Abhilfe bei Frauenzeitschriften und Patriarchat

Sarah Held fühlt sich grundsätzlich so gar nicht abgeholt von den üblichen, so genannten Frauenzeitschriften. Nachdem sie ausführlich berichtet warum, empfiehlt sie als lokalen Tipp für die Kennerin* der Materie oder für alle, die es werden wollen, das Gloss-Magazin.

Gloss Cover. Bild Gloss/Pangea

Ich hasse sogenannte Frauenzeitschriften, weil sie mir erzählen wollen, was sogenannte Frauen- und Männerthemen sind. Frauenzeitschrift, Frauenthemen – Frauen, Männer, sonst wird da niemand repräsentiert. Es ist das Patriarchat in der Nussschale, gezeigt am Beispiel von sogenannten Frauenthemen und der damit automatisch verbundenen Angst des Cis-Mannes, auch im – natürlich geglaubten – Habitat Zeitschriftenauslage ein Stück abtreten zu müssen.
Gern gehe ich in die Trafik oder in den Bahnhof-Zeitschriftenladen, wo mich innerlich immer so eine schöne, wohlige Hasstirade überkommt, die meinen ganzen Körper durchströmt, weil das Angebot so geil ist. Da fühle ich mich abgeholt und meine Interessen befriedigt. Das Angebot changiert zwischen Selbsttuning, Autotuning, Familientuning, Haustiertuning, Jugend-Tuning, was weiß ich denn, was es noch für Tunings gibt, Royals und noch viel abgründigeren Sachen. Ja, abgründig, so fühlt sich ein Blick in die Zeitschriftenauslagen an. Zeig mir deine hässliche Fratze, Mainstreamgesellschaft, materialisier dich in Form von Brigitte oder Blonde.
Manchmal, also ganz selten, frage ich mich, warum ich so angepisst bin. Bitte nicht falsch verstehen, es ist nicht so, dass ich grundsätzlich grantig oder griesgrämig drauf wäre. Ganz im Gegenteil, ich bin so voll die Lustige, aber trotzdem bin ich randvoll mit Hass. Nein, nicht die Art Hass, die Leute dazu bringt, andere wegen ihrer Hautfarbe zu hassen, oder die Sorte, die Leute dazu bringt, andere wegen ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Begierden umzubringen. Mein ganz persönlicher und privater Hass besteht aus mehreren Schichten, zusammengesetzt sind diese von unterschiedlicher Dichte und Konsistenz. Quasi ein über Jahre gereiftes und gewachsenes Hasskonglomerat, das sich mit der Zielgenauigkeit einer Scharfschützin auf das Patriarchat richtet.
Wenn ich die Zeitschriftenregale so taxiere, frage ich mich: Wo sind Hefte in denen (feministische) Frauen, Femmes, Non-Binaries sich ungehemmt selber feiern können? Sind sie etwa unsichtbar in dem Wirrwarr aus gestählten Photoshop-Brüsten, öligen Motoren, den Diättipps von Prinzessin Herta von Absurdistan oder dem dargestellten nacktem/rohen Fleisch!? Es wäre ja einfach zu sagen: „Die übersieht man halt leicht!“ Aber das stimmt nicht, denn sie sind einfach so gut wie nicht vorhanden. Im Zeitschriftenregal genauso wenig repräsentiert und selbstverständlich wie in der Mehrheitsgesellschaft. In der gutsortierten Trafik oder dem Bahnhofskiosk eures Vertrauens, und damit meine in den W I R K L I C H gut sortierten, finden sich das Missy Magazin oder die Anschläge, aber dann ist auch schon Schluss mit dem Feminist-Content. Das ist doch zum Kotzen, ja genau so richtig zum Kotzen. Wo sind die richtigen Frauen*themen wie Kunst, Revolution, Subversion, Latex, Schallplatten, Kulturkritik, Politik machen, Spandex, Bodypositivity oder Eisenwaren?
Das bringt mich zurück zu meiner Hass­tirade. Wie es sich für eine ordentliche patriarchale Haltung gehört, haben die Typen doch eh bloß Angst, dass in Zukunft die Regale am Bahnhofskiosk, Premiumformate wie Beef (ja, das heißt wirklich so), BusinessPunk oder öde Männerbefindlichkeitsblätter, wie die Men’s Health zusammenrücken müssten. (Frauenzeitschriften gehören da auch dazu, die möchte ich aber nicht auch noch aufzählen.) In meiner Vorstellung läuft das dann ungefähr so: Oh nein, da kommt ein feministisches Magazin, wo sollen denn nun all die Viagra-Absatzförderungsmaßnahmen in Form von übersexualisierten Frauenkörpern, die an schlabberpenisbesitzende Herren mit kreisrundem Haarausfall adressiert sind hin!? Es geht hier nicht nur um Regale, sondern um ganze Läden voll mit Schundheftchen, die zwischen Haarimplantaten, Penisprothesen aka fette Autos und monströsen Grilllandschaften oszillieren. Das Programm wird eben dann unter anderem mit sogenannten Frauenthemen-Heften aufgepeppt, und da geht’s um Diättipps, Hetenprobleme oder Stylingtrends, alles auch schon wieder binär und stereotyp aus patriarchaler Perspektive. Visuell fühlt es sich an, als würde ich von allen Seiten mit Scheiße beworfen werden. Nun gut, ich verliere mich in meinem eigenen Rant. Was sind denn nun diese ominösen sogenannten Frauenthemen? Warum haben es diese schäbigen Blätter eigentlich scheinbar so einfach und werden von der Öffentlichkeit so unkritisch konsumiert? Eh klar, ne rhetorische Frage, ich habe ja schon mal was von patriarchal-kapitalistischen Strukturen gehört.
Was ist nun los, wenn ich keinen Bock habe zwischen einem Gros aus Kacke und Scheiße, bekannt als „Fachzeitschrift“, zu wählen? Nein, ich meine nicht, irgendeinen geilen Shit online zu bestellen, der für die örtliche Kundschaft nicht zugänglich ist, ich meine auch nicht irgendein zusammenkopiertes Cut’n’Paste-Zine. Oh, da fällt mir ein, ich habe bisher die sogenannten Musikzeitschriften „vergessen“, sowas wie die Intro (haha!), das Ox, peinliche Metal-Hefte oder so Dad-Rock-Schinken wie den Rolling Stone, ich habe es so satt. Diese ganzen Dudes schreiben Dude-Sachen für Dudes. Letztlich ist es im Zeitschriftenregal genauso wie in den meisten gesellschaftlichen Räumen, Dudes feiern sich ab – Zeitschrift gewordene Langeweile.
Worauf ich raus will, wenn feministische Themen doch schon so hip und kapitalisiert sind, dann bitte aber echt mehr! Gerne auch die „sperrigen“, nicht so richtig vermarktbaren Themen wie Frauen*morde, sexualisierte Gewalt oder Migration/ Flucht. Es wäre super, wenn ich im Laden zwischen mehr als zwei feministischen Magazinen auswählen könnte. Und mit diesem Wunsch wechsle ich zu positiven Ausnahmen, zu einem in Linz erscheinenden Magazin: Als lokalen Tipp für die Kennerin* der Materie, oder alle, die es werden wollen, empfehle ich das Gloss-Magazin. Es wird von Pangea – Werkstatt der Kulturen der Welt geframed und ein großes Team aus unterschiedlichen Leuten mit verschiedenen Backgrounds basteln an den Ausgaben mit. Basteln, auch schon wieder so’n stigmatisiertes sogenanntes Frauenthema, aber was weiß denn ich schon, ich bin ja nur eine kleine Feministin. Zurück zum Thema: Gloss erscheint nicht regelmäßig, kommt aber immer mit einem neuen Themenschwerpunkt raus, der feministisch gerahmt ist. Die Ausgabe Gloss IV, beispielsweise, verhandelte feministische Sichtweisen auf Medien und Gesellschaft. Neben vielen wechselnden Akteur*innen trägt in fast allen bisherigen Ausgaben der Verein Maiz etwas bei. Es macht Spaß, Artikel über die Dekonstruktion von Werbebildsprachen zu lesen und Nachahmungen von Models und Werbeposen aus Alltagsperspektive unter Nutzungsaspekten zu sehen. Die Hefte liefern eine interessante Mischung aus gar nicht so spaßigen bis sehr unterhaltsamen Inhalten an. Gut, dass dieses Jahr Gloss V erscheint, es wird sich mit der Themenwelt Krise aus der Perspektive von Frauen* und Mädchen* auseinandersetzen: „Das GLOSS-Magazin erscheint im Jahr 2020 in seiner fünften Ausgabe und widmet sich unter dem Titel Frauen*stimmen dem Thema Krisen aus feministisch-diskursiver Perspektive. Um dem Gefühl einer wachsenden Unzufriedenheit, Ohnmacht und dem Nichtstun in den gegenwärtig spürbaren Krisen entgegenzuwirken, baut diese Ausgabe auf bestehendes Wissen auf und schafft ein Sprachrohr für ein Sichaufbegehren und Die-eigene-Stimme-Finden“ (Vgl. Call für die 5. Ausgabe: pangea.at/de/programm/gloss-vol-v). Was Gloss auszeichnet, ist, dass die Betreiberinnen partizipativ und mit einem festen, gleichbleibenden Team an Beitragenden zusammenarbeiten. Das bringt viele Leute und Ideen zusammen und es wird auch in der kommenden Ausgabe sicher wieder ein buntes Potpourri aus Frauen*themen im Heft versammelt. Laut werden, Teil vom Diskurs sein, sich der Öffentlichkeit aus der eigenen Position zeigen und damit die eigene Perspektive auf Gesellschaft sichtbar machen, das ist die Devise von Gloss. In der nächsten Ausgabe werden auch wieder (feministische) Initiativen, Vereine und Einzelpersonen ihre ganz individuellen Schwerpunkte und themenbezogene Haltungen darstellen. Daneben wird es auch wieder eine Menge an künstlerisch-gestalterischen Werken geben, die das Heft so lebhaft auszeichnen. Zudem gibt es auch immer verschiedene Ansätze aus Kunst, Kultur und politische Themen. Besonders schön ist, dass sich Feminismen im 21. Jahrhundert auch dahingehend entwickelt haben, sich nicht mehr so stark über die Negierung, bisweilen Ablehnung von Femininität und stattdessen über Aneignung von vermeintlicher Maskulinität zu definieren. Gloss, Missy und Anschläge zeigen, dass durch die Genderbrille nicht nur Butler, Truman, hooks, Anzaldua, Davis und so gelesen werden können, sondern darunter auch ein fesches Make-Up getragen werden kann.

 

Alle vier Ausgaben des unregelmäßig seit 2013 erscheinenden Gloss-Magazines: pangea.at/de/gloss-magazine

GLOSS Vol. V wird diesen September erscheinen und im selben Monat bei einer Release-Feier präsentiert. Genaues Datum: Watch out, pangea.at/de

„… nicht den Zusammenhang mit dem Leben verlieren“

Die Referentin bringt seit mehreren Heften eine Serie von Porträts über frühe Anarchist_innen und den Anarchismus als eine der ersten sozialen Bewegungen überhaupt. Über die 1882 geborene Schneiderin und Anarchistin Vilma Ritschel schreiben in dieser Ausgabe Peter Haumer und Andreas Gautsch.

Vilma Ritschel, vom Gerichtszeichner porträtiert. Foto Open Commons

Im Dezember 1930 schrieb Leopold Spitzegger1 unter seinem Pseudonym L. Krafft-Wien im Fanal – Organ der Anarchistischen Vereinigung, herausgegeben von Erich Mühsam2, dass der Anarchismus in Österreich im letzten Halbjahr über ansehnliche Erfolge berichten könne. „Der angekündigte Zusam­menschluß der Opposition gegen Klosterneuburg (gemeint ist Rudolf Großmann3, der in Klosterneuburg lebte), der der FANAL-Richtung nahestehenden Genossen, ist zustande gekommen. Ein Monatsblatt „Contra“ (Zuschriften und Bestellungen an Vilma Ritschel, Wien X, Rotenhofgasse 106, bisher 7 Hefte) erscheint vorläufig im Vervielfältigungsverfahren und bringt beachtenswerte Beiträge.“4

Wer war diese Vilma Ritschel, die Eigentümerin, Herausgeberin und Verlegerin der anarchistischen Zeitschrift Contra war? Die mit einer Gruppe Gleichgesinnter diese „neue Monatsschrift der anarchistischen Opposition in Österreich welche jeder antiautoritären Richtung dienen will“5 im ganzen deutschsprachigen Raum vertrieb?

Vilma Steinacher wurde am 6. Oktober 1882 in Wien als uneheliches Kind geboren, wuchs dann aber im Heimatort ihrer Mutter, in Reichenau an der Rax, auf. Später erzählte sie über sich: „Die Leute sagten, ich sei überspannt. Ich habe mir auch angewöhnt, Märchen zu erzählen, und war jähzornig.“6 Sie bezeichnete sich selbst als sehr empfindsam und wissbegierig. Nach dem Besuch der Volksschule erlernte sie das Schneider_innenhandwerk.

Im August 1902 heiratete Vilma in Stockerau den Ulanen-Wachtmeister und späteren Privatbeamten Gustav Ritschel. Mit ihm hatte sie den bereits im Februar 1902 in Stockerau geborenen Sohn Gustav Steinacher, legitimierter Ritschel. Als Vilma Ritschel ihn „unter dem Herzen trug, schoß auf sie ihr Stiefvater, aus Zorn über die Tochter, die sich den Ulanenwachtmeister Ritschel in den Kopf gesetzt hatte“, heißt es dann mehr als 20 Jahre später im Wiener Tagblatt, das am 17. Mai 1924 über eine handgreifliche Auseinandersetzung mit tödlichem Ausgang berichtete, am dem dieser Sohn Gustav beteiligt war – dazu aber weiter unten. Jedenfalls hatte sie mit ihrem Mann noch einen zweiten Sohn, Alfred, der jedoch mit fünf an Masern verstarb.

1904 übersiedelte Vilma Ritschel mit ihrer Familie nach Wien, wo sie als Hausnäherin tätig war. Sie wohnte zunächst in Wien-Erdberg, musste aber nach dem frühen Tod ihres Ehemannes nach Wien-Favoriten, Rotenhofgasse 106 übersiedeln, wo sie in unmittelbarer Nähe auch einen Schrebergarten in der Favoritenstraße besaß. Ihr Mann verstarb 1910 im 37. Lebensjahre an Schlagadernerweiterung, was auf seinen früheren Alkoholmissbrauch zurückgeführt wurde. Vilmas Sohn Gustav war damals acht Jahre alt. Als sie eine Stellung annehmen wollte, musste sie ihn zu seiner Großmutter Marie Grabner, die Gattin eines Eisendrehers war, bringen. Während der Kriegszeit kam er wieder zur Mutter nach Hause. Mit vierzehn Jahren musste Gustav eine Mechanikerlehre beginnen, obwohl er studieren wollte.
Gustav Ritschel hatte ein „abenteuerliches Proletarierschicksal“7. Er litt an offener Tuberkulose, und trotzdem war er immer wieder auf der Walz in Deutschland, Ungarn, Rumänien und Italien. Im Sommer 1919 ging Gustav Ritschel zur Roten Armee nach Ungarn,8 kurze Zeit darauf kehrte er wieder nach Wien zurück. Er nahm an den Betriebsbesetzungen in Italien 1920 teil – er arbeitete 6 Monate lang in einem Fiatwerk in Brescia in der Lombardei – und infolge des gescheiterten Generalstreiks im März 1921 ging er nach Wien zurück. Er bezeichnete sich selbst als Sozialisten, der die Russische Revolution verteidigte.

Vilma Ritschel weilte seit August 1922 wieder einmal als Hausnäherin und Wäscherin beruflich am Semmering. Während dieser Zeit kam es in ihrer Wohnung in der Rotenhofgasse zu einer tödlichen Auseinandersetzung ihres Sohnes mit dessen Untermieter, dem Studenten Robert Staudacher aus Bozen. Nach Aussage von Gustav stritten sie sich beim Schachspiel über die Russische Revolution, die der Student verurteilte, Gustav hingegen verteidigte. Staudacher, der Mitglied der Studentenverbindung „Eisen“ war, verhöhnte Gustav und ging auf ihn los, der ihn daraufhin mit einem Gewehrkolben erschlug. Das ist – kurz zusammengefasst – die Version von Gustav Ritschel. Die Geschworenen jedoch befanden ihn einstimmig schuldig einen meuchlerischen Raubmord begangen zu haben. Gustav Ritschel wurde am 16. Mai 1924 zu 18 Jahren schweren Kerkers verurteilt.

Vilma Ritschel trat bei dem Prozess gegen ihren Sohn als Zeugin auf. Im Prozessbericht des Neuen 8 Uhr Blattes wurde sie als eine nervöse Frau beschrieben und als „eine schlanke, zarte Frauengestalt. Der hübsche Kopf ist von blondem Haar umrahmt. Mutter und Sohn sehen sich sehr ähnlich. Sie betont auch in ihrer Aussage mehrmals, daß er so wie sie sehr empfindsam sei.“

Mitte der 1920er Jahre stieß Vilma Ritschel zur anarchistischen Bewegung. Die dominante Persönlichkeit zu dieser Zeit war der bereits erwähnte Pierre Ramus. „Sein“ Bund herrschaftsloser Sozialisten hatte nach Eigenangaben zu dieser Zeit über 4.000 Mitglieder. Ramus rigorose Haltung in der Gewaltfrage führte jedoch zu Konflikten innerhalb der anarchistischen Bewegung und schließlich zur Gründung der oppositionellen Gruppierung Contra. Diese war gegen einen rein gewaltfreien Anarchismus und gegen die herrschende gesellschaftliche Ordnung. Vilma Ritschel dürfte eine der treibenden Kräfte gewesen sein, zumindest war sie neben dem Redakteur Oskar Grünwald die Hauptverantwortliche für die gleichnamige Zeitschrift. Die erste Ausgabe der Contra erschien im April 1930, die letzte im September 1931. In den Beiträgen wurde sowohl die Situation in Österreich als auch in Deutschland diskutiert, hinzu kamen historische und theoretische Artikel. Als Autor_innen traten u. a. der Vagabund Artur Streiter, der Schriftsteller Rudolf Geist in Erscheinung, es gab auch übersetzte Artikel wie den von der japanischen Feministin Takamure Itsue.
Ritschel verlegte zudem die Schriftenreihe Propaganda Broschüre. Allerdings erschien nur ein Heft mit zwei Aufsätzen des französischen Anarchisten Élisée Reclus. Wie die Zeitschrift wurde auch die Broschüre auf einer Schreibmaschine getippt und mit einem Rotationsvervielfältiger von Ritschel selbst hergestellt. Lediglich die letzte Ausgabe der Contra wurde gedruckt, teilweise sogar in Farbe, was für einen größeren finanziellen Spielraum der Gruppe spricht. Da die letzte Nummer nicht als solche deklariert ist, dürfte das Ende der Zeitschrift so nicht geplant gewesen sein. Vilma Ritschel selbst verfasste insgesamt drei Artikel für die Contra.

Die Lebenssituation muss für Ritschel und die anderen der Gruppe schwierig gewesen sein. Die Wirtschaftskrise hatte bereits voll eingesetzt, die Arbeitslosigkeit war enorm, Banken gingen pleite und wurden gerettet, während der Staat an allen Ecken und Enden sparte. Dieses bis heute praktizierte Vorgehen kommentierte Ritschel im Artikel Rauf ma euer Gnaden, der in der 2. Nummer 1930 erschien: „Seitdem in Österreich der Staat saniert wurde, geht es begreiflicherweise dem Volke schlecht.“ Für die politisch, trotz Zugewinne bei den Wahlen in die Defensive geratene Sozialdemokratie hatte sie nur wenig übrig. Trotz ihrer Kampfrhetorik, so Ritschels Kritik, „wünscht sie gar nichts mehr, jetzt will sie nur hüten und bewahren, gegen etwaige Angriffe verteidigen. Damit darf sich eine Arbeiterbewegung nicht begnügen.“ Aber auch die anarchistische Bewegung hatte ihre Hochphase schon hinter sich und nur wenig Einfluss auf die Arbeiter_innenschaft. Daher wurde versucht, in der sich organisierenden Arbeitslosenbewegung an Einfluss zu gewinnen.

Im Artikel Vernunft und Herz in der Arbeitslosenbewegung vom Juni 1931 schrieb Ritschel, die sich als Revolutionärin verstand, über den Zwiespalt zwischen den partikularen, reformistischen Forderungen der Arbeitslosen und dem Bewusstsein, dass es einer radikalen und umfassenden gesellschaftlichen Veränderung bedarf. Ritschel sprach sich gegen eine instrumentalisierende Haltung revolutionärer Kräfte aus. Nur zu gern sehen diese „in den Massen der Notleidenden den Brennpunkt, von dem aus die ganze heutige Ordnung in Brand gesetzt werden kann“. Sie plädierte für Solidarität. „Hunger tut weh. Helfen und unterstützen wir die Anstrengungen der Arbeitslosen um nicht den Zusammenhang mit dem Leben zu verlieren.“ Gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten Hans Detter engagierte sie sich in dem 1931 gegründeten „Selbsthilfeverband der Arbeitslosen Österreichs“.

Selbst arbeitslos geworden zog Vilma Ritschel 1934 in ein Gartenhaus in Wien-Donaustadt, wo sie sich als Subsistenzbäuerin betätigte. Aus ihrem weiteren Leben ist wenig bekannt. Sie überlebte die NS-Zeit und es gibt Hinweise, dass sie sich auch nach dem Krieg in den kleinen anarchistischen Kreisen bewegt hat. Am 26. 12. 1960 verstarb sie in Wien.

 

1 Leopold Spitzegger (24. 12. 1895 – 15. 11. 1957; Pseudonyme: Leopold Egger, L. Krafft-Wien) war Bibliothekar, anarchistischer Publizist und Dichter.

2 Erich Kurt Mühsam war ein anarchistischer deutscher Schriftsteller, Publizist und Antimilitarist. Er war 1919 an der Ausrufung der Münchner Räterepublik beteiligt, wofür er zu 15 Jahren Festungshaft verurteilt wurde, aus der er nach 5 Jahren freikam. 3 Rudolf Großmann (15. 4. 1882 – 27. 5. 1942; Pseudonym: Pierre Ramus) war ein österreichischer Anarchist und Anhänger von Leo Tolstoi.

4 Fanal, Jg. 5, Nr. 3, Dezember 1930, S. 62.

5 Fanal, Jg. 5, Nr. 10, Juli 1931.

6 Arbeiter-Zeitung, 17. 5. 1924

7 Die Stunde, 16. 5. 1924, S. 2.

8 Die Ungarische Räterepublik wurde am 21. 3. 1919 ausgerufen und bestand bis 1. 8. 1919. Mehr als 1200 Österreicher schlossen sich der ungarischen Roten Armee an, um die Räterepublik zu verteidigen.

Die Serie in der Referentin ist auf Anregung von Andreas Gautsch, bzw. der Gruppe Anarchismusforschung entstanden.

Einiges über Hans Eichhorn

Hans Eichhorn ist im Februar diesen Jahres verstorben. Erwin Einzinger über den Schriftsteller.

Bild Nachlass Hans Eichhorn; OÖ. Literaturarchiv/Adalbert-Stifter-Institut

Falls Sie selber schreiben oder sich auf andere Weise kreativ oder erfinderisch betätigen – und dies trifft vielleicht auf etliche derer zu, die vorliegende Kunstzeitung gern lesen –, darf ich als Möglichkeitsspiel gleich zum Einstieg diese Frage stellen: Kennen Sie jemanden, mit dem oder der zusammen Sie sich vorstellen könnten, auf irgendeinem künstlerischen Feld Gemeinschaftsarbeiten zu fabrizieren und vielleicht sogar ein Buch in Koproduktion zu schreiben? (Es wäre freilich zu bedenken, wie kompliziert und egozentrisch und in sich versponnen nicht wenige aus unserer Branche angeblich sind …) Hans Eichhorn habe ich in Rauris vor gut sechsunddreißig Jahren zum ersten Mal getroffen. Als wir dann versuchsweise schließlich auch einmal zusammen etwas produzieren wollten, waren wir seit mehr als zwei Jahrzehnten Freunde. Der Impuls dazu kam, wie ich mich erinnere, damals von ihm, es ging um Malerei. Er rief mich eines Morgens an, er habe gerade alles vorbereitet, ich solle an den Attersee kommen, um das schon mehrmals vage angedachte Unternehmen einfach einmal anzugehen. Und am Ende dieses Tages hatten wir so zirka zwanzig wilde Bilder auf Karton, die meisten im Format 100 x 70 cm. Die Idee, etwas Vergleichbares dann auch mit Literatur zu wagen, lag für uns beide nahe. Hans hatte eines Tages einen Plan für ein Theaterstück und ließ mir für meinen Anteil völlig freie Hand, gab mir nur Hinweise zu den Figuren und zum groben Handlungsplan, und danach schrieben wir drauflos, jeder auf bestimmte Kernaspekte fokussiert. Ich hatte durch die vielen Dramolette, die er bereits verfaßt hatte, längst Geschmack daran gefunden, mich auch an Dialogen zu versuchen, und in unserem Konzept gab es genügend Raum für Ungewöhnliches und echten Irrwitz, obwohl ich immer spürte, daß Hans in etwa wußte, wohin das Stück sich letztlich zu entwickeln hatte.
Das nächste war dann ein erzählendes Projekt, Post aus Palermo, diesmal machte ich den Anfang. Ausschnitte daraus wurden dann später in der Grazer Zeitschrift manuskripte sowie in einer Sonderausgabe der Linzer Rampe abgedruckt. (Mit Schmunzeln und ein wenig Wehmut stieß ich im Verlauf meiner Lektüre seines umfangreichsten und vorletzten Buchs, des imponierenden Romans FAST das Große Haus, der im Vorjahr erst erschienen ist, auf eine Stelle, wo er einmal kurz eine Figur aus diesem längst abgeschlossenen gemeinsamen Projekt vorkommen läßt, eine extreme Dame aus dem geheimnisvollen Graubündner Landschaftstheater …)
Unser ebenfalls in Zusammenarbeit geschriebenes Langgedicht Herbstsonate ist dann als einziges unserer Gemeinschaftsprojekte auch als Buch erschienen, in der edition sommerfrische im Rahmen der Bibliothek der Provinz, bis zur Fertigstellung sorgfältig betreut vom Fotokünstler Klaus Costadedoi, mit dem zusammen Hans bereits zuvor mehrere Prachtbände mit Fotos aus der Attersee-Region in Kombination mit Kurzgedichten realisiert hatte.

Unsere erste Begegnung fand also 1984 in Rauris statt, ich war als Preisträger eingeladen, hatte bereits zuvor als Juror für einen parallel zu vergebenden Förderpreis einen anonym eingereichten Prosatext mit dem Titel Die Keuschheitsecke als eindeutigen Favorit auf meiner Liste gehabt. Der Förderpreis ging zwar, weil die beiden Mitjuroren den Beitrag eines anderen Autors, von dem ich nie mehr etwas gehört habe, noch besser fanden, nicht an den uns damals unbekannten Hans Eichhorn aus Attersee, aber er erhielt ein Arbeitsstipendium, und so fing alles an.
Hans lebte im elterlichen Fischerhaus am See, hatte in Salzburg kurze Zeit ein Studium betrieben, das er aber bald schon aufgab, um sich intensiv der Literatur und auch der Fischerei zu widmen. Es dauerte nach Rauris allerdings fast ein Jahrzehnt, bis dann sein erstes Buch im Residenz Verlag erschien, der Gedichtband Das Zimmer als voller Bauch, mit einem blauen Fisch am Boden eines leeren Zimmers auf dem von Walter Pichler stammenden Umschlag. Von da an kamen in erstaunlicher Geschwindigkeit die weiteren Werke heraus, etwa der Roman Circus Wols, eine großartige Studie zu Leben und Werk des einem breiteren Publikum leider immer noch wenig bekannten bildenden Künstlers Otto Wolfgang Schulze, der seinen Namen zu Wols verkürzt hatte und dessen kleinformatige Bilder von hoher Expressivität Hans Eichhorn stets geschätzt hat. Zugleich liefert der Roman beinahe tagebuchartige Protokolle aus dem Alltag des Schreibenden, wobei immer wieder erstaunliche Verbindungen zu Biografie und Bildern des Künstlers Wols hergestellt werden.

In seiner eigenen bildnerischen Tätigkeit entwickelte Hans ziemlich bald eine ganz spezielle Arbeitsweise, indem er vorwiegend auf Abfallmaterial produzierte, etwa leere Milchpackungen auf der beschichteten Seite übermalte, wobei er für sein Malen weniger den Pinsel nutzte als die Spachtel oder seine Finger. Auch ließ er stets dem Zufall großen Raum und integrierte manches aus dem Hintergrund von Schachteln und Kartons jeglicher Art in das sich rasch entwickelnde Tableau, das kaum Figuratives lieferte, sondern die Kraft der Farben wirken ließ.
Viele seiner Bildschöpfungen verwendete er früh als Postkarten, die er über all die Jahre an die Freunde und Kollegen schickte. Mit dem Autor und bildenden Künstler Richard Wall hatte er schon 1996 einen regelmäßigen Bildkartenaustausch begonnen, ein Projekt, das später ausschnittsweise auch im Stifterhaus besichtigt werden konnte, in einer höchst originellen Ausstellung, betitelt Grüße an das russische Volk.
Einen guten Eindruck von seiner bildnerischen Arbeit kann man allerdings auch im bereits erwähnten Roman FAST das Große Haus bekommen, erschienen in der Bibliothek der Provinz und mit zahlreichen Farbreproduktionen seiner Bilder illustriert. Darin heißt es auf Seite 567 einmal: Es gab ja einen ungeheuren Fundus an gelebten und erlebten Eindrücken, die völlig unkontrolliert an die Oberfläche schwapp­ten und wieder verschwanden. Dieser Satz bezieht sich zwar in erster Linie auf das Schreiben, aber auch an seinen Bildern kann man sehen, daß die Arbeit mit gelebten und erlebten Eindrücken stets das Flüchtige und Fließende betont.
Als dieses umfangreichste seiner Bücher wie ein abschließender Meilenstein erschien, hatte Hans Eichhorn nicht nur, aber vor allem in der Literatur längst ein beeindruckend vielschichtiges Werk aus etwa dreißig Büchern geschaffen, die in den beiden Verlagen Residenz und Bibliothek der Provinz publiziert wurden. Der letztgenannte Verlag kümmerte sich neben zahlreichen Prosa- und Gedichtbänden auch um seine einzigartigen Dramolette, Szenen und Mikrogramme. Aber daneben gab es über die Jahre auch unzählige verstreute Veröffentlichungen in den verschiedensten Zeitschriften, und wer sich diesbezüglich einen Überblick verschaffen will, kann das anhand einer Sonderausgabe der in Linz erscheinenden Zeitschrift Die Rampe tun, die ein ausführliches Porträt von Hans Eichhorn und zahlreiche Beiträge zu seiner Arbeit enthält und von der Literaturwissenschaftlerin Alexandra Millner herausgegeben worden ist.

Noch einmal ein Blick zurück: Nachdem seine Frau Elisabeth an der Handelsakademie in Kirchdorf zu unterrichten begonnen hatte, verlagerte sich das Leben von Hans Eichhorn ins Kremstal, wo die Kinder Rosa, Johannes und Andreas dann auch Kindergarten und die Schulen besuchten. Zum Fischen fuhr er je nach Jahreszeit und Fangsaison regelmäßig ins Elternhaus am See, aber einen großen Teil der Zeit war er fortan in Kirchdorf, sodaß wir regelmäßige gemeinsame Spaziergänge in den Wäldern am Wienerweg in Micheldorf vereinbarten, bei denen wir uns unter anderem auch viel über unsere jeweiligen Arbeitsvorhaben unterhielten.
Hans betrieb in seinen Büchern eine intensive Forschungsarbeit mit dem Material Sprache, ausgehend von einem Einzelsatz versuchte er zu erkunden, wohin Spontanbeobachtung und Assoziationsprozesse ihn trieben, ohne daß er dazu die Konstruktion erfundener Geschichten zu Hilfe nehmen wollte. Jeder neue Anlauf zu einem Projekt hatte den deutlichen Charakter eines Experiments, bei dem sehr vieles möglich war und sich die Form erst nach und nach ergab. Das Prinzip der Wiederholung und des Schürfens und Vertiefens spielt dabei vor allem in der Prosa eine Rolle, während in den Gedichten meist imponierende Augenblicksnotate und Impressionen wie in Großaufnahme präsentiert werden.

Die meisten seiner Bücher sind zum Glück auch nach wie vor erhältlich, vor allem deshalb, weil sein langjähriger Verleger Richard Pils eine in dieser Art vermutlich einzigartige Lagermöglichkeit in den Räumlichkeiten von Schloß Raabs im Waldviertel besitzt. Unter der schon erwähnten und ohnehin weithin bekannten Verlagsadresse Bibliothek der Provinz sind sie weiter lieferbar.
Das letzte Buch – ein Prosaband mit dem Titel Ungeboren – war soeben erschienen, als meine Frau und ich den schon seit langer Zeit schwer Kranken in der Palliativstation des Vöcklabrucker Krankenhauses noch einmal besuchen konnten. Es ist dies eine um Entstehen und Vergehen kreisende Studie mit zarten Illustrationen aus der auf Repetition und minimale Variationen setzenden Zeichenpraxis von Tochter Rosa. Ein nächstes Manuskript, hat seine Frau uns einen Tag nach seinem Tod erzählt, hatte er noch auf dem Sterbebett weitgehend redigiert. Auch diese ungebrochene Schaffensenergie, die bis zuletzt so typisch war für ihn, haben nicht wenige seiner Kollegen stets an ihm bewundert.

Für seine literarische Arbeit hat er zahlreiche Preise erhalten, neben dem manuskripte-Preis des Landes Steiermark auch den Landeskulturpreis Oberösterreich und zuletzt in Salzburg den renommierten Georg-Trakl-Preis für Lyrik, ehe er zwei Monate vor seinem Tod noch den Heinrich-Gleißner-Preis in Linz verliehen bekam.
Schon nach der Veröffentlichung seines ersten Gedichtbands hatte er Einladungen zu Werkstattgesprächen im berühmten Lessinghaus in Wolfenbüttel und einen Arbeitsaufenthalt in Amsterdam erhalten.

Seine bildnerischen Arbeiten wurden immer öfter in Ausstellungen präsentiert, hervorzuheben wäre dabei auch eine außergewöhnliche Aktion, bei der er mit dem Künstler Klaus Krobath zusammenarbeitete und Leinwände einige Wochen lang in den See versenkte und die Mikroorganismen und Algen ihre Arbeit verrichten ließ. Die Ergebnisse wurden im Jahr 2000 im Linzer Stifterhaus präsentiert, wo zahlreiche Lesungen aus seinen fast im Jahresrhythmus publizierten Büchern stattfanden und auch insofern als einzigartig in Erinnerung bleiben werden, als er stets geräucherte Fische aus dem Attersee für ein willkommenes Büffet mitbrachte.

Vor ein paar Jahren hat mir Hans leicht amüsiert erzählt, welches Erlebnis dazu führte, daß eines Tages pausenlos und häufiger als je zuvor sein Telefon geläutet hat. Es hatte nichts mit seiner Tätigkeit als Autor oder Maler zu tun, aber die Zeitungs- und die Rundfunkleute, die sich meldeten, wollten alle davon berichten, daß er auf einer seiner Fahrten auf den See nach zwanzig Jahren und aus neunzig Metern Tiefe zufällig seine eigene Geldbörse geborgen hatte. Das Ankerseil des Fischerboots hatte sich um den dreizackigen Stahlanker gewickelt, daß dabei ein Knäuel entstand, und darin fand sich die Geldbörse samt Bankomat-Karte und rund 500 Schilling Bargeld. Keines seiner Bücher hat offenbar so viele Journalisten zur gleichen Zeit interessiert, die traditionellerweise meist, wenn sie über ihn und seine Arbeiten berichteten, zu dem naheliegenden Vergleichsfeld griffen, daß er als der vermutlich einzige bekannte Schriftsteller, der zugleich Fischer war, bei seiner künstlerischen Arbeit ebenfalls die Netze auswarf, nur eben diesmal auf der Suche nach Worten oder Bildern aus seinem Bewußtseinsraum.
In einem Filmbeitrag über Marseille war zufällig unlängst ein Fischer zu sehen, der viele Jahre nach dem Absturz des Schriftstellers und Fliegers Antoine de Saint-Exupéry vor der südfranzösischen Küste dessen Armbanduhr mit eingraviertem Namen aus der Tiefe gezogen hat.

Nicht erst, seit Hans nicht mehr am Leben ist, lese ich immer wieder in dem einen oder anderen seiner Bücher, wobei ich eine besondere Vorliebe für seine höchst eigenwillige Prosa habe. Im Residenz Verlag waren neben dem Circus Wols-Roman noch weitere großartige Erzählbände erschienen: Die Liegestatt (2008), Das Fortbewegungsmittel (2009), Und alle Lieben leben (2013).
Und ganz besonders schätze ich ein wunderbares Experiment, in dem er auf der Basis des ungarisch-schwäbischen Märchens vom Ichweißnicht dessen Erzählkern immer wieder variiert und zugleich auch auf seinen Alltag zu beziehen sucht. Es ist dies der 2009 im Verlag Bibliothek der Provinz erschienene Band Das Ichweißnicht-Spiel. Gleich auf der ersten Seite heißt es darin programmatisch: Ein Märchen zerdröseln, es so lange lesen und nacherzählen, bis der Leser oder Nacherzähler in diesem Märchen lebt, es als sein Lebensmärchen weiß und weitergeben will. Drei vorangestellte Motti stammen von Peter Handke, Franz Kafka und Samuel Beckett, den Hans sein Leben lang geschätzt und überaus bewundert hat.
Dessen bekannte Großzügigkeit und Bescheidenheit hat er auch selbst auf seine ganz eigene Art gelebt. Das Kafka-Zitat endet mit dem Satz: Wer die Fragen nicht beantwortet, hat die Prüfung bestanden.
Daß das Nichtwissen, das Zögern und versuchsweise Vorantasten ebenso wie das Abwägen und im Selbst- oder Zwiegespräch ins Extrem getriebene Räsonieren ein Merkmal seiner gesamten Arbeit ist, wird mir beim erneuten Lesen seiner Bücher immer klarer. Auch wirken die Figuren in den Dramoletten oft gescheitert, dabei sind sie bloß nicht gewillt, gewisse Kompromisse mit den Kategorien eines Durchschnittslebens einzugehen, und sie beharren dabei auf Charakter, Eigenart und einem wachen Sprachbewußtsein, was einerseits zu Komik führt, aber zugleich eine Wahrheit transportiert, die im Alltag oft nicht wirklich eine Chance erhält.

Hans ist am 29. Februar verstorben, knapp zwei Wochen nach seinem Geburtstag und zwei Tage nach dem dreiunddreißigsten Hochzeitstag, den er mit seiner Frau noch zu Hause erleben wollte. Die Söhne, von denen einer zumindest im Nebenberuf die Fischerei weiter betreiben wird, waren ebenfalls rechtzeitig gekommen.
Sein Grab ist wenige Schritte von dem Ort entfernt, an dem einst zufällig unsere erste gemeinsame Lesung stattgefunden hat, dem Pfarramt Attersee, vor mittlerweile schon recht langer Zeit. Und der Zufall, wie man so sagt, hätte es anscheinend noch gewollt, daß wir im heurigen März – ganze sechsunddreißig Jahre nach unserer ersten Begegnung – erneut beide in Rauris eingeladen gewesen wären.

 

NEIN, ES IST NICHT BESSER GEWORDEN,
die geschwollenen Füße zeugen von der
Vertümpelung deines Kreislaufes. Noch
läufst du, ja, doch die Nudelsuppe hast du
über und die Grießnockerl sind dir Beifang
genug und der Reinankenrogen rutscht dir
mit Verlaub den Buckel hinunter. Zweite
und dritte Fangzäune sind entlang der
Skirennpiste aufgestellt. Schon zappelt
einer, wird mit dem Hubschrauber
abtransportiert. Die Strecke ist eisig,
die Kanten geschärft, der Bestzeitdruck
das Ein und Alles. Katzenkleines schläft
mit leicht zuckenden Pfoten. Ja, es ist nicht
schlecht genug, nein, die Restnacht
schürt keine Erwartung mehr.

(Aus: „Nur mehr das Blühen“, Edition Sommerfrische)
Textzitat: stifterhaus.at

Die erwähnten Rauriser Literaturtage wurden heuer wegen der Corona-Krise abgesagt. Ebenso die Veranstaltung im Stifterhaus am 27. April: „Abschied von und Hommage für Hans Eichhorn (1956–2020)“

Post Wurf City: Return to Sender?

Architektur und Städteplanung: Im Herbst 2019 wurde das Ergebnis des Realisierungswettbewerbs „Post City Linz“ öffentlich bekannt gegeben – es geht um die Neubebauung des Areals des ehemaligen Post­verteilerzentrums neben dem Linzer Bahnhof. Ausgeschrieben war ein internationaler zweistufiger Wett­bewerb. Christoph Wiesmayr hat sich das Siegerprojekt eines Grazer Architekturbüros angesehen und beginnt mit der Frage, warum der Verkehr die Stadt dominiert und stellt fest, dass das gewöhnliche Hochhaus nicht die einzige städtebauliche Lösung sein muss.

Ausgangslage.
Das ehemalige Postverteilzentrum der Österreichischen Post AG hat seit dem Auszug im Jahr 2014 seine angestammte Funktion verloren und diente in den letzten Jahren u. a. als Veranstaltungsort für die Ars Electronica. Nun sollen die neben dem Linzer Bahnhof liegenden Bestandsgebäude des Postverteilerzentrums abgebrochen und das Areal städtebaulich und immobilienwirtschaftlich neugestaltet werden. Auf der Liegenschaft mit rund 4 Hektar Gesamtfläche soll daher eine Quartiersentwicklung mit Gebäuden in einem Ausmaß von ca. 150.000 m2 Bruttogeschoßfläche entwickelt werden – mit Mischnutzungen für vielfältige Wohnformen, Büros, Hotel, Handel und Dienstleistungen, Entertainment sowie ein Ärztezentrum.

Der Verkehr dominiert die Stadt, nicht die BürgerInnen.
Die Stadt Linz wächst, und somit auch die Verkehrsbildung. 100.000 Pendler pro Tag drängen täglich in die Stadt und wie­der hinaus. Mehrspurige Einbahnstraßen durchschneiden die Innenstadt in Nord-Süd-Richtung. Der entstehende Frein­berg­tunnel und neue Brücken werden als Lösung des Verkehrsproblems gesehen. Aber in Wahrheit verhält es sich wie mit einem Kranken mit Herzleiden, es wird operativ ein weiterer Bypass gelegt und dann wird’s schon noch ein paar weitere Jahre gut gehen. Eine Computersimulation der Firma Geoconsult veranschaulicht das im Bau befindliche Projekt der A26, das in direkter Beziehung zum geplanten Bau­projekt der Post City steht, näher. Demnach ist auch über der Untertunnelung im Bereich Waldeggstraße weiterhin eine Stra­ßennutzung, jedoch auch mit Radweg, vorgesehen. In der Computersimulation heißt es: „Die A26 bringt große Vorteile. So wird das innerstädtische Linzer Straßennetz vom Verkehr entlastet. Die Lärm- und Luftbelastungen werden durch den Verlauf der Strecke im Tunnel ge­rin­ger. Der Tunnel wird ausschließlich über die Portale und die Betriebszentrale in Bahnhofsnähe entlüftet. (…) Durch die Verlagerung des Verkehrs in den Tunnel wird das städtische Straßennetz entlastet und somit Lärm- und Schadstoffbelastung deutlich verringert (…)“
Diese Angaben klingen lt. aktuellen Ver­kehrsstudien widersprüchlich. Die Ge­samt­verkehrsleistung in Österreich hat in den letzten 20 Jahren um 33 % zugenommen – unter anderem zurückzuführen auf den Bevölkerungsanstieg von rund 8 % und auf die um 16 % längeren Wege. Wenn dieser Trend weiterhin steigend aus­fällt, ist sogar mit einer Mehrbelastung von Verkehr wie auch Schadstoffbelastung zu rechnen, da die bisherigen Straßen als solche erhalten bleiben und durch den Verkehr im Tunnel folglich Verkehrs­mehr­aufkommen hinzukommt! Die Ge­samtbaukosten für die A26 werden jedenfalls von der ASFINAG mit 668 Millionen Euro beziffert, davon ist die Stadt Linz mit 5 % und das Land mit 10 % beteiligt. Die Fertigstellung wird für das Jahr 2031 prognostiziert. Einerseits stellt sich die Frage, ob bei diesen hohen Investitionen nicht auch der Ausbau der öffentlichen Verkehrsmittel, z. B. eine Stadtschnellbahn vom Hauptbahnhof durch den neuen Tunnel zum Mühlkreisbahnhof, hinzugezogen werden hätte können. Andererseits müsste ein Plan für die innerstädtische Verkehrsentlastung, sprich eine deutliche Verkehrsreduktion der bisherigen Straßenverbindungen ausgearbeitet werden. Die 2007 er­öffnete Überplattung am Bindermichl etwa kann mit dem darauf entstandenen Landschaftspark und den für die Bewoh­nerInnen entstandenen positiven Effekten als Vorbild herangezogen werden. Die beiden Stadtteile Bindermichl und Spallerhof konnten durch den entstandenen Grünraum verbunden werden. Eine Umsetzung von verbundenen Grünräumen anstatt Verkehrs(mehr)belastung für BewohnerInnen ist jedoch an diesem Standort derzeit nicht absehbar.

Immissionen.
Was bedeutet das nun für den Standort Post City? Die Immissionen werden am Standort lt. Auslobung weiter geringfügig zunehmen. „Durch die Lage der Bahn und den umliegenden Straßen ist mit erheblichen Lärmbelastungen und verkehrsbedingten anderen Emissionen zu rechnen.“ Vorgeschrieben wurde daher eine Schallobergrenze von 60 dB für emissions­geschützte Kinderspielplätze und ein Fassadenschallpegel von mehr als 50 dB nachts. Rein bautechnisch lassen sich die geplanten Hochhäuser auf diese Werte hin realisieren. Bei Dreifach-Isolierglasschei­ben und kontrollierter Wohnraumlüftung ist es nicht mehr nötig, ein Fenster zu öffnen. Isoliertes, also von der Umwelt ab­geschottetes Wohnen liegt im Trend. Der Mensch taucht ab in seine gläserne Kapsel … und am Wochenende: Nichts wie weg! Weil man’s da eh nicht mehr aushält.

Unmut bei ArchitektInnen.
Zum einen waren die Empfehlungen diverser Gutachten (Emissionsschutz) im Ge­winnerprojekt nicht wiederfindbar. Zum anderen war nach Bekanntgabe der Wettbewerbsentscheidung keine öffent­liche Ausstellung oder Präsentation der eingereichten Projekte vorgesehen – die Wettbewerbsprojekte waren zwar aufgelistet im Internet zu finden, ein Projekt dieser Größe liegt aber in einem allgemeineren Interesse der Bevölkerung. Dank Eigeninitiative des Architekturforums OÖ konnte dann doch ein umfassender Einblick in die Arbeiten bis Jänner 2020 gegeben werden. Weiterer Unmut in der Architekturszene: Das Gesamtprojekt soll nur von einem Bauträger umgesetzt werden.

Ville oder Citè – Zwei konträre Ansätze auch bei Platz 1 und Platz 3.
Der Stadt- und Kultursoziologe Richard Sennett navigiert in seinem Buch „Die offene Stadt“ zwischen der nachbar­schaft­lichen Citè mit Ortsbewusstsein und der anonymen Ville. Weiter unterscheidet er in seinem Buch drei Formen des städtischen Gewebes. Es folgt der Versuch, anhand Sennetts Thesen die Qualitäten bzw. Schwächen zweier beim Wettbewerb eingereichter Projekte nachzugehen: Die prämierten Projekte auf Platz 1 und Platz 3 könnten nicht unterschiedlicher ausfal­len. Alle bis auf das drittplatzierte Projekt waren ausschließlich als Hochhauskon­zep­te entworfen worden.

Gewinnerprojekt: Nussmüller Architekten, Graz.
Additives Gewebe – mit kristalliner Ausformung: Blickt man von oben auf das Städtebaumodell wirken die einzelnen kristallin anmutenden Baukörper harmonisch zueinander gesetzt. Es wirkt wie ein Entwurfsansatz einer Ville aus den 90ern. Die insgesamt elf locker gesetzten, unterschiedlich ausgeformten und gefasten (Anm: abgekanteten) Hochhäuser bieten großzügigen, unterschiedlichen Frei­raum mit eigenem Quartierspark und Plateaus im Dazwischen. Das Abschrägen der Hochhauskante und die Ausrichtung der Schmalseite zur Hauptwindrichtung aus West bewirkt, die Fallwinde zu reduzieren (s. Studie in Auslobung). Und Sennett etwa entdeckte die abgeschrägte Kante auch bei Ildefons Cerdàs Super­blocks in Barcelona: Genau an diesen Schrägen entstand urbanes Flair mit Cafés und entschleunigten Räumen zur Fahr­bahn hin.
Erdgeschoßzone auf dem Prüfstand: Jeder, der beispielsweise am Hauptbahnhof in Wien ankommt, kennt die Situation mit flankierenden Hochhäusern, Zugluft und Freiraumflächen, die kaum zum Verwei­len einladen. Ob das hier anders gelingt, ist noch nicht garantiert. Meist scheitern Wettbewerbe mit „grünen Schaubildern“ an den steigenden Kosten der Zukunft. In der Realität reduziert sich die zuvor üppig geplante Landschaftsgestaltung auf mo­no­tone Rasenflächen, Solitärbäumchen und kühl-abweisendes, jedoch vandalensicheres Sitzmobiliar.
Durch die Freiflächen zwischen den Hochhäusern und durch großzügige Terrassen, die die Hochhäuser durchziehen, suggeriert das Projekt städtische Durchlässigkeit auch in das benachbarte Umfeld. Doch darin liegt die Hauptproblematik des Projekts: nämlich der in Plänen und Modellen unsichtbare, nicht darstellbare Faktor immaterieller Einflüsse durch Abgase (geplante Tunnelausfahrt) und Abrieb (Bahn). Die verletzliche „Offenheit“ im Umgang mit der „Kante“ ist im höheren Ausmaß lärm-, wind-, und emissionsanfällig. Sie dient auf keinem Fall zum Schutz vor Zugluft und Emissionen. Eine Aufenthaltsqualität im Sinne der Citè ist demnach nur schwer vorstellbar.

3. Preis: Caramel & TP3 Architekten, Linz
Gewebe aus Zellen / Slow Town / Stadtmosaik: Das Konzept kommt konsequent ganz ohne Hochhaus aus. Der Entwurf mutet auf den ersten Blick wie ein flach verwobener Teppich an. Eine klar de­fi­nier­te Kante zum Schutz des Herzes des Quar­tiers und seiner BewohnerInnen, etwa vor den Auswirkungen des Verkehrs, ist mit identitätsstiftenden Innenhöfen und unter Einhaltung aller Planungsvorgaben in weiten Teilen überzeugend ge­lungen. Die Qualitäten einer Citè kommen in den Dar­stellungen sehr gut zum Vorschein. Die Perspektive ist spürbar je­ner der zukünftigen Bewohner und da­mit einem menschlichen Maßstab ange­passt, sprich etwa konkret einer Aufent­halts­qua­lität. Kon­krete Darstellungen für nachhaltige Nutzung der Innenhöfe oder Grün­flächen mit Allmendenutzung bzw. Urban Gardening machen das Projekt ge­sellschaftlich griffiger, jedoch auch politisch angreifbarer.

Willkommen in der Post- Bauwutgesellschaft: Von der Überhitzung der Städte
Die Dekonstruktivisten schrien einst laut­hals: „Architektur muss brennen!“ – und heute brennt die halbe Welt, von Kalifornien bis Australien. In unseren Städten wird es im Sommer unerträglich schwül und heiß. Versiegelte Flächen und Baumassen speichern die Wärme und geben diese über die Nacht amplitudisch ab. Zu einer Abkühlung kommt es daher kaum. Kühlgeräte auf den Dächern verstärken diese Problematik. Wir müssen die Städte wieder lebens- und liebenswerter gestalten!

Der utopische Traum eines Linzer Flaneurs.
Ich träume von einer Stadt, in der ich früh­morgens als willkommener Bürger auf die Straße vor meiner Tür hinaustrete und nicht unmittelbar in den lauten und stinkenden Verkehr hineinstolpere. Mein Sohn hat auf dieser Straße genug Raum, seine ersten Schritte entlangzugehen – ohne die Angst, sofort überfahren zu werden. Die Trottoirs sind breit genug und zur Fahrbahn hin mit stattlichen Bäumen und auch Sträuchern gesäumt. Man hört Vogelgezwitscher von den Baumkronen. Da und dort finden sich Einbuchtungen mit Sitznischen, die zum Verweilen einladen. Eine turnende Menschengruppe hat auch Platz gefunden. Es kommt vor, dass mitten am Weg spontan ein Gespräch mit Passanten zustande kommt. Autofreie Straßenzüge laden zum Flanieren ein. Historische Hausfassaden erhalten ihre Würde zurück, erscheinen in alter Pracht, man kann sie nun ungestört im Vorbeigehen bewundern. Man fragt sich, warum sie einem nicht schon früher aufgefallen sind. Aus dem Auto waren diese nicht zu sehen. Ich atme tief ein und wieder aus – wie gut doch die Luft hier ist!

Linz möchte Klimastadt 2025 und Innovationsstadt zugleich sein?
Das Gewinnerprojekt wird mit dieser herkömmlichen Bauweise keine aktuellen internationalen Maßstäbe setzen können. Eine oberflächliche Geste erzeugt noch keine Wohnqualität! Es ist hier wieder eine Chance vergeben worden, Investitionen nicht nachhaltig angedacht zu haben, sondern für den schnellen Gewinn und für eine kurze Zeitspanne mit hohem Ressourcenverbrauch und Energieaufwand zu planen und zu bauen (Abbruch Beton; Neubau in Beton, Steinwolle und Glas!).

Geht’s der Umwelt gut geht’s uns allen gut.
Wem nutzen schon weitere Glaspaläste? Wenn schon Hochhäuser, warum dann nicht in Holz bzw. in einer Hybridbau­weise aus Holz und Beton? „Vergleicht man es mit einem Stahl-Beton-Hochhaus, sparen wir 2.800 Tonnen CO2-Äquivalente. Das bedeutet, man könnte 1.300 Jahre lang täglich 40 Kilometer Auto fahren“, stellte der Architekt Rüdiger Lainer mit dem HOHO-Hochhausprojekt in Wien Aspern, dem derzeit höchsten bzw. zweit­höchsten und teilweise bereits fertig­ge­stell­ten Holzhochhausprojekt der Welt, einen Vergleich an. Oder betrachten wir ein Wohnhochhaus als „Green Tower“ – mit begrünter Fassade mit nachweislich gebäudekühlender, windreduzierender und luftreinigender Wirkung! Wieder schauen wir zu, wie andere Städte wie Wien, Bar­celona, Mailand, … uns in Sachen Innovation vorauseilen! Warum kann man nicht auch in Linz nachhaltig und visionär für eine bessere Lebensqualität bauen? Könnte man nur zehn anstatt der geplanten elf Hochhäuser bauen, und diese dafür nachhaltiger gestalten? Aktueller nachhaltiger Städtebau plant etwa mit „Animal Aided Design“: Warum nicht begrünte Fassaden mit integriertem Design von Nistkasten-Plug-Ins für Insekten und Vögel groß­flä­chig einplanen?
Moderne Gebäude benötigen zwar immer weniger Energie, der für sie nötige Auf­wand in Unterhalt und Wartung wird jedoch immer höher! Visionäres Denken für die Zukunft: Was kann der Mensch re­geln, wenn man in einem Bürohaus auf jegliche Anlagen für Heizung, Lüftung und Kühlung verzichtet? Die Antwort heißt 2226 und steht im Millennium Park Lustenau von Baumschlager Eberle Architekten. Man möge sich im Netz dazu genauer erkundigen*.

Doch lieber ein Stadion?
Am Ende bleibt da noch die Frage, ob die Nutzungsvorgabe eine richtige Entscheidung für diesen schwierigen Standort war. Die vorangegangene Standortdiskussion über ein neues Linzer Stadion hätte hier wohl mehr Vorteile als der zuvor an­ge­dachte Standort Pichlingersee sowie auch auf der Gugl gehabt. Nicht nur allein die unmittelbare Verkehrsanbindung würde da­für sprechen. Eine Verkehrsentlastung zur Gugl hin wäre garantiert gewesen und das bestehende Stadion hätte für eine attraktivere Wohnbaunutzung umgestaltet werden können. Eine klassische ovale Grundform, die sich vom Außenraum schützt, hätte bei guter architektonischer Planung auch die Stadteinfahrt attraktiv aufwerten können.

Zumindest die Fridays for Future – Klimastreiks werden sich am Linzer Bahnhofsvorplatz weiterhin als Ausgangsort genau richtig erweisen. Die kommende Generation wird sich in Linz in einer Post-Bauwutgesellschaft wiederfinden, die sich über die zahlreichen vergebenen Chancen für eine klimagerechtere Stadt mehr als nur wundern wird.

 

Post City Architekturwettbewerb
www.architekturwettbewerb.at/competition.php?id=2396

Präsentation im Architekturforum OÖ
afo.at/programm/postcity

DorfTV-Talk mit Christoph Wiesmayr und Caramel-Architekten Ulrich Aspetsberger zu Gast bei Martin Wassermair.
dorftv.at/video/32342Zur

Computersimulation Geoconsult, Verkehrsaufkommen A26: www.youtube.com/watch?v=PTw6RrLgJr4

 

 

Richard Sennett; Die offene Stadt. Eine Ethik des Bauens und Bewohnens.
2018 Hanser Berlin in der Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, München.

Wolf D. Prix;
www.coop-himmelblau.at/architecture/news/architektur-muss-brennen-documentary-film-marks-wolf-d-prixs-75th-birt

Wien; HOHO, 84m Hochhaus in Holzbauweise
www.proholz.at/architektur/detail/24-stockwerke-wien-soll-groesstes-holz-hochhaus-der-welt-bekommen

Barcelona; Plan zur autofreien Stadt
mobil.stern.de/auto/barcelona-schmeisst-die-autos-aus-der-stadt—so-radikal-plant-die-stadt-9070240.html?utm_source=facebook&utm_campaign=stern_fanpage&utm_medium=posting&fbclid=IwAR3Hr5tJ_GcMiZqb3AWUtjcmTII0yIP0YiDIMlQzNdyiXrihq8O1NSHtBeA

Mailand; Bosco Verticale, Green tower, 111M Höhe, boeri studio.

Millennium Park Lustenau; Baumschlager Eberle Architekten, Projekt 2226

„… da gibt es nichts Subtiles bei mir.“

Jakob Lena Knebl ist Künstlerin, Kuratorin und „Walrus“, baut utopische Räume, erforscht und bildet Visionen wie sonderbare Atmosphären. Sie arbeitet mit Spiegelungen, Wiederholungen und Auslassungen, mit Irritationen und raschen Szenenwechseln. In „Frau 49 Jahre alt“ inszeniert sie im Lentos ein Environment im Stil der 1970er-Jahre, das Werke aus der Sammlung des Kunstmuseums mit eigenen Arbeiten verknüpft und ähnlich einem Baukasten präsentiert. Bettina Landl ist bei einer Künst­lerinnenführung durch die Ausstellung mitgegangen und berichtet.

Zwei Ausstellungsräume, einem Puppenhaus ähnlich, zeigen die Dichte, in und mit der Knebl arbeitet. „In meinen Arbeiten führe ich die Kunst- und Designgeschichte zusammen. Mir geht es dabei um eine Demokratisierung der beiden Felder.“, schildert die 1970 in Baden geborene Künstlerin ihre Überlegungen. „Mittlerweile ist es zu einer Methode von mir geworden, mit Sammlungen zu arbeiten, weil ich damit zeigen kann, woher ich meine Inspiration als Künstlerin beziehe. Ein Vorteil dabei ist, dass ich keinen kuratorischen Normen entsprechen muss. Man verzeiht es einer Künstlerin, wenn sie ein Gemälde Paula Modersohn-Beckers vor den Druck eines Schweinsbratens hängt.“

Körper in Szene setzen
Wenn im ersten Ausstellungsraum ein grüner Teppich über den Boden gelegt und die Wände entlang angebracht wird, bunt gemusterte Tapeten und Puppen­skulpturen mit kunsthistorischen Positionen in Dialog gebracht werden und sich Knebl darin als Kunstfigur inszeniert, wird auf derbe und plakative Weise dabei auch ein Abbild unserer Kultur offenkundig. Exponate aus der Sammlung des Lentos wie Egon Schieles „Bildnis Trude Engel“ (1912/13), Helene Funkes „Drei Frauen“ (1915), Paula Modersohn-Beckers „Landschaft mit drei Kindern und Ziege“ (1902), Albin Egger-Lienz’ „Ila, die jüngere Tochter des Künstlers“ (1920) oder May Matthias’ „Mädchen vor dem Spiegel“ (undatiert) lenken den Blick augenscheinlich auf den Körper (der Frau), wenn bewegliche Gliedmaßen aus schimmerndem Textil mit an einer Kette befestigten Geschlechtsmerkmalen (Penis, Brüs­te und Vagina) geschmückt sind. Skurril verschränken sich in einer wild-hierarchielosen Mischung und in einem Neben- oder Ineinander historische Bilder mit Knebls Objekten, die Voodoo-Puppen ähneln. Der kultische Raum wird dominiert von einer Schamlosigkeit sowie bizarren Setzungen, in der infantile Optik konsequent durch einen Werkstatt- bzw. Wohnzimmercharakter des Environments gebrochen wird.

„Wenn ich bisher oft mit Design arbeitete, das im Kanon als hohes Design gilt wie zum Beispiel Verner Panton oder Joe Colombo, gehe ich bei der Ausstellung im Lentos in die Gestaltung des Bastelbuchs.“ Dabei orientiert sich die Künstlerin neben kunsthistorischen Referenzen auch an Popkultur, wodurch die Atmosphäre etwas Organisches impliziert und der Anspruch der Moderne, Kunst und Leben ineinander aufgehen zu lassen, auf unkonventionelle Weise eingelöst scheint.

Frage der Identität
Auf Einladung der künstlerischen Direktorin Hemma Schmutz setzte sich die Künstlerin mit der Sammlung des Lentos auseinander und führte eine Auswahl mit eigenen Arbeiten zusammen. „Für mich geht es um die Frage der Identität und wie Identität entsteht durch die Dinge, mit denen wir uns befassen oder den Menschen, mit denen wir uns umgeben und auch den Dingen oder der Kunst, auf die wir schauen. Wie werden wir durch unser Umfeld?“

Seit geraumer Zeit befasst sich Knebl mit den 1970er-Jahren, war diese Dekade doch von vielen gesellschaftlichen Umbrüchen geprägt. „Das Eherecht, die Bürgerrechts- und Frauenrechtsbewegung, dann gab es Utopien und Visionen in der Architektur. Also plötzlich wurde alles ganz bunt. Eine ganz andere Ästhetik, das Populäre wurde wichtig, die Popkultur. Vieles, was in den 60er-Jahren als Subkultur galt, ist Mainstream geworden. Ich möchte diesen nutzen, weil es Freude machen soll, die Ausstellung zu besuchen. (…) Der Alltag ist das Moment, um Bezüge zum Publikum herzustellen. Alltagsgegenstände wie zum Beispiel eine Küche benutze ich auch oft als Display für die Kunst“. So arbeitet die Künstlerin beispielsweise direkt mit einem Torso aus der Sammlung, erweitert aber Material und Form. Knebls Arbeiten gleichen Kommentaren als eine Folge ihrer Auseinandersetzung mit Vorhandenem, zeugen von Ausdruck und Ergebnis eines kollektiven Eingebunden-Seins.

„Ich bin sehr plakativ.“
Mit ihrer Frau Ashley Hans Scheirl, eingehüllt in bunten Morphsuits und ineinander verschlungen, zeigt sich Knebl in einer Fotomontage prinzipientreu, was besagte Bastelbuch-Ästhetik betrifft. Insgesamt ist auch Transgender ein Thema, die sich in Bewegung befindliche Identität. Bezogen auf diesen Diskurs stellt sich etwa generell die Frage nach dem Geschlecht der Puppe(n), die es zu entscheiden gilt – oder auch nicht. „Ich finde Art Brut besonders spannend. In meinen Ausstellungen zeige ich auch gerne, was in Sammlungen nicht so oft sichtbar wird. Ich brauche immer etwas, das mich anzieht. Es geht stark um Begehren, weil durch Begehren verändern wir uns. Bei mir ist es jetzt die ‚sylvie‘ gewesen – als Plattencover, da dachte ich sofort, ich brauche die jetzt ganz groß da drin, das beruhigt mich und dazu stelle ich den Sean Connery“. Knebl empfiehlt dazu den Film „Zardoz“ von 1974.
„Ich bin sehr plakativ, da gibt es nichts Subtiles bei mir. Ich benutze den Begriff Humor. Ich finde Humor irrsinnig interessant. Wir können uns nicht wehren, wenn wir etwas witzig finden, ergreift uns das. Humor hat auch etwas mit Hierarchien zu tun. Wer darf über wen Witze machen? Dann gibt es die Figur des Harlekins, die aus der Gesellschaft der Commedia dell’arte stammt und die ist sehr ambivalent: Die ist der Heiler, ist aber auch böse und sie verbündete sich mit den Außenseitern und ist zum Narr des Königs geworden. Der Harlekin hatte eine eigene Funktion. Im Fasching zum Beispiel, da dürfen Hierarchien (noch) invertiert werden. Die Figur des Trickster finde ich sehr spannend. Also ich möchte mit Ästhetik, Sinnlichkeit und Humor die Leute berühren. Humor! Das ist auch so ein Tabu in der Kunst.“
Knebl findet es wesentlich, die Dinge direkt anzusprechen, ein Ventil aufzumachen. „Darf Kunst nur schön sein? Ja, natürlich! Sie ist ein spezielles Feld in der Gesellschaft“, argumentiert sie im Hinblick auf die oft gestellte Forderung nach einer politischen Funktion der Kunst. „Den Begriff Funktion finde ich interessant. Das Design muss eine Funktion haben. Wie ist das bei Kunst?“

Neugierde, um Fremdheit zu überwinden
Im zweiten Ausstellungsraum verkehrt die Künstlerin das Helle, Bunte und Überladene ins Dunkle, Eintönige und Ausgesparte. Hier setzt Knebl eine Fotoarbeit von Christian Skrein groß dimensioniert ins Zentrum. „Der Raum stellt die Frage, wie diskutiert wird, das Eigene, das Fremde? Wie geht man mit solchen Exponaten in einer Sammlung um?“ Knebl setzt Gottfried Helnweins „The Golden Age 1“ (Marilyn Manson als „schwarzer Mickey“, 2003) in die Mitte, davor zwei Plastiken, die aus der Zeit des Nationalsozialismus stammen. Daneben präsentiert Knebl ein Hologramm, in dem sie Zitate der Beatles rezitiert. In einem kurzen Video hantiert die Künstlerin mit verschiedenen Objekten. In Form rascher Szenenwechsel spricht sie in Keramikgefäße und führt das Prinzip, Gegensätzliches zusam­menzuführen, fort. In einem alten Wohnzimmerschrank aus dunklem Holz werden großteils peruanische Masken präsentiert und es wird einer Naturverbundenheit gehuldigt, die einem Kult gleicht. Ebenso ist ein zweites Video, das die Künstlerin gemeinsam mit Markus Pires Mata via Röhrenfernseher zeigt, „inspired by nature“. Darin agieren sie als „West-German 70s Pottery Curators“ wiederum mit Vasen der Firma Scheurich, streicheln und berühren sie, um sie schließlich im Wald in Szene zu setzen. „Scheurichs brauchen kei­ne Blumen. Scheurichs brauchen keine Blumen. Scheurichs brauchen keine Blumen.“ Wiederholung ist Programm und Töne werden zu einem Mittel, sich mit der Welt in Beziehung zu setzen.
„Für mich war das großartig, dass es hier zwei gleich große Räume gibt. Müsste ich mich entscheiden, würde ich immer den bunten nehmen, aber ich konnte jetzt einmal einen minimalen Raum ausprobieren, der dunkel ist, weil ich eben immer noch den zweiten Raum habe. Und natürlich zeigt dieser auch unsere dunklen Seiten“, beschreibt die Künstlerin ihre Entscheidung für Christian Skreins Fotografie „Help“ (S/W-Foto aus einer Fotoserie anlässlich der Dreharbeiten der Beatles zum gleichnamigen Film in Obertauern 1965). Und für „Objekte, von denen ich nicht weiß: Wie sind die da hergekommen? Oder auf der anderen Seite, ein Egger-Lienz, der in seiner Ästhetik von den Nationalsozialisten vereinnahmt wurde. (…) Er war im 1. Weltkrieg als Maler tätig und schuf Bilder, die das harte Leben zeigen und plötzlich wird diese Ästhetik genommen und wie gesagt, das ist sehr plakativ.“

„Ich will auch dabei sein.“
Die Puppenskulpturen hat Knebl vor knapp einem Jahr begonnen, weil sie sich gefragt hat, wie der Körper in den unterschiedlichen Formen dargestellt wird. Sie verbindet auch andere Werkstoffe damit wie Keramikköpfe, so beispielsweise ein in der Ausstellung gezeigtes Objekt, das wiederum inspiriert ist von Henri Moores „Head of a Woman“ (1926). „Es geht darum, wie unterschiedlich unsere Körper sind, mit welchen Materialien sie dargestellt werden und diese schließlich auch zu vermischen.“
Wie ein Puzzle hat sich die Ausstellung über mehrere Monate hinweg zusammengetragen, ebenso war der Titel „Frau 49 Jahre alt“ plötzlich da – entlehnt von einer Zeichnung Philipp Schöpkes aus den 1970er-Jahren. Die Tapeten stammen aus dem privaten Fundus der Künstlerin, die sich als „Ebay-süchtig“ bezeichnet. Dabei ist das Thema „Freiheit“ konstitutiv in jeglicher Hinsicht. „Die Installation hat sich leicht gefügt. Mich interessiert auch die Selbstermächtigung und wie eine solche geht. Man kann durch richtiges Fragenstellen das herauskitzeln, was sowieso schon da ist. Die Lehre und Vermittlung spielen eine große Rolle. Wie kann man Menschen zur Kunst bringen und sagen, du bist auch dabei?“
Es geht auch um ein Sich-Aneignen von Raum, um das Aufspüren von Relationen, von Setzungen in Bezug zu Objekten, die mit uns sind, uns umgeben, uns konstituieren. Es ist eine Begeisterung für Dinge und Materialitäten, die Knebls Arbeitsweise prägt und durch Form und Berührung, Annäherung und Entfernung von einem Dazwischen erzählt, in dem wir uns befinden.

 

Jakob Lena Knebl wird 2021 mit Ashley Hans Scheirl den Österreich-Pavillon bei der Kunstbiennale in Venedig bespielen. Wir gratulieren.

Jakob Lena Knebl. Frau 49 Jahre alt
Lentos Kunstmuseum Linz
Ausstellung bis 17. Mai 2020
lentos.at

Kombinierte Führung mit Highlights aus der Sammlung und der Ausstellung Jakob Lena Knebl: Donnerstags, 19.00 Uhr

Ikonische Kritik in Cinemascope

Valie Export-Tribute beim Filmfestival Crossing Europe: Von 21.–26. April sind in aussagekräftiger Dichte und in Cinemascope Kurz- und Langfilme, experimentelle Studien, weltberühmte Performancearbeiten, feministische Medienkritik und Expanded-Cinema-Aktionen von einer der wichtigsten Vertreterinnen der internationalen Medien- Film- und Performancekunst zu sehen. Florian Huber gibt eine Vorschau.

Die Praxis der Liebe / The Practice of Love. Foto sixpackfilm

In einer Szene ihres 1970 entstandenen Kurzfilms Body Tape will Valie Export mit dem Kopf durch die Wand. Immer wieder presst die 1940 in Linz geborene Künstlerin diesen gegen eine Glasscheibe, die für die Zuseherinnen mit der Leinwand des Kinosaals eine feste Einheit zu bilden scheint. Man mag beim Betrachten an die Gebrüder Lumière und die Unheimlichkeiten des Mediums Film denken, die ihren Zuseherinnen in einer Geburtsstunde des Kinos das Fürchten lernten. Einer Anekdote zufolge ergriffen diese 1896 während der 1-minütigen Projektion von L´arrivée d´un train en gare de La Ciotat aus Angst vor einem auf sie zukommenden Zug die Flucht vor dem Leinwandgeschehen. Und doch wäre es verfehlt, Valie Exports filmisches Werk, dem das Filmfestival Crossing Europe gemeinsam mit Sixpackfilm und dem in der Linzer Tabakfabrik beheimateten Valie Export Center in diesem Jahr eine umfängliche Retrospektive widmet, ausschließlich als Kommentar zur Kinogeschichte zu verstehen. Zu reich sind einerseits die theoretischen Bezüge, die die Künstlerin seit ihren künstlerischen Anfängen in den 1960er-Jahren in ihre Arbeiten webt, die neben der Film-, Medien-, Kunst- und Literaturtheorie etwa auch Fragen nach dem gesellschaftlichen Anspruch der Kunst und dem Verhältnis von sex und gender adressieren, wie vor allem auch ein Blick auf ihre Langfilme Unsichtbare Gegner (1977), Menschenfrauen (1980) sowie Die Praxis der Liebe (1985) verrät, die von den Grenzen und Möglichkeiten weiblicher Emanzipationsbemühungen erzählen. Exports Blick ist dabei nicht allein von einem Bewusstsein für die lange Unterdrückungsgeschichte der Frau im Patriarchat bestimmt, sondern zielt ausdrücklich auf die Gegenwart und ihre eigene Rolle als einer der bedeutendsten Multimediakünstlerinnen in einem bis zum heutigen Tag männlich dominierten Kunstbetrieb. „Geboren wurde ich in der Klinik, die der Stadt Linz gehört / getrunken habe ich an der Brust die meiner Mutter gehört / versteckt habe ich mich vor den Bomben die dem Staat England gehörten / Gekleidet habe ich mich mit den Kleidern die meiner Schwester gehörten / Geweint habe ich nach meinem Vater, dessen Tod dem Vaterland gehört […] Die Luft hab ich geatmet, die Gott gehört / Das ist das Leben das mir gehört.“, heißt es in einem Text aus dem Jahr 1966, der persönliche Erlebniswelten mit gesellschaftlichen Besitzansprüchen konfrontiert und in Heimrad Bäckers Avantgardezeitschrift neue texte publiziert und später auch filmisch verarbeitet wurde. Das darin geschilderte Spannungsverhältnis zwischen sozialen Zwängen und individueller Freiheit wird im 1986 entstandenen Kurzfilm Ein perfektes Paar oder Die Unzucht wechselt ihre Haut ironisch auf die Spitze getrieben. In diesem tragen Männer wie Frauen ihre Haut buchstäblich zu Markte, deren Labels und Body Modifications zeitgenössische Schönheitsideale und Vorstellungen von Geschlechtlichkeit repräsentieren und so die Prägekraft gesellschaftlicher Konventionen für die Entfaltung der eigenen Identität sicht- und kritisierbar machen. Dazu fügt sich, dass neben künstlerischen Weggefährtinnen wie Peter Weibel und Susanne Widl auch Elfriede Jelinek in diesem Film einen kurzen Auftritt hat, die damit zugleich an die zentrale Bedeutung der Sprache für Exports filmisches Werk erinnert. Statt eines Schuhs wird einer Protagonistin boot auf den nackten Fuss geschrieben und damit zugleich die Repräsentationskraft filmischer Bilder und ihrer sprachlichen Vermittlung auf die Probe gestellt. Die vermeintlich banale Visualisierung von Sprichwörtern gerät allein schon deshalb nicht zur Plattitüde, weil Film und Kino einer eigenen Grammatik folgen, deren Vieldeutigkeit einzelne Begriffe nicht Herr werden können. Dem Reichtum und Widerspruch der Begriffe entspricht die Vielzahl der Bilder und künstlerischen Verfahren, die Export hierfür nutzt. So war ihr umfängliches Schaffen für Kino und Fernsehen nie einem bestimmten Sujet verpflichtet oder auf eine Methode festgelegt, sondern stets auf der Suche nach neuen Möglichkeiten des Filmdenkens, die sie besonders eindrücklich in Syntagma (1983) beschwor. Überblendungen und Split Screen erinnern an die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen der Geschehnisse auf der Leinwand wie im wirklichen Leben und unterlaufen damit nicht nur die Linearität filmischen Erzählens, sondern auch eine Fortschrittsgeschichte des (avantgardistischen) Kinos und die damit verbundenen Deutungshoheiten. Scheinbar ohne besonderen Schauwert vollzieht sich dagegen die Lesung der von Export verfassten Gedichte im gleichnamigen Film (1966–1980), deren autobiografischer Gehalt durch die nüchterne Haltung der Künstlerin auf der Leinwand konterkariert wird. Das persönliche Erleben und der Wille zur Selbsterkenntnis steht am Anfang zahlreicher Arbeiten der Filmemacherin, die immer wieder selbst auf der Leinwand in Erscheinung tritt und sich mit dieser Rolle freilich nie zufrieden geben sollte. Diese Einschätzung bestätigt auch ihr 1967 in Anlehnung an die gleichnamige Zigarettenmarke gewählte Künstlername, den Export 2006 in einem Gespräch mit Brigitta Burger-Utzer und Sylvia Szely folgendermaßen erläutert: „So wie EXPORT auch Erweiterung bedeutet, das Raus aus dem Port, aus dem Hafen … In der Erweiterung liegt die Möglichkeit zur Veränderung. Es kommen andere Teile dazu und dann ist es ein anderes, vielleicht sogar ein neues Produkt. Diese Fähigkeit zur Expansion macht unser Denken aus und das macht unser Mensch-Sein aus.“

Schließlich ist Exports Kino nicht ohne seine Zuseherinnen denkbar, die mit dem Dargestelltem auf vielfältige Weise interagieren und diesem einen Sinn zuschreiben sollen, der sich indessen nie unabhängig vom jeweiligen historischen und sozialen Kontext zu entfalten vermag. Die Vorläufigkeit und Unabgeschlossenheit jeder künstlerischen Aussage bestimmt auch das von Export gemeinsam mit Peter Weibel veranstaltete Tapp- und Tastkino aus dem Jahr 1968, das die Zuseherinnen in einer Straßenaktion dazu aufforderte, die Brüste der Künstlerin durch einen vor ihren Körper geschnallten Kasten zu berühren. Der kalkulierte Ein- und Übergriff brachte das Medium Film als Projektionsfläche vor allem männlich geprägter Phantasien und Sehnsüchte auf radikale Weise vor die Augen eines Publikums, das nicht länger Schutz im privilegierten Dunkel des Kinosaals suchen sollte. Mit diesem Schritt ans Licht der Öffentlichkeit war das Expanded Cinema endgültig geboren und die Vorstellung eines dem unablässigen Gespräch zwischen Filmemacherinnen und Zuschauerinnen verpflichteten Films. In der Kritik der herrschenden Verhältnisse, die sich im Durchstoßen der Leinwand ereignet, verkörpert Exports „Mit dem Kopf durch die Wand“ somit mehr als eine Utopie, die noch lange fortbestehen möge.

 

VALIE EXPORT
Tribute beim internationalen Filmfestival Crossing Europe
21.–26. April in Linz
www.crossingeurope.at

Eine Simulation, um etwas sichtbar zu machen

Im Rahmen des diesjährigen Crossing Europe Festivals präsentiert sich Bernd Oppl als Featured Artist mit neuen Arbeiten im Lesesaal des Lentos Kunstmuseum. Florian Huber hat den zwischen Architektur, Film und Video arbeitenden Künstler im Vorfeld in seinem Atelier besucht.

Der 1980 in Innsbruck geborene Künstler Bernd Oppl studierte Malerei und Grafik an der Kunstuniversität Linz sowie Video und Videoinstallation an der Akademie der bildenden Künste in Wien und verbindet in seinem dementsprechend vielgestaltigen Werk die Auseinandersetzung mit Plastik, Film und Installationskunst mit Fragen nach der Erscheinungsform und Wirkweise multimedialer Bilder.

Die zumeist in seinem Atelier im vierzehnten Wiener Gemeindebezirk gefertigten, auf den ersten Blick unscheinbar wirkenden Objekte aus Beton und aus dem 3D-Drucker, seine analogen und digitalen Filme oder die aus schwarzen Holzleisten bestehenden Rauminstallationen entziehen sich dabei häufig einer Etikettierung, wie etwa der Blick auf eine jüngst gemeinsam mit Elisabeth Molin 2019 entstandene Skulptur verrät. Poetry prangt als Gravur auf der Vorderseite des 25 x 20,5 x 22,5 cm großen Betonquaders, an dessen Oberseite ein Zigarettenstummel aus Keramik klebt. Man mag beim Betrachten der gleichnamigen Arbeit an kettenrauchende Dichterfürsten oder das Rauchen als Abfallprodukt im künstlerischen Schaffensprozess denken. Vielleicht gelangt darin auch eine leise Kritik an der Omnipräsenz so genannter Poesie in der Gegenwartskunst und ihrer Rezeption zum Ausdruck. Oder man redet einmal mehr der zufälligen Verbindung zwischen Wort und Zeichen und der an dieser Stelle Gestalt gewordenen Materialität der Sprache das Wort. Zeugt die Gravur nicht auch von unserem unzulänglichen Streben danach, das Kunstwerk erschöpfend zu interpretieren? Also davon, wie wenig sprachliche Mittel und die sie flankierenden Anstrengungen des Kuratierens und der Kunstkritik seinen Gehalt erfassen mögen? Dazu passt, dass Oppl seine Arbeiten am liebsten ohne Titel oder erörternde Texte in den White Cube des Museums stellen würde. Womöglich evoziert die in den Beton geschnittene Schrift ironisch einen oft behaupteten und doch nicht vom Kunstwerk bzw. Künstler eingelösten Tiefsinn. Schließlich wird man durch die Rede von Poesie an die Überwindung künstlerischer Disziplin- und Gattungsgrenzen erinnert, die für Oppls Werk und seine Rezeption kennzeichnend ist. Viele seiner Arbeiten versteht er daher treffend als Modell, wie er in einem Katalogtext festhält: „Mich interessiert an der Arbeit mit Modellen, dass sie keine Objekte, Werkzeuge, Bilder, Architekturen im herkömmlichen Sinne sind – sie sind etwas dazwischen: eine Simulation, ein Ersatz, um etwas sichtbar zu machen oder auf etwas zu verweisen, das nicht da ist. Modelle werden in den unterschiedlichsten Zusammenhängen ver­wendet, um etwas vorstellbar zu machen, und in diesem Sinne verwende ich sie auch.“1

Oppls Modelle werden bisweilen für einen bestimmten Anlass oder Ausstellungsraum gefertigt, wie etwa die 2019 für den Kunstraum Dornbirn entstandene Rauminstallation Hidden Rooms, deren Konstruktion aus Holz, Stahl, PVC und Aluminium, Spiegelflächen und Glas auch Elek­tromotoren, Video und Soundequipment zum Einsatz bringt. Kleinformatig sind dagegen die Ansichten, die der Künst­ler in der Brüsseler Ausstellung LIKE A HOLE IN A ROOM LIKE A ROOM IN A HOLE im gleichen Jahr versammelt hat. Leuchtkästen geben Interieurs zu erkennen, für die die Betrachterinnen, dem Willen des Künstlers folgend, ständig ihren Standpunkt im Raum ändern müssen, um mit einem Blick von oben, unten oder an die Seite sich Übersicht zu verschaffen. Überhaupt dominiert in vielen seiner Arbeiten ein eingeschränkter Blick, den der Künstler selbst auf seine angeborene Sehschwäche zurückführt. Und doch verbirgt sich dahinter ein universelles Grundprinzip menschlichen Erkennens. Indem wir den Blick auf etwas richten, kehren wir einem anderen Phänomen den Rücken zu. Stets droht unserer Wahrnehmung Wesentliches zu entgehen. Vielleicht dominiert deshalb in zahlreichen Arbeiten Oppls das Visuelle, während Geräuschen, Klängen, Gerüchen oder dem Taktilen bestenfalls eine untergeordnete Rolle zugestanden wird. In diesem Zusammenhang erinnern seine Dioramen und Modelle freilich auch daran, wie sehr das Primat des Sehens in der westlichen Welt an konkrete Räume und Konstellationen geknüpft ist, deren Kontingenz und Gewordenheit ihre Entsprechung in Oppls Rekonstruktion bereits historisch gewordener Orte wie Kinosäle, Internetcafés oder Karaokebars gefunden hat. Zu ihrer Betrachtung steht dem Publikum dabei lediglich eine winzige Sichtöffnung zur Verfügung, die den Innenraum zudem häufig verzerrt oder nur ausschnittsweise wiedergibt. Den reduzierten Blick auf das Geschehen im Innern dieser Black Boxes versteht der Künstler in eine gewinnbringende Erfahrung zu münzen. Im Willen etwas anderes und möglichst viel zu sehen, streben die Besucherinnen der Ausstellung nach einer Überwindung der ihnen vom Künstler auferlegten Perspektiven. In der vom Modell initiierten Begegnung mit den Objekten der künstlerischen Wahrnehmung aus erfahren sie die Differenz zwischen vorgefassten und fremden Sichtweisen am eigenen Leib und erkennen die Welt dadurch mit anderen Augen.

 

1 Bernd Oppl: Hidden Rooms. Herausgegeben von Thomas Häusle. Katalog zur Ausstellung im Kunstraum Dornbirn 2019. VfmK Verlag für moderne Kunst GmbH 2019.

BERND OPPL Crossing Europe 2020, Lentos Featured Artist 22. April – 12. Juli 2020 Bernd Oppls Arbeiten bewegen sich meist zwischen Architektur, Film und Video und ermöglichen den BetrachterInnen, einzigartige Zugänge in Räume und Situationen. Die Inszenierungen – meist mittels aufwändig gestalteter Modelle und Dioramen umgesetzt – vermit­teln Oppls Wahrnehmung und Sichtweise auf physische und psychische Or­te. Anlässlich des Crossing Europe Filmfestivals 2020 zeigt das Lentos im Leseraum eine Ausstellung des Künstlers.
www.lentos.at
www.crossingeurope.at

Carrara Corso: Ein Schwan zerbricht

Die Ausstellung „Carrara Corso“ war Ausgangspunkt und Ergebnis der Zusammenarbeit zwischen den beiden oberösterreichischen KünstlerInnen Stefan Brandmayr und Inga Hehn. Im Jänner und Februar 2020 war im Kunstraum Memphis ein Lauf durch die Geschichte ihres einjährigen Arbeitsprozesses zu sehen.

Ausstellungsansicht „Carrara Corso“. Foto Memphis

Memphis, der von Jakob Dietrich und Kai Maier-Rothe betriebene Ausstellungsraum des Kunstvereins Nomadenetappe ist ein beweglicher, nicht-kommerzieller und transdisziplinär ausgerichteter Kunst- und Projektraum, der sich mit, Zitat Memphis-Homepage, „faltenfreien Positionen“ in junger Kunst und Theorie, experimenteller Musik und Performance auseinandersetzt. Seit mittlerweile 10 Jahren legt Memphis in Linz den Fokus neben lokalen künstlerischen Positionen auch auf internationale Vernetzung und Austausch.

Für die Ausstellung „Carrara Corso“ wur­den nun Stefan Brandmayr und Inga Hehn eingeladen, sich des Raumes anzunehmen und zu zeigen, wo sie beide in ihrer künstlerischen Arbeit im Moment gerade stehen. Brandmayr studierte zwischen 2011 und 2017 Bildhauerei/Transmedialer Raum an der Kunstuniversität Linz, wo er seit 2017 auch unterrichtet. Ebenso lange bespielt er gemeinsam mit Felix Pöchhacker den Ausstellungsraum EFES 42 in der Schil­lerstraße. Inga Hehn studierte zwischen 2004 und 2013 ebenfalls in Linz Bildende Kunst mit Schwerpunkt Malerei & Grafik, 2010 an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig und lehrt seit 2019 Lithografie an der Kunst­uni­versität Linz.

Bereits der Titel „Carrara Corso“ macht neugierig und weckt verschiedene Assoziationen. Zum einen bezieht er sich auf den Lauf, die Strecke, zum anderen auf die gleichnamige italienische Stadt und die Geschichte des Carrara-Marmors. „Corso kann auch als festlicher Umzug verstanden werden, was dem Thema des Ausstellens entspricht“, so Hehn, die sich gerade intensiv mit der Technik der Marmorierung beschäftigt, um marmorähnliche Effekte auf Papier zu erzeugen. Das Konzept spiegelt sich im Titel wider, der wiederum auf den Verlauf ihrer Kooperation Bezug nimmt. Und Brandmayr schildert das Interesse am Dialog: „Im Laufe des letzten Jahres haben wir uns ungefähr alle drei Wochen für ein paar Tage getroffen. Entweder war ich bei Inga im Studio oder umgekehrt und wir haben gemeinsam gearbeitet, jeder an seiner eigenen Arbeit.“
„Für mich bedeutete diese Zusammenarbeit auch das Öffnen meiner Arbeitsroutine“, ergänzt Hehn, deren Praxis von diesem Prozess entscheidend beeinflusst wurde. „Insbesondere auf die Gipsarbeiten hatte das starken Einfluss“, erörtert Hehn auch die Lust am Experiment, neue Materialien und Techniken auszuprobieren. Hehn lebt und arbeitet im Gegensatz zu Brandmayr, dessen Werkstatt sich in Linz befindet, seit fünf Jahren in Ottensheim. Da ihr Wohnatelier eine andere Infrastruktur bereithält als für ihn gewöhnlich, war Brandmayr ebenfalls gefordert, anderes zu versuchen. Dabei entstand die Arbeit „32 Antworten auf die Frage ‚Wie geht’s?‘,“ ein Collagenbuch, dessen Seiten als Raum zu erfahren sind und als Übung betrachtet werden kann.

Die Recherche nahm einen großen Teil ihrer Arbeit ein. Beide haben einander ihre Ressourcen zur Verfügung gestellt wie zum Beispiel Bücher etc. Aus dem Collagenbuch entstand die Idee zu den Arbeiten für den Raum, die vom Aufbau her sehr ähnlich sind und im Dialog stehen mit den Bildern von Hehn. „Ohne das Buch, das bei Inga im Atelier entstanden ist, hätte ich vermutlich eine solche Idee nicht entwickelt und andere Objekte wären die Folge gewesen“, erklärt Brandmayr den Schritt vom zweidimensionalen in den dreidimensionalen Raum mittels Gips, Fiberglas, Epoxidharz oder Pressspan. Der Künstler arbeitet mit ästhetischen Vorbildern, setzt sich dabei mit Themen wie Inszenierung oder Repräsentation auseinander und schafft mit „Control Company“, „Admiral“, „Action direkt“, „Sportzigarette“, „Versailles“ und „Eden“ formal ähnliche Objekte, die miteinander aber auch unabhängig voneinander funktionieren. In Dialog setzen sie „Eden“ (2019, Gips, Fiberglas, Epoxidharz, Pressspan, 68 x 11 x 11 cm) mit Hehns Serie „Lapsus“ (2019, Gips, Papier, Edding, Zwirn, marmoriert, je ca. 20 x 13 cm) im Sinne eines Ausrutschers, dem ein Experiment vorausgeht.
Indem Hehn Papier in Gips taucht, ähnlich dem Prozess der Papiermarmorierung, erweitert sie ihre künstlerische Praxis. Dabei interessiert sie zum einen die handwerkliche Technik selbst wie auch das Moment der Produktion, das nicht kontrollierbar ist und dessen Ergebnisse einem Zufallsprinzip unterliegen. „Dieser Prozess hat etwas Alchimistisches und lässt sich noch weiterentwickeln – auf die Spitze treiben und auf größere Formate übertragen.“
Auch Brandmayrs Objekte lassen viele Assoziationen zu. Beispielsweise stellt sich das Thema des Phallischen insbesondere beim Anblick von „Admiral“ ein (2019, Fiberglas, Epoxidharz, Gips, Tennisball, 37 x 6 x 6 cm) und verweist auf eines seiner zentralen Themen, das der männlichen Repräsentation. Seine Arbeiten scheinen arrangiert, sind aber „in einem Guss“ gefertigt und lassen sich je nach Räumlichkeit und Kontext einzeln oder in Gruppen setzen.

Dialogische Strukturen
In der Ausstellung zeigen Brandmayr und Hehn Arbeiten zwischen Geometrie und Experiment. Die Werke verbindet ein beiderseitiges Interesse am kontrollierten Zufall, dessen Ausgangspunkt weniger in einem streng formulierten Konzept als vielmehr in einem verzahnten Ineinandergreifen von objektorientierter Arbeit und inhaltlicher Diskussion besteht. Fragestellungen zu Repräsentanz, Inszenierung und deren Materialität leiten Brandmayr bei der Produktion seiner Skulpturen, vermittels derer er analytische Betrachtungen von Geschlechterrollen mit jenen der grundlegenden Parameter gegenwärtiger Kunstproduktion vermengt. Hehns Arbeiten hingegen entstehen aus einer konsequenten Beschäftigung mit Punkten, Linien und Flächen. Dabei skizziert sie Körper und Körperhaftes und erkundet in feinsten Strichgefügen Millimeter für Millimeter diverse Oberflächen.
Im Dialog stehen Brandmayrs Skulpturen mit Hehns mit ihrem Hauptmaterial Tusche und Feder gezeichneten Strichen, die an ihre „Trichter-Serie“ anknüpfen und auf eine Linie zurückgeführt werden können. Dichte spielt dabei eine große Rolle wie auch Aussparungen und freier Raum. Die Arbeiten sind abstrakt, haben aber einen organischen Ausgangspunkt, was mit der Art und Weise ihrer Zeichentechnik zusammenhängt. „Die Zeichnung weist eine gewisse Chronologie auf. Ich fange bei einem Punkt an und webe die Linie(n) nach oben“, erklärt Hehn, deren Motive an die von Pflanzenstängel oder archaische Formen erinnern. „Wenn man eine Linie so aufbaut, wirkt diese unmittelbar organisch, weil der Prozess einem Wachsen gleicht. Jede einzelne Linie kann im Gesamten aber auch einzeln gesehen werden“, beschreibt Hehn ihren Minimalismus. Sie setzt an und „es entsteht eine Serie, bei der man immer wieder neue Kompositionen ausprobieren möchte. Die Zeichnungen entstehen über einen längeren Zeitraum.“ Dabei spielen auch Papiere als Untergrund eine wesentliche Rolle. Für die Serie „v. v.“ (2019, Tusche auf Karton, je 70 x 50 cm), die im ersten Ausstellungsraum präsentiert sind, verwendet Hehn glatte Oberflächen, da diese für eine angenehme Arbeitsweise mit der Feder sorgen. Dabei verhakt sie sich nicht und gleitet störungsfrei über das Papier. „Ich arbeite auch mit den feinsten Federn, die es gibt. Diese Blätter sind bei Stefan im Atelier entstanden, nehmen aber Bezug auf schon bisher entwickelte Serien.“ Sie suggerieren eine Leichtigkeit, die bei genauem Hinsehen einen überaus konzentrierten und mitunter anstrengenden Arbeitsprozess vermuten lassen. Der gewählte Titel lässt wiederum viele Assoziationen zu.

Zufallsprinzip
Dem Zufall ist es geschuldet, dass die Arbeiten so gut harmonieren und sich auf spannende Weise ergänzen. Die Installation im Raum gestaltete sich für beide, ihrer Schilderung zufolge, sehr schnell, lässt viel freien Raum, wodurch den Arbeiten genügend Platz zugesprochen wird.
„Wir haben uns Zeit genommen, um den Raum kennenzulernen und die Ausstellung aufzubauen. Dabei haben wir auch verschiedene Möglichkeiten ausprobiert. Es hat sich dann auch so ergeben, dass beide Räume so unterschiedlich sind. Im ersten Raum sind die Objekte sehr puristisch, sehr homogen, während sich der zweite Raum gemischter gestaltet und viel dichter ist als der erste“, sind sich Brandmayr und Hehn einig.

Der Schwan bzw. „Warteprofi (sitzend)“ (2020, Stahl, Papier, Gips, Hydro-Stop Beschichtungsmasse) ist das einzige Objekt in der Ausstellung, das sofort konkrete Bezüge zulässt. Es geht zurück auf einen Workshop unter dem Titel „Treibgut und Schwäne“, den Brandmayr gemeinsam mit Cäcilia Brown und Noële Ody an der Kunstuni Linz abgehalten hat. Aufgabe war es, schwimmende Objekte herzustellen. In Brandmayrs Fall diente ein Schöpflöffel als formgebendes Vorbild. Sein Schwan wurde auch getestet, hat den Schwimmtest aber nicht bestanden, sondern ist sogar im Wasser zerbrochen. Brandmayr reparierte das Objekt bei dieser Gelegenheit und wird es im Rahmen der Finissage am 25. Februar in einem selbst gebauten Fass ein zweites Mal versuchen (Anm. d. Red.: Das Gespräch wurde Anfang Februar geführt). Zudem werden die Arbeiten noch einmal neu arrangiert und die Räumlichkeiten verändert. Bei der Finissage liest außerdem der Autor Anselm Tancred einen Auszug seiner lyrischen Werke und wird erwartungsgemäß wieder divergierende Bezüge herstellen.

Mehrsprachigkeit
Feder und Tusche sind auch Material und Werkzeug, das Hehn für ihre Arbeit „Ohne Titel“ verwendet (2019, aus der Serie „Minidramen“, 148 x 124 cm), die sie schon seit längerem verfolgt. Ausgangspunkt ist auch hier die Linie, die Technik eine minimalistische. Wobei sich die Feder verhakt, während sie mit dünnem Karton arbeitet, die Nadel über das Papier zieht und im Laufe eines langen Arbeitsprozesses ein Gebilde formt. „Zeit ist ein spannender Faktor, mit dem man arbeiten kann. Das bewegt sich zwischen Meditation und schwerer Arbeit. Man muss versuchen beides in ein Verhältnis zu bringen.“, schmunzelt die Künstlerin, die meistens parallel an mehreren Serien arbeitet – hoch konzentriert, gefordert, doch das Eintauchen bedeutet für sie auch Genuss. „Man muss schon sehr nah dran sein am Papier. Deshalb ist das Sujet in dieser Größe schon das Maximale, was man in dieser Form durchführen kann. Meistens geht die Bewegung von außen nach innen, die Dichte ergibt sich durch das Zusammenführen der Linien in der Mitte.“
Mit dem Titel „Minidramen“, an deren Serie sie noch weiterarbeitet, sind all die (ungewollten) Farbexplosionen gemeint, die während des Arbeitens passieren. Dabei macht es laut Hehn wenig Sinn, ihre Zeichnungen zu sehr zu versprachlichen, denn die Liniensetzungen stehen für sich und „sprechen“ für sich. Ihrer Technik wohnt demnach ein poetisches Moment inne, das auf ein Dazwischen weist. „Ingas Arbeiten sind nach und nach entstanden und meine vielmehr auf einen Schlag“, erzählt Brandmayr. Der Faktor Zeit spielt bei Hehn im Vergleich zu Brandmayr eine ganz andere, wesentlichere Rolle. Es sind verschiedene Geschwindigkeiten, die hier zum Ausdruck kommen. Die Räume changieren zwischen Schwere und Leichtigkeit. Während Hehns Arbeiten von einer Dauer zeugen, spiegeln Brandmayrs Objekte eine Dynamik wider und erzeugen in dieser Zwiesprache eine entschiedene Balance, der man sich als BesucherIn mühelos überlassen kann.

 

Die Ausstellung „Carrara Corso“ von Stefan Brandmayr und Inga Hehn war bis 25. Februar im Kunstraum Memphis an der Unteren Donaulände zu sehen.

www.stefanbrandmayr.net
ingahehn.blogspot.com
www.memphismemph.is

Hinweis:
DRIFT – Inga Hehn (solo)
Vernissage: Do 26. März 2020, 18.00 Uhr
27. März – 23. Mai 2020
Galerie HAAS & GSCHWANDTNER
Neutorstraße 19, 5020 Salzburg
www.hg-art.at

Untersuchung der Wetterphänomene

Die diesjährige Ausgabe von AMRO „Art Meets Radical Openness“ steht unter dem Titel „Of Whirlpools and Tornadoes“. Dieser Textpreview zum AMRO-Festival im Mai behandelt das komplexe Zusammenspiel digitaler Infrastrukturen mit unserer Umwelt und fragt, wie Daten auf unseren Planeten einwirken – und somit auch auf das Wetter. Christina Gruber schreibt über fünf meteorologischen Grundgrößen und einige irdische Implikationen unseres digitalen Konsums.

10. Februar 2020. Die neue ESA-Sonde „Solar Orbiter“ ist von den Sümpfen Floridas in Richtung Sonne gestartet. Die Mission soll neue Erkenntnisse zu unserem rund 150 Millionen Kilometer weit entfernten Heimatstern liefern.1

Anlässlich des Starts dieser Weltraum-Mission wagen wir einen tieferen Blick auf die Beziehung zwischen digitalen Daten und dem Wetter. Könnten aktuelle Wetterextreme mit unseren Online-Aktivitäten zusammenhängen? Anhand von fünf meteorologischen Grundgrößen werden Umwelten, digital und analog, miteinander verbunden und könnten so das Milieu für neue künstlerische und aktivistische Praktiken bereitstellen.

Globalstrahlung
Unter Globalstrahlung versteht man die gesamte an der Erdoberfläche auftreffende Solarstrahlung. Die Intensität ist stark schwankend durch Bewölkung und atmosphärische Trübungen. Aktuell werden für die Rechenleistung unserer Computer und deren Infrastrukturen immer größere Mengen an Ressourcen aller Art benötigt. Diese dienen unter anderem dazu das Wetter vorherzusagen.2
Besteht vielleicht eine noch stärkere Verbindung zwischen den Ökosystemen als bisher angenommen? Erste Darstellungen dieser zusammenhängenden Systeme erinnern stark an technische Schaltpläne und könnten auf die enge Verbindung zwischen technologischen Entwicklungen und deren Auswirkungen auf unsere Umwelt gelesen werden (siehe Abb., Ecosystem Model, Howard Odum, 1960).3
Globalstrahlung bedeutet aber auch, dass virtuelle und natürliche Umwelten physikalisch miteinander verbunden sind: Je mehr Daten wir digital erzeugen und in Datenzentren zwischenlagern, desto mehr beeinflussen wir unser Klima. Der vermeintlich schwerelose Cyberspace benötigt neben Brennstoffen zur Kühlung der Server auch Unmengen an Wasser und beeinflusst daher den Wasserkreislauf und unser Wetter.

Luftdruck
Datenzentren tragen neben vermehrter Wolkenproduktion auch zu Veränderungen in der Artenzusammensetzung bei. So werden immer häufiger die Klimaanlagen der Datenzentren mit Wasser gekühlt. Dafür wird Wasser aus angrenzenden Flüssen entnommen und im Schnitt zwischen 6–8 Grad Celsius wärmer wieder eingeleitet. Diese punktuellen Wärmepole stellen mikroklimatische Veränderungen dar, die von wärmeliebenden Fischen und Fischern gleichermaßen genutzt werden. In Österreich sind dies häufig keine „heimischen“ Arten, sondern sogenannte „Aliens“. Aber sind es nicht auch wir, die aufgrund unseres exzessiven Streamingverhaltens das Klima verändern und somit neue Bedingungen schaffen? Der Druck steigt. Neben vermeintlichen Aliens wird maschinelles Lernen häufig als Bedrohung für den Menschen dargestellt. Vielmehr ist es aber der ökologische Fußabdruck, der erschaudern lässt. Immer öfter wird maschinelles Lernen eingesetzt, um rasche Forschungsergebnisse erzielen zu können. Dieser „fast-research“ hat aber Langzeitfolgen.4 Das Training komplexer neuraler Netzwerke stößt so viel Kohlenstoffdioxid aus wie fünf Autos während ihrer gesamten Lebensdauer, inklusive Herstellung.5 Gleiches gilt für die Cloud, deren immaterielle Leichtigkeit massive physikalische, technische und politische Abdrücke hinterlässt. Maschinen haben bis jetzt unsere Produktivität aber nicht wie erwartet erhöht, sondern die Energieaufwendungen nur umverteilt.6

Windrichtung
Daten werden als die neuen Beschleunigungsteilchen von quasi allem gepriesen. Ohne sie sind wir nichts. Es stimmt schon, dass Dinge, die nicht aufgezeichnet werden, auch nicht wieder abrufbar sind. Aber wieso besteht in einer Zeit der scheinbar vollkommenen „Erleuchtung“ ein so starkes Verlangen nach Mystifizierung? Warum boomen gerade jetzt Meditations-, Naturerfahrungs-, Selbstheilungs- und Entschleunigungsworkshops? Möglicherweise liegt in der präzisen Unschärfe die Faszination und Anziehung. Ist alles klar und absehbar, schwindet das Interesse. Trotz aller Überwachungs- und Messeinheiten, die auf unser Wohlbefinden abzielen, erreichen sie das Gegenteil. Wir fühlen uns wie Verfolgte in der ewigen Verfügbarkeit und sind konstant gestresst. Wenn jegliches Risiko durch ein Modell abgeschätzt werden kann, warum es dann noch überhaupt versuchen?

Survival of the fittest. Wir scheinen eine Spezies zu sein, die es liebt, Dinge zu messen. Dies wird nun aber von Firmen ausgenutzt, denen wir etwa bereitwillig unseren Standort bekannt geben, um an unserer Fitness zu arbeiten. Was im Hintergrund passiert, bleibt aber meist verborgen. Das digitale Datentracking verbraucht nicht nur meine Kalorien, sondern auch Ressourcen, ArbeitnehmerInnen und unser Ökosystem.

Niederschlag
Aktuelle Berichte rund um die Einführung des neuen 5G-Netzes befürchten, dass die Funkfrequenzen von 5G mit meteorologischen Erdbeobachtungen kollidieren könnten.7 Jordan Gerth, ein Meteorologe der Universität von Wisconsin-Madison, bezeichnet es als ein globales Problem, da manche der für 5G versteigerten drahtlosen Funkfrequenzen nahe an denen liegen, die Satelliten zum Beispiel zur Messung von Wasserdampf und damit zur Wettervorhersage nutzen. Genaue Vorhersagen werden schwieriger und könnten sogar den Flugverkehr beeinträchtigen.

Taupunkt
„CO2 makes us numb“8. Ein weiterer Aspekt neben dem Abschmelzen der Polkappen, neben steigenden Meeresspiegeln und massiven Artensterben durch ansteigende Kohlendioxidwerte ist, dass unser Denken beeinflusst wird. CO2, Hauptakteur im Klimawandel, ist nicht nur eine Gefahr für die Erde und andere Lebewesen, sondern auch für unseren Verstand. Messungen in vollklimatisierten Räumen, wie sie aufgrund steigender Temperaturen immer häufiger werden, zeigen erschreckend hohe Kohlenstoffdioxidwerte, die es uns erschweren, unseren Verstand kreativ zu nutzen und somit auch die eine oder andere so dringend benötigte innovative Idee zu entwickeln. Unsere Aufnahmefähigkeit verschlechtert sich.9 Für das Jahr 2100 wird eine CO2-Konzentration in der At­mosphäre von 1000 ppm bis 2100 vorhergesagt. Ab 1000 ppm sinken die kognitiven Fähigkeiten des Menschen um 21%.10

Und jetzt der Wetterausblick für morgen
Wir befinden uns alle in derselben Pfütze. Angelehnt ist dieser Satz an die Aussagen Donna Haraways, die darauf abzielen, dass wir beginnen müssen, unsere nicht-menschlichen WeggefährtInnen ernster zu nehmen, solange wir es noch können, um gemeinsam an neuen Strategien zu arbeiten. Eine Möglichkeit dafür ist die diesjährige Ausgabe des AMRO-Festivals (Art Meets Radical Openness) unter dem Titel: „Of Whirlpools and Tornadoes.“

 

1 Sonde erfolgreich zur Sonne gestartet. Stand: 10. 02. 2020. www.tagesschau.de/ausland/solar-orbiter-109.html

2 Gabrys, Jennifer. Powering the Digital: From Energy Ecologies to Electronic Environmen­talism. Media and the Ecological Crisis. New York and London: Routledge, 2014, 3–18. 3 Allen, Jamie; Sobecka Karolina. Double Counting: The Odum Oration. Berlin, 31. 01. 2020, transmediale Festival.

4 Vlastelica Pgancic, Marin. The Carbon Footprint of AI Research. Towards Data Science. Oct 2019.
towardsdatascience.com/the-carbon-footprint-of-ai-research-812d9c974a5c

5 Hao, Karen.Training a single AI model can emit as much carbon as five cars in their lifetimes June 9 2019. MIT Technology Review. www.technologyreview.com/s/613630/training-a-single-ai-model-can-emit-as-much-carbon-as-five-cars-in-their-lifetimes

6 Curtis, Adam. All Watched Over By Machines of Loving Grace, BBC

7 Witze, Alexandra. 5G data networks threaten forecasts. Vol. 569, 2 May 2019. Springer: Nature.

8 Bridle, James. Air pollution rots our brains. Is that why we don’t do anything about it? 24 Sept 2018, The Guardian: www.theguardian.com/commentisfree/2018/sep/24/air-pollution-cognitive-improvement-environment

9 Is CO2 an indoor pollutant? Direct effects of low-to-moderate CO2 concentrations on human decision-making performance. Sathish U, et al. Environ Health Perspect. 2012 Dec; 120(12).
www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/23008272

10 Associations of Cognitive Function Scorers with Carbon Dioxide Ventilation, and Volatile Organic Compound Exposures in Office Workers: A Controlled Exposure Study of Green and Conventional Office Environments. Alle JG et al. Environ Health Perspect. 2016 June; 124(6): www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/26502459

Vertrauen in Netzwerke und die ‚Tra­gedy of the commons‘

Preview No. 2 zum Netzkulturfestival AMRO – Art Meets Radical Openness – im Mai: Das Interview mit der Künstlerin und Forscherin Jaya Klara Brekke wurde bereits anlässlich der von servus.at organisierten Veranstaltungsreihe „The Bitcoin is dead, long live the blockchain!“ von Katja Lux geführt. Es beleuchtet verschiedene zeitgenössische Phänomene, die auch beim Festival behandelt werden – wie Dezentralisierung, technologisches Vertrauen und den Glauben an den technologischen Determinismus.

Jaya Klara Brekke, online at distributingchains.info. Bild Jaya Klara Brekke

Ich würde gern mit der Frage einsteigen, ob du Zusammenhänge zwischen dem spirituellen Glauben deiner Eltern und dem was du heute tust und glaubst, siehst? Dein inoffizieller Name bezieht sich auf die Gottheit „Gaia”.
Puh, das ist eine schwierige Frage, aber die Antwort ist unweigerlich ja. Die Art wie ich aufgewachsen bin, hat definitiv mein Denken geprägt. In einer Art spirituellen Gruppe aufzuwachsen und in anarchistische und andere kollektiv organisierte Gruppen fernab vom Mainstream involviert zu sein, hat mir bewusst gemacht, wie Gruppendynamiken funktionieren. Das betrifft auch die Entstehung gruppeninterner Dogmen. Ich bin sehr kritisch.
Ich habe zwei Namen, Jaya und Klara. Früher wurde ich in der Mainstream-Gesellschaft Klara genannt. Zuhause und bei spirituellen Zusammenkünften war ich Jaya. Daher habe ich früh die Erfahrung gemacht, dass es mehrere Wahrheiten und Arten, in der Welt zu existieren, gibt. Und diese müssen sich nicht ausschließen, sondern können sich sogar gegenseitig befruchten.

Kann man sich deine zwei Namen als die beiden Hirnhälften vorstellen? Klara wäre die rationale Seite und Jaya würde sich mehr mit der spirituellen oder emotionalen Welt befassen. Mit welcher der beiden Identitäten arbeitest du vorwiegend in deiner Forschung? Mit wessen Augen betrachtest du deinen Gegenstand und mit welcher der beiden fühlst du dich mehr verbunden?
Ich glaube, dass mich beide sehr stark beeinflussen. Natürlich kann man eine Dichotomie zwischen einer westlichen oder rationalen Sichtweise gegenüber einem nicht-westlichen, spirituellen Blickwinkel aufmachen. Aber ich glaube die Beziehung zwischen diesen beiden Sphären ist viel komplexer. Auch in der westlichen Welt gibt es einen starken emotionalen Zugang, er äußert sich nur anders oder wird anders artikuliert. Jaya ist für mich eine Erinnerung, dass es eine Vielzahl von Arten zu leben und zu denken gibt. Besonders im Computerbereich oder auf den Daten- und Finanzmärkten glaubt man an eine bestimmte Neutralität oder Rationalität. Es wird von einem universellen Wesen und einer universellen Sprache ausgegangen, obwohl sich diese Dinge unweigerlich bedingen – nach dem Motto „Das Medium ist die Nachricht”. Dadurch wird eine kulturelle Analyse erschwert. Im Zusammenhang mit Blockchain beobachte ich technikfaschistoide Tendenzen. Diese Ideologien oder Dogmen suchen nach einer singulären, stabilen Quelle für Wahrheit. Kryptographie, Mathematik und Netzwerkarchitekturen ermöglichen eine Sicht auf die Welt, die frei von menschlicher Befangenheit scheint.

In meiner Arbeit untersuche ich die spezifischen Konzepte, die im Bereich von Blockchain, Kryptowährungen und Kryptoökonomien verwendet werden. Dabei interessieren mich vor allem Fragen wie: Um welche bestimmte Form von Dezentralisierung geht es? Wie werden Vertrauen und Konsens in dieser Sphäre verstanden? Das sind die drei Hauptkonzepte, mit denen ich arbeite.
Im Zusammenhang mit der Blockchain wird Vertrauen aus der Perspektive der Netzwerksicherheit betrachtet. Wenn du versuchst, ein dezentralisiertes Netzwerk zu entwickeln, dann wird dein Verständnis von Dezentralisierung darauf abzielen, dass jedem Knotenpunkt im Netzwerk vertraut wird. Die Idee hinter einem dezentralen Netzwerk, das von den spezifischen Knotenpunkten unabhängig ist, ist die Resistenz gegenüber feindlichen Angriffen. Es gibt also ein Sicherheitsinteresse, woraus die Idee eines vertrauenslosen Netzwerks entstanden ist. Dort ist potenziell jeder ein feindlicher Akteur, der/die das Netzwerk angreifen kann. Als Sicherheitstechniker/-in muss man zwangsläufig so denken, wenn man ein dezentrales System aufbaut. Wenn du dieses Sicherheitsdenken aus der Technik auf die Gesellschaft als Ganzes überträgst, wirst du ziemlich schnell feststellen, wie fucked up deine Wahrnehmung von Gesellschaft durch diese beinahe militärische Einfärbung ist.

Passiert das auf politischer Ebene nicht ohnehin schon, dass jede und jeder verdächtig ist und daher zumindest überwacht wird?
Ja, aber was ich sagen will, ist, dass diese Systeme da nicht helfen, sondern das sogar noch verstärken. Mit der Blockchain ein Sicherheitsproblem in den Griff zu bekommen, bedeutet, ein Problem um Vertrauen per se zu schaffen. Das Vertrauensproblem wird „gelöst”, indem man beklagt, dass Menschen nicht vertrauenswürdig sind. Dieses Vertrauen wird in ein Protokoll formuliert, das zwischen Menschen vermittelt – und das ist sehr problematisch. Es ist vor allem ein Missverständnis, wie Gesellschaften funktionieren. Wenn man beobachtet, wie Menschen mit dem System interagieren, ist das nie komplett vertrauenslos. Du verlässt dich immer auf den aktuellen Stand der Technik. Du vertraust dem/der Walett-Entwickler/-in, dem Wechselkurs und auf viele andere Dinge. Und das machst du vor allem, weil viele andere Leute diesen Quellen auch vertrauen. Unsere Alltagsinteraktionen basieren auf Vertrauen. Es gibt das soziale, politische, kulturelle und wirtschaftliche Leben, technische Mittel, die materielle Welt – wo ist die Schnittstelle? Wo verschiebt sich das technische Konzept von Vertrauen zu einem sozialen Konzept von Vertrauen und wo treffen sich die beiden? Auf welche Weise wird das sichtbar?

Was können wir deiner Meinung nach von Blockchain-Systemen lernen, wenn wir versuchen zu verstehen, wie Gesellschaften funktionieren und andersherum?
Ich glaube, das eigentliche Problem ist, dass Menschen dazu neigen, Analogien zwischen diesen Dingen herzustellen. Im Moment gibt es da eine große Verwirrung. Nehmen wir zum Beispiel das Wort „Netzwerk” – alles ist potenziell ein Netzwerk. Aber macht das eigentlich Sinn und was passiert, wenn wir die Dinge plötzlich als Netzwerke begreifen? Wie stehen wir dann zu diesen und nehmen wir sie dadurch dann als etwas anderes wahr? Oder: „Das Gehirn ist ein Computer”. Das ist ein schönes Beispiel um zu zeigen, wie wir durch solche Analogien die Eigenheiten beider Entitäten herunterspielen. Wir müssen uns von Analogien generell verabschieden und sollten Computer, künstliche Intelligenz, Blockchain-Systeme oder was auch immer, in ihren Eigenheiten begreifen, unabhängig voneinander.

Ich würde dich gern nach deiner Meinung zum Titel unserer Workshopreihe „Der Bitcoin ist tot, lang lebe die Blockchain!“ fragen. Was denkst du darüber?
Dazu fallen mir viele Antworten ein. Für einige Leute würde der Satz bedeuten, dass mit der Blockchain weitaus mehr möglich ist als der Bitcoin – dem würde ich zustimmen. Trotzdem ist der Bitcoin nach wie vor der Referenzpunkt, wenn es um die Erklärung der grundlegenden Funktionsweise der Blockchain geht. Auch ist der Bitcoin bisher die Kryptowährung mit dem höchsten Wert auf dem Markt und schart eine Vielzahl eingefleischter Enthusiasten um sich. Daher kann man objektiv betrachtet nicht sagen, dass der Bitcoin tot ist. Allerdings gibt es seit Jahren den Versuch, die Blockchain zunehmend aus der Bitcoin-Sphäre zu lösen. Die Blockchain ist viel mehr als das und hat das Potenzial, etwas ganz Anderes zu schaffen.

Ich habe mich gefragt, was wohl zuerst kommen muss – ein Umdenken und der politische Wille, unser Finanzsystem zu ändern, oder muss sich erst das System selbst verändern, bevor die Gesellschaft nachzieht? Wo würdest du Verbindungen zwischen der Etablierung eines Wirtschaftssystems, das auf der Blockchain basiert, und einem gesellschaftlichen Wan­del sehen?
Das sind gute Fragen. Ich glaube, man muss die Ideen der Kryptowirtschaft als Mechanismen verstehen, menschliches Verhalten zu koordinieren – gerade im Kontext des Versagens unserer existierenden Systeme. Wir brauchen neue, nicht-autoritäre, dezentrale Systeme, die menschliche Interaktionen im großen Stil regeln können. Das klingt wahrscheinlich für die verschiedensten politischen Lager sehr attraktiv. Dennoch kommen die Werkzeuge und Annahmen der Kryptoökonomie, die genau das versucht, von problematischen Positionen. Die am häufigsten vertretene ist die Behauptung, dass es immer einen Widerspruch zwischen individuellen und kollektiven Interessen gibt. Ich weiß, dass viele Menschen das verinnerlicht haben und es zu einer Art Wahrheit geworden ist. Ich glaube, dass diese Perspektive unser kollektives Selbstverständnis untergräbt. Menschen haben verschiedenste Möglichkeiten entwickelt, Regeln für ihr Zusammenleben aufzustellen und sie sind nicht so dumm. Sie besitzen die Fähigkeit zu reflektieren, dass sie durch ihr Handeln eine gemeinsame Ressource gefährden. Wir können solche Dinge denken und unser Handeln danach ausrichten. Zu behaupten, wir hätten diese Fähigkeit nicht, macht den Weg für die Notwendigkeit eines Protokolls frei, das zwischen den individuellen und kollektiven Interessen schlichtet. Diese grundlegende Idee hat leider bisher die Basis für die Forschung im Bereich der Kryptoökonomie gebildet und ich finde das komplett falsch.

Möchtest du damit sagen, dass eine Blockchain-Architektur der menschlichen Fähigkeit, sich im Sinne des Allgemeinwohls selbstlos zu verhalten, nicht gerecht wird?
Ich würde eher sagen, dass die Architektur der Blockchain-Systeme eine bestimmte Sicht auf Gesellschaften und den Menschen widerspiegeln. Und diese ist ziemlich begrenzt. Ich habe es sehr genossen, mit Ben Vickers und James Bridle an unserem Buch über das „Bitcoin White Paper“ zu arbeiten, weil sie, neben wenigen anderen, verstehen, dass Kryptoökonomien in Systeme wie Religionen und Staaten eingebunden sind. Es ist ein Projekt, das auf Annahmen basiert, wie die Welt funktioniert. Diese Annahmen formen die Welt und werden zu deiner Wahrheit. Vor allem, wenn du in einem System aufwächst, das stark von Märkten und Marktverhalten determiniert ist. Märkte behandeln Menschen so. Wächst du in einer Umgebung mit einem starken religiösen oder ethischen Glauben auf, gibt es andere Faktoren, die das kollektive Verhalten beeinflussen. Du wirst dich als Individuum wahrscheinlich als weniger losgelöst von einem kollektiven Gut betrachten.

Auf welche Weise formen wirtschaftliche Systeme Mentalitäten? Denken wir beispielsweise an Unterschiede zwischen sozialistischen und kapitalistischen Ländern. Glaubst du, dass es Unterschiede im kollektiven Verhalten gibt, je nachdem, in welchem System man aufgewachsen ist?
Ja. Diese Systeme wirken massiv auf unsere Kultur und unser Selbstverständnis ein, allerdings auf sehr komplexe Weise. Einen bestimmten Menschentyp durch die Einführung eines bestimmten Wirtschaftssystems zu züchten, wäre zu einfach. So deterministisch ist das nicht, glaube ich. Jedes System fordert und fördert die Entwicklung bestimmter Fähigkeiten. Zum Beispiel, wenn Menschen zusammenkommen, um ihre Ressourcen zu teilen um zu überleben. Durch diese Umstände wirst du soziale Kompetenzen entwickeln, weil du lernen musst, mit anderen zu kooperieren, mit den kleinstmöglich zwischenmenschlichen Streitigkeiten.
Es gibt so viele Behauptungen, Annahmen und Legenden um die Blockchain. Allerdings nur wenige Theorien, die sich mit Rückschlüssen auf die sozialen und politischen Effekte befassen. Es gibt viele Untersuchungen zum Code und Analysen von Angriffsfaktoren und Sicherheitsmodellen. Leider aber nur sehr wenige klar definierte Ziele zum Umgang mit sozialen, ökonomischen und politischen Fehlentwicklungen und wie wir auf diese reagieren wollen. An dieser Stelle taucht die Frage nach der Reichweite auf. Wie können wir unsere Dinge in der Welt regeln, ohne eine Autorität, ohne ein zentralisiertes System zu benutzen und gleichzeitig im Konsens zusammenkommen? Das sind große Fragen. Aber ich sehe die übermäßige Inanspruchnahme von Märkten, die uns als isolierte Individuen begreifen, sehr skeptisch.

 

servus.at hat sich 2019 in mehreren Veranstaltungen mit dem Thema Blockchain beschäftigt. Weitere Inhalte der servus-Publikation zum Thema Blockchain: publications.servus.at

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