Die vielen Nebenflüsse der sozialistischen Bewegung

Die Referentin bringt seit mehreren Heften eine Serie von Porträts über frühe AnarchistInnen und den Anarchismus als eine der ersten sozialen Bewegungen überhaupt. Über den 1865 geborenen ‚Sammler und Historiker des Anarchismus‘, über Max Nettlau, schreibt in dieser Ausgabe Andreas Gautsch.

„Nettlau (Max; geboren 30. April 1865 in Neuwaldegg, bei Wien), freiheitlicher Sozialist ohne öffentlichen Wirkungskreis, kleinen Kreisen bekannt als Bearbeiter historischen sozialistischen Materials, Sammler derartiger Dokumente und Druckwerke im weiteren Umfang, die im I[nternationaal] I[nstituut voor] S[ociale] G[eschiedenis] konserviert sind, und auch als Vertreter mancher von der Routine abweichender Anschauungen, was sich alles aus seiner eigenen Entwicklung erklärt.“1 So beginnt Max Nettlau im März 1940 die Schrift Biographische und Bibliographische Daten, die er für die Bibliothekarin Adama van Scheltema-Kleefstra am erwähnten IISG in Amsterdam verfasste. Drei Sachen lassen sich in diesem kurzen Auszug herauslesen. Nettlau war ein Historiker der sozialistischen Bewegung, hatte eine größere Sammlung aufgebaut und liebte das Understatement. Letzteres lässt sich auch an seinem Werdegang und politischen Auffassungen zeigen. Dass Max Nettlau überhaupt zur Geschichtsforschung kam, war zumindest von seinem Studium her nicht vorgesehen. Er studierte indoeuropäische Sprachwissenschaft mit Schwerpunkt der keltischen Sprache, ab 1882 in Berlin und promovierte dort über die cymrische Grammatik. Ab 1885 führten ihn seine Forschungen immer wieder nach London, wo er auch in Kontakt mit der sozialistischen Bewegung kam. Knapp 15 Jahre zuvor hatte sich die sozialistische Bewegung an den Fragen nach Zentralismus oder Föderalismus und der Haltung gegenüber der Staatsmacht gespalten. Vor allem, nachdem die autoritäre Richtung mit Karl Marx als ihrem bekanntesten Vertreter, die Antiautoritären, für die u. a. Michael Bakunin stand, ausschloss.

Auf der Suche nach den anarchistischen Nebenflüssen
Nettlau trat für die antiautoritäre oder anarchistische Seite ein und begann Ende der 1880er Jahre erste Artikel über die Entstehung dieser Bewegung zu verfassen und ihre Geschichte zu studieren. Für Marx hatte er wenig Bewunderung übrig, er verabscheute „den totalistischen Sadismus und Grössenwahn von Marx und Engels, die sich (…) einbildeten, eine für alle Zeiten geltende Formel des Sozialismus gefunden zu haben und daraufhin alle anderen Sozialisten ihr Leben lang bekämpften und zu vernichten suchten und sie mit Ausnahme ganz weniger mit Geringschätzung oder Verachtung behandelten.“2
Nettlaus Vorstellung von sozialistischer Bewegung war eine ganz andere, „an Stelle des nacheinander und statteinander (wobei immer einer den andern erschlägt und sich an seinen Platz setzt) das nebeneinander (sic!), das Zusammenleben (convivance), das Platz für Alle (…)“3, was sich auch in der Gestaltung seiner Sammlung wieder findet. Grob gesagt sammelte er alles, was er bekommen konnte, Zeitungen, Zeitschriften, Pamphlete, Flugblätter, Briefe – und er führte viele Gespräche mit Zeitzeugen. Nur die Klassiker, die in jeder Bibliothek zu finden waren, die sammelte er nicht. In seinem Fokus lag nicht die Hauptströmung des Sozialismus, sondern die vielen Nebenflüsse. In einem Brief an den Anarchisten Siegfried Nacht erklärte Nettlau seinen Ansatz folgendermaßen: „Ich hatte immer Sympathie für die schwächeren, nicht erfolgreichen Sachen, und so war mir nichts auf diesem Gebiet zu gering, ohne dass ich persönlich die Kleinigkeiten überschätzen würde. Ich strebte nie nach der Einheit, freute mich über jede Verschiedenheit, und das kam der Sammlung zugute, die, sagen wir, das sozialistische Flusssystem bis zu den geringsten Bächen hinauf nach Möglichkeit verfolgt und den sich im Sand verlierenden Steppenflüssen und den von Felsen verschlungenen, aber doch anderswo wieder auftauchenden Karst-Flüssen.“4
Was noch hinzukommt und die Sammlung im Laufe der Jahrzehnte so spektakulär und einzigartig machte: Sie war international! Und so waren auch seine Forschungsarbeiten. Sein erstes großes Werk war eine umfangreiche Bakunin-Biografie – die er von 1892 bis 1900 schrieb. Jedoch fand er für diese Arbeit keinen Verlag und deshalb ließ er 50 handgeschriebene Exemplare drucken und verschickte diese an mehrere europäische Nationalbibliotheken und Freunde wie Gustav Landauer und Petr Kropotkin. Auch wenn in der Folge seine Bakunin-Biografie im geringen Umfang in Englisch, Spanisch und Deutsch erschien, ist das charakteristisch für die Forschungsarbeiten von Nettlau. Neben seinen großen biographischen Büchern über den italienischen Anarchisten Enrico Malatesta oder den französischen Elisée Recluss sind viele seiner Arbeiten verschollen, ungedruckt geblieben und im besseren Fall in der ganzen Welt verstreut in den verschiedensten anarchistischen Zeitschriften. Sein Hauptwerk, eine auf sieben Bänden angelegte Geschichte der Anarchie ist bis heute noch nicht vollständig erschienen. Zu Lebzeiten wurden nur die ersten drei Bände gedruckt und die handschriftlichen Manuskripte von Band 6 und 7 liegen bis heute unveröffentlicht im IISG in Amsterdam.

Wie man sein Erbe Sinnvoll durchbringt
Die Frage, die in diesem Zusammenhang von Interesse ist: Wie konnte sich Max Nettlau ein Leben in einem nicht gerade lukrativen Geschäft wie Anarchismusforschung und Sammlung von Sozialistika leisten? Die Antwort ist recht einfach: Eine Erbschaft. Sein 1892 verstorbener Vater hinterließ ihm ein Vermögen von 50.000 Goldfranken. Von den Zinsen dieses Kapitals hatte er einen jährlichen Etat, der ungefähr 3 Mal so groß war wie das Jahresgehalt eines Zeitungsredakteurs, wobei er die Hälfte des Geldes für Bücher und Miete ausgab und die andere Hälfte für (Forschungs-) Reisen und Lebenserhaltung. Nach dem 1. Weltkrieg schrumpfte auf Grund der einsetzenden Inflation sein Vermögen gegen Null und Nettlaus Lebenssituation änderte sich drastisch. Der „kapitalistische Nichtstuer“5, wie er sich selbst bezeichnete, hatte nun ein Einkommen von einem Drittel oder Viertel eines ungelernten Taglöhners6. Sein Versuch, beruflich Fuß zu fassen, um zu geregelten Einnahmen zu kommen, scheiterte. Übrig blieben ihm seine publizistischen Tätigkeiten und die Zuwendungen von Freund_innen und Genoss_innen. Denn auch die Sammlung mit ihren Depots in Paris, München und London verschlang weiterhin Geld. Sie hatte einen enormen Umfang eingenommen, wie Nettlau 1920 berichtete:
„Anarchistisches, Bücher und Broschuren: 3.200; Zeitschriften: 1.200; Freiheitliches (dabei auch der revolutionäre Teil des Syndikalismus etc.): 1.300 Druckwerke und 600 Zeitschriften;
Sozialistisches: 10.500 Druckwerke und 2.750 Zeitschriften; Sozialreform: 2.000 Druckwerke und 2.300 Zeitschriften; Politisch-Radikales etc.: 13.000 (inkl. die Zeitschriften). Das gibt 36.850; – dazu mehrere tausend weniger prononzierte Literatur, wodurch 40.000 erreicht, wenn nicht überschritten wird. Dazu dann die tausenden kleineren Sachen. Dabei sind mehr als 10.000 verschiedene Zeitungen und Zeitschriften, von denen teils einzelne Nummern, teils sehr viele oder alle Nummern, manchmal ganze Kisten voll, vorhanden sind;“7

Der Weg der Sammlung nach Amsterdam
Auf Grund Nettlaus prekärer Lebenssituation wurden die Überlegungen, die Sammlung an einen sicheren und guten Ort zu bringen, immer dringlicher. 1925 zeigte das Moskauer Marx-Engels-Institut Interesse an seiner Sammlung und bot ihm Geld sowie einen Arbeitsort für seine Bakuninstudien. Nettlau lehnte ab. 1928 verkaufte er an den holländischen Historiker N. W. Posthuums, jedoch im letzten Moment trat Nettlau vom Verkauf zurück. Es sollten weitere sieben Jahre vergehen, bis er sich von seiner geliebten Sammlung trennen konnte. Im buchstäblich letzten Augenblick, bevor Faschismus und Krieg sie zerstören konnten, verkaufte er seine komplette Sammlung ans IISG in Amsterdam. 1937 konnte er sie dann zum ersten Mal in ihrem vollständigen Umfang sehen und er zeigte sich mehr als zufrieden mit dem Ergebnis. Ein Jahr später übersiedelte Nettlau selbst nach Amsterdam und arbeitete bis zu seinem Tod 1944 an seinen Me­moiren und an der Erschließung seines un­geheuren Nachlasses, der heute zwar digitalisiert und online abrufbar, aber immer noch nicht vollständig aufgearbeitet ist.
Rudolf Rocker, ein großer Bewunderer von der Person Nettlau und seinem immensen Wissen, erzählt in seiner Biographie, die er über ihn verfasste, folgende Anekdote, die einiges über das Selbstverständnis und die Selbsteinschätzung dieses ungewöhnlichen Forschers der Anarchie zeigt. „Ach nein, lieber Rocker, wir wissen alle nicht viel und lange nicht genug, und gerade wenn die Zeit unserer besten Erfahrungen beginnt und wir das Beste leisten könnten, stellt uns der Tod ein Bein und macht Schluß mit unserer ganzen Weisheit. Deshalb müssen wir zusammentragen, was möglich ist, damit andere daran weiterbauen können. Dabei wird es, glaube ich, ohne Gelächter nicht abgehen, wenn jene anderen unser angebliches Wissen unter die Lupe nehmen und vielleicht gar nicht begreifen werden, weshalb wir so viel Hirnschmalz darauf verwendet haben.“8
Es wird wohl auch noch einiges an Hirnschmalz notwendig sein, um Nettlaus Nachlass umfassend aufzuarbeiten.

 

1 Max Nettlau: Biographische und Biblographische Daten von 16–18. III. 1940, in: Geschichte der Anarchie. Ergänzungsband, S. 21

2 Ebd. S. 25

3 Ebd. S. 24

4 Maria Hunink: Das Schicksal einer Bibliothek, Max Nettlau und Amsterdam’, in: International Review of Social History Vol. 27 (1982) 4–42, S. 9

5 Ebd. S. 12

6 Ebd. S. 12

7 Rudolf Rocker: Max Nettlau, Leben und Werk des Historikers vergessener sozialer Bewegung, Berlin, 1978, S. 229

8 Ebd., S. 220 Die Serie in der Referentin ist auf Anregung von Andreas Gautsch bzw. der Gruppe Anarchismusforschung entstanden.

Das gepanzerte „Wir“

Stephan Roiss steht auf der Longlist des diesjährigen Deutschen Buchpreises und hat für seinen damals noch unveröffentlichten Debütroman auch schon zwei Förderpreise bekommen. Kürzlich ist das Buch mit dem markanten Titel Triceratops erschienen. Es erzählt von einer Kindheit und Jugend, die durch familiäre Verstrickungen und Hypotheken belastet ist. Silvana Steinbacher mit einer Annäherung an das Buch und den Autor in sechs Fragestellungen.

WORUM geht’s in Triceratops?
Eine Familie im Ausnahmezustand: Die Mutter wechselt zwischen Aufenthalten in der geschlossenen Anstalt und dem Bemühen, zu ihren Kindern ein liebevolles Verhältnis aufzubauen. Der Vater ist tief gläubig und versucht in einem geregelten Alltag zu leben. Und die Tochter, von ihr wird nur am Rande berichtet, ist, vorsichtig ausgedrückt, verhaltensauffällig. Mitten in diesem Wahnsinn muss sich der Sohn, ein namenloser Protagonist, der von sich selbst in der ersten Person Plural spricht, irgendwie zurechtfinden.
Stephan Roiss erzählt in raschen – manchmal vielleicht auch zu raschen – Szenenwechseln von der Welt dieser als „Wir“ apostrophierten Person und deren Flucht in eine Phantasiewelt, ihrer Einsamkeit und dem familiären „Erbe“, dem sie kaum entkommen kann. Einziger Lichtpunkt ist die Aschbach-Großmutter, bei der der Protagonist Geborgenheit findet. Doch auch bei seinen Großeltern beiderseits wuchern die Katastrophen, von nationalsozialistischer Vergangenheit bis hin zum Selbstmord des Großvaters, den die Mutter von „Wir“ tot auf der Toilette entdeckt. Stephan Roiss entwickelt also eine vertrackte Familienaufstellung, in der der planlose und irritierte Jugendliche seinen Platz zu finden hofft.

WER ist der Autor Stephan Roiss?
Stephan Roiss ist ein vielseitiger, umtriebiger und origineller Künstler. Und das, obwohl erst 37 Jahre alt, schon sehr lange. Der gebürtige Linzer lebt als freier Autor und Musiker in Ottensheim und Graz. Sein literarisches Debüt legte er mit der Erzählung Gramding, erschienen in der Edition Linz vor, in der er in einer unprätentiösen Sprache den Alltag in einem Pflegeheim schildert. Er schreibt Prosa, Lyrik, Texte für Graphic Novels sowie szenisch-performative Texte. Sehr bald schon streckte er seine Fühler auch nach Deutschland aus, unter anderem durch eine Ausstellung in Hamburg, ein Studium am Literaturinstitut Leipzig oder den Förderpreis der Wuppertaler Literaturbiennale, mit dem er vor zwei Jahren ausgezeichnet worden ist. Auch Hörspiele wurden im SWR und Deutschlandradio Kultur gesendet. Stephan Roiss ist aber auch noch Vokalist, Performer und Texter und ganz offensichtlich findet er auch noch Zeit, um für die Referentin zu schreiben.

WIE nähert sich Roiss seinem Sujet?
Der Autor baut die Geschichte seines Protagonisten mit schnellen Orts- und Zeitwechseln und scharfen Schnitten, was durchaus reizvoll sein kann. In Triceratops geht das allerdings, so habe zumindest ich es empfunden, gelegentlich auf Kosten einer Atmosphäre oder Figur. Kaum tauche ich das eine oder andere Mal in eine Szene ein und lerne eine Figur kennen, wechselt der Autor schon wieder zu einem nächsten Schauplatz. So verkümmert so manche seiner literarischen Gestalten zur Statistin, wie beispielsweise die Schwester, von der ich gerne mehr erfahren hätte und über die es doch Wesentliches zu berichten gäbe …

An vielen Stellen gelingen ihm auch sprachlich starke, dichte Szenen, etwa jene in der Nervenklinik oder seine Ausflüge in die Fantasie.
Zitat: „Wir hätten uns nicht gewundert, wäre eines Abends ein Engel durchs Fenster in unser Zimmer geschwebt, um uns zu eröffnen, dass wir Gottes Sohn sind. Wir hätten ihn bloß gefragt, was genau unsere Aufgabe ist.“

Die Begegnungen des Protagonisten mit der blauhaarigen, schrillen Helix sind zum überwiegenden Teil von Leichtigkeit bestimmt, sie flitzt mit ihrem Skateboard nicht nur in diese Geschichte hinein, sondern bleibt auch ungreifbar für „Wir“, so wie überhaupt in Triceratops eine ständige Bewegung vorherrscht, und dem gleicht Roiss auch seinen Stil geschickt an. Ich vermute, es war seine Absicht, ein ständiges Fließen durch seinen Text zu erzeugen, der auch die Unruhe dieses „Wir“ unterstreichen sollte.

WAS steckt hinter dem Fas­zinosum der Familien­geschichte in der Literatur?
Die Familie, vor allem jene der Schriftstellerinnen und Schriftsteller als real präsentierte Familie entwickelte sich in den vergangenen Jahren mehr und mehr zum literarischen Genre. Oft resultiert daraus sogar eine Ahnenforschung mit oft jahrelangen Recherchen. Monika Helfer landete mit Die Bagage, ihrer Geschichte über ihre vorarlbergischen Großeltern einen Bestseller, die deutsche Schriftstellerin Helga Schubert erzielte mit ihrem Text Vom Aufstehen, der vom Leben und Sterben ihrer Mutter berichtet, den diesjährigen Bachmann-Preis. Was steckt hinter dem Phänomen, dass Autorinnen und Autoren ihre persönliche, ja oft intime Herkunftsgeschichte einem oft breiten Publikum anbieten? Ist der Trend gar ein Indiz dafür, dass wir uns mehr und mehr in einer restaurativen Zeit befinden? Und interessiert es die Leserinnen und Leser überhaupt? Offensichtlich sehr. Bei Roiss verhält es sich aber in einigen Facetten anders. Nicht seine Verwandten sind die Helden oder Antihelden seines Textes, und es ist auch nicht die eigene Familie, die hier im Mittelpunkt steht (was ihm im Falle seiner Roman-Familie auch zu wünschen ist), sondern ein Repräsentant der jungen Generation. Dennoch ist es die Familie, die auch für sein „Wir“ stets präsent ist, vor allem durch die Zumutungen, die der Protagonist innerfamiliär ertragen muss und die sich in seinen Handlungen widerspiegeln.

WAS könnte der Titel bedeuten?
Ich muss gestehen, die Bezeichnung Triceratops habe ich, bevor ich den Roman in Händen hielt, noch nie gehört. Der Triceratops war einer der letzten Dinosaurier, der am Ende der Kreidezeit ausstarb, klärt mich meine Recherche auf. Er wurde bis zu neun Meter lang und wog bis zu zwölf Tonnen. Als besondere Merkmale sind sein massiver Schädel und seine gewaltigen Zahnbatterien zu nennen. Für diesen Roman wird das riesige Tier als Metapher gewählt. „Wir“ imaginiert einen Panzer, um in seiner Welt bestehen zu können. Und bereits in seiner Kindheit üben die Urzeittiere eine Faszination auf ihn aus, die ihn über die oft tragischen Ereignisse und das Chaos in seiner Familie trösten.

Zitat: „Wir spielten am liebsten mit dem Dinosaurier mit dem Nackenschild und den Hörnern. Er aß nur Pflanzen, aber war unbesiegbar. Er war kompakt, schwer gepanzert, ein guter Krieger. Niemand konnte ihn in den Hals beißen, nichts konnte ihn umwerfen. Er stand fest auf der Erde.“

Und schließlich: WAS sagt der Autor zu seinem Buch?
Oder ein Schusswort des Autors zu seinem ersten Roman

„In meinem Roman taucht mehrmals ein Mosaik als Symbol auf. Die raschen Szenenwechsel waren mir auch deshalb wichtig, weil ich auch auf diese Weise seine spezifische, zersplitterte Art die Welt wahrzunehmen darstellen wollte.
Mein Protagonist ist durch seine Familie sehr belastet. Allgemein glaube ich wird die Familie immer ein Thema in der Literatur sein, einmal mehr, einmal weniger. Unserer Familie entkommen wir nicht, sie ist ein sozialer Mikrokosmos, der uns prägt.
So wie in meiner Erzählung Gramding habe ich mich auch in Triceratops auf Elemente, die ich aus meinem Leben kenne, gestützt und diese dann fiktionalisiert. Ich denke, das liegt mir am meisten. Mit einer klassischen Recherche um ein Thema aus dem 18. Jahrhundert beispielsweise würde ich mir, glaub ich, schwertun. Für mich ist die Realität als Basis wichtig, das Sprungbrett der Kunst führt mich dann in die Fiktion.“

 

Stephan Roiss
Triceratops
Krenmayr & Scheriau
208 Seiten

KomA Ottensheim
10. Oktober

Echoraum, Wien
10. November, 20.00 h

3sat-Lounge, Buch Wien
13. November, 15.00 h

Stifterhaus, Linz
17. November, 19.30 h

Mehr: stephanroiss.at

Crossing und der kollektive Flow

Das internationale Filmfestival Crossing Europe musste im April aus bekannten Gründen abgesagt werden – und wurde quasi volée in etwas anderes transformiert, das mit Festivalpräsenz, Statement zur Situation und vor allem mit Film zu tun hat. Ein Interview mit Festival­leiterin Christine Dollhofer.

Eine Absage mitten in intensiven Vorbereitungen: Was ist rund um die Absage gelaufen – und wie waren die Erfahrungen mit einer blitzartig zu organisierenden partiellen Verschiebung eines Festivals in den digitalen Raum oder auf DorfTV?
Die der rasanten Ausbreitung von Covid-19 geschuldete Absage des Festivals stand bereits Anfang März im Raum. Von Tag zu Tag wurde klarer, dass das Festival in seiner seit Monaten geplanten Form nicht stattfinden wird können und dass wir das Festival in seine Einzelteile zerlegen und neu zusammensetzen müssen. Einerseits wollten wir nicht sang- und klanglos von der Bildfläche verschwinden, und vor allem auch alternative Angebote dem interessierten Festivalpublikum zur Verfügung stellen und zudem mit weiteren Aktivitäten im Herbst Perspektiven aufzeigen.
Das klingt jetzt sehr pragmatisch, hat aber unser Nervenkostüm doch dünner werden lassen. Neben der psychischen Belastung – es war ja nicht abzusehen, wie stark das Virus die Gesellschaft treffen wird – und der Sorge um die finanziellen Folgen – auch für die Mitarbeiter*innen – brauchte es vor allem Spontanität um vom „Geplanten“ Abschied zu nehmen und neue Ideen zu entwickeln. In einer Phase, wo alle Mitarbeiter*innen von zu Hause arbeiten, kein leichtes Unterfangen. Und parallel wollten wir unbedingt noch zu Dokumentationszwecken und als Belege auch für alle Filmschaffenden Katalog, Festivalzeitung und Website zum geplanten Vorverkaufstermin online stellen und somit der Öffentlichkeit präsentieren.
Die VoD-Plattformen sind direkt nach Bekanntgabe der Absage an uns herangetreten und nach und nach konnten wir uns mit der Idee, online zu gehen, auch anfreunden. Programmatisch stehen wir natürlich als Festival für das analoge Kinoerlebnis, welches auch für kollektives Schau­en und dem direkten Austausch mit den Filmkreativen steht. Aber im Nachhinein bin ich sehr froh, dass wir einen kleinen Querschnitt aus dem Programm auch online angeboten haben. Dazu mussten natürlich die Rechteinhaber*innen erst kontaktiert werden und die Abgeltung neu ver­handelt werden sowie Text- und Bild-Con­tent für die Plattformen aufbereitet und neue Bewerbungsstrategien entwickelt werden. Auch unser langjähriger Medienpartner DorfTV hat sich proaktiv angeboten und wir haben uns überlegt, was für diesen Ersatz-Eröffnungsabend program­matisch Sinn macht und auch rechtetechnisch zur Verfügung steht. Retrospektiv bin ich sehr zufrieden mit den gesetzten Aktivitäten und besonders erfreulich ist der rege Zugriffe auf die VoD-Angebote.

Wen trifft es am härtesten in der ganzen Kette von Filmschaffen? Ich meine, die Filmproduktion wurde unterbrochen, und scheint eventuell noch länger betroffen zu sein, der Veranstaltungsbereich wird wohl einer der letzten Bereiche sein, der wieder uneingeschränkt geöffnet wird, Reisebeschränkungen sind im internationalen Kulturschaffen ein wesentlicher Faktor. Die Stimmung pendelt irgendwie zwischen den diversen Ruhemodi – man weiß nicht, ob die Ruhe erholsam ist oder schon nahe dem Tod. Wie dramatisch ist die Situation? In Krisen zeigt sich ja ohnehin auch ein Status Quo der Kunstschaffenden – etwa als prekäre Gruppe, vergleichsweise lobbylos. Drohen nun ganze Branchen und Kunstsparten zu verschwinden, oder auch: Wo wird die Fragilität oder Stärke der Sparte besonders sichtbar?
Ich denke, so wie in allen Sparten und Bevölkerungsgruppen trifft es jene, die schon vor Corona prekär gearbeitet und keine Rücklagen haben, härter, als fest verankerte und finanziell bzw. institutionell abgesicherte Projekte/Initiativen/Institutionen. Das ist in Filmbereich ganz ähnlich, aber da Film immer zwischen Wirtschafts- und Kulturgut angesiedelt ist, gilt es eine „Filmindustrie“ zu retten, die aber von ganz vielen EPUs und Kunstschaffenden gespeist wird – und auch hier passen nicht alle ins Schema der Unterstützungsfonds und Hilfsmaßnahmen.
Ich fürchte, dass sich durch den mehrmonatigen Produktionsstopp und Verwertungsstau auch scheinbar gefestigte Produktions- und Verwertungsfirmen (dazu zählen Filmproduktionsfirmen, Filmverleiher, Kinos, PR- und Marketingunternehmen etc.), aber auch Festivals ins Straucheln geraten oder im schlimmsten Fall nicht überleben werden.
Die Interessensvertretungen sind zwar schon aktiv, um auf die Bedürfnisse aufmerksam zu machen, aber in Anbetracht der Ungewissheit, wann wieder gefahrlos gedreht werden kann bzw. wann Filme wieder ohne Einschränkungen in die Kinos kommen können, ist eine große Verunsicherung zu spüren. Zudem steigen merklich die Existenzängste. Hinzu kommt, dass erst kürzlich fertig gestellte Filme jetzt quasi ungesehen bleiben, weil es keine Festivals und Kinostarts gibt. Eine Welt­premiere auf Streaming-Plattformen strebt verständlicherweise kaum jemand an.
Aber es ist ein generelles Umdenken spürbar, immer mehr Festivals gehen online und entwickeln neue Kommunikationstools. So soll z. B. der Filmmarkt in Cannes online stattfinden. Meetings und Scree­nings für die Branche, die früher vor Ort wahrgenommen wurden, werden im Netz stattfinden. Einzelne Spartenfestivals haben inzwischen ihr gesamtes Programm ge­streamed.
Klarerweise ist dies für strukturell gut aufgestellte Festivals leichter, die z. B. auch schon vor Corona mit gut funktionierenden Screening Rooms – also eine Online-Videolibrary für Fachgäste – ausgestattet waren und in die Digitalisierung investiert haben, als für kleinere Festivals, die diese Infrastruktur aus finanziellen Gründen nicht anbieten können.
Die Verlagerung ins Netz ist mit zusätzlichen Kosten verbunden und auch die Bewerbung braucht dann andere Organisationsstrukturen. Zudem muss man auch klar unterscheiden, ob wir hierbei von Zugängen für das Fachpublikum oder für ein klassisches Kinopublikum sprechen.
Und ganz grundsätzlich ist es eine programmatische Frage, in welchem Ausmaß die Festivals das Filmangebot ins Netz verlegen oder darauf warten, wieder „klassisch“ im Kino Filme zu präsentieren.

Dazu auch einige Grundsatzfragen, die du schon angesprochen hast: Ich meine, Film funktioniert ja im Vergleich etwa zu Theater relativ gut im Netz oder im Fernsehen – ich spreche jetzt davon, dass ein Publikum Film auch zuhause konsumieren kann. Aber wo braucht der Film das Kino? Wo liegen die starken, tragenden Grundsäulen des Mediums, des Genres und einer Filmkultur, oder auch: einer Kunst, die etwas will? Mir gefällt auch die Definition des Festival-Begriffs als „temporäre Institution“. Deshalb anders gefragt: Was kann die „temporäre Institution“ eines Film­festivals? Was macht den unverzichtbaren künstlerischen Kern von Crossing aus – der nicht einfach ins Netz oder in an­dere Medien transformiert werden kann?
Eine klassische Kinofilmproduktion will zuerst mit dem Publikum kommunizieren – idealerweise eine internationale Festivalpremiere auf einem der renommierten A-Festivals, gefolgt von weltweiten Best-of-Festivals und dann Kinostarts in den jeweiligen Ländern. Bei den Festivals hat der Regisseur/die Regisseurin die Möglichkeit, direktes Feedback zu bekommen, die Verleiher der Filme nützen die Festivals für die Bewerbung eines Films, diese unterstützt dann eine spätere Auswertung im Kino. Journalist*innen haben die Möglichkeit, Interviews zu machen und diese dann bei Kinostart zu publizieren. Dieser gesamte Verwertungskreislauf ist strategisch, etabliert und vorab. Am Ende steht dann die Sekundärverwertung VoD, TV-Auswertung, Streaming, DVD/Blue Ray (ist aber eher schon ein Auslaufmodell). Dieser Ablauf ist natürlich auf jeden Film abzustimmen, bei manchen Filmen, z. B. Dokumentarfilme, die ein aktuelles Thema behandeln, wählen die Mache­r*innen vielleicht eine Straight-to-DVD-Auswertung nach der Festivalpremiere, oder gehen gleich direkt ins Netz. Oder wie im Fall von Die Dohnal, wo der überaus erfolgreiche Kinostart abrupt durch Covid-19 gestoppt wurde und jetzt intensivst auf österreichischen VoD-Plattformen abgerufen wird. Eine erfolgreiche TV-Auswertung kann man schon vorab für diesen Film prognostizieren.

Die Einzigartigkeit eines Festivals ist ganz klar der soziale und interaktive Aspekt, niederschwellig können sich Filmschaffende und Publikum austauschen, gemeinsam kann über Filme diskutiert werden. Rahmenprogramme wie Talks und Get-Togethers und natürlich auch Partys ergeben einen Ausnahmezustand, eine Verdichtung des Kollektiven. Außerdem darf nicht unerwähnt bleiben, dass bei einem Festival durch die Möglichkeit von vielen Filmen in kurzer Zeit ein so genannter „Flow“ entstehen kann, durch den das Gesehene noch intensiver nachwirkt oder neue inhaltliche oder künstlerische Verknüpfungen entstehen können.

Der reale Kinoraum versus eine Entwicklung der letzten Jahre hin zum digitalen Space, von neuen Produktions-, Seh- und Konsumgewohnheiten angetrieben, mit neuen Quantitäten und Qualitäten, die sich um das Medium Netz aufgebaut haben und die die Branche umzubauen schei­nen: Ich spreche das nochmal an, weil es heißt, dass wir nun durch die Krise gezwungen werden, uns mit einem umfassenden Boost an Digitalisierung auseinan­derzusetzen … Digitalisierung als Chan­ce mitten in der Krise. Wie wir wissen, haben vermischte Angst-und-Chancen-Palaver immer sehr viel mit Ideologie zu tun. Und hinter Scheindebatten von zum Beispiel ana­log vs digital liegen natürlich auch star­ke wirtschaftliche oder politische Interessen, denn die Entwicklung hin zum Konsum übers Netz liegt ja ohnehin voll ausgebreitet vor uns. Wo konkretisieren sich Interessen, und was sind für ein kulturelles Umfeld wie Crossing die Chancen und Verlustrechnung einer heutigen Zeit?
Hinter jedem neuen Trend liegen natürlich wirtschaftliche Interessen, die Digitalisierung der Kinos weltweit hat Investments in Hard- und Software von enormer Höhe mit sich gebracht und alle paar Jahre müssen die Projektoren und die Software upgedatet werden.
Warum die Filmvorführungen nach wie vor – auch für die großen Hollywood-Studios – wichtig und erfolgreich sind: Sie stellen einen wichtigen Teil des weltweiten Marketings dar. Jeder „Red Carpet“ auf Festivals ist Teil der Verwertungsstrategie. Ob seriöse Filmkritik oder Starportraits in Klatschblättern – alles Teil des Business. Wä­re dieser Teil der Verwertungskette nicht so kostbar und auch für die weitere digitale Auswertung wichtig, dann wäre die Kinoinfrastruktur wahrscheinlich noch mehr geschrumpft. Netflixen oder ein Kinobesuch sind ja zwei unterschiedliche Din­ge und stellen aus meiner Sicht auch keine wirkliche Konkurrenz dar. Wenn ich ins Kino gehe, möchte ich ausgehen, andere Menschen treffen, oder einfach alleine in Gesellschaft sein – Kino als „sozialer Raum“ hat nach wie vor seine Berechtigung. Streamen ist hingegen Teil des privaten Alltags geworden.

Mir kommt es ein wenig absurd vor, dass Kultur derzeit sehr viel unerwartete Aufmerksamkeit bekommt, Stichwort reguläre Regionalsender. Mir kommt vor, nachdem die letzten Jahre alles über den Besucherzahlen-Kamm geschert wurde, kommt nun der Corona-Kamm, so in die Richtung: Na schau ma mal, was alles abgesagt wird und was die Kultur jetzt draus macht, mit ganz vielen Grüßen von Balkonien. Stimmt der Eindruck? Bzw., von einer anderen Ecke gefragt: Wo würde jetzt eine medienpolitisch-strategische Chance auf Mehr liegen? Ich meine, könnte es ein Festival wie Crossing Europe im Fernsehen geben – ich erwähne den Bachmannpreis auf ORF, mehrere Tage nur Literatur, Lesungen und Diskussion … und sicher gab’s und gibt’s diverses anderes, an das man andocken könnte. Wäre es etwa eine Chance, wenn ein Festival wie Crossing Europe 4 Tage komplett die vorhandenen österreichischen Fernsehkanäle pro­grammiert? Mit, sagen wir, Spielorten auf den staatlichen und privaten Sendern und dazwischen den Talks auf DorfTV. Ist so eine Idee reizvoll? Ich meine, da könnte man als Kulturszene gemeinsam schon Programm bieten. Wenn grade schon alles auf den Kopf gestellt wird, und ein von oben verordnetes Corona-Mainstreaming passieren kann, könnte man doch eventuell gleich das große Übel der Kommerzialisierung und des permanenten Unterschreitens der Fernseh-Un­ter­haltung größer andenken? Ist das überlegenswert?
Mit Flimmit, die VoD-Plattform, die dem ORF angeschlossen ist, haben wir ja eine Kooperation mit den 10 aktuellen Cros­sing Europe Filmen (die noch bis 20. Mai zu sehen sind, genauso im Kino VoD Club) gewährleistet. Deine Überlegungen würde ich programmatisch unterstreichen und solche Angebote von den Sendern würden wir grundsätzlich gerne aufgegriffen. Mit DorfTV hat das ja gut geklappt, also warum nicht auch auf ORF III. Aber ich muss gestehen, wir haben uns auch aus Zeitnot nicht proaktiv darum bemüht.
Hindernisse sind hohe Lizenzgebühren für eine TV-Ausstrahlung bzw. Vorbehalte seitens der Rechteinhaber*innen. Hinzu kommt, dass die Crossing Europe Filme zumeist nur in Originalfassung mit englischen Untertiteln verfügbar sind, es gibt bei den meisten unserer Filme noch keine deutschen Untertitel, geschweige denn eine deutsche Synchronfassung. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der ORF Filme mit englischen Untertiteln programmieren wür­de. Hier wäre wohl eine kleine Auswahl an Filmen das passende Konzept, mit der Option, noch deutsche Untertitel zu produzieren. Aber wir können das nicht finanzieren, da müssten auch die TV-Anstalten Geld in die Hand nehmen.
Grundsätzlich glaube ich, dass die großen TV-Anstalten zu lange Vorlaufzeiten haben und daher auch unflexibler bei der Programmgestaltung sind. Das liegt auch daran, weil die Lizenzierung für eine Ausstrahlung genügend Vorlaufzeit braucht und die Bewerbung auch geplant sein will. D. h. für die Zukunft und mit der angemessen Vorlaufzeit würde ich mir aber solche klei­nen Programm-Kooperationen wünschen. In den vergangenen Jahren gab es immer wieder mal Bemühungen einzelne Filme (v. a. Dokumentarfilme) aus dem Programm auch später in TV auszustrahlen, das hat sich als sehr mühsam herausgestellt, weil es entweder keine Slots dafür gab (Filme zu lang), oder die Filme zu teuer waren, oder andere TV-Anstalten beteiligt waren (z. B. Arte) und dann für österreichische Sender nicht möglich waren. Al­so alles Hindernisse, die auf den ersten Blick und für Laien nicht nachvollziehbar sind.

Auch mich hat es sehr überrascht, dass es für ein nicht stattgefundenes Festival mit einem kleinen Alternativprogramm sehr viel Presseaufmerksamkeit gab. Das ist na­türlich super für das Festival und die Filme, aber bestätigt deine Analyse, dass der Absagedominoeffekt Kern der Nachricht ist und weniger die Inhalte. Trotzdem bin ich froh, dass es so viel Aufmerksamkeit gab, auch um bewusst zu machen, dass Kunst- und Kulturveranstaltungen auch Verluste durch die Corona-Krise erleiden und sie Teil eines gesamtgesellschaftlichen Verbunds sind. Es sind nicht nur die Künstler*innen, sondern auch ganze Wirt­schaftszweige, die von Kulturveranstaltun­gen leben, die Zulieferer wie Druckereien, Gastronomen, Veranstaltungshäuser, PR-Agenturen, Veranstal­tungs­technikan­bie­ter etc. Ich denke, es ist ganz wichtig, das zu unterstreichen, weil oft so getan wird als wäre die Kultur nicht überlebensnotwendig und betrifft nur ein paar Künstler*innen und da könnte leicht gespart werden.

Corona ist ja zumindest schon über diese paar Wochen so eine Art Leitprogramm geworden. Man fragt sich zwischendurch ja durchaus, in diesem organisierten Shutdown, Lockdown, Hochfahren, der Lenkung, der fast totalen Berichterstattung und den ohnehin großen derzeitigen globalen Problematiken mit antidemokratischen Strömungen, Datenschutz und Über­wachung, was hier eigentlich wirklich geprobt wird – oder was diese Erfahrungen aus uns machen. Ich frage dich jetzt aber als Expertin in Sachen Film und Fiction: Erwartest du hier einschlägige Filme zum Thema? Und wenn ja, in welchem Genre?
Dystopien sind ja schon seit der Frühzeit des Kinos in der Filmgeschichte verankert und ich bin überzeugt, dass die Langzeitfolgen sowohl dokumentarisch aufbereitet als auch fiktional ihre Entsprechung in Form dramatisierter Verschwörungstheorien und Pandemie-Paranoia-Block-Buster auf die Spitze getrieben werden. In Amerika wird schon die erste Corona-Serie vorbereitet. Gewisse Serien wie z. B. A Good Fight, Homeland – oder Borgen, um auch eine europäische Serie zu nennen – waren ja ganz nah am politischen Geschehen. Ich bin auch schon gespannt, inwieweit die Pandemie auch die Präsidentenwahl in den USA im Herbst, aber auch andere demokratiepolitische Prozesse und damit einhergehend die Filmstoffe beeinflussen wird. Im Moment haben wir aber alle, glaube ich, genug von Corona-Tagebüchern, Corona-Talks, Corona-News. Ein bisschen Abstand tut zwischendurch auch mal gut!

Was ich beobachtet habe, war regionale Vernetzung immer schon wichtig für Cros­sing Europe. Wo liegt die Balance zwischen regional und international?
Das Herzstück des Festivals ist die Symbiose, das Zusammenspiel von regional und international. Ohne die europäischen Filme aus ganz Europa wäre das Profil des Festivals nicht gewährleistet, und ohne die Beteiligung der regionalen Szene wäre das Festival nicht verankert bzw. ohne Resonanzkörper. Beides bedingt sich und ein Fehlen dieses Zusammenspiels würde für mich konzeptuell nicht funktionieren.

Mir persönlich tut es ja heuer besonders leid um die Valie-Export-Filme. Wahrscheinlich kann man sie teilweise auch im Center sehen – ich muss zugeben, ich habe mich noch nicht erkundigt. Aber es ist ja durchaus auch interessant und auch angenehm, etwas zu einem bestimmten Zeitpunkt serviert zu bekommen und das dann im Kinosaal zu schauen. Worum tut‘s dir leid – vielleicht in dem Sinn, dass diese Filme speziell den Kinosaal brauchen, oder den gegenwärtigen Moment?
Wie bereits medial angekündigt, wollen wir das Tribute an Valie Export im Herbst im Kino in Linz nachholen. Valie Export hat auch schon angekündigt dafür nach Linz zu kommen. Der Plan ist die Filme im Kino während des Ars Electronica Festivals zu präsentieren, also zwischen 9. und 12. September. Wie auch für Crossing Europe ursprünglich geplant, zeigen wir alle 6 Filmprogramme mit Einführungen und Filmgesprächen. Ich hoffe sehr, dass Corona uns keinen Strich mehr durch die Planung macht …
Darüber hinaus wird das Spotlight Mark Jenkin am 18. Oktober im Österreichischen Filmmuseum in Wien gezeigt, und von 8.–12. Oktober planen wir ein Local-Artists-Shorts-Wochenende im OÖ-Kulturquartier. Jeden Dienstag soll es dann 15-mal, von Mitte September bis Weihnachten, Crossing Europe-Filme aus der diesjährigen Festivalausgabe im City Kino geben. Also können wir dieses Jahr noch mit einigen Aktivitäten aufwarten, die ganz analog und altmodisch im Kino stattfinden.

 

Mehr Infos zu den erwähnten Angeboten: www.crossingeurope.at

Es ist überhaupt nicht wurscht.

Pandemie und Lockdown: Otto Tremetzberger stellt gesellschafts­politische Beobachtungen an, wirft einen Blick auf die schon länger an­dauernde Misere eines kulturpolitischen Kennzahlenfetischismus – und thematisiert gerade in der Krise den Verlust von Kunst und Kultur als bedingungslosen Wert.

Die Kunst der Politik besteht darin, die Umstände, deren Urheber man häufig selber ist, im richtigen Augenblick zu beseitigen. Man beginne einen Krieg, um ihn zu beenden. Man sperre ein Tal, um die Eingeschlossenen zu befreien. Man setze die Daumenschrauben an, und lockere bei Gelegenheit. Die Umfragen, das Letzte, worauf er schaue, sagte unlängst der Kanzler, zeigen Erstaunliches. Lebensun­zufriedenheit und Zufriedenheit mit der Regierung korrelieren positiv. Arbeitslosigkeit und Zustimmung zur Regierung sinken. Ein Land, eine Gesellschaft im Stockholm-Syndrom? Hätte es schlimmer kommen können? Wahrscheinlich, sagen die meisten. Nein, sagen die Identitären, EsoterikerInnen, WutbürgerInnen, renitente 68er, HändewaschenverweigererInnen und linke wie rechte SektiererInnen.

„Widerstand“ ist generell kurz davor, sich auf den Faktor Empörung zu reduzieren. Linke und Rechte demonstrieren mancherorts Hand in Hand gegen ein System, das sich gegen Kritik weitgehend abschottet, koste es (Stichwort „Medienförderung“), was es wolle. Die Vernunft bleibt, wie so oft, auf der Strecke. Emotion ist die härteste Währung im politischen Geschäft. Die Bundesregierung investierte folgerichtig in Angst als Disziplinierungsmittel. Es ist dies, gewiss, nur die Spitze vom Eisberg jener polittaktischen, strategischen Überlegungen, deren sachliche Kritik gemeinhin als Verschwörung und Anpatzerei abgetan wird.

Von der Krise als „Katalysator“ war die Rede, womit die alte Reinigungsmetapher nur ein anderes, freundlicheres Gesicht bekommt. Aber dies hier wird auch nur eine weitere „Phase“ bleiben. Eine Phase hingegen, in der selbst in den kulturellen Leuchttürmen kein Licht brannte. Die großen Museen blieben, als ausgelagerte Kulturbetriebe den ökonomischen Prinzipien längst gesetzlich verpflichtet, mit den Touristenrouten geschlossen, weniger lange, hieß es, als sie es selbst wollten. „Wir Österreicher genügen wohl nicht“, zitierte der Standard einen Steuerzahler. Blockbuster verschoben. Theater zu. Die Albertina geschlossen. Auf die Idee, dass es im „Shutdown“ nicht nur um kulturtouristische, sondern eben auch kultur- oder gesellschaftspolitische Aspekte gehen könnte, kamen auffällig wenige. Die Diskussion über die Auswirkungen der Pandemie auf das künstlerische und kulturelle Leben kreiste weitgehend um Eigenfinanzierungsquoten, Einnahmenausfälle, Quadratmeter, Besucherzahlen und Deckungsbeiträge.

Die mancherorts geäußerte Hoffnung, dass die großen, und ohne den modernen Massentourismus, ins Schlingern geratenen Tanker, sich wieder ihrem „Kernauftrag“ als „wissenschaftliche Anstalten“, und nicht der ökonomischen Nutzenmaximierung besinnen würden (und die Politik dies ermögliche), ist naturgemäß genauso unsinnig und vergeblich, wie die Hoffnung, im Bordone-Saal des Kunsthistorischen Museums in Wien demnächst nicht Vierteltagestouristen aus Beijing, sondern auf Reger und Irrsiegler zu treffen. Albrecht-Schröder: „Ich kann dieser Rückbesinnung auf provinzielle Zustände nichts abgewinnen.“ Der Bordone-Saal, Reger und Irrsiegler existieren nur bei Thomas Bernhard; und den hat 2017 nicht einmal die Kultursprecherin der ÖVP wiedererkannt. Als ob man Ischgl wieder zur Heidi-Alm rückbauen könnte und wollte! Im Übrigen handelt es sich bei der Albertina und Ischgl nicht um Gegensätze, sondern um die beiden Seiten ein- und derselben Medaille.

Sollte man nicht gerade jetzt darüber reden, dass die Kommerzialisierung von Kunst und Kultur eine Sackgasse ist, wie Ischgl eine ist? Ist es nicht so, dass, wer sich den Zahlen ausliefert (und nicht selten damit prahlt), am Ende schwach ist und angreifbar? Und dass die Ökonomisierung (Umwegrentabilität) in der kulturpolitischen Diskussion ein Trugschluss ist? Hat man nicht viel zu lange den gesellschaftlichen Wert einer kulturellen Sache mit dem wirtschaftlichen verwechselt? Soll man nicht, gerade jetzt, wie es Rudolf Scholten kürzlich im Falter nahelegte, abseits der Debatte um Zahlen, um Relevanz, um Qualität, nämlich wieder bedingungslos und grundsätzlich die Bedeutung von Kunst und Kultur behaupten? Und ist es nicht verräterisch, wenn die Misere und die Lockerungen in der Kultur nahezu ausschließlich vor dem Hintergrund von Einnahmen oder Nichteinnahmen reflektiert werden? Als handle es sich nur um eine Variante der Schanigartenöffnung. Als seien Museen, Theater, Kinos und (irgendwo dann auch genannt) Kulturvereine nur eine andere Form von Wirtshaus.

Die sehr häufig sehr hämischen Kommentare in den Onlineforen lassen erahnen, dass, wie in der Finanzkrise, nun auch in dieser, die vielbeschworenen „Lehren“, die Politik und Gesellschaft daraus ziehen SOLLTEN und MÜSSTEN, überschaubar bleiben, dass sich „am System“ selbst wieder einmal nichts ändern werde, dass die Unverhältnismäßigkeiten und die Widersprüche generell und also auch im Kulturbereich weiter ver-, und nicht entschärft würden.

Niemand, auch der jugendliche Kanzler im alten Kreisky-Zimmer, kann wirklich wissen, wie die Welt nach Corona sein wird. Man muss, soll Michel Houellebecq gesagt haben, aber damit rechnen, dass wir nicht in einer neuen Welt aufwachen. Es werde weiterhin die gleiche sein, nur ein wenig schlimmer.

Auch von dieser Seuche wird behauptet, dass sie alle gleichmache und alle gleich treffe. Aber handelt es sich nicht schon jetzt vornehmlich um eine Krankheit der Schwächeren? Gesundheitlich, gesellschaftlich, wirtschaftlich, kulturell und sozial. Schon die zunehmend unverblümt gestellte Frage, ob das Leben von 85jährigen es letztlich wert sei, dass man eine Wirtschaft herunterfährt, lässt erahnen, wo die Reise hingeht. „Der teure Schutz der Alten“ und „Alles Riskieren für die Alten?“, schreibt der Standard. Noch nie, so Michel Houellebecq, sei mit einer solch gelassenen Schamlosigkeit zum Ausdruck gebracht worden, dass das Leben aller Menschen nicht denselben Wert habe. Wird man über „die Alten“ also demnächst unwidersprochen so reden und so urteilen, wie – nach der sogenannten Flüchtlingskrise – über diese? Die Kunst der Politik besteht mittlerweile auch darin, im ersten richtigen Zeitpunkt das zu sagen, was man (noch) nicht sagen darf, und das tun, was man nicht tun darf, aber demnächst eben schon, weil es dann „Mainstream“ ist. Wo heute Angst und Empörung groß sind, werden es morgen Gleichgültigkeit und Achtlosigkeit sein.

In den Tageszeitungen die Kulturseiten, die Not zur Tugend erklärend, sind so „kulturpolitisch“ wie noch nie. Schließlich fehlen die Events, die Blockbusterausstellungen, die großen Festivals, die großen Premieren in den großen Kinos und auf den großen Bühnen. Dutzende Journalisten haben sich abgearbeitet an Ulrike Lunacek. Am Finanzminister brauchte die Kritik nicht einmal abprallen.

Unlängst, während tausende Kulturschaffende und andere nicht unselbstständig Beschäftigte mitten in den Trümmern ihrer Existenz und an den Abgründen ihrer Zukunft standen, hat Wolfgang Katzian, Präsident des ÖGB, die nicht neue Forderung nach einem „Grundeinkommen“ im Interview mit Ö1 brüsk polternd vom virtuellen Tisch gewischt. Es würden die Konzepte fehlen. Der ÖGB hat, wie die allermeisten politischen Akteure in den vergangenen Monaten, den einfachen Kulturschaffenden nicht viel zu sagen.

Als man im März von heute auf morgen das Veranstalten und Verkaufen von Kultur unterband, wollte Ö1, auch nur konsequent, das „Kulturjournal“ sogleich einstellen. Womit der ORF nicht nur Sinn fürs Sparen bewies, sondern auch, dass man als kleiner Kulturschaffender jetzt und auch in Zukunft kaum mit ihm zu rechnen braucht. Traditionell steht die Kultur bei den Zahlenfuchsen auf der Streichliste an erster Stelle. Dieser halbe Schritt, ein Geständnis, brachte dem ORF völlig zurecht die wahrscheinlich 10.000ste Petition des Gerhard Ruiss.

Der laute Aufschrei in der Kultur täuscht. Viele, die Masse, die es nicht in die Zeitungen und Talkshows schafft, schweigt. „Von Nichts kommt nichts.“ Unter den Kulturschaffenden führen deshalb weitgehend die UnternehmerInnen das Wort. Die MacherInnen. Die ManagerInnen. Helga Rabl-Stadler darf sich als „Eisbrecherin“ rühmen. Als Anwältin der vielen freien, lange vor Corona nicht- und unterbezahlten Kulturschaffenden kennt man sie nicht. Wortgewaltige Fernsehkabarettisten sorgen für den nötigen Schmäh, für spärlich bekleidete junge Frauen im Bildhintergrund, und die Quote, ohne die nichts, schon gar nicht im ORF, mehr geht. Kulturpolitik im Interesse der eigenen Sache. Das breite Schweigen der Kulturzampanos und Kulturfunktionäre zu den eigentlichen gesellschaftlichen Entwicklungen hingegen ist skandalös.

Die Welt steht nimmer lang. Dieser notorisch österreichische Weltschmerz („Eh schon wurscht“) ist eingewoben in ein ziemlich reales Problem, das am 14. März für viele Kulturschaffende nicht erst begann, sondern, ist zu befürchten, endete. 20 Jahre hat sich kaum jemand um das leise Sterben der Kulturschaffenden gekümmert. Über die „Soziale Lage der Kulturschaffenden“ wurden Studien präsentiert, die Unglaubliches zu Tage brachten. So unglaublich wie die beschämende Bezahlung der Pflegerinnen und der Erntehelfer. In den Augen vieler handelte es sich bei deren Beschäftigung bisher aber nicht um Ausbeutung, sondern um „Wirtschaftshilfe“, oder (Stichwort „Streichen der Kinderbeihilfe“) um „Sozialbetrug“. Es wäre nun die Gelegenheit, auch diesen Widerspruch aufzulösen.

Die Heldinnen der Notlage: Das Prekariat

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Antonio Zingaro, Multimedia Artist und Internet Hacktivist, arbeitet seit einigen Monaten bei einem Lieferdienst. Er schreibt aus der Realität seines Jobs über die Heuchelei während der Krise – und die Diktatur des Algorithmus.

Foto AZ

Ich stelle in diesen Tagen eine große Heuchelei fest, im Allgemeinen, aber insbesondere im Zusammenhang mit unseren Erfahrungen mit dem Corona-Virus. In diesen Wochen wurden wir Zeuge zahlreicher sozialer Initiativen. Einige hatten eine Art Bottom-up-Ansatz, andere nicht, alle sollten dem Covid-19-Notstand entgegenwirken, ihn eindämmen oder Abhilfe schaffen.
Bei einigen der Bottom-Up-Initiativen handelte es sich um selbstorganisierte, spontane und lokale Aktionen, wie z. B. die in Süditalien aufgehängten Weidenkörbe, die PassantInnen dazu auffordern, dort Lebensmittel und Vorräte für Bedürftige zurückzulassen. Oder es gab Botschaften der Hilfsbereitschaft, die Menschen in den verschiedenen Ecken der Städte auszuhängen begannen, um denjenigen NachbarInnen zu helfen, die am stärksten gefährdet waren, sich mit dem Virus zu infizieren.

Was mich in diesen Zeiten allerdings am meisten beunruhigt, ist die zentrale Rolle der Technologie und vor allem das blinde Vertrauen, das die Nationen und die meisten BürgerInnen in sie setzen. In den folgenden Zeilen werde ich versuchen, diese Heuchelei, die sich herausgebildet hat, hervorzuheben. Aufgrund des Zeitpunkts, an dem ich schreibe (Ende April, Aktualisierung Mitte Mai), fokussiere ich auf die Rolle der LieferantInnen, um hier konkrete Erfahrungen einzuarbeiten. Ich selber arbeite seit Oktober in einem dieser Unternehmen.

In diesen Tagen haben wir einen starken Shift in Richtung Technologie erlebt. Wir haben entdeckt, dass man nicht ins Kino gehen muss, denn es gibt Netflix; wir bemerkten, dass man nicht im Büro sein muss, um an Sitzungen teilzunehmen, denn es gibt Zoom; wir wussten auch vorher schon, dass man nicht in Geschäfte gehen muss, denn es gibt Amazon; und wir waren beruhigt, dass man nicht ins Restaurant gehen muss, denn es gibt Take-Away und Essenslieferungen. Als Autor dieses Artikels habe ich bereits in einem früheren Text die Verbindung zwischen Internet und Umwelt hervorgehoben. Es ging dort darum, dass die Bits, die durch die Internetkabel der Welt gepumpt werden, für die Umwelt keineswegs harmlos sind. Ich werde mich an dieser Stelle aber nicht mit ökologischen Auswirkungen, wie etwa auch von Streaming-Diensten, befassen. Stattdessen möchte ich die Aufmerksamkeit auf die Haus-zu-Haus-Dienste lenken, insbesondere auf die Lieferung von Lebensmitteln.

Für die Lieferdienst-FahrerInnen hat sich seit Anfang der Krise, und damit seit der Einführung der sogenannten „kontaktlosen Lieferung“ nicht viel geändert. Die heuchlerischen Regeln, die die Verbreitung des Virus verhindern sollen, beinhalteten und beinhalten keinerlei Sicherheitsausstattung wie Masken und Handschuhe. Hingegen haben sich die Restaurants in Schlachtfelder verwandelt, die aus Tisch-Barrikaden bestehen, um zu verhindern, dass unbefugte Personen die Räumlichkeiten betreten – einst voll mit KundInnen, dann leer. Die EmpfängerInnen der Lieferungen verstecken sich hinter ihren Haustüren, als ob sie Angst hätten, die FahrerInnen wären Virenschleudern, die nun versuchen würden, in ihre Häuser einzudringen. Es sorgt meist für Gelächter und Verlegenheit, dass sie die Mahlzeiten aus den geöffneten, auf dem Boden stehenden Rucksäcken nehmen müssen, um zu verhindern, dass die FahrerInnen die Lebensmittel berühren. Zweifellos sind diese menschlichen Momente auf der Individualebene interessant, aber ich möchte mich eher auf technologische und makroskopische Aspekte konzentrieren, die ich aus meinem Erfahrungsbereich reflektieren konnte.

Die FahrerInnen, wie auch die PostbotInnen und alle anderen oben erwähnten Angestellten, die an vorderster Front in sogenannten „systemrelevanten Berufen“ tätig sind, sind die schweigende Armee, die es einigen Industrien und Unternehmen ermöglicht, ihre wirtschaftlichen Aktivitäten fortzusetzen, wenn auch auf andere Weise. RestaurantbesitzerInnen, die ihre Mahlzeiten nur noch nach Hause liefern können und 30 % des Verdienstes den Zustelldiensten überlassen müssen, können in dieser Situation nur mit Not und Mühe den Kopf über Wasser halten. Sie sind oftmals gezwungen, einen Teil ihres Personals zu entlassen. Im Gegensatz dazu haben Unternehmen wie Amazon und Lieferando ihren Umsatz zweifellos gesteigert. So hat Amazon vor kurzem aufgrund der gestiegenen Nachfrage neue MitarbeiterInnen eingestellt. Und Lieferando bedient mit Stand Ende April sehr viel mehr Restaurants als einen Monat zuvor – wobei die gleiche Anzahl von MitarbeiterInnen mit dem gleichen Gehalt wie zuvor beibehalten wurde.
Ich frage mich: Wie ist es möglich, dass Unternehmen, deren Aktivitäten als system­relevant gelten, nicht verstaatlicht werden, um wirklich bedürftigen Menschen, die ohne Bewegungsmöglichkeit in ihren Häu­sern festsitzen, zu helfen, anstatt durchschnittliche Benutzer, die hauptsächlich der jungen Mittelschicht angehören, dazu einzuladen, ihre Zeit auf verschiedenen Plattformen zu verbringen, um durch Konsum den Geldfluss weiterhin sicherzustellen: „Sie brauchen sich nur zurücklehnen und auf Ihre Bestellung zu warten.“

Aber was hat das mit der Heuchelei bei technologischen Entscheidungen zu tun? Während KundInnen, die im Augenblick in ihren Wohnungen eingesperrt sind, immer mehr Zeit und Geld auf Plattformen investieren, die Daten der KundInnen sammeln und verwenden, um die Algorithmen zu verbessern oder um Marktanalysen durchzuführen, deren Resultate schließlich an Dritte weiterverkauft werden, leben Firmen, AnbieterInnen wie auch Kuriere in einem konstanten System, das ich als „Diktatur des Algorithmus“ definiere. Die MitarbeiterInnen der Versandzentralen von Amazon, Postkuriere, LebensmittelzustellerInnen, aber auch Su­permarktkassiererInnen, unterlagen schon lange vor Covid-19 einem algorithmisch berechneten Arbeitsablauf anstelle von An­weisungen durch einen menschlichen Manager. Sie wissen, dass die Geschwindigkeit, mit der sie die Produkte scannen, vom System überwacht wird. Zeit ist Geld, ohne Ausnahmen für menschliche Regungen. Das mag erklären, warum einige von ihnen manchmal so mürrisch wirken. Was jetzt, in Zeiten der Krise, besonders auffällt, und was ich vorher nie in Betracht gezogen hatte, ist aber die Abwesenheit einer menschlichen Figur in der Lieferkette. Ein Unternehmen wie Lieferando besteht für die FahrerInnen aus nur einem einzigen Namen, mit dem sie ständig digital in Kontakt stehen. Die anderen Figuren des Organigramms sind verborgen. Die wechselnd besetzte Kontakt-Position ist dafür zuständig, alles unter Kontrolle zu halten. Die Fahrer müssen die Anweisungen, die direkt in ihre Telefone gelangen, blind ausführen, ohne zu wissen, wie der Algorithmus funktioniert, der ihnen die Lieferungen zuweist. Im gleichen Chat, in dem sich die gesamte Kommunikation abspielt, müssen auch Probleme und individuelle Beschwerden gemeldet werden. Man ruft in den Wald und hat keine Ahnung, wer zuhört. Können wir eigentlich sicher sein, dass sich auf der anderen Seite des Bildschirms wirklich ein Mensch befindet, oder könnte es sich auch um eine Künstliche Intelligenz handeln? Zusätzlich macht es der beschränkte Kontakt mit dem gesichtslosen Namen auf dem Handydisplay den FahrerInnen schwer, die Strukturen des Unternehmens zu verstehen und die Dreh- und Angelpunkte zu identifizieren. Ohne zu wissen, wer der Anführer ist, wer seine Stellvertreter sind und wer diejenigen sind, die in der Pyramide noch weiter unten stehen, ist es den FahrerInnen unmöglich, einen gemeinsamen Gegner zu identifizieren, sich zusammenzutun und sich somit gewerkschaftlich zu organisieren.

Conclusio: Wir liefern an die gehobene Mittelschicht der Stadt, nicht an Arme oder Kranke. Wir ermöglichen es damit Multinationals, weiterhin Kapital in einer Situation zu produzieren, während Ladenbesitzer, Kunstschaffende und Selbständige zu Hause sitzen und ihre Schulden zählen. Wir sind nicht nur Teil dieser Armee von Arbeitern, die es der Nation ermöglichen wird, aus dieser Situation herauszukommen, und bleiben dennoch unbekannt – sondern die Gesundheit von uns „systemrelevanten“ LieferantInnen wurde gefährdet, ohne dass unser Dienst wirklich „systemrelevant“ war. Und wir arbeiteten nicht nur auf der Ebene der Ansteckung in einer potentiell gefährlichen Situation, sondern – was hier sichtbar wird – viele von uns arbeiten im größeren Zusammenhang und im großen Stil innerhalb einer Diktatur des Algorithmus, dem wir zunehmend ausgesetzt sind.

Denn in der neoliberalen Denkweise kommt Effizienz vor Menschlichkeit. Die oben genannten Arbeitsbereiche werden im Namen der Effizienz seit langem ständig von Algorithmen überwacht. Arbeiter und Arbeiterinnen in verschiedenen Bereichen werden ständig verfolgt, in Zeit und Raum – wie schnell sind sie unterwegs, wie lange brauchen sie, um von A nach B zu kommen, wie lange brauchen sie, um zu pinkeln, wo sind sie und mit wem? Und auch wenn diese Handlungen digital erscheinen mögen, geht es am Ende doch um die Arbeit eines Menschen. Zusätzlich müssen die Zusteller ihre ganze Emotionalität und Frustration in einem Chat ausleben. Eine Beschwerde einreichen, um Krankschreibung bitten und möglicherweise sogar gefeuert werden – alles muss innerhalb ihres eigenen Bildschirms geschehen. Dieses Modell der digitalen Kommunikation und des minimalen Kontakts von Mensch zu Mensch ist perfekt; es gewährleistet Effizienz zu einem sehr niedrigen Preis. Der Vertrag, den diese Leute erhalten, bewegt sich in der Regel an der Grenze zum Mindestlohn, und immer dann, wenn der Algorithmus unterdurchschnittliche Punktezahlen feststellt, sind die Arbeiterinnen und Arbeiter unmittelbar dem Risiko ausgesetzt, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Jemand anderes wird ihn immer dringend brauchen.

Wo ist die Grenze? Diese Diktatur des Algorithmus findet bereits überall statt: im Einzelhandel, am Fließband und im Callcenter. Wie wird es weitergehen? Bildung? Gesundheitssystem? Demokratie? Was wird in Zeiten nach einer Pandemie vernünftig erscheinen? Wird im Namen der Effizienz eine App eingeführt, die Ihre sozialen Kontakte aufzeichnet, während Sie nach den Quarantänemaßnahmen wieder einkaufen gehen können?

 

English Version:

The Heroes of the Emergency: The Precariat

Antonio Zingaro, multimedia artist and Internet hacktivist, has been working for a delivery service for several months. He writes from the reality of his job about the hypocrisy during the crisis – and the dictatorship of the algorithm.

I notice a great deal of hypocrisy these days, in general, but especially in relation to our experience with the corona virus. In these weeks we were witnessing numerous social initiatives, some of them in a kind of bottom-up approach, others not, which are intended to counteract, contain or remedy the Covid 19 emergency. Some of these initiatives were self-organized, spontaneous and local actions, such as the wicker baskets hung up in the south of Italy, which asked passers-by to leave food and supplies for those in need; or the messages of helpfulness left behind by neighbours in the various corners of towns to help those most at risk of contracting the virus.

But what worries me most in these times is the central role of technology and the blind trust that nations and even most citizens place in it. In the following lines I will try to highlight this hypocrisy that has emerged. In view of the moment I am writing (April 24), I will devote much attention to the role of suppliers. I myself have been working in one of these companies since October.

These days we have seen an emphasis on the role of technology. We have discovered that you don’t have to go to the cinema because there is Netflix; don’t have to be in the office to attend meetings because there is Zoom; don’t have to go to shops because there is Amazon; and don’t have to go to restaurants because there is Takeaway.

As the author of this article, I have already highlighted the connection between the Internet and the environment in a previous article on the same pages. In particular, it was about the fact that the bits pumped through the world’s Internet cables are by no means harmless to the environment. I will therefore avoid dwelling on the streaming services that have already been mentioned. Instead, I would like to draw attention to door-to-door services, especially food delivery services.

As for the drivers themselves, not much has changed since the beginning of the crisis, and thus the introduction of so-called ‘contactless delivery’. The hypocritical rules designed to prevent the spread of the virus do not include any safety equipment such as masks and gloves. The restaurants, on the other hand, have turned into battlefields consisting of barricades built with tables to prevent unauthorised people from entering the premises – once full of customers, now empty. The recipients of the deliveries hide behind their front doors as if they were afraid that the drivers are virus-slingers who are now trying to enter their homes. It usually causes laughter and embarrassment that they have to take the meals out of the open backpacks standing on the floor to prevent the drivers from touching the food. While the human aspect is very important here, in the following I will focus on the technological and macroscopic aspects rather than the individual level.

The drivers, as well as the postmen and women and all the other employees mentioned above who work on the front line (in so-called “system relevant professions”) are the silent army that enables some industries and companies to continue their economic activities, although in a different way. Restaurant owners who can only deliver their meals to their homes (and have to leave 30% of their earnings to the delivery services) can only keep their heads above water with difficulty in this situation and are often forced to lay off some of their personnel. But companies like Amazon and Lieferando have undoubtedly increased their sales, as the facts show that Amazon has recently hired new employees due to increased demand, and that Lieferando now serves many more restaurants than a month ago, while maintaining the same number of employees (with the same salary as before).

How is it possible that companies whose activities are considered systemically relevant are not nationalized to help people in real need, who are stuck in their homes with no means of movement, instead of inviting the average user, who is mainly from the young middle class, to spend their time on different platforms in order to continue to ensure the flow of money? “You just sit back and wait for your order.”

And what does this have to do with the hypocrisy of technological decisions? The category of suppliers, like that of couriers, lives in a constant system that I define as the “dictatorship of the algorithm”, while the clients, who are currently locked up in their apartments, spend more and more time and money on platforms that collect and reuse their data to improve the algorithms or to carry out market analyses, the results of which are eventually sold on to third parties.

Long before Covid-19, the employees of Amazon’s mail order centers, postal couriers, food delivery people, but also supermarket cashiers, were subject to an algorithmically calculated workflow instead of instructions from a human manager. They know that the speed at which they scan the products is monitored by the system. Time is money, with no exceptions for human impulses. That may explain why some of them sometimes seem so grumpy. What is particularly striking now, in times of crisis, and what I had never considered before, is the absence of a human figure in the supply chain. For the drivers, a company like Lieferando consists of just one name, with which they are in constant digital contact. The other figures in the organization chart are hidden from them. This, changing position, is responsible for keeping everything under control. The drivers have to blindly carry out the instructions that go directly into their phones, without knowing how the algorithm that assigns them the deliveries works. In the same chat where all communication takes place, problems and individual complaints must also be reported. Can we actually be sure that there really is a human being on the other side of the screen, or could it be an artificial intelligence?

The limited contact with the faceless name on the mobile phone display makes it difficult for drivers to understand the structures of the company and to identify the significant points. Without knowing who the leader is, who his deputies are and who are those who are even further down the pyramid, it is impossible for drivers to identify a common opponent, to join forces and thus to organise themselves into trade unions.

We suppliers deliver to the upper middle class of the city, not to the poor or sick. We thus enable multinationals to continue to produce capital in a situation where shopkeepers, artists and the self-employed sit at home counting their debts. Not only are we part of this army of workers that will enable the nation to get out of this situation and yet remain unknown – but the health of us „systemically relevant“ suppliers is put at risk without our service being truly „systemically relevant“. And, not only did we work at the level of infection in a potentially dangerous situation, but – as is evident here – many of us work in the larger context within a dictatorship of the algorithm to which we are increasingly exposed.

In the neoliberal mindset, efficiency has to come before humanity. All the categories of work mentioned above have, for a long time, been constantly under the surveillance of algorithms in the name of efficiency. Workers in all those different fields are constantly tracked, in time and space – how fast do you go, how long does it take you to get from A to B, how long does it take you to pee, where are you and with whom? And even though these might seem digital acts, in the end it’s about a human working. Additionally, delivery riders also have to discharge all their emotionality and frustration in a chat. Filing a complaint, asking for sick leave and possibly even getting fired, everything has to happen within their own screens. This model of digital communication and minimum human-to-human contact is perfect; it ensures efficiency at a very low price. The contract those people get are usually on the border of minimum wage and whenever the algorithm detects under-average scores, the workers are immediately at risk of losing their jobs. Someone else will always desperately need it.

Where will we stop then? This dictatorship of the algorithm is already happening everywhere: retail, assembly line and call center. What will be next? Education? Health system? Democracy? What will seem reasonable in post-pandemic times? Introducing, in the name of efficiency, an app that tracks your social contacts while you go shopping again after the lockdown?

Das flüchtige „und“

Mit dem Werk von Josef Bauer nimmt das Lentos Kunstmuseum ab Juni eine zentrale Position der österreichischen Gegenwartskunst in den Blick. Florian Huber über Josef Bauer.

Landschaftsmalerei „Linz, Blick gegen Norden“, 1997. Foto Josef Bauer Courtesy Josef Bauer; Krobath, Wien; Galerie Karin Guenther, Hamburg

Die umfangreiche, von Brigitte Reutner für das Lentos kuratierte Retrospektive des 1934 in Wels geborenen, in Linz und Gunskirchen lebenden Künstlers wurde in Zusammenarbeit mit dem Belvedere 21 von Harald Krejci konzipiert. Der Kunsthistoriker verantwortet gemeinsam mit Hemma Schmutz und Stella Rollig auch den materialreichen, im Verlag Walther König 2019 publizierten Katalog, der auch in buchgestalterischer Hinsicht zu überzeugen weiß. Gleich einem Atlas werden darin wesentliche Entwicklungslinien von Bauers seit den 1950er-Jahren geschaffenem Werk in Illustrationen und Texten dokumentiert und zugleich Fragen nach dem Verhältnis von Bildern, Worten und Dingen und ihrer adäquaten Repräsentation in Buch und Ausstellung provoziert. Streng nach einem Koordinatensystem geordnete Miniaturen von Aktionen, Schriftbildern, Wischungen, multimedialen Collagen und Skulpturen bestimmen den ersten Lektüreeindruck und versinnbildlichen die quasi ikonische Qualität von Bauers Arbeiten, die in systematischer Manier menschliche Zeichen und Gesten in Bildern, Skulpturen und Texten dokumentieren, um ihre Funktion und Bedeutung zu ergründen. In die Landschaft gepfropfte Buchstaben und Zahlen treffen darin auf vielgestaltige Gebilde aus Eisen, Polyurethanschaum, Polyesterharz und Pappmaché. Fotografien porträtieren Menschen als lebende Skulpturen, während wir dem Abguss einer Hand, die etwa ein Holzkreuz oder ein Zeichendreieck umklammert und immer wieder dem Künstler selbst begegnen. Dieser versieht Zeitungsausschnitte, Musterbuchseiten, Fundstücke aus der Natur und Warenwelt sowie selbst geschaffene Objekte mit seiner unverwechselbaren Handschrift in Gestalt einzelner Worte und farbsatter Pinselstriche.

Trotz zahlreicher prominenter Ausstellungsbeteiligungen, die Bauers Arbeiten etwa im Verbund mit Werken von Joseph Beuys, Richard Kriesche, Cornelius Kolig, Yves Klein oder Hans-Peter Feldman, mit dem den Künstler eine langjährige Freundschaft verbindet, präsentierten, blieben diese einem größeren Kunstpublikum weitgehend unbekannt. Dabei erweisen sich seine Beiträge zur Konzeptkunst nicht allein als repräsentativ für die künstlerischen Theoriedebatten der 1960er- und 70er-Jahre, sondern antizipierten auch die skulpturale Praxis so unterschiedlicher Kunstschaffender wie Franz West, Rachel Whiteread, Erwin Wurm oder Heimo Zobernig, wie der Katalog in seinen Textbeiträgen exemplarisch nachzuzeichnen sucht. Neben der Identifikation kunsthistorischer Vorläufer wie René Magritte wird dabei auch deutlich, wie viel Bauers Ästhetik einer Auseinandersetzung mit philosophischer Sprachkritik und Literatur verdankt, die nicht zuletzt der persönlichen Bekanntschaft mit konkreten Dichtern wie Eugen Gomringer und Heimrad Bäcker im Umfeld des „Bielefelder Kolloquium Neue Poesie“ und der Linzer Künstlervereinigung MAERZ geschuldet war. Die biographischen Begleitumstände von Bauers Werk unterstreichen hingegen, wie sehr die künstlerischen Neuerungen der Nachkriegszeit von AkteurInnen und Schauplätzen am vermeintlichen Rand, abseits von Metropolen und Weltmarkt, angeregt wurden. Die Ausstellung rückt zudem Bauers lebenslange Beschäftigung mit der eigenen Herkunft in Gestalt von nationaler Geschichtsschreibung, persönlichen Erinnerungen und politischem Tagesgeschehen in den Mittelpunkt. Sein mit flüchtiger Hand notiertes „und“, das viele seiner Arbeiten ziert, lässt sich vielleicht auch als Aufforderung lesen, das Kunstwerk als Teil eines größeren Sinnzusammenhangs zu begreifen, der nicht allein einem Individuum oder ausschließlich ästhetischen Überlegungen entsprungen ist. Die Erfahrungen und Wahrnehmungen des Künstlers im Umgang mit konkreten historischen Ereignissen wie dem Weltkriegsende, den Studentenprotesten von 1968 oder der Bildung einer schwarz-blauen Regierungskoalition im Jahr 2000 kreuzen sich im Werk mit Fragen nach ihrer gesamtgesellschaftlichen Bedeutung und den ihnen zugrundeliegenden Ursachen und Deutungshoheiten. Die Erforschung der individuellen und universellen Wirkmechanismen von Sprache und Bildern mit den Mitteln der Kunst zielt dabei vielleicht weniger auf einen Akt der „Versöhnung“, wie Harald Krejci vermutet, als eine schonungslose Offenlegung von Widersprüchen im Denken und Handeln des modernen Menschen, wie etwa in der Arbeit Schlagstock – Schlagzeile, die bereits im Titel mit Worten verbundene Gewalttaten evoziert. Verwendung und Bedeutung von Bildern und Texten entspringen schließlich vielen Quellen, führen ihr Eigenleben, widersetzen sich bisweilen jedweder Konvention.

Dementsprechend machen Präsentationsort, Vorwissen und individuelle Erwartungen ihren Einfluss bei der Kunstbetrachtung geltend, wie etwa die Farbfotografie Landschaftsmalerei: Linz, Blick gegen Norden demonstriert. Die Bildunterschrift löst ein, was der Hintergrund nicht zu erkennen gibt. Die Hand im Bild, die ein rotes Stück Farbe hochhält, erinnert an die Flüchtigkeit der Szenerie, die bald an einem neuen Ort in neuer Verbindung erscheinen und anderen Sinn entfalten wird. Die Ausstellung trägt diesem Umstand Rechnung, indem skulpturale Arbeiten gelegentlich in anderer Folge und an die neue Raumsituation angepasst oder auch in Form von Bildern und Texten präsentiert werden. Denn Bauers Kunst spielt virtuos mit Erwartungen. Nichts ist so einfach, wie es auf den ersten Blick erscheinen könnte. rot gelb blau zeigt etwa „gelb“ in blauen Lettern auf einem grauen Bilduntergrund und nötigt so zum Hinterfragen festgefügter Sehgewohnheiten, die nicht nur die Kunst, sondern auch die herrschenden Verhältnisse und ihre natürliche Selbstverständlichkeit in neuem Licht erscheinen lassen.

 

Josef Bauer
Demonstration
2. Juni – 4. Oktober 2020
www.lentos.at

Wir Können Da Was Machen

Wir Können Da Was Machen – so der Titel der aktuellen Publikation des Kunstraum Goethestrasse xtd. Der Katalog versammelt 29 Arbeiten der letzten Jahre und reflektiert Zugänge und größere Zusammenhänge zwischen zeitgenössischer Kunst und psychosozialer Gesundheit. Claudia Schnugg, Expertin zwischen Kunst, Wissenschaft und Kollaboration hat den Katalog zentral mitgestaltet und gibt Einblick.

Der Titel des Katalogs, der eine Auswahl an Projekten aus den Jahren 2010 bis 2019 dokumentiert, ist auf mehreren Ebenen Programm: Wir Können Da Was Machen ist Selbstreflexion des Kunstraums Goethestrasse xtd auf sich als Ort und auf seine unterschiedlichen Konstellationen der Beteiligten, er beschreibt den hausinternen Zugang der Herausforderungen und den Prozess der Projektentwicklung, und er stellt indirekt Fragen zu potenziellen Wirkungen von Kunst, künstlerischer Produktion und kultureller Teilhabe. Im Katalog gezeigt werden 29 künstlerische Arbeiten, die sich aus Aufträgen, Kooperationen und Langzeitprojekten zusammensetzen: Gestaltungen, Designs, Inszenierungen, Performances, Installationen, Tagungsbeiträge, Kampagnen, Videoproduktionen, fortlaufende Projektreihen.

In unserer Umgebung befinden sich so viele Orte, die wir vermeintlich kennen. Orte, die schon so lange da sind, dass wir meinen, sie ausführlich zu kennen, von denen vielleicht alle ein Bild haben. Ein Bild, das mehr oder weniger genau jenen Ausschnitt zeigt, wie wir diesen Ort wahrnehmen oder zuvor erlebt haben. Der Kunstraum Goethestrasse xtd hat sich für die neueste Publikation mit der eigenen Arbeit und jenen resultierenden Projekten auseinandergesetzt, die sich abseits des gewohnten Bildes und abseits des bekannten Spektrums ihrer Tätigkeit befinden. Der Prozess, der zu dieser Darstellung geführt hat, war eine Selbstreflexion gepaart mit Rückmeldungen von Projektpartner*innen und einer Analyse aus Expert*innenperspektive. Das Ergebnis ist ein Katalog von Projekten, die über das Jahresprogramm hinausgehen: Kunst am Bau, Kooperationen mit Künstler*innen, Auftragsarbeiten für Projektpartner*innen, Gestaltungsaufträge in Gebäuden, an öffentlichen Plätzen und bei Veranstaltungen. In diesem intensiven Prozess und im Rahmen des allseits gegenwärtigen Wirkungsdiskurses entstand eine Publikation, die über die bloße Darstellung einer Auswahl dieser außergewöhnlichen Projekte hinausgeht. In Form von Kapiteln werden die Projekte an jedem einzelnen Wort des Titels Wir Können Da Was Machen abgearbeitet: nach einer kurzen Einleitung werden ausgewählte Projekte zu dem jeweiligen Thema reflektiert. Im Fokus der Darstellung stehen die eigenen Communities (Wir), die Formate, Methoden und Expertisen (Können), die Orte, Räume und Zeitpunkte (Da), die Wirkungen (Was) sowie die Prozesse und Ergebnisse (Machen).

Wer ist das also, deren Bild es durch diesen Katalog neu zu sehen gibt? Der Kunstraum Goethestrasse xtd ist ein Produktionsort und Ausstellungsraum für zeitgenössische Kunst, dessen Arbeit sich an der Schnittstelle von Kunst und Sozialem, Kunst und psychosozialer Gesundheit als Angebot von Pro Mente OÖ bewegt. Jedes künstlerisch-partizipative Projekt fußt auf der Idee, durch Projekte nachhaltig individuelle und soziale Veränderung in Gang zu setzen, zur psychischen Gesundheit und Widerstandsfähigkeit von Individuen wie Gesellschaften beizutragen und ein respektvolles Miteinander zu ermöglichen. Gleichzeitig wird das Ergebnis nie aus den Augen gelassen, denn das Ziel ist es, mit diesem vielschichtigen Prozess hochwertige Ergebnisse zu schaffen – als Aufwertung des Prozesses und als Referenz auf die intensive künstlerische Auseinandersetzung des jeweiligen Teams und der Kooperationspartner*innen. Die Arbeiten haben den Anspruch, sich im zeitgenössischen Kunstdiskurs zu verorten und gleichzeitig werden unterschiedlichste Personengruppen in den Prozess der Kunstproduktion und -erfahrung aufgenommen bzw. adressiert. Im Zuge dessen werden Methoden zu individueller und gesellschaftlicher Teilhabe kontinuierlich hinterfragt und weiterentwickelt, wobei das künstlerische und das soziale Feld auf mehreren Ebenen voneinander profitieren sollen.

Unter der Prämisse eines erweiterten Kunstbegriffs und des gesellschaftlichen Auftrags der Kunst, greifen die Projekte Themen des aktuellen gesellschaftlichen, politischen und künstlerischen Kontextes auf und laden Menschen ein, einen Beitrag zu leisten um ein wertvolles Werk im zeitgenössischen Kunstdiskurs zu schaffen. Es zeigt sich in den Prozessen und Ergebnissen das kontinuierliche Ausverhandeln eines Mit- und Nebeneinanders von Zugängen, Themen, Methoden, Menschen aus Kunst und Sozialem sowie von Menschen mit und ohne psychosozialen Unterstützungsbedarf. Wie im Katalog sichtbar wird, verschwimmen dabei die Grenzen zwischen Produzierenden und Rezipierenden in der täglichen Arbeit, die Menschen stehen im Vordergrund.

Das Kernteam des Kunstraum Goethe­strasse xtd sind Susanne Blaimschein und Beate Rathmayr, die ihre Visionen vorantreiben und gleichzeitig im Hintergrund die Fäden ziehen. In jedem Projekt gibt es Möglichkeiten, auf unterschiedliche Art und Weise anzudocken, teilzunehmen und gemeinsam umzusetzen. Wie vielfältig sich das „Wir“ in einem Projekt gestalten kann, zeigt wahrscheinlich am besten das Beispiel einer bekannten Projektreihe. „City of Respect“ ist ein Überbegriff für seit über 10 Jahre stattfindende Projekte, um zu einem respektvollen Miteinander beizutragen, gemeinsam mit u. a. Stadtbewohner*innen und der eigenen Community. Bei der Kampagne wurden 2017 und 2018 mit den Linz AG Linien und der Friedensstadt Linz eine Reihe an Initiativen zu diesem Thema entwickelt. In weiteren Initiativen wurden u. a. Künstlerkolleg*innen eingeladen u. a. Projekte im öffentlichen Raum beizutragen, oder es wird mit Schüler*innen in einer Workshopreihe das Thema aufgegriffen, wobei die Ergebnisse als Interventionen oder in einer Ausstellung präsentiert werden. Es gibt Einladungen an Kultur- und Sozialorganisationen, gemeinsam ein Projekt zum Thema umzusetzen, wie auch Einladungen an lokale und internationale Gemeinschaften, Unternehmen und Wissenschaft, sich zu beteiligen. Jedes Projekt steht für sich und trägt die Idee weiter. Auch in Gestaltungsarbeiten werden Grundkonzepte aus dieser Projektreihe gerne aufgegriffen: am Lonstorferplatz in Linz, zum Beispiel, wurde der überdachte Tiefgaragenabgang mit Grafiken, die an die City-of-Respect-Kampagne erinnern, gestaltet und mit Gedanken daraus bereichert.

Dreh- und Angelpunkt der Herangehensweise, des Tuns ist der hohe Stellenwert von Handwerk und Inhalten. Mit Fingerspitzengefühl werden Prozesse für die Teilnehmenden und die Ziele der gemeinsam zu realisierenden Arbeit ausgewählt. Gestaltet werden dabei persönliche Zukunftsvisionen und Veranstaltungen ebenso wie öffentliche Plätze, Neubauten, gemeinschaftliche Wohnräume oder alltägliche Arbeitsutensilien wie Geschirrtücher. Exemplarisch lassen sich hier nur wenige Projekte herausgreifen, die wesentliche Methoden und Formate aufzeigen. Bei der Gestaltung des neu gebauten Wohnhauses von Pro Mente OÖ in Linz wurde das Kunstraum-Team schon frühzeitig in den Planungsprozess miteinbezogen: „Neues Zuhause – Die Welt im Großen und im Kleinen“ wurde diese Arbeit genannt. Der mehrstufige, auf zwei Jahre angelegte Prozess unterstützte die Bewohner*innen sich neu zu verorten, an diesem Ort und in der Gruppe, und sich selbst auszudrücken. Die Gestaltung selbst ist wichtiger Bestandteil des Wohnhauses, die Ästhetik erlaubt es eine angenehme entstehen zu lassen, den Eindruck klassischer betreuter Wohnhäuser gar nicht aufkommen zu lassen. In einem weiteren Beispiel, „Art Can’t Top Nature“ entwickelte der Kunstraum Goethestrasse xtd gemeinsam mit zwei eingeladenen Künstlerinnen, Karin Fisslthaler und Tea Mäkipää, eine künstlerische Gestaltung für den neu gebauten Verbindungstrakt der Anlage Wesenufer Hotel & Seminarkultur an der Donau. Als „Allianzen“ wurde eine Gestaltung im Rahmen einer Veranstaltung realisiert, die gleichzeitig als Inszenierung der Bedeutung des Ortes der Veranstaltung und als Intervention für die Besucher*innen fungierte.

Neben den unterschiedlichen Gestaltungsarbeiten von Orten, Räumen oder Zeitpunkten, die im Kapitel „Da“ exemplarisch vorgestellt werden, widmet sich das Kapitel „Können“ Formaten, die die Arbeit mit Projektpartner*innen und Teilnehmer*innen illustrieren. Es werden die wichtigsten künstlerisch-kreativen Methoden anhand von Projekten illustriert: Workshopreihen, eine fortlaufende Auseinandersetzung mit Materialien, Sprache und dem eigenen Körper, sowie Reflexionsprozesse, eine Entwicklung von Geschichten und ein Ausloten von Techniken und Materialien finden statt. Im letzten Kapitel „Machen“ wird die Vielfalt der Prozesse dargestellt, die unterschiedlichste Zusammensetzungen des „Wir“ zeigen, und kürzere Projekte wie auch über Jahrzehnte fortlaufende Themen aufgreifen.

Zusammenfassend befindet sich die Arbeit an einer Spezialposition zwischen zeitgenössischer Kunst, künstlerischer Betätigung, Kultur, Sozialem und psychischer Gesundheit. Somit ist die Frage des „Was“ nicht nur anhand von Projekten zu beantworten, sondern auch mit einem Blick auf theoretische Zugänge und die aktuelle Diskussion des Stellenwerts von Kunst und Kultur in der Gesellschaft mit einem Blick auf (psychische) Gesundheit. Um die Ergebnisse im aktuell allgegenwärtigen Wirkungsdiskurs zu verorten, der nach dem Beitrag von Kunst und Kultur frägt, werden in diesem Kapitel die Prozesse und Projektergebnisse dahingehend hinterfragt. Dank eines wachsenden Interesses an dieser Thematik konnten hier präsentierte Ideen anhand eines ausgewählten Projekts auch in der letzten Ausgabe des Magazins der IG Kultur unter dem Titel „Kultur auf Rezept“ vorgestellt werden. Vielleicht kann dieser Katalog sogar noch mehr als nur ein Puzzlestein im eigenen Bild hinzufügen und zeigen, was es denn da noch so zu entdecken gibt.

 

2019 ist ihr Buch Creating ArtScience Collaboration erschienen.
www.palgrave.com/gp/book/ 9783030045487

Claudia Schnugg hat ebenfalls in der Redaktion der im Text erwähnten IG-Kultur-Zeitschrift zum Thema „Kultur auf Rezept“ mitgearbeitet: igkultur.at/sites/default/files/posts/downloads/2020-01-07/IG%20Kultur_Zentralorgan_2019-01_Kultur%20als% 20Rezept.pdf

KunstRaum Goethestrasse xtd
Publikation:
Wir Können Da Was Machen Informationen und Ankündigungen zur Katalog-Präsentation sind bald zu finden auf www.kunstraum.at

Die Systeme von Vanessa Graf

2020 hat Vanessa Graf den Literatur-Förderungspreis von Rauris bekommen. Ines Schütz über die Texte „Life in a box“ und „Friend in a pot“ – und eine Autorin, die sich mit keinem der Themen, die sie interessieren, auf nur einem Weg auseinandersetzt.

„Wir sind auf Engste mit menschlichen und nicht-menschlichen Wesen rund um uns verbunden, eingebunden in einem komplexen Ökosystem, das komplizierter und verwobener ist, als wir es uns nur ansatzweise vorstellen können“, schreibt Vanessa Graf auf ihrer Homepage zu ihrem Projekt „Friend in a Pot“. Mit diesem Freund, einer Topfpflanze, die zum social interface wird und mit Menschen interagiert, will sie diese Verbindung erfahrbar machen. Der „Friend in a Pot“ nimmt einen mit auf eine Erkundungstour der Umgebung, spricht mit einem und kratzt so an der Vorstellung, der einzelne Mensch könne sich losgelöst von seinem Umfeld betrachten und sich, bei Bedarf, einfach aus dem System nehmen.
Systeme sind, so könnte man sagen, Vanessa Grafs „Ding“. Zunächst einmal das Ökosystem, das auch „Friend in a Pot“ zum Thema hat. Mit dem sich Vanessa Graf außerdem in ihrer Master-Arbeit zum Abschluss des Studiums Medienkultur- und Kunsttheorien an der Kunstuniversität Linz auseinandersetzt, wenn sie den ökologischen und kulturellen Auswirkungen des Internets nachgeht und der Frage, wie wir ein symbiotisches Netzwerk in Inhalt und Infrastruktur schaffen können. Davor hat sie sich wissenschaftlich mit anderen, menschlichen Systemen beschäftigt, hat Politikwissenschaften am Institut d’Etudes Politiques de Paris (samt einem Austauschjahr in Kirgistan) studiert mit Schwerpunkt Europäische Politik und sich im Speziellen mit Ökonomie, Recht und Geschichte beschäftigt.
Und dann gibt es noch die Systeme, die Vanessa Graf selbst aufbaut: Mit keinem der Themen, die sie interessieren (und davon gibt es viele), setzt sie sich auf nur einem Weg auseinander. Da ist die Wissenschaft, die auch nie auf nur ein Fachgebiet bezogen bleibt (um eine gute Basis für ökologische Aspekte in ihrer Masterarbeit zu haben, hat sie ein Biologie-Studium begonnen), da ist die künstlerische Arbeit in den Bereichen Schreiben, Illustration, Media-Art und Musik. Und die journalistische in Text, Foto und Film.
Als freie Journalistin leitet sie die Linzer Redaktion des Onlinemagazins „Fräulein Flora“, die sie nach dem Salzburger Vorbild aufgebaut hat. Ihr journalistischer Arbeitsschwerpunkt liegt in der Kommunikation von komplexen und/oder wissenschaftlichen Inhalten, vor allem in den Bereichen Tech, Digitalisierung, Kunst, Feminismus und Philosophie. Außerdem war Vanessa Graf die letzten vier Jahre mitverantwortlich für die Online-Inhalte der Ars Electronica (zuletzt zuständig für Inhaltliches im Futurelab) und hat dafür, wie sie schreibt, „viele Interviews mit sehr spannenden KünstlerInnen gemacht, viele Videos gefilmt, viele Ausstellungen fotografiert, und vor allem recht viel gelernt.“ Dem Lernen (was sie am liebsten ihr ganzes Leben lang tun würde) widmet sie sich derzeit in ihrer Bildungskarenz, die sie für die Fertigstellung ihrer Masterarbeit und die Suche nach einer anschließenden Doktoratsstelle nützt. Und für andere Projekte wie die Konzeption und Programmierung eines Computerspiels oder drei Schreibprojekte, zwei davon kooperativ.
Geschrieben hat Vanessa Graf schon immer, nicht nur journalistisch. „Das war eher Tagebuchartiges, Notizen“, sagt sie selbst. Dann wollte sie es wissen, mit dem literarischen Schreiben, verfasste einen Text auf die Ausschreibung des Rauriser Förderungspreises hin – und gewann.
Ausgeschrieben war der Preis zum Motto „Innehalten“, ein Thema, das bei Vanessa Graf sofort Assoziationen zu Yoga, dem Schlagwort „Achtsamkeit“ und grünen Smoothies weckte. „Ich habe mich gefragt: Warum müssen immer alle achtsam sein? Warum soll man immer Yoga machen?“, sagt sie im Gespräch. Und das sei überhaupt nicht gegen Yoga gerichtet, sondern dagegen, dass man immer auf seine Mitte achten solle, fast müsse, um in unserer Gesellschaft leistungsfähig zu bleiben. In ihrem Text „Genauso schwarz wir hier“ versteht sie „Innehalten“ denn auch als ein Bedürfnis nach Rückzug, dem heute selten Verständnis entgegengebracht wird. „Mir ging es sehr stark um Solidarität“, schreibt Graf. „Und darum, dass Altern, genauso wie auch Rückzug-Brauchen oder einfach ein unerwartetes Sich-Zurückziehen gerne sehr schnell pathologisiert wird.“

Beispielhaft für diesen Hang zur Pathologisierung steigt der Text in einer Arztpraxis ein: Der Partner der Ich-Erzählerin hat ohne ihr Wissen einen Termin ausgemacht, in dem es um ihre Mutter gehen soll. Die Mutter altert, kommuniziert immer weniger, wird leiser und leiser. Zwischen sich und die Welt packt sie Schachteln, zuerst unmerklich wenige, die man als Kuriosum abtun und ignorieren kann, später quellen sie aus dem Haus und versperren den Zugang. Die Grenze zwischen drinnen und draußen ist abgesteckt, wo die Mutter bleiben möchte, ist ebenfalls klar. Nur alle anderen können oder wollen nicht so recht umgehen mit dieser Tatsache. Der Partner vereinbart den Arzttermin, weil sonst nicht geholfen werden könne, der Bruder wäre gern früher informiert worden, um ein Heim zu organisieren. Und die Tochter – die schiebt zunächst alles zur Seite, tut sich schwer: „Mit dir darüber zu reden, hatte ich seit dem letzten Mal nicht mehr versucht“, heißt es im Text, „mit anderen war ich verloren, setzte an, redete von Kartons und Kisten, verlor mich zwischen Ecken und Kanten und blieb erst recht wieder stumm. Wie eine Verrückte, dachte ich, ob ich mich oder dich damit meinte, wusste ich nicht.“
In dieser Zeit des Begreifens und der Suche nach Orientierung zieht auch sie sich zurück: Anrufe und Nachrichten bleiben unbeantwortet, das Handy landet überhaupt in der Bestecklade, dafür geht die Erzählerin wieder spazieren: „Ich wusste nicht, wohin mich meine Beine trugen, sagt man, man sagt das doch so?, wie von selbst, das sagt man auch, aber ehrlich, beides gelogen.“
Auch in diesem Text geht es um Systeme und ihre Wechselwirkungen: Um das gesellschaftliche, das den Störfaktor „Für-sich-sein-Wollen“ nicht akzeptiert, und um ein familiäres, in dem jede Veränderung alle anderen Beteiligten unmittelbar beeinflusst. Durch die Rhythmusänderung der Mutter kommt die Tochter aus dem Takt und findet gerade so einen Weg, Gemeinsames wieder erleben zu können, einander nah zu sein.
Dass das Thema Demenz sofort mit ihrem Text in Zusammenhang gebracht worden ist, von der Jury des Rauriser Förderungspreises genauso wie von vielen anderen Leserinnen und Lesern, habe sie zum Schmunzeln gebracht, meint Graf, weil sie es beim Schreiben überhaupt nicht im Kopf gehabt habe, sich auch nicht damit auskenne. Und vielleicht ist gerade das das beste Beispiel für die These, die ihrem Text zugrunde liegt: Wir tun uns schwer mit dem Altern und leichter, wenn wir ein Krankheitsbild dazu haben.

In der Jurybegründung (Ludwig Hartinger, Liliane Studer, Erika Wimmer) heißt es: „Dass die Mutter an Demenz erkrankt ist, kann die Ich-Erzählerin in Vanessa Grafs Text ‚Genauso schwarz wie hier‘ nicht länger leugnen. Sie nimmt die Herausforderung an, die Mutter auf diesem Weg zu begleiten. Symbolisch für die Welt, in die sich die Mutter zurückzieht, stehen die Schachteln, die sich in und vor deren Wohnung türmen und für die Tochter zunehmend unüberwindbar werden. Unbeirrt sucht sie jedoch weiter nach Kontaktmöglichkeiten zur Mutter, findet sie über Berührungen, über körperliche Nähe. Dabei werden auch Verunsicherung und aufkeimende innere Widerstände nicht ausgespart.“
Der Rauriser Förderungspreis 2020 (vergeben von Land Salzburg und Marktgemeinde Rauris, dotiert mit € 5.000,–) konnte heuer nicht wie geplant im Rahmen der Rauriser Literaturtage verliehen werden. Die Covid-19-Maßnahmen versetzten alle, die am Festival beteiligt gewesen wären, notgedrungen in einen Zustand des „Innehaltens“ (das Motto der Förderungspreisausschreibung hatte eigentlich auf das 50-Jahr-Jubiläum dieser Veranstaltung angespielt, Anlass zur Rück­schau und zum Nach-vorne-Blicken). Der Förderungspreis an Vanessa Graf wird, sobald die Umstände es möglich machen, offiziell verliehen. Dann wird auch ihr vollständiger Text in der Literaturzeitschrift SALZ nachzulesen sein.

Genauso schwarz wie hier

Den Rauriser Förderungspreis 2020 zum Thema „Innehalten“ erhält Vanessa Graf für ihren Text „Genauso schwarz wie hier“. Eine Lese­probe von Vanessa Graf.

Bild Vanessa Graf

Als das mit dir anfing, besser, als ich es dann schließlich bemerkte, weil so etwas bemerkt man ja nicht von vorne weg, da braucht es Tage, Wochen, ein paar Besuche, jedes Mal ein bisschen anders, jedes Mal ein Stein im Weg, jedes Mal etwas, worüber ich beim Eintreten stolpern konnte – als man mir sagte, was eigentlich mit dir passierte, vergrub ich meinen Kopf in den Armen. Nahm das Gesagte und drückte es in die Ferne, weit, weiter weg von mir, eine abweisende Handbewegung, ein Schulterzucken, ein ausweichender Blick zur Seite. Nun, sagte die Frau hinter dem Schreibtisch, es gibt ja Optionen.
Optionen, dachte ich und fühlte die Möglichkeiten unter meinen Fingern gerinnen, sich über die Tischplatte ausbreiten, milchig-weiß bis hin zur Frau im Kittel gegenüber. Ein Heim, zum Beispiel, sagte die gerade, wie um mit ihrem Ärmel die Flüssigkeit auf ihrer Arbeitsplatte aufzusaugen. Betreuung, 12 Stunden, 24 Stunden, sie wischte ein Staubkorn vom Rande ihres Terminkalenders, oder wir können auch im Internet nachsehen, ich helfe Ihnen. Selbstverständlich.
Ich wollte nichts davon wissen, war verärgert. Wie können Sie nur, Sie haben sie ja nicht einmal gesehen, wollte ich schreien, blieb stattdessen stumm in der Ordination sitzen. Was heißt das jetzt für sie?, hörte ich mich schließlich doch fragen, während ich mental alle Anzeichen fein säuberlich verpackte, einsortierte, beiseiteschob. In Schachteln, was ironisch war, weil als ich es dann endlich wahrhaben konnte, lange nach diesem ersten Gespräch, erinnerte ich mich plötzlich wieder an all das, was ich damals so schön sorgfältig verschnürt an den Rand meines Bewusstseins stellte und verstauben ließ: Schachteln. So fing es nämlich wirklich an, mit Schachteln, und wäre ich weniger stur, weniger ängstlich, einfühlsamer oder einfach nur anders gewesen, hätte ich es vielleicht da schon bemerkt.
Der erste Tag, an dem ich deine Tür aufsperrte und meine Schuhspitze gegen etwas Hartes trat: nichts Außergewöhnliches. Ein Nicht-Ereignis, ein Un-Ding. Und trotzdem stand da etwas, eine kleine, schwarze Kiste, mitten in deinem Vorhaus, gerade so weit von der Türe entfernt, dass das Öffnen noch möglich war, das Eintreten aber bereits zum Über-Treten wurde. Ich stieg also darüber und gleichzeitig hinein in etwas, dessen Ausmaße ich weder erahnen noch mir vorstellen konnte, hätte ich es probiert. Ein schwarzes Loch, ein allesverschlingender Mahlstrom, unausweichliche Sogwirkung und ich ein Ästchen in der Brandung, ein falscher Zug und schon zerbrochen. Dass du damals eigentlich auch schon in Scherben vor mir lagst, das sah ich lange nicht. Ich trat also ein und darüber, über die schwarze Kiste, die Box in deinem Vorhaus, und dachte mir: Nichts. Nichts eigentlich, ich glaube nicht, dass ich sie damals überhaupt so wirklich wahrgenommen hatte, die Schachtel vor der Tür deiner Wohnung. Natürlich, ich sah die Falten in deinem Gesicht, jetzt klarer als vielleicht dort und dann an deinem Küchentisch, aber ich sah sie, die müden Augen, die schlaffe Haut, die Blässe. Komm, wir gehen spazieren, schlug ich irgendwann vor, raus an die frische Luft, die Sonne scheint. Du ziertest dich, deine Hände am Küchentisch wie ein Rettungsboot, während hinter dir der Dampfer in den Wogen versinkt und das Eiswasser deine Finger erstarren lässt, du wolltest nicht, nein, nein, ich war heute schon draußen, nein. Irgendwann gingen wir dann doch, du zögerlich in die Sonne blinzelnd, ich die Finger an den Blättern im Wald entlangstreichend. Ich kitzle den Wald und die Sonne kitzelt mich, lachte ich, du hinter mir, immer einen Schritt zurück. Ich dachte, du genießt. Du wusstest schon – du verlässt. Wir mussten beim Rausgehen auch über die Kiste gestiegen sein, die schwarze Box im Vorhaus, wir mussten die Tür einen Spalt aufgemacht haben, die Beine gehoben, eins, zwei, darübergestiegen sein. Davon weiß ich nichts mehr, wir redeten auch nicht darüber, nahmen sie nicht zur Kenntnis, taten so, als wäre sie nicht da. Keine Kiste im Vorhaus, keine Ringe unter deinen Augen. Rückblickend irritiert mich das, manchmal denke ich daran, wenn ich nachts wieder nicht schlafen kann.

Bild Vanessa Graf

Bei meinem nächsten Besuch waren es zwei.
Lange nur zwei.
Ich dachte nicht mehr daran, fand nichts merkwürdig, nur dich manchmal, wenn du dir wieder deine Augen riebst und verschlafen über die Tischplatte schautest. Wir sprachen noch immer nicht darüber, warum auch, zwei Kisten in deinem Vorhaus und eine Tür, die nicht mehr bis zum Anschlag zu öffnen war? Es gab Wichtigeres, Anderes: deine Mieterinnen, meine Beziehung, unsere gemeinsame Verwandtschaft, zum Schluss immer: unser nächstes Treffen. Wir redeten, anfangs noch stundenlang, wie früher. Es blieben immer Stunden, bis zum Schluss lange Stunden, aber das Reden war kürzer. Ebbte aus, bis wir gemeinsam, friedlich, wie ich dachte, auf der kleinen Bank auf deinem Balkon saßen und dem Nussbaum im Garten still beim Wachsen zusahen. Ich fand es schön, ich war zufrieden.
Mir fiel nichts auf, jetzt denke ich, mir hätte alles auffallen sollen: Die Art, wie du immer langsamer zur Tür schlurftest, die Klinke erst angriffst, dann kurz verharrtest, ehe du sie drücktest. Wie deine Worte, nicht alle, nicht einmal die meisten, aber manche, einige, gedehnter wurden. Leiser, das auch. Wie du die Augen niederschlugst und tief in deine Tasse starrtest. Wie die Farbe immer mehr aus deinen Wangen wich. Und wie lange ich das Leuchten in deinen Augen schon nicht mehr gesehen hatte.
Draußen – so nannte ich das, dann, nachdem ich es wusste, drinnen war bei dir, draußen war die Welt – draußen erschlug mich das Leben. Wo bist du, vibrierte meine Tasche, was machst du gerade, ich denke an dich. Eine Haltestelle später, ein Piepsen aus der Jacke, Sehr geehrte Frau und ich schreibe Ihnen weil, gleichzeitig ein Anruf, dazwischen wieder das Vibrieren: ich koche heute, wann kommst du, willst du, können wir, ich habe gerade, schau das, schau dies, wollen wir nicht, könnten wir, sollten wir.
Ich erzählte dir manchmal davon, vom Draußen, du nicktest stumm und nahmst noch einen Schluck Tee. Stille schlug mir ins Gesicht, das Vibrieren blieb in der Garderobe. Ich erzählte weniger, dann fast gar nichts mehr. Berichtete von anderem: Der Platz wird umgebaut, die Bahn hatte Verspätung, ich konnte heute nicht schlafen, der Sonnenaufgang war schön. Du antwortetest, die Rohre seien verstopft, das Essen war kalt, du schläfst schon lange nicht mehr.

Bild Vanessa Graf

Der Nussbaum begann, seine Blätter abzuwerfen.
Als es drei Kisten wurden, dann vier, fünf, sechs, schleichend immer mehr, sprach ich dich darauf an. Eine auf der Stiege, eine unter der Sitzbank in deiner Küche, eine am Balkon, Mama, was machst du, ziehst du um? Wieder der leere Blick, der Teekocher noch am Pfeifen, nichts, um die Hände zu beschäftigen, nichts, den Blick zu versenken. Ach, du, ich weiß nicht, was du meinst, es ist bloß, also, nichts. Mach dir keine Sorgen, magst du noch ein Keks? Was sind das für Kisten, fragte ich zwei Bissen später, was für Sorgen. Der Tee war fertig, du erzähltest mir vom Backen, ich erfuhr von Kilogramm Mehl und Vanillezucker und Ausstechformen, aber von den Boxen im Vorhaus, den Kisten am Flur erfuhr ich nichts. Kann ich dir helfen, probierte ich es später noch einmal. Du weißt doch, Stöbern, Aufräumen, ich liebe das. Komm, vielleicht finden wir noch was von Papa, zog ich dich vom Küchentisch in den Gang. Ich bückte mich zur nächsten Box, suchte die Öffnung, als du laut wurdest: Nein! Nein, nein, du drehtest dich auf der Stelle um, zurück in die Küche. Die Panik in deiner Stimme hallte in meinen Ohren nach wie eine Warnung: Lass mich. Ich blieb im Gang, setzte mich auf den Boden vor die Kiste. Hob sie, drehte sie in den Händen, schüttelte. Keine Öffnung, kein Geräusch, nur eine Kiste, sonst nichts. Willst du noch einen Schluck Tee, hörte ich dich vom Türrahmen fragen. Ja, nickte ich, gut, und ging zurück zu dir. Nach den Kisten fragte ich nicht mehr.

Der Abwärts­spi­rale entkommen

Im vergangenen Jahr erhielt Birgit Birnbacher den Bachmannpreis. Vor kurzem ist ihr erster Roman Ich an meiner Seite erschienen. Mit großem Respekt vor ihren Figuren stellt die Autorin auch in diesem Buch jene ins Rampenlicht, die sonst in unserer Gesellschaft ein Schattendasein fristen.

Silvana Steinbacher richtet ihren Fokus auf einige Aspekte, die sie an diesem Roman besonders überzeugt haben. Diesmal in alphabetischer Reihenfolge: von A wie Arthur bis Z wie Zufall.

Arthur: Er ist der Protagonist des Romans Ich an meiner Seite. Arthur ist ein intelligenter 22-jähriger Mann. Birnbacher steigt in sein Leben ein, als er im Jahr 2010 nach 26 Monaten im Gefängnis aus der Haft entlassen wird. Als Leserin erahne ich schnell: Zu einem „normalen“ glücklichen Leben wäre bei ihm nicht viel notwendig gewesen, etwas Zuwendung von zu Hause, ein Ort, an dem er sich aufgenommen fühlt, Geborgenheit. Innerhalb der über 270 Seiten umfassenden Geschichte wird Arthur plastischer, gewinnt an Konturen.

Börd: Ist es für einen Haftentlassenen erstrebenswert, bei einem Therapeuten wie Börd zu landen? Auch Arthur schwankt immer wieder bei der Beantwortung dieser Frage. Börd wirkt wie aus der Zeit gefallen. Alles an ihm scheint dubios, sein Lebenslauf, sein Therapieansatz, sein Aussehen, seine Wohnverhältnisse (Autowerkstatt), seine Funktion. Arthur ist eine der Testpersonen in einem Resozialisierungsprojekt. Von Börd erhält er den Auftrag, alles, was ihm zu seiner Kindheit und Jugend einfällt, aufzunehmen und an Börd weiterzuleiten. (siehe Punkt: Schwarzsprechen.)

Handlung: Das Buch bewegt sich zwischen Arthurs Geburt 1988 und 2010, dem Zeitpunkt seiner Freilassung aus der Strafjustizanstalt. Innerhalb dieses Zeitrasters jongliert Birgit Birnbacher zwischen Zeit und Ort, ohne die Handlungsfäden zu verlieren. Eine Erzählmethode, die der Autorin auch in Bezug auf das Tempo des Erzählten wichtig ist, wie sie mir in einem Interview, das wir nur per Mail führen konnten, mitteilt.

B. B.: „Ja schon. Ich persönlich mag es gerne, wenn es eher rasant dahingeht, aber auch auf Wechsel im Tempo oder Rhythmus achte ich. Wenn ein Text einen guten Sound hat, das ist schon etwas, was mir persönlich beim Lesen gut gefällt und ich freue mich, wenn jemand das auch in meinem Schreiben heraushört, weil es mir etwas wert ist.“

Arthur wächst ohne leiblichen Vater in Bischofshofen auf. Als er neun Jahre alt ist, wandert er mit seiner Mutter, seinem Stiefvater und seinem Bruder Klaus nach Andalusien aus. Mutter und Stiefvater gründen dort ein Hospiz auf Luxusniveau. Klaus verschwindet bald, der orientierungslose Teenager Arthur zermürbt sich in einer Dreiecksgeschichte, der ein tödlicher Badeunfall einer Freundin ein abruptes Ende setzt und Arthur ins emotionale Chaos stürzt. Das familiäre Auffangnetz fehlt Arthur, und so flieht er ohne jeden Plan nach Wien. Von existentiellen Nöten getrieben, lässt er sich auf eine kriminelle Handlung ein. Über zwei Jahre verbringt Arthur daraufhin im Gefängnis, dann folgen die Mühen der Resozialisierung: Therapie, Haftentlassenen-WG und vor allem Arbeitssuche. Und dabei muss Arthur wiederholt erkennen, dass er ohne lückenlose Biografie mit nachweisbaren Ausbildungs- und Berufsjahren kein effizientes Mitglied im neoliberalen Wirtschaftskreislauf sein kann.

Humor: Romane, die von Gefängnis und Resozialisierung erzählen, gibt es einige, und meistens handelt es sich um Anklagen des herrschenden Systems. Im vergangenen Jahr ist, um nur ein Buch der jüngsten Zeit zu nennen, der Roman Ich bin ein Schicksal von Rachel Kushner erschienen. Dieses Buch, das vom beinharten Gefängnisalltag in Amerika berichtet, entwickelte sich, mir nicht wirklich nachvollziehbar, zum internationalen Bestseller. Birgit Birnbacher lässt in ihrem Roman auch humoristische, skurrile Szenen zu, ohne der Geschichte ihre Ernsthaftigkeit zu nehmen. Eine gelungene Gratwanderung, die in anderen literarischen Texten nicht immer aufgeht.

B. B.: „Ich glaube, das liegt daran, dass ich immer großen Respekt vor meinen Figuren habe. Wenn Figuren einer Pointe zuliebe ausgeliefert oder in ihren Lastern und Schattenseiten vorgeführt werden, ist das nicht Meines. Wenngleich es natürlich dazugehört, auch diese Seiten zu zeigen. Aber auf das wie kommt es an, und lesbar muss es bleiben.“

Ich an meiner Seite: ist einfach ein toller Titel (siehe auch Punkt: Schwarzsprechen)

Lebenslauf von Birgit Birnbacher: Es war keineswegs abzusehen, dass Birgit Birnbacher literarisch schreiben würde. Geboren wurde sie 1985 in Schwarzach im Pongau. Nach einer Lehre arbeitete sie im Rahmen einer Entwicklungshilfe in Äthiopien und Indien. Nach Absolvierung eines Soziologiestudiums wechselte sie in die Praxis der Sozialarbeit, und diese Erfahrungen prägen auch ihre Literatur. Heute lebt sie in der Stadt Salzburg.

Lichtgestalt: Die glamouröse Lichtgestalt dieses Romans heißt Grazetta. Sie wandelt fast wie eine Märchenfigur durch dieses Buch der ansonsten harten Realitäten. Die ehemalige Schauspielerin wartet als schwerkranker Gast im andalusischen Luxushospiz auf ihren Tod und lernt dort Arthur kennen. Dann beschließt sie doch ihre letzten Tage in Wien zu verbringen und wird Arthur zur emotionalen Stütze. Es ist eine gelungene Ebene, die Birgit Birnbacher in ihre Geschichte einzieht und dieser so einen für die Leserin und den Leser unerwarteten „Fremdkörper“ hinzufügt.

Schwarzsprechen: Der Ansatz, den Arthurs unkonventioneller Therapeut entwickelt hat, lautet „Schwarzsprechen“ und so schickt Arthur regelmäßig Tonaufnahmen an Börd mit Berichten aus seinem Leben. Anhand dieser Aufnahmen entwickelt Börd eine optimale Version seines Klienten, stellt ihm ein ideales Ich zur Seite, das ihm in Konflikten helfen soll.
Dadurch baut Birgit Birnbacher zugleich geschickt eine weitere Erzählmethode ein, denn so erfährt die Leserin und der Leser auch gleich mehr über Arthurs Leben.

Sprache und Stil: Birnbachers Sprache in diesem Roman ist präzise und pointiert, in manchen Szenen gelingt es ihr, einen Drive, der an einen Stakkato-Rhythmus erinnert, zu erzeugen.
Hervorheben möchte ich vor allem auch ihre gewitzten Komposita – „Allgemeingartenmöbel“, Einfamilienhausthujenheckenidylle – und ihre Ausschmückung durch Adjektiva: „neongelber Schweißausbruch“

Strafanstalt: Erst relativ spät berichtet Birnbacher, welche Straftat Arthur überhaupt begangen hat, was zumindest ich keineswegs vermisst habe. Eher im Gegenteil. Dem brutalen Gefängnisalltag, in dem der neu Hinzugekommene nicht die besten Karten hat, streift Birnbacher nur und erhöht so die Eindringlichkeit der geschilderten Szenen. Von seinen drei Mitgefangenen in der Zelle wird Arthur gequält und verprügelt und muss die Regeln und Hierarchien unter den Häftlingen schnell kennenlernen. Den Gefängnisalltag kann er in Freiheit nicht abstreifen. Immer wieder überwältigen ihn die Flashbacks aus diesen 26 Monaten.

Zufall: Birgit Birnbacher führt in diesem Buch einen Aspekt vor Augen, der uns ohnehin allen bewusst ist, aber hier tritt er besonders markant und schmerzlich hervor. Nämlich die Frage: Wie würde unser Leben verlaufen, wenn wir schon früher abgebogen wären, uns anders entschieden hätten? Die Tatsache also, dass ein Leben unendlich viele Facetten in sich birgt und nur ein kleiner Schritt fatale Folgen nach sich ziehen kann. „Das kommt halt darauf an, wie sich der Mensch sein Schicksal erklärt. Ich persönlich bin nicht gläubig und gehöre keiner Religion an. Streng gesagt, glaube ich an das Faktische und an die Wissenschaft, was nicht heißen soll, dass ich Wunder grundsätzlich ausschließe, im Gegenteil! Das zeigt sich auch im Roman: Arthur hat Pech, aber er baut auch komplett selbstverschuldet Mist und er trifft ein paar falsche Entscheidungen. Doch Arthur verfügt über unglaubliche Kräfte, die er lernt, zu seinen Gunsten zu mobilisieren. Er enthebt sich aus der Abwärtsspirale, die sein Lebenslauf vorgibt. So wird er bereit für Wunder, auch wenn er nicht an sie glaubt. Letztlich passiert ihm dann ja auch ein kleines: Er knüpft dort an, wo er eigentlich alles hinter sich lassen wollte. Aber das steht alles im Buch.“

P. S.: Nur fünf Tage nachdem Birgit Birnbachers Roman im Handel war, mussten die Buchhandlungen aufgrund der Corona-Krise schließen und viele ihrer Lesungen wurden storniert. „Durch den Bachmannpreis habe ich eine Reserve und nichts zu jammern. Meine Verdienstausfälle durch Corona sind erst einmal enorm gewesen, aber viele der Lesungen werden wohl verschoben und ich habe großes Glück, weil mein Buch, wahrscheinlich vor allem durch den Bachmannpreis, wahrgenommen wird. Ich mache das Beste daraus. Abgesehen davon komme ich gut zurecht, ich meine: Während der letzten Jahre habe ich ein Buch geschrieben, Sommer wie Winter, bei jedem Wetter und in jedem Zustand. Dass ich jetzt noch ein halbes Jahr dranhänge und wieder nur zuhause bin, nutze ich dazu, gleich weiter zu schreiben. Das wäre während einer Lesereise nicht möglich gewesen.“

 

Birgit Birnbacher
Ich an meiner Seite
Zsolnay Verlag, Wien
272 Seiten