sind. Ein kleines, feines Meisterwerk, das nicht nur im Ohr bleibt, sondern das – wie es ein Kunstwerk doch immer tun sollte – uns in Bereiche führt, die wir vielleicht sonst nie erfahren hätten. Das machen diese Stücke mit leichter Hand und sicherem Gefühl. Eine einladende Geste, die nicht fremden, sondern den eigenen Gedanken folgt. Quirlige Goldfische in einem klaren Teich.
Ist es eine Zumutung eine entspannte aber konzentrierte Hörhaltung einzufordern? Kann sein, aber es ist eine höchst befriedigende. Hören wir als zu, gehen wir mit den Klängen ein Stück des Weges gemeinsam, bis sich alle Spuren wieder auflösen, am Rand des Wahrnehmungsfeldes. Und findet man aus diesem Labyrinth wieder hinaus? Dieses trägt wohl jede/r in sich: Es ist ja das eigene Labyrinth, aber die Klänge können Reiseführer sein oder Landkarten in diesen Entdeckungsspaziergängen.

 

Werner Puntigam. Beat Keller. Georg Wilbertz – UND JA, AND YES –
(z0aR ZCD066)

Fresh from the Tapeworm’s lair

Von No Wave über Black Metal bis Dark Synth: Was die aktuellen musikalischen Veröffentlichungen von Riesenschweine, Pfarre, VOILER und Tintifucks miteinander zu tun haben, verrät Rezensentin Leonie Landraub zwar nicht (Achtung: Preisfrage unten!), dafür aber, wie sie klingen.

Wem der Micropig-Hype auf die Nerven geht und in puncto Haustiere antizyklische Alternativen bevorzugt, ist bei Riesenschweine richtig: Da suhlen sich keine Kuschel-Paarhuferleins niedlich-friedlich im Fango-Jacuzzi – die Säue, die da durch die Dorfdisko getrieben werden, sind im No-Wave-Stampede-Modus. Vier Stücke finden sich auf diesem (auch als Digital-Album erschienenen) Split-Tape mit Benzinprinz – deren Spielzeit bleibt zwar unter 5 Minuten, man sollte aber nicht vorzeitig den Rüssel rümpfen, da sie diese Kürze mit recht undomestizierter Intensität ausfüllen. Keine Zeit für Verhausschweinung! Bis zum Anschlag verzerrte Stimme und Gitarre bellen, brummen und röhren durch Polizeigewerkschaft, Arbeitsplatz und Hundezone, bevor im abschließenden Semmellied ein übersteuertes Rhythmusgerät die ganze Rotte hinausexpediert. Gerade rechtzeitig, bevor die nicht minder widerborstige Formation Tintifucks die Puppentheaterbühne stürmt. Die 10 Stücke auf ihrem aktuellen (prä-covid betitelten) Album home­schooled (Kassette und Digital-Album) überschreiten zeitlich zwar auch nur knapp die 10-Minuten Marke – auch hier lässt sich Qualität aber nicht von der Quantität in die Kiste sperren. Schlagzeug (bzw. Drumbox), zwei Stimmen und Gitarre – mehr braucht es bei diesen Hochenergie-Sprints nicht, die von vier kleinen Interludien (Brr bis Brr Brr Brr Brr) unterbrochen werden. Mit Chipper ist jedenfalls ein veritabler Ohrwurm gelungen – Herrrrrrrreinspaziert! PFARRE ist auf haecce // hauto a different beast altogether and its number is 1010011010. Die Veröffentlichung (Kassette und Digital-Album) besteht aus einem einzigen Stück von ca. viertelstündiger Dauer. Ob das jetzt – unter Inkaufnahme aller damit einhergehender potentieller Missverständnisse – einfach Black Metal genannt werden soll, oder ob da jetzt ein Micro-Genre fünfter Potenz erfunden werden müsste (z. B. „Conscious Atmospheric Drone Anarchist Black Metal“), ist eine musikjournalistische Debatte und damit egal. Abgesehen davon, dass der Name Pfarre eine Faust aufs Genre-Auge ist, die passenderweise pandaeske Corpsepaint-Muster hinterlässt, finden sich auch musikalisch diverse stilbildende Charakteristika aus dem schwarzmetallischen Vokabular: In den sich langsam aufbauenden düsteren Klangteppich mischen sich erst ein tiefes Tuckern, das Uneingeweihte fälschlicherweise für eine 410bpm Electro-Bassdrum halten könnten – während es sich tatsächlich um das Geräusch des Dieselmotors handelt, mit dem die Fähre über den Totenfluss Styx angetrieben wird (Charon wird auch nicht jünger) –, sowie eine verzerrte Gitarre, die – mittels wenig freundlicher Akkordfolgen (kleine Intervalle, große Wirkung) – hypnotische Beschwörungen ausstößt. Falls das noch zu sehr nach Frucht schmeckt, sollte die guttural raspelnde Stimme Abhilfe schaffen, die sich daraufhin dazugesellt und nun einmal zu einer korrekt durchgeführten rituellen Invokation gehört wie das Himalaya-Salz zum gepflegten Kinderfresserfrühstück. Zur Halbzeit dann eine kurze Verschnaufpause, die aber tatsächlich nur ein kurzes Atemholen ist, bevor der Soundmoloch elektronische Blastbeats ausstößt, die sich wie Geschoße einer infernalischen Nagelpistole ins Hirn tackern. Diese stellt das Feuer dann abrupt ein und weicht tröstlichen Ambientsounds, mit denen haecce // hauto schließlich endet. Der Klang ist zwar immer Lo-Fi, aber an keiner Stelle breiig oder verwaschen – dabei nimmt PFARRE wohltuenderweise keine Anleihen an traditionellem Black-Metal. VOILER wiederum ist als Fortsetzung von THE BOILER (siehe Versorgerin #121) mit anderen Mitteln zu verstehen – manches haben die beiden Projekte gemein, anderes unterscheidet sie. Es verbindet sie zunächst die nüchtern-kühle Klangästhetik, die dennoch leiblich pulsiert. VOILER verzichtet aber auf 000 (Kassette und Digital-Album) gänzlich auf den Einsatz menschlicher Stimmen und auch die – bei The Boiler harmonisch oft tragende – Orgel fehlt. Dafür treten die Synthesizer kräftig in den Vordergrund und die Beats nicht minder in den Hintern. Alle drei Stücke der Veröffentlichung sind als „Edit“ ausgewiesen – wenn also noch Material für eine Triple-12’’-Maxi vorhanden ist, umso besser: Jigglypuff basiert hauptsächlich auf Pitch-Bend Mondulation, bei der der Grundton rhythmisch höher gezogen und wieder in die Ausgangsfrequenz gebracht wird. Goth Romantic ist insofern ein passender Titel, als sich über den Walking Bass und die Handclap-gesättigte Rhythmik blumig-flächige Akkorde legen, die auch Depeche Mode zur Ehre gereichen würden (Zuschriften an die Referentin mit dem Inhalt, wonach Depeche Mode mit Gothic nichts am Hut hätten, werden ausnahmslos ignoriert und der Rundablage überantwortet). Das abschließende Whitney setzt die massiven Bässe fort und führt gegen Ende auch den Pitch-Bend des ersten Stücks wieder ein, mit dem diese gelungene Werkschau auch endet.

Abschließende Preisfrage: Welche Verbindung besteht zwischen den Formationen Riesenschweine, Tintifucks, Pfarre und Voiler? First come, first serve: Die ersten zwei Einsender/innen gewinnen mit der richtigen Antwort eine der Veröffentlichungen (soweit noch verfügbar) als Hardcopy (Kassette) bzw. Download.

 

Riesenschweine/Benzinprinz: Split2019 cassette, epileptic media

Tintifucks: homeschooled, epileptic media

PFARRE: haecce // hauto, Transformer Music

VOILER: 000, cut surface

„Einfach komplex“

Vor zehn Jahren starb die Linzer Autorin und Kulturaktivistin Eugenie Kain, heuer wäre sie 60 Jahre geworden. Ein Sonderheft der Literaturzeitschrift Rampe und eine Ausstellung im Linzer Stifter-Haus widmen sich ihrem Leben und Werk. Helmut Neundlinger über Eugenie Kain.

April 1968: Die Welt befindet sich in Aufruhr, der Vietnam-Krieg mobilisiert globale Protestaktionen. Als Berichte über Napalm-Bombardements gegen die Zivilbevölkerung bekannt werden, setzt der Linzer Schriftsteller, Journalist und Chefredakteur der KP-Zeitung Neue Zeit Franz Kain ein persönliches Zeichen: Mit einem am Körper befestigten Protestschild promeniert er über die zentral gelegene Linzer Landstraße. An der Hand hält er seine damals achtjährige Tochter Eugenie, die ebenfalls ein Schild trägt, auf dem steht: „Schützt die Kinder von Vietnam!“ Vierzig Jahre nach diesem Ereignis erzählt Eugenie Kain in einem Interview dem Linzer Zeithistoriker Michael John: „Wir sind beschimpft worden, es haben uns Passanten angeredet und angepöbelt, ich habe das ziemlich unangenehm in Erinnerung.“

Das Widerständige war Eugenie Kain nicht nur über den bereits in Jugendjahren als Widerstandskämpfer aktiven Vater Franz (1922–1997) gleichsam familiengeschichtlich eingeschrieben. Die Urgroßmutter hatte die erste Demonstration zum 1. Mai im Linzer Vorort Pasching organisiert, die Großmutter war wegen der Gründung einer kommunistischen Frauen­gruppe eingesperrt worden. Ein Großonkel hatte bei den Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg gekämpft und galt als vermisst, ein anderer Großonkel war im KZ Mauthausen wenige Tage vor der Befreiung des Lagers noch umgebracht worden. Die im Jahr 1960 geborene Eugenie Kain ist vor diesem Erbe nicht geflohen, sondern hat es früh inkorporiert und auf ihre Weise weitergelebt und -geschrieben.

1978 übersiedelt sie nach Wien und inskribiert Germanistik und Theaterwissenschaften. Prägender als die Universität nennt Kain in einer Frage nach der kulturellen Sozialisation in der Zeitung der oberösterreichischen Dachorganisation der Kulturinitiativen (KUPF) die Kulturszene im WUK, das Kulturzentrum Gassergasse sowie die 1979 gegründete Linzer Stadtwerkstatt. Früh entwickelt sie auch ihr Sensorium für marginalisierte Arbeitswelten: Ein Ferialjob als Putzfrau bei einer Linzer Versicherung mündet auf Anregung ihres Vaters in eine Erzählung mit dem Titel „Endstation Naßzone“, in dem ihr literarisches Alter Ego einen ganzen Reigen weiblicher Arbeitsbiographien samt den damit verbundenen Ausbeutungs- und Demütigungserfahrungen einfängt. Die literarische Qualität der Arbeit bleibt nicht unbemerkt: 1982 wird Eugenie Kain für den Text mit dem von der Linzer AK vergebenen Max-von-der-Grün-Preis für Literatur zur Arbeitswelt ausgezeichnet.

1984 beginnt Kain in Wien für die KP-Tageszeitung Volksstimme zu schreiben, zunächst als freie Journalistin, ab 1987 als fixes Redaktionsmitglied in den Ressorts Kultur, Innenpolitik und Chronik. Nach dem Ende der Volksstimme im Jahr 1991 schreibt Kain für das Nachfolgeprojekt, das Wochenmagazin Salto, bis auch dieses im Jahr 1993 eingestellt wird.

Die Geburt ihrer Tochter Katharina im Jahr 1991 und die Lebensgemeinschaft mit dem politischen Liedermacher Gust Maly haben zur Folge, dass Kain sich Mitte der 1990er Jahre wieder in Linz ansiedelt. Auch in der alten Heimatstadt bleibt sie kulturpolitisch und publizistisch aktiv: Inspiriert von der Gründung der Wiener Obdachlosenzeitung Augustin, initiiert Kain gemeinsam mit anderen eine Linzer Variante unter dem Namen Kupfermuck’n. Neben ihrem beruflichen Engagement bei der Volkshilfe und später beim Institut für Ausbildungs- und Beschäftigungsberatung betätigt sie sich als Journalistin für das Freie Radio Oberösterreich (FRO) und entwickelt in Kooperation mit dem Stifter-Haus das Format „Anstifter“, für das sie regelmäßig Interviews und Porträts von schreibenden Kolleginnen und Kollegen gestaltet. Auch in der Zeitung der Stadtwerkstatt, der Versorgerin, publiziert sie regelmäßig. Zudem fungiert sie als Sprecherin der GAV OÖ., der Regionalvertretung der Grazer Autorinnen- und Autorenversammlung.

Für die ab 1995 erscheinende Zeitschrift des Linzer Kulturzentrums KAPU, hillinger, verfasst sie Reportagen über die geographischen und sozialen Randgebiete der Stadt, die als Serie unter dem Titel „Linz Rand“ erscheinen. Diese Arbeiten bezeichnet die Linzer Germanistin und Direktorin der Landesbibliothek Renate Plöchl in einem 2010 verfassten Nachruf auf die Autorin als „Matrix“ für Eugenie Kains ab der Jahrtausendwende in Buchform erscheinendes Erzählwerk. Kain entwickelt darin ihren doppelten Blick, der die strukturelle Benachteiligung gesellschaftlicher Randzonen klar benennt und zugleich mit großer Behutsamkeit die einzelnen Lebensgeschichten und Erfahrungshorizonte nachzeichnet.

Mit einer radikalen inneren Konsequenz entsteht ein Prosawerk, das sowohl in seinem Umfang als auch in seiner ästhetischen Ausrichtung „klein“ bleibt, im Sinne dessen, was Gilles Deleuze und Félix Guattari mit Blick auf Franz Kafka als „kleine Literatur“ bezeichnet haben: eine Form der literarischen Artikulation, die dem hegemonialen Diskurs des Zentrums eine Sprache des Minoritären entgegensetzt. In den Erzählbänden Sehnsucht nach Tamanrasset (1999), Hohe Wasser (2004) und Schneckenkönig (2009) erschafft Kain ein Kaleidoskop von Kurzgeschichten, die mehr den Innenwelten ihrer Figuren folgen als einer linearen, aus der Vogelperspektive erzählten Handlung. Kain hat ihr Schreiben selbst in einem Interview mit dem Vorgang des Komponierens verglichen, worin sich nicht nur die große Verbundenheit mit der Musik widerspiegelt, sondern auch ihre Arbeitsweise mit und an der Sprache ihrer Texte.

Auch die als „Roman“ bzw. „Erzählung“ ausgewiesenen Bücher Kains, Atemnot (2001) bzw. Flüsterlieder (2006), entwickeln ein vielstimmiges Netz von Bezügen, ein „kunstvolles Geflecht von Erzählungen“, wie die Germanistin und Autorin Nicole Streitler-Kastberger, Herausgeberin der eben erschienenen Sondernummer der Rampe und Kuratorin der Ausstellung im Linzer Stifter-Haus, schreibt. Die Lektüre des schmalen Werks sowie der Beiträge der Rampe verdeutlichen die Komplexität, die Kain in eine Reihe mit großen Autorinnen wie Ingeborg Bachmann oder Ilse Aichinger stellt, denen sie in ihren Arbeiten sowohl direkte als auch indirekte Reverenzen erweist. Mit Aichinger verbindet sie der zuweilen schmerzhaft genaue Blick auf unausgesprochene Spannungen zwischen den Figuren, mit Bachmann die mythologische Durchdringung der Wirklichkeit, die selbst in den entrücktesten Momenten des Erzählens nie den Boden unter den Füßen verliert. „Es wird alles immer kürzer und dichter“, beschreibt Kain in einem Interview mit Helga Schager ihre Arbeitsweise, an deren Ende gleichermaßen wirklichkeitshaltige wie poetisch funkelnde Gebilde stehen.

Die Rampe-Sondernummer eröffnet vielfältige Zugänge zu Werk und Biographie Kains: Zentrale Motive wie das Wasser bzw. die Donau, Linz als Stadt- und Lebensraum, Arbeitswelten oder die literarischen Funktionen der Körperbilder, musikalische Bezüge, aber auch literaturbetriebliche Aspekte, Kains journalistische Tätigkeiten sowie Freundschafts- und Arbeitsbündnisse werden darin erörtert. Die hohe Intensität der Auseinandersetzung lässt erahnen, welch enormer Reichtum an Motiven und welcher Grad an poetischer Dichte sich in dem schmalen Werk versammelt finden. Kains Prosa verknüpft die Perspektive auf den Mikrokosmos Linz, der sie hervorgebracht und den sie wesentlich mitgestaltet hat, mit der Welthaltigkeit eines rastlosen Umherschweifens, sei es in Genua, der Bretagne, Irland oder aber in dem bei Eferding gelegenen Örtchen mit dem schottisch klingenden Namen „Unterhillinglah“.

Ein nicht geringer Verdienst der Publikation besteht im Wiederabdruck dreier Texte Kains: Den bereits erwähnten Text „Endstation Naßzone“ kann man ebenso nachlesen (und dabei die frühe Meisterinnenschaft der Autorin bewundern) wie den 1994 in der Rampe zu ihrem Vater Franz erschienenen „Vom Schwimmen in der Donau“, ein zentrales (auto-)biographisches Dokument. Ergänzt werden diese beiden durch den Text „Im toten Winkel der Zeit“, dem Bericht einer Reise zur deutschsprachigen Minderheit in der Ukraine. An diesem Text wird deutlich, wie sehr sich Kain dem Genre der literarischen Reportage in der Tradition von Joseph Roth verpflichtet fühlte. Wiederabgedruckt findet sich auch das einseitige Exposé jenes Projektes, das Eugenie Kain noch im Jahr vor ihrem Krebstod in Angriff genommen hatte: die biographische Auseinandersetzung mit der Lebensgeschichte einer vom NS-Regime zwangssterilisierten Frau, die 2009 in einem Linzer Altenheim gestorben war. Dieser Text hätte im Rahmen des ebenfalls von Joseph Roths Arbeiten inspirierten Projektes „MitSprache unterwegs. Literarische Reportagen“ (2010) realisiert werden sollen.

Nicht zuletzt wird auch die Persönlichkeit der Autorin gewürdigt, unter anderem in einem berührenden Erinnerungstext ihrer Tochter Katharina, der Eugenie offenbar die warme Lakonie ihrer Prosa erfolgreich weitervermittelt hat. Regina Pintar, die Verantwortliche des Veranstaltungsbereichs im Stifter-Haus und durch das Radio-Projekt „Anstifter“ über viele Jahre hinweg mit Eugenie Kain verbunden, vermittelt auf einfühlsame Weise ein Bild von der ebenso bescheidenen wie offenen Wesensart der Autorin: „Sie hat, ohne verschlossen zu sein, nie viel von sich erzählt, sie wirkte auf mich robust und zart zugleich, energisch und sensibel, bodenständig und elegant, naturliebend und urban. Sie war sozialkritisch und poetisch, sie war einfach komplex – wie ihre Texte.“ Eugenie Kain stirbt am 8. Jänner 2010 an den Folgen ihrer Krebserkrankung in Linz.

 

Ausstellung „Beim Schreiben werde ich mir fremd.“
Eugenie Kain (1960–2010)
Stifterhaus Linz
1. Dez 2020 – 27. Mai 2021 (Stand Redaktionsschluss)
Aktuelle Informationen: stifterhaus.at

Die Rampe – Porträt Eugenie Kain.
Hrsg: Nicole Streitler-Kastberger.
Adalbert-Stifter-Institut/StifterHaus – Literatur und Sprache in Oberösterreich.
Linz 2020. 184 Seiten. EUR 14,90.

Eugenie Kains Bücher Hohe Wasser, Flüsterlieder, Schneckenkönig und Atemnot sind im Otto Müller Verlag erhältlich.

Bewegungsrausch

Fahren lautet der Titel des ersten Dokumentarfilms von Veronika Barnaš, dessen Premiere bei der diesjährigen Diagonale, dem Festival des österreichischen Films, abgesagt werden musste. Stattdessen gab es im Juli beim Kurzfilmfestival dotdotdot im Wiener Volkskundemuseum die Gelegenheit, ihn sich anzuschauen. Ein fixer Programmpunkt ist er auch bei Crossing Europe Extracts, das diesen Oktober in Linz statt­findet.

„Heute wird der Jahrmarkt vor allem von mechanischen Fahrgeschäften, von Karussellen und ähnlichem, dominiert. Die vorrangige Funktion des Jahrmarktes ist es, körperliche Rauscherlebnisse zu erzeugen – sei es durch die Fahrgeschäfte oder im Bierzelt. Am Jahrmarkt darf sich jede/r in einem bestimmten Zeitraum und Rahmen gehenlassen, was eng mit der Tradition des Karnevals verbunden ist, der auch als Ventil zur Disziplinierung in der Gesellschaft eingesetzt wurde“, erzählt die Künstlerin und Kuratorin Veronika Barnaš.

Die Idee zum Film gab die 2017 im Nordico Stadtmuseum Linz gezeigte Ausstellung Urfahraner Markt – 200 Jahre Linzer Lustbarkeiten, die sich der Geschichte des ältesten und größten temporären Jahrmarktes Österreichs widmete. Im kuratorischen Team war Barnaš gemeinsam mit Andrea Bina und Georg Thiel tätig. Insbesondere die Beschäftigung mit den fahrenden Schausteller*innen weckte das Interesse der Künstlerin. „Besonders spannend ist ihre nomadische Lebensweise, die sie zum Teil noch bis heute praktizieren. Feste Wohnsitze haben sie erst ca. seit den 1950er Jahren. Bis dahin lebten viele ausschließlich in Wohnwägen. Dass es diese Form des nomadischen Lebensstils in Österreich, sonst nur bei Roma und Sinti bekannt, gab und bis zu einem gewissen Grad noch immer gibt, fand ich interessant, ebenso wie ihre Arbeit am Vergnügen.“

In Fahren (2020, 30 min) begleitet die Filmemacherin zwei Schausteller*innen-Familien, strukturiert ihn in Sequenzen und zeichnet damit neben dem ästhetischen auch ein intimes Bild des temporären Spektakels, das v. a. eines zum Zweck hat: den Menschen auf den Fahrgeschäften einen kurzen Moment der Schwerelosigkeit zu ermöglichen. Dokumentiert werden Auf- und Abbauarbeiten, stundenlange Autofahrten und vor allem die kräftezehrende Arbeit, die dem Vergnügen als solches augenscheinlich entgegensteht. „Genau diesen Gegensatz habe ich während der Feldforschung und dem Drehen eindrücklich kennengelernt“, so Veronika Barnaš, und ergänzt zur Entstehung des Filmes: „Nach der Erstellung eines Stammbaums der weitverzweigten oberösterreichischen Schausteller*innen-Familien wollte ich mich noch eingehender mit deren Geschichte und Lebensstil befassen und diese/n auch vermitteln.“ (Anm.: Der Stammbaum ist unter www.veronikabarnas.net einsehbar). Für den Film habe ich das Ehepaar Avi und einen Teil der Familie Schlader von 2017 bis 2019 drei Saisonen lang begleitet. Film erschien mir das entsprechende Medium, um dieses Leben in Bewegung zu dokumentieren: Die Schausteller*innen sind quasi permanent von einem Ort zum nächsten unterwegs, die Fahrgeschäfte bewegen sich und die Besucher*innen suchen die Bewegung der Fahrgeschäfte. Ich wollte zeigen, wie dieser Lebensstil abläuft und was er mit sich bringt. Fahrende Schausteller*in zu sein, sei eine Leidenschaft, die man in die Wiege gelegt bekommt, wurde mir von vielen von ihnen gesagt. Sie sind überzeugt, dass kaum jemand, der/die nicht in eine Schausteller*innen-Familie geboren wurde, die viele und schwere Arbeit aushalten würde. Sie hingegen würden dies von klein auf lernen. Aber es gibt heute in den jüngeren Generationen auch viele, die nicht mehr ins Gewerbe einsteigen bzw. auch damit aufhören.“

Im Rahmen ihres PhDs an der Kunstuniversität Linz/Abt. Kulturwissenschaft, forscht Barnaš zu fahrenden Schausteller*innen und Jahrmarktkultur mit Fokus auf das sich wandelnde Verhältnis von Mensch und Maschine. „In Österreich gibt es kaum Forschung zu fahrenden Schausteller*innen. Anhand des Familienarchivs einer Schausteller*innen-Familie möchte ich ihre Geschichte und den Wandel in den Unterhaltungsmedien und -formaten am Jahrmarkt anhand des exemplarischen Beispiels dieser Familie von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis heute rekonstruieren“, skizziert die Künstlerin ihr Folgeprojekt. In diesem wird sie den in einem Wanderbuch verzeichneten Routen eines Vorfahren dieser Familie durch weite Gebiete der ehemaligen k. u. k Monarchie bis nach Izmir folgen, um daraus einen weiteren Film zu machen.

Da sich Gemeinden und Vereine immer mehr von der Verantwortung, Jahrmärkte/Kirtage zu organisieren, zurückziehen, übernehmen Schausteller*innen diesen Aufwand mittlerweile oft selbst. „Es zeichnet sich zwar kein Ende der Jahrmarktkultur ab, aber es werden in Zukunft voraussichtlich nur wenige, größere Schausteller*innen-Unternehmen bestehen bleiben. Insbesondere die Covid-19-Pandemie bedroht viele von ihnen in ihrer Existenz, da seit März 2020 bis auf weiteres alle temporären Jahrmärkte abgesagt wurden“, verweist Barnaš am Ende auf die aktuelle Krise, die die oben angesprochene Entwicklung wahrscheinlich beschleunigen wird.

Veronika Barnaš, Fahren, Dokumentarfilm, 30 min, dt./engl. UT, 2020
www.veronikabarnas.net

Filmvorführung:
8. – 10. Oktober 2020
Crossing Europe EXTRACTS: Local Artists Shorts 2020 im OÖ Kulturquartier
www.crossingeurope.at

Sounding Cities – Listening Spaces

Anlässlich der in diesem Jahr völlig umgekrempelten Linzer Klangwolke Sounding Linz entwirft der Komponist und Klangkünstler Klaus Hollinetz im Vorfeld einige Überlegungen, Gedanken und historische Referenzen rund um Klangräume, Soundscapes und das Projekt Linzer Klangwolke 2020.

Baku, 1922: Komponist Arsenij Avraamov auf dem Dach eines Hauses, mit Flaggen Fabriksirenen und Dampfpfeifen dirigierend. Foto Wikimedia Commons

Der Klang der Stadt
In einem beinah konstanten Rhythmus erklingen Schritte von festen Stiefeln. Ihr Klang reflektiert sich an Wänden, in Durchgängen und Passagen, klingt immer unterschiedlich auf Steinen oder Asphalt, im Regen oder im Innenbereich. Mit der Klangkünstlerin Katrinem gehe ich zusammen mit einem kleinen Grüppchen Interessierter schweigend auf einem genau festgelegten Parcours durch die Linzer Innenstadt. Wir passieren Szenen, in denen nichts außer dem Lärm von Baustellen und der Roll- und Motorengeräusche der Autos hörbar ist, umrunden Brunnen mit sich immer wieder verändernden Plätschern. Eine kleine, fast harmlose Übung, die doch ganz unmittelbar die Vielgestaltigkeit der Lautsphäre der Stadt bewusst hörbar macht. Die Genauigkeit der Bewegung hilft uns, Ablenkungen zu entgehen und sich auf Wechsel und Gestalt von Klängen zu konzentrieren.
Klingt die Stadt nicht eigentlich ganz einzigartig und wunderbar? Lassen sich nicht alle Klänge mit einem nur ein wenig fokussierterem Bewusstsein in einen Reigen einfügen, mit dem unser Alltag sich viel deutlicher strukturiert? Und nehmen wir nicht eigentlich schon immer alle Klänge und ihre Räume ganz konkret und unmittelbar wahr und orientieren uns an dieser Wahrnehmung als essentielle Wirklichkeit unseres Lebens?
Dieser erste Klangspaziergang „SCHUHzuGEHÖR“ ist eines der ersten Projekte von Sounding Linz, einer sich entwickelnden Phase von vielgestaltigen Klangprojekten, die sich nach und nach in der gesamten Stadt ausbreiten und die an einem gesamten Tag und auch in einer noch intensiveren Stunde als Linzer Klangwolke 2020 kulminieren werden.

Linzer Klangwolke?
Erinnern wir uns. Der Komponist und Klangarchitekt Walter Haupt hatte die Idee, die zum Brucknerfest 1979 im damals noch recht neuen Brucknerhaus aufgeführte Musik Bruckners live ins Freie auf den gesamten Donaupark und ins Radio zu übertragen. Er hatte so die erste Linzer Klangwolke eingeleitet. Der international tätige Klangkünstler Sam Auinger, einer der Masterminds des heurigen Projekts, war damals sein Assistent. „Haupt war eigentlich hauptsächlich auch am Radio interessiert, und die Idee war ja nicht nur eine Übertragung ins Freie, sondern – durch das suggerierte Ins-Fenster-Stellen der Radiogeräte – den Raum als gesellschaftliche und politische Realität, als eine Art Bruckner-Raum zu gestalten.“ Der damals notwendige technische Aufwand war enorm und sprengte beinahe die gegebenen Möglichkeiten, war aber dennoch bescheiden im Vergleich zu heutigen Beschallungsmöglichkeiten. Und zunächst gab es eben nur Klang und auch gar keine Show, ein bisschen Laserlicht vielleicht, nichts, was heute Kinder nicht auch mit Pointern erzeugen könnten.
Man hatte dabei aber nicht einfach nur ein spektakuläres Event für ein zahlreiches Publikum im öffentlichen Raum geschaffen, sondern den Raum selbst als Gestaltungsmedium entdeckt. Der Klang formt den Raum, lässt ihn uns auf eine neue Art erfahren. Und es waren die Radios in den offenen Fenstern, die diesem Ansatz sein „magisches Fluidum“ verliehen. Laufzeitverschiebung und Gleichzeitigkeit, Projektion und Rezeption, ein großes Rauschen, das sich dennoch vom Klang des Alltags unterschied.
Eine der spektakulärsten Klangwolken-Projekte in Folge war für mich und viele andere Alvin Currans Konzert für Schiffshörner, „Waterworks“, im Jahr 1987, ein Projekt der Ars Electronica in der Ära Gottfried Hattinger, der damals meinte: „Ich hatte das Gefühl, dass es nicht mehr reicht, im Großen Saal des Brucknerhauses ein Konzert zu veranstalten, das dann nach draußen übertragen wird, ich wollte, dass man den wunderbaren Donauraum selber spielen lässt.“
Der Raum selbst spielen lassen! Nicht die Klänge einfach der Umgebung aufoktroyieren, sondern durch ihre spezielle durchdringliche Klanglichkeit den Klangraum selbst hör- und erlebbar zu machen.

Soundscape – Klangraum
Das mag uns durchaus an andere Projekte erinnern. An die Versuche vielleicht, revolutionäre Gedanken in eine neue, inszenierte Musik einfließen zu lassen, wie in dem großen „Konzert für Fabriksirenen und Dampfpfeifen“, 1922 in Baku. Nebelhörner der Flotte, alle Fabriksirenen, zwei Kanonengeschwader und viele Soldaten, Maschinengewehre, Wasserflugzeuge, Chöre und viele andere waren involviert, Beteiligte und Zuhörer in einem. „Das Fest war sehr beeindruckend, es war keine Überraschung, dass die Musik weit über die Stadtgrenzen hinaus gehört werden konnte.“ Ein berühmtes Foto zeigt den Komponisten Arsenij Avraamov auf dem Dach eines hohen Hauses, mit Flaggen dirigierend. Eine Klang-Gestaltung der Welt als proletarisches Konstrukt.
Oder es erinnert an die Versuche der italienischen Futuristen, mittels Geräusch-Maschinen, den intonarumori, eine neue, der modernen Zeit entsprechende Klangästhetik in die Musik einzubringen. Ein Entwurf aus dem gegensätzlichen politischen Spektrum, möchte man meinen, eine ebenso kräftige wie gewalttätige Musik, als künstlerisches Äquivalent einer zunehmend gewalttätigeren Zeit. „Wir müssen diesen engen Kreis der reinen Töne durchbrechen und den unerschöpflichen Reichtum der Geräusch-Töne erobern.“ Der Futurist Luigi Russolo in seiner noch so kriegsbegeisterten Rhetorik 1913 stellt trotzdem, zusammen zum Beispiel mit den Erfindern der Zwölftontechnik oder den in alle Erdteile ausschwärmenden Ethnomusikologen, damit aber die Weichen für ein neues und umfassenderes Verständnis von Klang und Musik.

Klang und Krach
Eine Zündschnur für ein anderes Verständnis von Klängen hat auch der amerikanische Komponist John Cage mit seinem „stillen“ Stück 4’33 gelegt. Nicht das Spiel selbst erzeugt und gibt uns die Töne, das machen wir selbst, absichtlich und auch unabsichtlich, der Instrumentalist bleibt an seinem Instrument untätig und skizziert nur mehr die Zeit, die uns gegeben sei, für die Konzentration auf die hereindringenden Klänge Achtsamkeit und Aufmerksamkeit aufzubringen. „Heute brauche ich das Stück nicht mehr,“ sagte Cage später, und „… wenn ich in meinem Apartment (an der 6th Avenue in New York) Musik hören will, dann öffne ich die Fenster.“ Die differenzierte Wahrnehmung der Alltagsklänge und -geräusche als musikalischer Akt.
Wenn ein Baum im Wald umfällt und niemand hört zu, ist dann ein Geräusch zu hören? Die Antwort ist so einfach wie bestürzend: Nein. Denn ein Klang ist das Konstrukt unserer Wahrnehmung. In der Realität gibt es nur ein Schallereignis, sich ausbreitende Luftdruckschwankungen, Reflexionen, Überlagerungen. Der kanadische Klangökologe R. Murray Schafer antwortet 1977 recht poetisch: „When a tree crashes in the forest and knows that it is alone, it sounds like anything it wishes — a hurricane, a cuckoo, a wolf, the voice of Immanuel Kant, the overture of Don Giovanni or a delicate air blown on a Maori nose flute.“ Es geht also nicht einfach um Hören als physiologischer Vorgang, sondern um das Zu-Hören, eine bewusste Handlung, die auch geübt und gelernt werden kann und muss.
Schafer wies uns 1977 in seinem Buch „The Tuning of the World“ (gleichermaßen das Stimmen und die Stimmung der Welt; damals aber auch recht treffend als „Klang und Krach“ übersetzt) auf die Flüchtigkeit und den politischen, historischen, gesellschaftlichen und physischen Umgang von Klängen hin. „I pointed out how all sounds of the present will soon become sounds of the past and asked whether there should be museums for dis­appearing sounds? Actually I was beginning to assemble a reference library of significant sounds found in descriptions from other places and times.“ Das damals entstehende Archiv von Klängen des Alltags einer Stadt, von den spezifischen Sounds und akustischen Eigenheiten mündete in das bis heute aktive Vancouver Soundscape Project. Schafer prägte den bis heute einflussreichen Begriff „sound­scape“ für die auditiven Gegebenheiten, ak­tiven und passiven akustischen Realitäten. Und die bekanntesten Klänge des Van­couver Soundscape Projects sind die die Hafenbucht durchflutenden Klänge der Nebelhörner, die mit ihren typischen und durchdringenden Lauten den Schiffen den Raum für das Manövrieren bestimmen.

In den Wüsten des Alltags
Wir sind allzeit von Klang umgeben, und das Hören strukturiert unseren Alltag und schafft Orientierung und Wirklichkeit. „Phylogenetisch ist der Hörsinn ein Warnsinn; anders als den Sehsinn können wir ihn nicht kontrollieren, können ihn als Raumsinn auch nicht dem gerichteten Blick entsprechend auf ein begrenztes Feld fokussieren: das Gehör liefert (schon im Mutterleib) ununterbrochen Informationen, die wir zur Orientierung in der Welt verarbeiten. In diesem Sinne sind wir ihm schutzlos ausgeliefert, noch mehr aber deshalb, weil die Welt ununterbrochen akustisch an uns herantritt – eine völlige Abwesenheit von Schall gibt es nicht.“ Der Komponist und Akustikforscher Peter Androsch, auch einer der Ideengeber und Leiter der heurigen Klangwolke, stellt mit seiner Arbeit im Rahmen des Projektes Hörstadt, den Klang als eine der wesentlichen Ressourcen unseres Lebens in den Mittelpunkt. In der Linzer Charta, vielleicht auch als eine Art Gegen-Entwurf zum Manifest der Futuristen, wird der nachhaltige und menschengerechte Umgang mit allen Klängen hervorgehoben. „Der akustische Raum ist formbar. Er kann gestaltet, gepflegt und entwickelt werden.“ Die Umgebung wird nicht mehr unablässig von unvermeidlichen Klängen, gewissermaßen als Abfall unserer Zeit geflutet, sondern mittels einer „Inklusiven Akustik“ werden auch alle klingenden Räume gestaltet und betreut. Nicht mehr nur die reflexhaft installierte Lärmabschirmung gilt als alleinige Möglichkeit, sondern ein umfassendes Klang- und Lärm-Management.

Linzer Klangwolke!
In den letzten Jahren ist das einstmals mit großer Ambition begonnene Projekt der Linzer Klangwolke zu einer Art großen Show verkommen, bei der das eigentliche Erlebnis der Klänge und ihrer Ausbreitung und Wirkung zur Nebensache geworden sind. Für viele war das bereits gewohnte Feuerwerk am Ende der „visualisierten Klangwolke“ (was für ein Euphemismus) der Höhepunkt und Sinn des immer bemühter werdenden Massenevents. Spektakuläre Showelemente, theatralische und plakativ-edukative Inhalte konnten kaum den Sinnverlust kompensieren. Wer erinnert sich noch an die einzelnen Klangwolken? Wozu auch. Mich interessiert diese Entwicklung schon lange nicht mehr. Und die Corona-Krise und ihre Einschränkungen ließen heuer ohnehin keine Prolongation dieser Entwicklung zu. Warum also nicht (endlich!) die Idee der Klangwolke wieder komplett neu denken? Die GestalterInnen der Linzer Klangwolke 2020 und des Projektes Sounding Linz, die alle lang mit der musikalisch-künstlerischen Entwicklung dieser Stadt verbunden sind, haben dafür eine zunehmend komplexere und sehr umfangreiche „Wolke“ von Ideen und Aktionen zusammengestellt. Nun steht Linz und seine gesamte „soundscape“ wieder im Vordergrund und die besten Ideen aus den vergangenen Jahren werden auch noch als Referenzen mit eingebracht. Die heutigen medialen und kommunikationstechnischen Realitäten machen es möglich, die Funktionen des Radios, durch eine mögliche Einflussnahme und Beteiligung aller, zu der „sozialen Skulptur“ zu machen, die uns immer vorgeschwebt ist. Wir brauchen dazu keine „fremde“ Musik mehr, denn die eigenen, gefundenen und entdeckten Klänge werden hier als selbstständiges Medium dienen.
Wir haben vielleicht aufgehört zu suchen, denn eine Suche impliziert ein Subjekt, das vorbestimmt werden muss. Wir sind nun in die Phase des Findens getreten, und die prinzipbedingte Offenheit des Findens umfasst alles, unsere Umgebung, unsere Welt.
„Das Pariser Leben“, schreibt Charles Baudelaire schon 1846, „ist reich an poetischen und wunderbaren Sujets. Das Wunderbare umgibt uns und durchtränkt uns wie die Luft; doch wir sehen es nicht.“ Und hören auch nicht zu, möchte man dazufügen.

Are we quietophiles?
In den Tagen im April dachte ich über die Auswirkungen nach und beschäftigte mich mit der veränderten akustischen Situation, die zu dieser Zeit herrschte (bzw. sich schon bald wieder änderte) und die sich doch gravierend auswirkte. Jede und jeder hat es erfahren, wie sich ein „Downscaling“ oder (noch besser) ein „Niederfahren“ (was für ein Wort!) unserer manisch-aktiven Lebensweise auswirken kann. Der Himmel ist beinahe unmittelbar blauer und klarer, die Sterne sind sichtbarer geworden, die Luft ganz merklich sauberer, und jede und jeder hat das „irgendwie“ nicht einfach nur gespürt, sondern es auch, trotz aller anderen Nachteile, als angenehm und entspannt wahrgenommen.
In den Medien war leider nur wenig von der zumindest damals deutlich reduzierten Lärmbelastung die Rede. An meinem Haus führt z. B. eine Straße vorbei, die sich in den letzten Jahren dank Google etc. zu einer Ausweich- und Durchfahrtsstrecke entwickelt hat, mit massiven Auswirkungen auf die Lärmbelastung und -belästigung. In diesen Wochen des „Lockdowns“ gab es wieder so wenig Verkehr, wie ich es seit meiner Kindheit in den frühen 60ern nicht mehr erlebt habe, tagsüber wenig und nächtens gar keinen mehr. Wie befreiend fühlte sich das an, die Vögel in der Früh den Morgengesang anstimmen zu hören und nicht mit dem Donnern eines LKWs aufzuwachen. Und untertags zu erleben, wie es sich anfühlt, wenn kein ununterbrochenes Dröhnen der Flugzeuge den Himmel und die Umgebung permanent durchdringt.
Mir ist natürlich klar, dass das besondere Umstände waren, mit wirtschaftlichen Auswirkungen, die noch immer nicht gänzlich abzusehen sind. Aber es ist an der Abnahme der Lärmbelastung niemand gestorben und ich, ja ich persönlich in meinem individuellen Lebensentwurf, habe es sehr genossen! Soll ich ein schlechtes Gewissen haben, wenn mir eine Veränderung zusagt, auch wenn es weitreichende Konsequenzen in verschiedenen Bereichen haben wird?
Ich denke, dass es um einen neuen Umgang mit der Lautsphäre gehen wird müssen, mit einer veränderten Differenzierung zwischen den „wanted sounds and unwanted sounds“. Und ich denke, dass es um die Erfahrung der Stille geht, der Ruhe, wenn alles ein wenig auf sich selbst zurückgeworfen wird und zu einer umfassenderen Reflexion des eigenen Standpunktes, der eigenen Situation, aufruft.
„Silence“, sagt der amerikanische Klangökologe Gordon Hempton, „is not the absence of something … but the presence of everything.“

 

Sounding Linz
Soundinglinz.at ist ein Projekt der Klangwolke und versteht sich als Plattform künstlerischer Forschung mit partizipatorischer Agenda. Hier werden akustisch bemerkenswerte Orte dokumentiert, kommentiert und auf einer Linzkarte eingetragen. Alle sind eingeladen, die oberösterreichische Landeshauptstadt Linz mit eigenen Ohren akustisch zu erforschen und ihre Erfahrungen zu teilen.

Mehr Infos: soundinglinz.at 

Das Programm läuft bereits seit Mitte August. Sounding Linz findet am 12. September 2020 in ganz Linz statt. 

In Your Face!

In der Ausstellung Lebt und zeichnet in Linz, die über den Sommer im Atelierhaus Salzamt zu sehen war, gab es vieles zu entdecken – so auch die Artwork-Maschine Sbäm. Porträt von Christian Wellmann.

Sbäm Does Shitty Art. Mit dieser Selbstbeschreibung dem Punkrock-Ethos verpflichtet, ironisiert sich alles weitere von selbst. Punkrock Ruined My Life. Slogans hämmern im Farbrausch auf Dreiakkord-Illustrationen ein. Oft sind die auffälligen, knalligen Designs in Retro-Comic-Ästhetik gepackt, versprühen Nostalgie. Die meisten Arbeiten wirken wie eine Tattoo-Vorlage. Skatepunk(-Ästhetik) ist der Name des Spiels. Sbäm, Künstlername Stefan Behams – aber auch Sbäm, das Team hinter dem Sbäm-Label und -Festival. Der aus Schärding stammende Grafiker und Designer kritzelte schon für namhafte Größen der amerikanischen Punkrock-Szene wie NOFX, Blink 182, Pennywise etc. Tourposter, Plattencover, Merchandise – zudem ist er als Konzertveranstalter und Plattenlabel-Betreiber tätig. Designs bilden jedoch das Steckenpony seiner Arbeit, die Konzerte und das Label sind eher zufällig dazugekommen. Er hat es einfach probiert.
Sbäm hat sich besonders in den USA einen Namen gemacht, wo zum Beispiel 2018 in San Francisco bei einer Ausstellung alle Artworks für Fat Wreck Chords, dem NOFX-Label, präsentiert wurden. Inzwischen fragen die Bands bei ihm an, seit dem Start vor fünf Jahren ist er sichtbar gereift. „Ich weiß, welches Artwork zu welcher Band passt und außerdem liefere ich Ergebnisse asap. Also ist mein USP wahrscheinlich, Individualität, Qualität und Schnelligkeit zu vereinen“, beschreibt die Artwork-Maschine die Herangehensweise.

Das Hauptquartier liegt in einem Keller der Linzer Mozartstraße. Dort wird im produktiven Akkord fabriziert, da kann man fast schon vom Sbäm-Imperium sprechen: T-Shirts, Poster, Platten, Skateboards, Hosen, Masken – alles mit einem Design, das gekonnte Individualität versprüht. Im Webshop können Unmengen dieser „Merch-Flut“ bestellt werden. Die Einflüsse sind weit gestreut, vom Jugendstil, Frank Kozik, Raymond Pettibon, Poster-Pop-Art, EC-Horror-Comics etc. Hier wird der visuelle Sampler angeschmissen – und doch ist der Stil eigen.
„Favoriten gibt es momentan eigentlich nicht wirklich. Ich lass mich da auch gar nicht von Trends usw. leiten, sondern versuche einfach, alles Mögliche aufzuschnappen. Sei es aus Comic-Büchern, Zeitungen, TV, Graffitis, Werbungen … Ich liebe es einfach, neue Artworks zu schaffen. Ohne Musik geht bei meinen Arbeiten aber überhaupt nichts. Ich brauche einfach die richtigen Songs, um einen Flow entstehen zu lassen“, so Sbäm. Und überhaupt geht’s um Liebe: zu DIY, knalligem Design und dreckigem Punkrock.
Referentin: Wie bist du überhaupt zur Postergestaltung bzw. zum Illustrieren gekommen? „Da mein Vater früher eine Druckerei besaß, war ich in punkto Grafik schon immer gebrandmarkt. Wenn mir als Kind langweilig war, ging ich einfach ein Stockwerk tiefer und versuchte mich an Grafiken für lokale Events. Ich denke, ich war 12, als ich nachts einfach mal die Auftragsmappen durchforstete, ein Poster für eine Veranstaltung kreierte und dann zu den Entwürfen legte – und es wurde sogar genommen! Mich hat also Grafik, Illustration und Werbung schon immer fasziniert. Nach meinem Studium und unzähligen Jobs in Werbeagenturen wurde mir aber bewusst, dass ich viel lieber Poster als Werbeanzeigen gestalte.“

Die Ausstellung im Salzamt sollte sich so anfühlen wie ein Besuch im Plattenladen. Was für viele anachronistisch anmuten dürfte (Was? Da wurde für Musik bezahlt?), verweist auf die Wurzeln seiner Arbeiten, als fast alle Musik-News im Schallplattenladen erworben wurden, sei es grafischer Natur oder WerWasWieWann. Durch den Charme der Schallplatten, Melancholie-Spender schlechthin, lässt sich diese Ausstellung schön dosiert genießen. Mittels Haptik wird die Bildübertragung beeinflusst.
„Es sind die aktuellsten bzw. zuletzt angefertigten 80 LP-Covers ausgestellt. Außerdem 10 Tourposter, diese sind einfach meine Lieblings-Poster-Motive. Die Covers wurden nicht extra erstellt, sondern sind alles reale Projekte bzw. veröffentlicht worden. Nur ein kleiner Teil von den Designs sind Bands auf Sbäm-Records.“

Das Sbäm-Fest ist ein zweitägiges Punkrock-Festival im Alten Schl8hof Wels, das normalerweise zwei Mal im Jahr stattfindet. Skatepunk der späten 1990er bestimmt den Sound, mit neuen freshen Bands, dazu rattert ein Skatecontest.
„Das Fest hat sich seit der ersten Episode 2017 extrem weiterentwickelt. Beim ersten Mal für 400 geplant, ist es jetzt schon für 2.000 BesucherInnen konzipiert. Aber kurz zum Fest: das Sbäm-Fest ist ein Alternativ- bzw. Punkrock-Festival, das große Szene-Acts in ein kleines familiäres Umfeld packt. Also die Bands gibt’s bei uns zum Anfassen. Es traten beispielsweise schon Lagwagon, Descendents, NOFX, Propagandhi, Donots, Toy Dolls etc. auf“, so Sbäm.
Seit der Erstauflage 2017 ist es jedes Mal ausverkauft, das für Oktober 2020 angekündigte Fest musste auf 2021 verschoben werden.
„Dieses Jahr im Mai hätten mit Me First And The Gimmes Gimmes und Frank Turner ziemliche Hochkaräter gespielt, jedoch kam virusbedingt leider die Absage. Sowas schmerzt dann schon sehr, wenn du ein 3/4 Jahr deine ganze Energie in die Planung steckst und du dann am Schluss alles absagen musst. Vom finanziellen Schaden mal ganz abgesehen. Der optimistische Plan war dann, alles auf Ende Oktober zu verlegen – leider klappte das auch nicht. Jetzt hoffe ich mal ganz stark auf 2021. Das Lineup für die Ausgabe steht bereits und es wird alles noch etwas umfangreicher und besser – sozusagen als Entschädigung für die nicht stattgefundenen Episoden“, beschreibt er die derzeitigen Probleme. „Wir haben mit den Behörden alle Pros und Kontras abgewogen und sind am Ende zum Schluss gekommen, mit allen Unsicherheiten der kommenden Monate, dass es nicht möglich ist, ein echtes Punkrock-Festival zu machen, und für die Sicherheit aller zu garantieren. Die Gesundheit ist das Wichtigste.“

Damit zurück ins Jahr 2018: Nachdem das Festival stets ausverkauft war, und mit den Arbeiten die Erfolge zunahmen, war für das Team die richtige Zeit gekommen, ein Label zu starten. Sbäm-Records wurde 2018 gegründet, als erster Release erschien „Tales of the Sbäm-Fest“, ein Doppel-LP-Sampler. Eines der Hauptanliegen ist es, lokale Bands aus der österreichischen DIY-Szene zu unterstützen. So gibt es von den (gehypten) Not on Tour aus Israel bis zu den Mundart-Punkern Glue Crew aus dem Salzburger Pongau bereits 46 Releases, das meiste davon auf Vinyl.
„Sbäm-Records ist ein Punkrock-Label mit Sitz in Linz. Bands wie No Fun At All, Bad Cop / Bad Cop, Get Dead, Bracket etc. haben bereits bei uns Platten veröffentlicht. Beim Label erfahre ich gerade einen Mega-Aufwind. Da man ja dieses Jahr nicht wirklich Shows machen kann, habe ich meine ganze Energie – neben der Grafik – ins Label gesteckt. Und durch die Hilfe von neuen Partnern werden die Releases und die Anerkennung (weltweit) immer größer. Es sind dieses Jahr zwischen 10 bis 20 Releases geplant“, beschreibt Sbäm sein Label.

Jaja, die Situation „in Zeiten wie diesen“ ist auch für Sbäm, wie für so viele, keine leichte: „Momentan ist das gar nicht so einfach. Die Aufträge im Musik-Biz sind etwas spärlich gesät. Fast alle Bands verwenden die Grafiken von 2020 ident für 2021. Außerhalb der Musik gibt es dafür ein paar neue Projekte mit größeren Kunden.“
Im patriarchalischen Angst-für-Tourismus-Reich der Jugendlichkeit vorgaukelnden ReligionslehrerInnen, die wie die von ihnen vergötterten Volksmusik-Kasperln vorrangig für Propaganda-Shots posen, gibt es ja die Salzburger Festspiele, das muss reichen. Dick auftragen und bürokratisch ansägen. Jemand meinte zu mir, die Leute kapieren den Ernst der Lage nur durch Angstmache. Verdummungspflicht jetzt.
Kreativität kennt keine Angst, so finden sich seit dem Virus-Bang zahlreiche Sbäm-Projekte umgesetzt: Wie ein Charity-T-Shirt für No Use For A Name, ein Poster für Lagwagon („Let’s Talk About Quarantine“), Heavy-Talks-Podcasts, Tourplakat für The Suicide Maschines, Chasers „Look Alive“-Platte (ein wunderschönes Farbvinyl in vier Varianten, mit Sprenkeln angereichert: Augen-Zuckerl!), selbstredend auch Sbäm-Masken (über den Shop zu erwerben), außerdem arbeitet er an weiteren Veröffentlichungen und einer neuen Webseite.
Dass Begrenzung auch kreativen Freiraum schafft, und neue Lösungen fordert, unterstreichen auch diverse Sbäm-Musik-Veranstaltungen im Linzer Sputnik, zum Beispiel war das im August eine Show von Heatcliff (Live, Free & Acoustic). Natürlich darf dabei nur eine gewisse Personenanzahl partizipieren, und wie es der Ankündigungstext so schön trällert: Nur der frühe Vogel kann pogen!
Auch daran sollten sich einige, in Katharsis verfallene KulturnahversorgerInnen ein Vorbild nehmen, dumme Zeiten brauchen kluge Ideen. Neues ausprobieren, auch „das Kleine“ ist schön. Öffentlichen Raum „rückerobern“. Vielleicht kann auch so die Super-Spreader-Langeweile überwunden werden, die digitales Streamen oder ähnliches verursacht. Warum nicht auch in Linz die TipsArena (die ja sowieso leer steht), oder ähnliches, für kleinere Veranstaltungen nutzen (also unentgeltlich zur Verfügung gestellt) – brenne darauf, ob die Stadt Linz sowas überhaupt nur im Entferntesten unterstützen würde … Oder an einem Abend einfach mehrere Auftritte (vor wechselndem, kleinem Publikum). Das Fluc setzte dies in Wien bereits um, was im Jazz den Ursprung hat. Oder gleich rein in den Spaceanzug, wird man sowieso noch öfters brauchen, in den nächsten Jahren. Abstand verpflichtet.

 

www.facebook.com/SBAM.ROCKS
shop.sbam.rocks

Respect the Space

Zum dritten Mal bespielt Holy Hydra heuer im September die Stadtpfarrkirche Urfahr. Holy Hydra widmet sich neben musikalischen und künstlerischen Beiträgen vor allem folgenden Fragen: Was sind die Gemeinsamkeiten von Clubkultur und Religion? Wie können Sakralräume anderweitig genutzt werden? Inwiefern können Kirche, Kunst und Kultur voneinander profitieren? Bettina Landl ist einer sehr zeitgemäßen Variante der Liaison von Kunst und Kirche nachgegangen.

Am 10. und 11. September ist es wieder soweit. Nach einer herausfordernden Organisations- und Produktionsperiode hat das höchst flexible und improvisationserfahrene Team der Holy Hydra, bestehend aus dem Linzer Hydra Kulturverein in Kooperation mit dem Raumteiler Kulturverein und mit wertvoller Unterstützung der Jugendkirche Grüner Anker sowie dem bestehenden Netzwerk ein zweitägiges Programm krisengerecht auf die Beine gestellt. Neben dem bereits in den ersten beiden Ausgaben bewährten visuellen Raumkonzept, einem 360°-Live-Projection-Mapping von 4youreye ProjectionArt sind auch Alja Ferjan und Barbara Vuzem mit einer Tanzperformance wieder mit an Bord. Besonderes Highlight ist die Bespielung der Kirchenorgel, für die u.a. die Künstlerin Monica Vlad eigens ein Stück erarbeitet.

„Unser Anliegen ist es, einen fluiden und smoothen Übergang von Theorie zu Praxis zu schaffen, wobei den AkteurInnen dabei eine möglichst offene und freie Plattform gegeben werden soll. Um ein breites Spektrum an Zugängen abzudecken und Diversität zu garantieren, wurden erneut KünstlerInnen vielfältiger Genres geladen. Augenmerk dabei liegt auf Performance und Interaktivität, um dem Publikum die Möglichkeit zu geben, sich als Teil der Holy Hydra zu fühlen“, heißt es vonseiten der Hydra.

Andere Räume
Hydra erweitert (Gedenk-)Räume, aber diesmal anders. Lange wurde darüber diskutiert, ob das Festival 2020 überhaupt stattfinden wird, aber: „Nichts machen geht auf keinen Fall“, lautet das Credo der VeranstalterInnen, die sich dazu entschlossen haben, trotz Widrigkeiten fix etwas zu organisieren. Situationsbedingt konzentriert man sich in diesem Jahr vielmehr auf den Kirchenraum als Gesamt-Installation als auf das Programm an sich. „Auf alle Fälle wird es aber wieder Sound geben, wenn auch nur bis Mitternacht. Es wurde auch ein Sicherheitskonzept entwickelt, welches stets den aktuellen Auflagen angepasst wird, um alle Corona-Bestimmungen in die Umsetzung zu integrieren“, schildert Amanda Augustin, die Obfrau des Hydra-Kulturvereins, den sie gemeinsam mit Lorena Höllrigl, Anna Friedinger, Björn Büchner, Bernd Himsl und Klaus Reznicek betreibt.

Die Hydra ist das vielköpfige Geschöpf aus Linz, das Tag und Nacht für die freie Szene kämpft und sich stets nach unbespielten Räumen, einzigartigen Raumkonzepten und neuen Möglichkeiten umsieht. Sie agiert aus einer inneren Notwendigkeit für eine kulturell vielfältige Veranstaltungskultur heraus, immer auf der Suche nach dem Plus X, angetrieben vom Zuspruch ihres Publikums. 2016 als Veranstaltungskollektiv „die geile Hydra“ gegründet, ist sie mittlerweile ein Kulturverein, der seit 2018 einmal im Jahr eine Kirche anvertraut wird, um sich darin zur Holy Hydra zu transformieren. Ihre sechs Köpfe haben sich über ihr kreatives Schaffen zusammengefunden, sind sowohl professionell als auch privat fester Bestandteil der Linzer Kulturszene und verfügen über profunde Erfahrungen als VeranstalterInnen im Kunst- und Kulturbereich. Ihr Anliegen ist es, dieses Format einer jährlichen Veranstaltungsreihe zwischen zeitgenössischer Kunst, Religion und Gesellschaft kontinuierlich zu etablieren.

#bumbummitniveau
Die ersten Schritte machte die Hydra bereits 2016, als man im Zuge der ersten Hydra-Parties auf Locationsuche war. Im Zuge dessen wurde der Raumteiler Kulturverein gegründet, dessen Räumlichkeiten als Lager, Produktionsbüro und Veranstaltungsort genutzt werden. 2018 fand die erste Veranstaltung in der Stadtpfarrkirche Urfahr unter dem Namen Holy Hydra statt, welche gleichzeitig die praktische Masterarbeit von Amanda Augustin und Lorena Höllrigl an der Kunstuniversität Linz (Abteilung raum&designstrategien) war.
Um autark zu sein, wurden die Vereine separat aufgestellt und haben unterschiedliche, wenn auch eng verwandte Missionen. Jene der Hydra lautet: Wie kann man Party mit Kunst vereinen und wie lässt sich daraus ein Mehrwert generieren? „Party“ wird als Kunstkonzept und Medium verstanden und soll als fixes Format neben und gemeinsam mit der Ars Electronica eingerichtet werden, deren Prinzip sie quasi umkehrt: Diskurs und dann Party wird zu Party mit Diskurs.
Was uns intern verbindet, ist die Neugierde neue Räume zu entdecken, Leerstand zu bespielen und jede Party als einzigartiges Erlebnis zu verstehen und zu zelebrieren“, erzählt Augustin. „Die ursprüngliche Idee für eine Holy Hydra kam uns in der Kapu, neben der sich die bereits länger leerstehende Kapuzinerkirche befindet. Wir haben dann ein Konzept dafür entwickelt. Aber aus diesem Ort ist nichts geworden.“ Ihre Überzeugung, intensive ehrenamtliche Vereinsarbeit, viel Engagement und Bemühen trotz prekärer Arbeitsbedingungen hat jenen Prozess in Gang gesetzt, der sie schließlich in der Stadtpfarrkirche Urfahr landen ließ, indem die Jugendkirche Grüner Anker sofort als Kooperationspartnerin gewonnen wurde. „Die Kirche ist perfekt und dankenswerterweise war der Grüne Anker unserer Idee gegenüber völlig offen. Wenn man Kirche machen kann, dann so!“, betont Augustin. „Es ist eine sehr moderne Kirche, die vor ein paar Jahren renoviert wurde. Aufgrund ihrer Bestuhlung eignet sie sich hervorragend für derlei Formate wie die Holy Hydra“, ergänzt Anna Friedinger.

„Der Boden lässt sich vollständig mit Teppich auslegen und ermöglicht es, im Liegen den ganzen Raum spürbar zu machen und den Kirchenraum auf vollkommen neue Art zu erfahren. Ein ganz spezieller Vibe! Das ist genau das Potenzial, das ich in der Holy Hydra sehe. Mich faszinieren Sakralbauten. Es sind wahnsinnig spannende Gebäude und diese als Veranstaltungsorte zu nutzen, ist ein großer Reiz und eine Chance. Denn ohne Zweifel braucht es auf die Frage, wie diese Räume einer erweiterten Nutzung zuzuführen sind, sodass diese für eine größere Anzahl von Personen (wieder) zu Räumen der Begegnung werden können, eine Antwort. Dabei geht es nicht um eine reine Umnutzung, sondern um das Aufzeigen neuer Möglichkeiten. Wir sehen in Sakralbauten wie Kirchen enorme Möglichkeiten und möchten mit unserer Veranstaltung deutlich machen, dass eine Kirche Platz für diverse Formate bieten kann“, erklärt Augustin.

Kirche geht (auch) anders
Eine mögliche Antwort lautet also: Holy Hydra – eine interdisziplinäre Veranstaltung, die zeitgenössische Tanzperformances, elektronische Musik und neue Medienkunst sowie themenbezogene Vorträge beinhaltet. Inhaltlicher Fokus liegt dabei auf einer erweiterten Nutzung und einer möglichen Neudefinition von sakralen Räumen, mit der Agenda den Diskurs zwischen Clubkultur, Religion und Gesellschaft auf eine breitere Ebene zu stellen. Im Zusammenspiel von Theorie und Praxis wird der Frage nach der gegenwärtigen Funktion von sakralen Räumen nachgegangen. Dabei wird auch debattiert, inwiefern diese über ihre eigentliche Funktion hinaus im Kontext von öffentlichem Raum genutzt werden können.

Wie in den vergangenen Jahren auch abseits der Veranstaltung bewiesen wurde, haben Sakralräume wie Kirchen ein großes Potential, insbesondere für Kunst und Kultur. Durch gemeinsamen Dialog aller Beteiligten werden Bedingungen geschaffen, die einen interkulturellen Austausch ermöglichen und als Vorbild für zukünftige Kulturschaffende wirken. „Auch in diesem Jahr wollen wir ein interdisziplinäres und zeitgemäßes Programm zusammenstellen, das besonders die lokale Kunst- und Kulturszene im Fokus hat und die Vielfalt der österreichischen Kulturlandschaft widerspiegelt. Die Veranstaltung bietet die exklusive Erfahrung, einen sakralen Raum im neuen Kontext zu erleben, Kunst und Kultur auf bisher selten zugänglich gemachte Weise zu erfahren“, erklärt die Hydra.

 

HOLY HYDRA
10. & 11. 9. 2020
Stadtpfarrkirche Urfahr – Jugendkirche Grüner Anker
www.holyhydra.at

Billy

Plakat Ines Hanf

Drei Stunden hat er daran herumgewerkelt. Fast ist es fertig. Zwei Schrauben noch. Wo sind die Schrauben? Sauschrauben! Wo seid ihr?! Er sucht und flucht, aber fündig wird er nicht. Eine Wutader pulsiert auf seiner Stirn. Frucade. Er legt den Schraubenschlüssel aus seiner verschwitzten Hand auf den wackeligen Esstisch und geht zum Kühlschrank, nimmt sich eine 0,5 Liter Flasche und kühlt damit seinen Nacken, ehe er sie in einem Zug leert. Die Szene gäbe einen guten Werbespot ab, wenn er nicht blad wäre. In der Werbung findest du ja hauptsächlich Menschen, die von sich selbst sagen können, dass sie eine gute Masturbationsvorlage abgeben. Die Hornbach Werbespots bilden da eine Ausnahme. Obwohl, der Ai Weiwei ist erfolgreich, das macht bekanntlich auch geil. Nach der Aufnahme der flüssigen Zuckerbombe beruhigt er sich wieder. Das Objekt, an dessen Fertigstellung er durch den Fehler einer Maschine oder einer unterbezahlten Arbeitskraft gescheitert ist, wird von ihm mit einem großen schwarzen Müllsack abgedeckt, um es besser ignorieren zu können. Es ist für ihn an der Zeit sich zu entspannen. Gegen Stress hat bei ihm Pokémon noch immer am besten geholfen. Mit einem Level 86 Glurak ein Level 12 Taubsi wegfegen fühlt sich einfach gut an.

Elias Takacs

Wir stehen da wie aufgeregte Kinder, die gerade 50 verschiedene Ahornblätter gesammelt haben.

Amanda Burzic und Edgar Lessig über die im Oktober laufende Ausstellung Billy. Die Fragen zur Ausstellung und zum Regal hat die Referentin gestellt.

Billy ist der Titel der Ausstellung. Rosenholzstückchen formen den Namen am Plakat. Im Kurztext zur Ausstellung wird klar, dass es sich um Billy, das Regal handelt – und um einen Aufbau mit Schwierigkeiten. Was hat es mit dem Regal, das jeder kennt, auf sich?
EL: Das Billy-Regal ist ein simples, billiges und einfach aufzubauendes Regal und ist wahrscheinlich deshalb auch so berühmt geworden. Es fasst so viel zusammen, fast jede Person hat so ein Regal daheim stehen. Dort sind gesammelte Dinge drinnen, die alle gleich viel bedeuten. Das Regal verbindet sie miteinander, macht sie gleichwertig und plötzlich sehr intim.
AB: Es ist noch wichtig zu erwähnen, dass der Titel Billy dazu fungiert, die spezielle Intimität und den Witz der Ausstellung zu vermitteln. In der Ausstellung selbst wird kein Billy-Regal stehen. Matthias Tremmel wird eine Arbeit machen und darin die anderen Werke platzieren. Außer den skulpturalen Sitzmöbeln von Tina Graßegger und Alexandra Kahl. Unser kuratorischer Eingriff beschränkt sich also tatsächlich nur auf die Auswahl.
EL: Die Dinge im Regal sollen greifbar bleiben. Die gezeigten Kunstwerke brauchen eben keine weiße Galeriewand, die sie erhöht. Ich glaube, dass es nicht viele Arbeiten gibt, die sich in so einem Regal, mit Holzleisten und Plastikladen, beweisen können und dort immer noch ihre Intimität bewahren.

Billy als Titel hat ja auch etwas ungemein Persönliches. Vom „Du“ des gewissen Möbelhauses bis zu einem möglichen Billy als Person … Jedenfalls: Das Regal fasst in seinem Gebrauch oft Dinge zusammen, die so nicht unbedingt zusammengehören, kann quasi auch eine „unsaubere“ Sammlung abbilden. Diese persönliche Auswahl, die sich im Laufe der Zeit bildet, kann einem dafür umso teurer sein?
AB: Die Individualität, die der Titel vermittelt, ist ausschlaggebend in der Hinsicht, dass die Ausstellung nicht einfach eine Sammlung ist, sondern diese Auswahl eine Persönlichkeit bekommt. Die Auswahl wird zu einer subjektiven Auswahl. Wir haben Kunstwerke ausgesucht, die uns im Moment beschäftigen und gefallen.
EL: Es war uns aber auch ein Anliegen, Kunst auszuwählen, die in ihrer Machart sehr persönlich zu sein scheint, und so eine ganz bestimmte intime Qualität hat. Es stimmt, dass diese Dinge zusammengewürfelt wirken, aber nur äußerlich oder ästhetisch. Die Intimität der Arbeiten ist der rote Faden. Also willkürlich ist es dann doch wieder nicht.

Waren zuerst die KünstlerInnen und dann die Themen? Beziehungsweise: Was ist euch beim Ausstellungsmachen aktuell wichtig? Und: Wer oder was würde nicht in ein Billy-Regal passen?
AB: Bei unserer zweiten Ausstellung haben wir viel intensiver über das Thema gesprochen, bevor wir überhaupt einen Pool an möglichen Künstler*innen hatten, als bei der ersten. Generell läuft das bei uns aber parallel ab.
EL: In der Vorbereitung war auch unsere Einstellung zum Ausstellungsmachen sehr wichtig. Dass die Veredelung der Arbeiten durch einen Galerieraum momentan sehr überflüssig wirkt.
AB: Die einzige Möglichkeit, unserer Meinung nach, momentan eine Ausstellung zu machen, ist sich dieser Veredelung zu verweigern. Das Regal stellt keine Behauptungen auf. Wir stehen da wie aufgeregte Kinder, die gerade 50 verschiedene Ahornblätter gesammelt haben.
EL: Im Endeffekt passt alles in ein Billy-Regal. Wenn eine Arbeit gerade nicht in unser Regal passt, dann passt es in ein anderes. Wenn wir Billy ein halbes Jahr später machen, dann sind wieder andere Arbeiten dabei.

Arbeiten von euch beiden sind nun nicht in der Ausstellung zu finden. Wer seid ihr als KünstlerInnen? Woran arbeitet ihr, was treibt euch an?
AB: Neugierde, Humor und die Sprache in jeglicher Form. Ob sie nur als Metapher fungiert, als ein verblasstes Symbol oder als Witz. Wenn man mit einer Ehrlichkeit herangeht, kann man machen was man will. Das ist wahnsinnig frustrierend und gleichzeitig wahnsinnig erfüllend. Es gibt nicht viele Felder, in denen man angehalten ist, komplett ehrlich zu sein. Die Dinge, die ehrlich von mir kommen und ehrlich motiviert sind, sind die Dinge, die mir am meisten bedeuten.
EL: Ideen formulieren finde ich toll; und diese Ideen dann verweben zu können, wie man es woanders nicht machen könnte. Ohne alles genau erklären oder zu einem Ziel kommen zu müssen. Wenn ich ehrlich bin, könnte ich sicher auch was anderes machen. Aber ich wollte Kunst machen, weil mich die Freiheit der Kunst angezogen hat. Als ich mich so richtig mit ihr beschäftigt habe, ist mir die Kunst wichtig geworden. Das treibt mich an, weiter zu machen.

Also mich würde dann noch euer Name interessieren: Wieso eigentlich Wanja Hack? Und ich will wissen: Was ist die Frage, die ihr euch im Zusammenhang mit Billy jeweils gegenseitig stellen würdet? Oder euch vielleicht sogar auch NIEMALS stellen würdet?
EL: An dem Namen ist spannend, dass die Person Wanja Hack unglaublich präsent ist, weil der ganze Kunstraum nach ihr benannt ist, und gleichzeitig total irrelevant, weil sie nicht existiert. Ich würde gern wissen, was in deinem privaten Billy-Regal steht.
AB: Eine täuschend echt aussehende Schwedenbombe aus Gips, eine Schatulle mit Streichholzschachteln, die ich sammle, und bis vor kurzem ein gerahmtes Porträt von Rihanna. Und bei dir?
EL: Ein Chili Con Carne „Höllenfeuer“, ein Shotglas mit Eierschalen und eine gerahmte Fotocollage vom Fußnagel-Pilz einer Freundin.

BILLY
Ausstellung
Eröffnung: 07. Okt.
Dauer: 08. – 21. Okt.  
Kunstuniversität Linz
Hauptplatz 8  

Wanja Hack
www.wanjahack.com

Digitalia Theater: Ephemer, exklusiv, jetzt.

Was Corona mit der deutschsprachigen Theaterwelt auf jeden Fall gemacht hat, ist die so genannte Streaming-Debatte vom Kopf auf die Füße und als Tatsache in die Realität gestellt zu haben. Theresa Gindlstrasser reflektiert Erfahrungen mit Theater-Onlineformaten, die während des Lockdowns gelaufen sind.

Theater im Netz: Statt Applaus ohne Ende rauchen. Foto Elisabeth Schedlberger/Thomas Scharl

Es war einmal Anfang März. Da war ich auf Kampnagel. Auf dem Gelände des internationalen Produktionshauses in Hamburg sollte eine Weiterbildungs-Akademie betreffs Zeitgenössischer Theaterjournalismus stattfinden. Inklusive vieler Theaterbesuche. Aber dann kam es, wie es kam – und zwar Lockdown. Wir sprachen mit verzweifelten Künstler*innen, besichtigten leere Hallen und eine letzte, allerletzte Vorstellung, waren irgendwann dann gefühlt alleine am riesengroßen ehemaligen Maschinenfabrik-Areal und drehten Samstagabend, den 14. März, die Lichter hinter uns ab. Wir Theaterjournalist*innen waren nicht minder verzweifelt: Was ist denn bitte Zeitgenössischer Theaterjournalismus ohne Theater? Und die darauffolgenden Fragen zwei und drei: Was schreiben? Wovon leben?

Frage Nummer drei, die ökonomische, bleibt weiterhin bestehen. Aber das Theater ist ja ein Fuchs. Oder ein Phönix. Was in Linz umso mehr stimmt, aber in dem Fall meine ich nicht das Linzer Theater, sondern die Auferstehung aus der Asche. Denn noch am selben Wochenende Anfang März startete das Online-Theaterportal Nachtkritik.de mit dem Streamen von Vorstellungen. Andere Häuser und Institutionen reagierten ebenso prompt. Was Corona mit der deutschsprachigen Theaterwelt auf jeden Fall gemacht hat, ist die „Streaming-Debatte“ vom Kopf auf die Füße bzw. als Tatsache in die Realität gestellt zu haben. Streaming-Debatte? Nun! Das Theater bildet sich, sehr zu Recht, was darauf ein, Live-Kunst zu sein. Ephemer, exklusiv, jetzt. Und ergänzte bis dato nur bedingt oder nur vereinzelt die Live-Präsenz um einen Stream. Diese Debatte besteht aber nicht ausschließlich aus ideologischen Bedenken. Ist doch die Rechtslage zwischen Theatern, Verlagen und Kunstschaffenden kompliziert und die Frage nach Tantiemen ökonomisch wichtig.

Seit 2013 veranstalten Nachtkritik.de und die Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin jährlich die „Theater&Netz“-Konferenz zu ge­nau diesen Themen. Dort wird, quasi zwischen Theatertreffen und Re:publica, über Möglichkeiten und Notwendigkeiten im Zusammenspiel von Darstellender Kunst und Digitalität diskutiert. Auch diese Veranstaltung konnte 2020 nicht in der geplanten Form stattfinden. Inhalt „Digitalität“ und Format „Live“ – das ging sich nicht aus. Stattdessen gab’s von 17. bis 19. April eine Veranstaltung namens Der erste Weltübergang-Hackathon. Theatermacher*innen, Game-Designer*innen und Hacker*innen arbeiteten sich auf Video- und Chatplattformen an der Frage ab: „Wie können wir uns auch online miteinander verbinden?“ Eine dazugehörige Website versammelt Ergebnisse, Ideen und Anknüpfungspunkte. Auf dass der Entwicklungsschub ein nachhaltiger sei.

In der Vorbereitung zu diesem Text kam es übrigens zu einem witzigen und wahrscheinlich paradigmatischen Moment zwischen der Redakteurin Tanja Brandmayr und mir. Der Mail-Verkehr ging ungefähr so: „Bitte beim Online-Hot-Shit trotzdem auf Linz und Lokalität achten“ – „Mir fällt kein Projekt ein, das während Corona von Linz aus ins Digitale gegangen wäre“ – „lokal und digital“ – „haha“. Genau das! Wenn das Theater sich ins Internet streamt, dann muss ich mir kein Zugticket checken, um diesen einen herausragenden Abend in Frankfurt, Zürich oder Bregenz sehen zu können, meine Kaufkraft und Mobilität werden nicht in Anspruch genommen, außerdem kann ich während des Schauens rauchen – es lebe die Demokratisierung der Zugänge zur Kunst! Oder ist das gar keine Demokratisierung, sondern bloß Ver-Nerd-isierung? Wer in Linz braucht denn bitte Theater in München?

Apropos München! Und das hier ist die Überleitung vom Streamen von vorgefertigten bzw. live übertragenen Bühneninszenierungen hin zu genuinen Online-Formaten, die während der Zeit des Lockdowns nicht minder prompt von den Rändern der Theaterwelt ins Zentrum der Aufmerksamkeit katapultiert wurden. Gro Swantje Kohlhof, Schauspielerin im Ensemble der Münchner Kammerspiele, startete kurz nach Einstellung des Spielbetriebs ihre vielteiligen „Hogwarts Exkursionen“. Per Zoom spielte sie, in ihrem Hamburger Kinderzimmer-Kleiderschrank sitzend, immer mittwochs um 18 Uhr „Harry Potter“ nach. Sie verwandelte die eigene Lockdown-Depression in Harrys Missmut bei den Dursleys unter der Treppe oder verzauberte ihre zwei Katzen plus Kuscheltier zum dreiköpfigen Hund. So schnell hatten die Münchner Kammerspiele ihren charmanten DIY-Online-Spielplan. Zu dem das Landestheater Linz zum Beispiel bis zuletzt nicht kam.

Ich bleibe, wenn schon nicht lokal, so zumindest in Österreich, wenn ich schreibe: Die für immersive Spiel-Anordnungen bekannten Gruppen Nesterval (aus Wien) und Planetenparty Prinzip (aus Graz) wanderten mit ihren Projekten während des Lockdowns mehr oder weniger problemlos ins Internet aus. Da wurde per Konferenzschaltung und über mehrstufige Fragerunden ein neuer sozialdemokratischer Hoffnungsträger gewählt. Oder über die Steuerung eines Live-Avatars ein Mordfall gelöst. Dagegen war das Burgtheater mit seiner Wiener Stimmung recht antiquiert unterwegs: Autor*innen schreiben, Schauspieler*innen spielen und User*innen sehen schnörkellose Videos. Halt alles nicht so geil wie Netflix. Und auch nicht so geil wie in Real Life. Wieso? Weil diese Texte, dieses Spiel und diese Ausstattung ein Live-Format 1:1 im Virtuellen versuchten. Weil leibliche Ko-Präsenz von Akteur*innen und Publikum, also die theatertheoretisch vielbeschworene Feedback-Schleife, vor dem Bildschirm so nicht funkt. Es funkt dann, wenn irgendeine Art von Interaktion stattfinden kann. Wenn es dem Geschehen da vorne auf der Bühne oder da drinnen im Netz nicht wurscht ist, dass ich da bin. Da gilt es, digitale Übersetzungen zu finden, für „ephemer, exklusiv, jetzt“. Und so ist es nicht verwunderlich, dass Kollektive, die immer schon mehr mit dem Herstellen einer gemeinsamen (Gaming-)Situation als mit dem Darstellen eines bestimmten Handlungsablaufs beschäftigt waren, sich problemloser auf die in dieser Hinsicht verschärften Anforderungen von Theater im Internet einstellen konnten.

Der Online-Spielplan des Burgtheaters war aber umfassender als die genannten Videos. Am 12. Mai wurde unter #vorstellungsänderung zum Twitter-Theater­abend geladen. Heißt: Wir sollten twittern, als ob wir im Theater eine Vorstellung besuchen würden. Inklusive gestresstem Pinkeln beim Klingelzeichen und Hustenzuckerl-Raschlerei. Es war aufregend! Nämlich mein erster journalistischer Arbeitsauftrag seit Anfang März. Ich durfte eine Kritik schreiben, über einen „Theater­abend, der gar nicht stattfindet“, zu einem „Stück, das gar nicht existiert“, in einem „Theater, das gar nicht geöffnet haben darf“. Weil, es gab nämlich kein Theater oder besser gesagt: Das Theater entstand als Twitter-Gewitter, war der Entstehungsprozess selbst. Die Vorstellung, also die Theateraufführung, geschah als Vorstellung, also als Imagination. „Wir zusammen“, schließlich hieß es „Regie: Via Zusamm“, machten uns eine Vorstellung, nicht ausgehend von irgendwelchen vor uns hin gestageten Vorgängen, sondern andersherum: Indem wir vorstellten, stand es auf Twitter zu lesen und war also kein Fake. In diesem Absatz steht nun sehr oft „wir“– und darum ging’s bei #vorstellungsänderung auch ausdrücklich und darum geht’s im Theater ja immer: Dass das etwas ist, das „wir“, Akteur*innen und Publikum und Techniker*innen (undundund) gemeinsam tun.

Einzig offene Frage: Wie geht Applaus im Internet? Alleine vor dem Laptop in die Kamera klatschen fühlt sich vor allem bescheuert an, einfach die Konferenz-Schaltung beenden, den Live-Stream schließen oder aus Telegram aussteigen noch viel mehr. Zu applaudieren, das ist ja nicht nur Gradmesser der Publikumsgunst, das ist auch Rahmung des Ereignisses „Theater“. Beim Klatschen findet ein Übergang statt, von einer Art Wirklichkeit in die andere. Oder zumindest ist es der zeitliche Marker, an dem wir die Räumlichkeit verlassen. Eine Räumlichkeit, an der wir grade irgendwas gemacht, gedacht, gehört oder gesehen haben. Das Internet aber kann vergleichzeitigen und vergleichörtlichen: Ich muss nie aufhören zu rauchen. Was wäre dann ein adäquater Übergang? Ich weiß es nicht. Weiß aber schon, dass, als ich am 16. Juli zum ersten Mal wieder in einem Theatersessel saß, beim Applaus gar nicht aufhören wollte, weil mir die Selbstverständlichkeit bezüglich dieser spezifischen Bewegung während der vier theaterfreien Monate abhanden gekommen war.

Sowieso gibt es noch jede Menge anderer offener Fragen. Zum Beispiel: Und was nun? Die Salzburger Festspiele laufen als erstes Großereignis seit dem 1. und noch bis zum 30. August, zumindest bis zum Zeitpunkt, an dem ich diesen Text schreibe, ohne Corona-Alarm. Feuilleton auf und ab wird dem Festival eine Leuchtturm-Funktion im Hinblick auf künftige Kunst- und Kulturveranstaltungen zugesprochen. Aber auch andernorts wird wieder gespielt. So richtig mit mehr oder weniger Sitznachbar*innenschaft. Und mit Einnahmen-Einbußen aufgrund von Zugangsbeschränkungen. Und mit Mehr-Aufwand aufgrund von Sicherheitsauflagen. Und mit auf längere Sicht durcheinander geworfenen Spielplangestaltungen. Und mit ungeklärten Ausfalls-Tantiemen-Vereinbarungen. Und mit Absagen für junge Theatermacher*innen zugunsten großer Kassenschlager. Und mit ganz viel Planungsunsicherheit.

Auch für den zeitgenössischen Theaterjournalismus, mit dem dieser Text ja begonnen hat, stellen sich Fragen: Wie lassen sich theatrale Feedback-Schleifen konsequenter in Kritiken einschreiben? Wie reflektiere ich Plexiglas-Visiere als Kostümbild? Wie bewahre ich meine Aufgeschlossenheit in Anbetracht all der Die Pest- und Decamerone-Bearbeitungen? Und werde ich das Adabei-Geraune im Foyer jemals wieder ertragen können? Ich werde! Weil, ich liebe diesen Scheiß. Ob „Hot-Shit“ oder „Festspiele“ – Live is life.

Total Eclipse of our Hearts

Die Literaturzeitschrift PS: Anmerkungen zum Literaturbetrieb / Politisch Schreiben ist gegenwärtig eines der engagiertesten Vorhaben in der deutschsprachigen Literaturlandschaft, meint Andreas Pavlic. Er hat mit dem Redaktionskollektiv ein Interview über ihre Zeitschrift, die Illusion der Chancengleichheit im Feld der Literatur, das einsam schreibende Genie und über diverse Hefttitel geführt.

Andreas Pavlic: Eure Zeitschrift wurde ja vor 5 Jahren gegründet. Wie kam’s zur PS?
Redaktionskollektiv Politisch Schreiben: Die PS entstand, weil wir arg unzufrieden waren und die Kapazitäten hatten, was daran zu ändern. Erstmal im Kleinen für uns, später bald als Möglichkeit auch für andere.
2014 studierten zwei von uns schon länger am Deutschen Literaturinstitut Leipzig (DLL) und empfanden zum einen eine Lücke im Sprechen über den politischen Kontext von Texten und zum anderen ein starkes Befremden demgegenüber, wie sich uns der Literaturbetrieb vorstellte – das war eine Zukunft, in der wir so nicht leben und arbeiten wollten. Deswegen haben wir eine Gruppe gegründet und andere kamen dazu.
Die erste Zeitschrift, sie erschien im Herbst 2015, war ein Wunder, und es war selbstgemacht. Wir waren sehr euphorisch, weil wir tatsächlich von vielen Menschen innerhalb und außerhalb des Betriebs die Rückmeldung bekamen, dass ein ‚Werkzeug‘ wie die PS bisher gefehlt hätte: Eine Zeitschrift, die explizit die Dynamiken des eigenen Umfelds einer kritischen Analyse unterzieht und gleichzeitig versucht, auf verschiedenen Ebenen (Textauswahl, Lektorat, Veröffentlichungsprozess, Netzwerkgedanke) andere, solidarische Räume der Zusammenarbeit aufzubauen.
Seither haben wir jedes Jahr im Oktober eine neue Ausgabe veröffentlicht, zwischendrin viele Lesungen und Workshops organisiert und versucht, mit dem stetig wachsenden Netzwerk ein Gefühl von Gemeinsamkeit gegen die Vereinzelung von Schriftsteller_innen zu setzen.

AP: In der ersten Ausgabe schreibt ihr, dass ihr ein feministisches bzw. queeres Kollektiv seid. Hat sich in der Selbstbeschreibung in den letzten Jahren etwas geändert?
PS: Nein. Das ist so geblieben. Wir verstehen uns weiterhin als feministisch und queer. Natürlich haben wir aber unser Selbstverständnis an sich erweitert. Unsere Rolle als Autor_innen wurde uns wichtiger hervorzuheben, ebenso wie das Lektorat. Als wir 2015 mit PS angefangen haben, war das mit feministisch und queer gerade gar nicht en vogue. Jetzt ist das ja anders und auch andere Zeitschriften, wie die Bella Triste, bewegen sich entlang dieser Selbstbeschreibung. Das finden wir gut, sofern es auch in der Umsetzung dann dem entspricht. Allzu oft verkommen ja Adjektive zu bloßen Behauptungen.

AP: Bei der letzten Heftpräsentation im Literaturhaus Wien habt ihr betont, dass PS ein Netzwerk ist. Warum benötigt man im Literaturbetrieb ein Netzwerk?
PS: Im Literaturbetrieb, so, wie er momentan gestaltet wird, ist es sehr schwierig, solidarisch zu handeln. Das liegt einerseits an den durch und durch kapitalistischen Produktions- und Distributionsverhältnissen, die oft durch das berühmte Qualitätsargument, aber auch durch die Illusion prinzipieller Chancengleichheit verschleiert werden: Es gibt soziale Zugangsbeschränkungen, die unsichtbar bleiben. Es fällt dann jeweils auf eine_n selbst zurück, wenn er_sie es nicht ‚schafft‘, also nicht wahrgenommen wird und auf der Strecke bleibt. Dass dabei Faktoren wie Erstsprache, Hautfarbe, habituelle Dispositionen, Geschlechtermarkierungen und auch der finanzielle Background eine objektiv messbare Rolle spielen, wird ausgeblendet. Einerseits. Andererseits basieren die Förderstrukturen, also Stipendien- und Preisvergaben, auf einem knallharten Konkurrenzprinzip: Jede_r tritt bei den Ausschreibungen gegen jede_n an und muss permanent die Eigenmarke pflegen, um symbolische und auch ökonomische Anerkennung zu erfahren.
Um diesen Mechanismen die Möglichkeit von solidarischen Beziehungen entgegen zu setzen, versteht sich PS auch als Netzwerk: Dabei geht es sowohl darum, sich gegenseitig zu unterstützen, Erfahrungen auszutauschen, offen über die jeweilige persönliche Situation zu sprechen, auf Ausschreibungen hinzuweisen etc., als auch darum, die Zugangsbeschränkungen und die Verschleierungsstrategien zu benennen und sichtbar zu machen.

AP: Es gibt ja landläufig eine recht dominante Erzählung. Literatur, das ist der einsame Autor, der in einem kontemplativen Zustand Wahrheiten über die Welt in prosaischer Weise hervorbringt. Mit dieser Vorstellung gehen sogar Literaturnobelpreisträger hausieren. Eure Vorstellung ist da eine andere. In der PS#2, die den Titel Genie wider Kollektiv trägt, seid ihr dieser Frage nachgegangen. Was wäre eure Gegenerzählung?
PS: Wir sehen da schlicht andere Realitäten. Dass Literatur nur einem Lebensmodell entspringen kann, ist doch Unsinn. Schreiben braucht Konzentration, klar. Heißt das, nur die, die über die meiste Zeit verfügen, können schreiben? Aus feministischer Sicht denken wir hier natürlich daran, dass sich Autoren historisch diese Zeit unter anderem damit geschaffen haben, dass Frauen für sie sämtliche Reproduktionsaufgaben übernommen haben. Im Wesentlichen besteht diese gesellschaftliche Arbeitsteilung weiter, daher muss es einerseits unser Ziel sein, literarische Texte von Menschen mit weniger Zeitvermögen – das sich vermutlich auch in der literarischen Form niederschlägt und Miniaturen, Erzählungen, Montageformen, fragmentarische Essays etc. hervorbringt –, vom Makel und der vermeintlichen Minderwertigkeit gegenüber dem Roman als markttauglichster Form zu befreien. Und andererseits müssen wir gesellschaftlich Zeitvermögen gleicher verteilen.
Zum Kollektiv: Einsame Genies werden nie wirklich etwas verändern. Ihr Ruhm als Solitäre gründet auf dem Status quo. Wenn im Betrieb etwa alle vereinzelt sind, spricht niemand über Geld, und so können sich Ungleichheit und Ausbeutung bestens reproduzieren. Wir von PS schreiben nicht ständig in Kollektiven, wir sitzen auch oft allein am Schreibtisch. Aber wir sind in permanentem Austausch mit anderen über das, was wir Schreiben – und darüber, unter welchen Bedingungen wir das tun.

AP: Was, denkt ihr, kann literarisches Schreiben, sei es Lyrik, Prosa, Drama oder auch Essays, was andere Formen nicht können? Warum sollte ich Literatur lesen? Eine Leserin könnte sich denken: Ich lese schon die Referentin, eine Onlinezeitungen und hin und wieder ein Sachbuch. Warum auch noch eine mir nicht geläufige Schriftstellerin, die vielleicht in einem wenig bekannten Kleinverlag publiziert?
PS: Literarischem Schreiben haftet etwas Elitäres an. Die Debatten um Literatur sind es auch oft. Das kann abstoßend wirken. Oder man denkt: Es ist unnötig. Wozu soll ich das lesen? Ich persönlich lerne als Leserin ungeheuer viel über Menschen, wenn ich literarische Texte lese. Darin, wie sie schreiben, wie sie Sprache verwenden, über was sie schreiben, und was sie in ihren Texten auslassen. Es ist so subjektiv und sagt darin oft so viel über die Welt aus. Bei Kleinverlagen fallen auch zahlreiche elitäre Schranken weg (nicht alle, natürlich, und nicht immer) – es gibt viel zu entdecken, was jenseits des genormten Mainstreams liegt. Und Sprache und Imagination, welchen Ersatz gibt es dafür?

AP: Jede Ausgabe der PS hat einen inhaltlichen Schwerpunkt. In der ersten seid ihr der Frage nach Konkurrenz & Kanon nachgegangen, in der dritten ging es um das Thema alter. Die letzte Nummer hatte den Titel Total Eclipse of our Hearts. Ich denk da natürlich sofort an Bonny Tylers Hit. Was hat es mit der totalen Finsternis der Herzen auf sich?
PS: Ohja, es war finster in uns. Die Ausgabe zuvor, ‚alter‘, wog gefühlt einen Zentner und es war ein Jahr mit vielen internen Auseinandersetzungen gewesen. Wir hatten uns also arg übernommen, waren ausgelaugt und wussten, das soll sich nicht wiederholen. Gleichzeitig wollten wir natürlich unbedingt die nächste Ausgabe angehen und die beginnt bei uns immer direkt am Tag nach der letzten Release-Feier. In dieser heiter-zerknüllten Stimmung entschieden wir, dass die kommende Ausgabe das Lustvolle, das Gelingende zum Thema haben sollte – damit auch wir daraus wieder neue Energie ziehen können. Um aber gleichzeitig für notwendige Kritik und die anstehenden Veränderungen nicht blind zu werden, entschieden wir uns im Laufe der Monate für diesen ambivalenten Titel und somit auch, augenzwinkernd, für diese Ballade von Bonnie Tyler – oh, es gab so manchen Abend, wo wir auf dem Boden knieten und aus voller Kehle krächzten every now and then I fall ap-aaa-art! Aber immer folgte auch: Together we can take it to the end of the line.

AP: Was erwartet uns in der nächsten PS?
PS: Die Zeitschrift gliedert sich in einen Themen-Teil mit Essays und Gesprächen und einen vom Heftthema unabhängigen literarischen Teil, in dem alle Genres vertreten sind. Im Themen-Teil der nächsten Ausgabe, die im Oktober 2020 erscheinen wird, geht es um das Prosadebüt: Wir haben uns mit jenen Mechanismen beschäftigt, die in den letzten Jahren dazu geführt haben, dass das Prosadebüt im deutschsprachigen Raum zusehends an symbolischer, aber auch an finanzieller Bedeutung gewonnen hat – was nicht unbedingt immer ein Vorteil für Autor_innen oder für kleinere und mittlere Verlage sein muss. Wir haben dazu eine Umfrage mit Autor_innen und Verlagen konzipiert und ausgewertet, ein langes Gespräch mit einer Verlagsleiterin und Lektorin, einer Autorin und einem Kritiker geführt. Wir bringen außerdem Essays, die sich mit ganz unterschiedlichen Facetten des Debüts befassen.

AP: Für alle, deren Interesse nun geweckt wurde. Wann kann man euch das nächste Mal live sehen und wie (und wo) kommt man zu einer PS?
PS: Am 19. September im Kulturraum Spitzer, am 24. September im FLUC , beide in Wien und am 24. Oktober in Leipzig am Deutschen Literaturinstitut. Auch bei den Kritischen Literaturtagen, von 5.–8. November in Wien wird PS vertreten sein. Die Zeitschrift kann über unsere Homepage bestellt oder in ausgewählten Buchhandlungen, die auf der Homepage angeführt sind, bezogen werden.

 

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