Wir könnten auch Apfelbaum sagen!

Das Aktionstheater Ensemble macht seit mehr als 30 Jahren Theater. Mit der Produktion „Bürgerliches Trauerspiel“ ist es im Mai zum ersten Mal am Landestheater Linz zu sehen. Theresa Luise Gindlstrasser hat den Regisseur Martin Gruber zum Gespräch getroffen – und beginnt mit einem kurzen Abriss über Stil, Geschichte und diverse Nominie­rungen des Ensembles.

Die Nominierung ist ein bisschen willkürlich, schreibt der Kritiker Thomas Rothschild: „Im Grunde wäre Österreichs interessanteste freie Gruppe mit jedem Stück ein Kandidat für das nachtkritik.de-Theatertreffen, wegen der bühnenwirksamen Choreographien, der musikalisch komponierten Texte und der hochprofessionellen Schauspielkunst“. Willkür hin oder her, das im Juni 2019 im Theater Kosmos Bregenz uraufgeführte „Wie geht es weiter – die gelähmte Zivilgesellschaft“ konnte als eine von insgesamt zehn Produktionen die meisten Stimmen des virtuellen Nachtkritik-Theatertreffens 2020 auf sich vereinen. Zum jährlichen Theatertreffen in Berlin (das die zehn „bemerkenswertesten“ Inszenierungen im deutschsprachigen Raum versammeln will) wurde das Aktionstheater Ensemble bisher noch nicht eingeladen. Aber ist, mit jährlich mindestens zwei Produktionen und den Arbeitsmittelpunkten Bregenz und Wien, definitiv einer der wichtigsten Player der Freien Szene.

Gegründet wurde das Aktionstheater Ensemble 1989 von Regisseur Martin Gruber, seither sind über 70 Produktionen entstanden, die vielerorts gezeigt wurden (in Linz zum Beispiel im Posthof). 2016 gab es für „Kein Stück über Syrien“ den Nestroy-Preis in der Kategorie (sie nennen es immer noch so despektierlich:) „Beste Off-Produktion“. Waren die Arbeiten am Anfang noch dramenorientierte Klassikerbearbeitungen, entstehen die hochtourigen Theaterereignisse nunmehr über Improvisationen, Interviews und das Szenenmaterial wird zum unverkennbaren Aktionstheater-Duktus destilliert, montiert. Aufgrund eben dieser Unverkennbarkeit mag die Nominierung von „Wie geht es weiter – die gelähmte Zivilgesellschaft“ willkürlich erscheinen. Nochmal Rothschild: „Die Aufführungen des Aktionstheater Ensemble sind einander ähnlich. Positiv formuliert: Sie haben einen eigenständigen, unverwechselbaren Stil“. Was ist das für ein Stil? Sicher nicht der sogenannte „neue“. Ich würde sagen: Niemand gelangt so elegant vom Hundertsten ins Tausende, ins Private, ins Politische, dahin wo dir die Zusammenhänge vor lauter Komplexität den Kopf verdrehen und Handeln dennoch möglich, ja notwendig, wird. „Es liegt an dir!“, versucht Gruber den selbstermächtigenden Anspruch seiner Arbeiten zusammenzufassen.

Die Inszenierung „Wie geht es weiter – die gelähmte Zivilgesellschaft“ beginnt mit dem Satz „Bis ich 23 war, habe ich nie masturbiert“ und endet mit einem wiederholt geweint-gebrüllten „Mama!“, bis zur Gänsehaut. Dazwischen liegen 60 Minuten, in denen die sechs Schauspielenden in rasantem Tempo über Afrika, Eigentumswohnungen und Milka-Schokolade diskutieren, in denen Wörter auseinandergenommen werden und nur solche mit einer geraden Anzahl von Buchstaben gute Wörter sind, in denen sich der „Weltfrieden“ insofern leider nicht ausgeht – weil elf Buchstaben. Das Sprechen ist von hoher Musikalität, mal verwischen die Sätze die eigenen Inhalte, mal lässt der Rhythmus die Assoziationen aufs Publikum einprasseln. Die Arbeiten des Aktionstheater Ensemble erweisen der Sprache eine doppelte Ehre: Als das kognitive Nonplusultra und als etwas, das gerade im „Faden verlieren“ passiert.

Wenn die Schauspielerin Michaela Bilgeri zum x-ten Mal fragt „Wie geht’s weiter, wo waren wir jetzt?“, dann ist das hochkomisch, weil: Reflexion über „die gelähmte Zivilgesellschaft“ beim Aktionstheater immer auch Reflexion über den Theatervorgang selbst bedeutet. „Es gilt Refugien zu schaffen, wo sich Künst­le­r*innen wohl fühlen – eine möglichst anarchische Atmosphäre und das hat natürlich etwas mit Geborgenheit zu tun. Der pekuniäre Rahmen schafft Voraussetzungen, trotzdem darf die Institution nicht wichtiger werden als die Kunst“, postuliert Gruber. Gemeinsam mit seinem langjährigen Dramaturgen Martin Ojster und einem beständigen, aber wechselnden Ensemble von assoziierten Schauspielenden wird Sprache so verdichtet, wiederholt und in kuriose Satzkonstruktionen gebracht, dass der alltäglichste Alltagssprech die ungeahntesten Inhalte preisgibt. Dabei konterkarieren scheinbar deplatzierte Choreografien den Schnellsprech, Unzusammenstellbares wird zusammengestellt und rückt umso dringlicher ins Bewusstsein hinein.

Am 8. Mai, also nicht ohne zeitgeschichtlichen Kontext, hat „Bürgerliches Trauerspiel“ als Koproduktion von Aktionstheater und Landestheater in Linz Premiere. Andreas Erdmann, leitender Dramaturg für Schauspiel am LTL, habe die Zusammenarbeit initiiert. Und Gruber zeigt sich im Gespräch positiv angetan von der Bereitwilligkeit dieser Institution auf die Aktionstheater-Arbeitsbedingungen einzugehen. Beispielsweise ist eine dreimonatige Probenzeit ungewöhnlich für einen Landestheaterbetrieb, wo Inszenierungen üblicherweise innerhalb von sechs Wochen entstehen müssen. Es wurde zunächst ein Blanko-Vertrag abgeschlossen, weil Titel, Inhalt, Ausrichtung zum Zeitpunkt der Abmachung noch nicht vorhanden waren. „Die Trägheit von solchen Institutionen kommt der Kunst nicht unbedingt entgegen“, meint Gruber, „jedenfalls ist es fein, dass sich das Haus auf uns einlässt“. So entsteht für Linz (aber nachher geht’s auf Tour) eine Begegnung von Freier Szene und Institution. Schauspielende vom Haus treffen auf Aktionstheater-erprobte Spieler*innen. „Es geht immer um die Personen, um deren Standpunkte und Ideen, insofern ist es wichtig, dass ein gewisser Stil nicht einfach nachgeahmt wird, sondern dass die jeweilige Produktion wirklich mit den Beteiligten entsteht, wir treten immer wieder neu in Kommunikation. Das hat etwas mit dem Moment zu tun. Mit Momentum, dass wir sagen können, gefällt uns nicht, schmeißen wir die Szene wieder raus. Und mit Mut: Sind wir im künstlerischen Ausdruck stärker als die Struktur? Was machen Machtstrukturen mit mir? Machismus ist ja ein Thema, das wir auf der Bühne immer wieder verhandeln, insofern gilt es das auch im Arbeitsprozess zu reflektieren“.

Der Titel „Bürgerliches Trauerspiel“ ist aus einem Scherz heraus entstanden. Auf die Frage nach der Gattung des geplanten Projektes habe Grubers Dramaturg Ojster, bloß so, das Theatergenre (das als Emanzipationsbewegung des Bürgertums im 18. Jahrhundert entstand und in der deutschsprachigen Variante zum Beispiel von Gotthold Ephraim Lessing entwickelt wurde) genannt. Aus dem Scherz ist Ernst geworden und Ausgangspunkt für ein Nachdenken über „das sogenannte Bürgerliche“: Französische Revolution, der „Citoyen“, ein neues Selbstbewusstsein gegenüber dem Adel, aber auch Spieß- oder Kleinbürgerlichkeit, Muffigkeit und so weiter, das ist der Horizont auf dem sich Gruber für den Probenprozess bewegen will. Die bürgerliche Institution Landestheater Linz wird mit dem „Bürgerlichen Trauerspiel“ selbstreflexiv: „Kulturpolitik in Oberösterreich – ein Trauerspiel“.

„Wir machen kein Eins-zu-eins-Polit-Kabarett, sondern wollen genau denken: Wie wirkt sich Politik auf das Individuum aus?“, formuliert Gruber einen Anspruch des Aktionstheaters. Das Landestheater schreibt in der Stückankündigung: „Die Produktionen des Aktionstheaters der letzten Jahre könnte man, in Anlehnung an Schiller, dramatische Gedichte nennen“. Auf meine Frage (Gedicht? Sind die Arbeiten nicht vielmehr post-gedichtisch, also prozessual, in dem Sinne, dass sie eben nicht auf einem vorgängigen dramatischen Text basieren?) reagiert der Regisseur mit einem Lob des Gedichts im Sinne von Verdichtung: „Das Aktionstheater arbeitet sozusagen mit totaler Verdichtung. Wir gehen von der Alltagssprache aus, finden einen Umgang, um diesen Duktus nicht zu verlieren, insinuieren dadurch eine gewisse Wahrhaftigkeit, als dokumentarisch lassen sich die authentischen Fragmente trotzdem nicht bezeichnen, es geht um eine verdichtete Art von Wirklichkeit“.

Sollen wir die Arbeiten des Aktionstheater Ensemble „Stückentwicklungen“ nennen? Wir könnten auch „Apfelbaum“ sagen, meint Gruber lakonisch, den solche Kategorisierungen eher weniger interessieren: „Natürlich ist es Text, mit dem wir umgehen, ich bringe was mit, wir schreiben was auf, es passiert was damit. Hauptsache keine Heldenerzählung. Ich gehe immer von meiner eigenen Blödheit aus. Es beginnt in der Grauzone des Menschseins, des ganz normalen Alltags, dort wo es, im Unterschied zum Theater keine ‚Helden‘ gibt, sondern Situationen, in denen wir uns vielleicht ‚heldisch‘ verhalten“. Er wolle niemandem erklären, was richtig sei und was falsch, so Gruber, „denn das wäre arrogant“. Um eine Ermächtigung des Publikums in Gang setzen zu können, sei es notwendig von Gut-Böse-Dichotomien und großen Welterklärungen von der Bühne herab abzusehen. Gruber will das Publikum als intrinsisch wichtig für das Zustandekommen eines Theaterabends begreifen: „Wir auf oder hinter der Bühne sind keinen Schritt weiter, wir gehen gemeinsam, das ist Demokratisierung des Theaters“.

Insofern ist es vielleicht gar nicht so abwegig, das Aktionstheater Ensemble in der Tradition des bürgerlichen Trauerspiels zu verorten. Indem es sich im 21. Jahrhundert an der Formulierung eines zeitgenössischen aufklärerischen Impulses versucht. „Sapere aude!“, hieß das mal, Martin Gruber sagt „Es liegt an dir!“.

 

Das Aktionstheater Ensemble ist mit der Produktion „Bürgerliches Trauerspiel“ am Landestheater Linz zu Gast.
Uraufführung 08. Mai, Spieltermine bis 27. Juni
www.landestheater-linz.at
aktionstheater.at

Über den weltver­kommenen Sonka

Die Referentin bringt seit mehreren Heften eine Serie von Porträts über frühe Anarchist_innen und den Anarchismus als eine der ersten sozialen Bewegungen überhaupt. Peter Haumer schreibt in dieser Ausgabe über Hugo Sonnenschein – seines Zeichens „Judenjunge, Slowakenkind, Kulturbastard“.

Hugo Sonnenschein alias Sonka – skizziert von Egon Schiele. Bild Egon Schiele (gemeinfrei)

Wer dir von Pflicht der Arbeit spricht dem speie ins Gesicht! Stiehl! Du! – Bettel nicht.1

Der deutschsprachige expressionistische Dichter Hugo Sonnenschein (1889–1953), der in der Literaturgeschichte auch unter seinem Pseudonym „Sonka“ bekannt ist, dieser anarchistische Abenteurer und spätere Parteikommunist bis zu seinem Ausschluss 1927, stammte aus Kyjov in der Nähe von Brünn. Anhand seiner Bücher können wir das Leben des Landstreichers „Sonka“ nachvollziehen: Wie er auszog als trotziger verträumter Anarchist, „Judenjunge, Slowakenkind, Kulturbastard“; einer, der dürftige, aber zähe Familienbande zerriss, um der wilden, schaurigen Luft der Vagabondage willen. Die Heimat aller Heimatlosen, die Straße, die heiße, staubige Straße des „Packs“, das dumpf zur Arbeit geht, die freie Straße des Vogelfreien, die böse Straße, an deren Rand erschöpfte Bettler sinken, gerade jene Straße, die zu meiden der damalige literarische gute Ton befahl – sie wurde zur Heldin seiner revolutionären Vagabundenlyrik. In seinen Gedichten treten Einzelgänger, Rebellen, Vagabunden, Narren, Juden und Sexarbeiterinnen auf. Gott handelt als Anarchist und Jesus ist ein Vagabund wie er selbst einer war. Die Straße führte Hugo Sonnenschein aus dem slowakischen Ghetto, vorbei an Fabriken, Schmieden, Jahrmarktsbuden und vermittelt ihm die bösen, verbotenen Lieder der Lohnsklaven, der Bettler, der Lumpen und Sexarbeiterinnen. Er vernahm das Lied der Entrechteten, das aus Hammerschlägen und Sirenengeheul und aus Bettlerflüchen klingt und vernahm, dass die Zeit reif sei, sich zu wenden, dass in die geballten Fäuste der Empörten die Waffe der Revolution gehöre!
Aber nicht die soziale Revolution wurde Wirklichkeit, sondern 1914 ist der 1. Weltkrieg vom Zaun gebrochen worden. Über die von „Sonka“ geliebten Landstraßen zogen nun endlose Soldatenkolonnen, bis an die Zähne bewaffnet. Sie haben es nicht für ihre Rechte und ihre Zukunft getan, sondern waren vielmehr Kanonenfutter imperialistischer Barbarei und sind – unter ihnen auch der k. k. Infanterist Hugo Sonnenschein – nach den Fronten gekrochen. Unsäglich Scheußliches musste geschehen und endloses Leid sich erfüllen, ehe die irregeführten Massen wieder ihre Stimme erheben konnten gegen ihre Peiniger: jetzt aber sind es Millionen und Abermillionen Stimmen, organisiert in Arbeiter- und Soldatenräten. „Sonka“ war nun kein einsamer Landstreicher mehr auf seinen Straßen, kein eigenbrötlerischer Rebell. Er erkannte das vermeintliche Gebot des geschichtlichen Augenblicks. Aus dem anarchistischen Schwärmer war ein halbwegs disziplinierter, seiner proletarischen Klasse dienen wollender Kommunist geworden, dessen Lebensbild ein Aufruf war zur menschheitsbefreienden Tat, zur Weltrevolution. „Sonka“, der sich zum proletarischen Dichter entwickelt hatte, versuchte in diesem Kampf voranzugehen.
Hugo Sonnenschein lebte in Wien von 1907 bis zu seiner Ausweisung nach den Februarkämpfen 1934, danach in der Tschechoslowakei. Er wollte die Welt verändern, kämpfte für die soziale Revolution und gegen den aufkommenden Nationalsozialismus und überlebte dabei selbst Auschwitz, wo aber seine Frau ermordet worden war. Sein Leben ist eine schwindelerregende Folge von Abenteuern, Liebe, Politik und Kunst. „Sonka“ war gern an Orten, an denen außergewöhnliche Ereignisse stattfanden: Streiks, Aufstände und Revolutionen. Er agitierte gegen die stalinistischen Schauprozesse in Moskau und war viele Male selbst im Gefängnis. Er traf, vagabundierend durch halb Europa, Mussolini, Hitler, Lenin, Kropotkin und Goebbels, korrespondierte mit Leo Trotzki und diskutierte mit ihm im Cafe Central in der Wiener Innenstadt. Egon Schiele und F. H. Harta2 machten eindrucksvolle expressionistische Skizzen von ihm und er hatte viele Freunde und Bekannte unter tschechischen Künstlern: Březina, Deml, Šrámek, Neumann, Olbracht. Hugo Sonnenschein, der jüdische Dichter und Abenteurer, hatte es geschafft, mit seinen Ideen die herrschenden Ideologien herauszufordern. Er starb eines natürlichen Todes, wenn auch in einer Zelle des Gefängnisses von Mirov in Tschechien – wo er doch gerade nach Auschwitz solch eine Sehnsucht hatte in Freiheit zu sterben.
Im März 1945 schrieb „Sonka“: „Am 7. Jänner 1945[?]3 um 2 Uhr 27 Minuten nachmittags kam eine sowjetische Vorpatrouille ins Lager Oswiecim [dt.: Auschwitz], das ich nicht mit den Häftlingstransporten verlassen hatte. Drei weiße Gestalten kamen, die mir in ihren langen Schneemänteln herrlich, wie die Erzengel der Freiheit erschienen: die ersten drei Soldaten des großen Befreiers. Wir hatten keine Worte. Wir reichten ihnen die Hände und weinten.“4
Die Rote Armee befreite vor 75 Jahren die wenigen Überlebenden des nationalsozialistischen Mordlagers Auschwitz – unter ihnen Hugo Sonnenschein. Er lebte und wunderte sich. Er war frei – und staunte. Da schrieb er das Wenige auf, das er aus der Zeit jenseits des Lebens aus jener Welt der Träume im Gedächtnis behalten hatte. Das Ergebnis waren seine „Schritte des Todes, Traumgedichte aus Auschwitz“ – Verse, die nicht gedichtet, nicht erdacht und nicht geschrieben, die erträumt worden sind. „Als ich sie in einer Art Dämmerzustand vernahm, befand ich mich in den blutigen Klauen der SS, SD und Gestapo, in ihren Gefängnissen und Konzentrationslagern. Ich war in ständiger Gefahr getötet zu werden. Täglich wurden Hunderte aus unseren Reihen hingemordet. Man kommandierte uns, die blutigen Leiber der Kameraden auf unseren Schultern zu den Verbrennungsgruben und Krematorien zu tragen. Nachts hörten wir oft in den Zellen die Köpfe der Gefährten, die vorher noch das Lager mit uns geteilt haben, in die Kiste fallen. Oder bellende Salven, die sie hinstreckten, weckten uns aus dem Schlaf. Jeden Augenblick konnte ich selbst abgeholt werden und zum Galgen gebracht werden. Ich träumte Gedichte. Sie blieben ungeschrieben. Eine Notiz hätte das Leben kosten können.“5 Ein paar Monate nach seiner Befreiung hatte Hugo Sonnenschein sie bereits im März 1945 zu Papier gebracht und – es waren Gedichte, angesichts deren tiefer Innerlichkeit und verbissenen Kraft jede ästhetische Kritik abzudanken hätte, wie Karl-Markus Gauß6 befand. Doch schon bald wurde Hugo Sonnenschein erneut inhaftiert, diesmal aber auf Weisung von der eigenen Regierung. Verantwortlich für die Verhaftung war der damalige Innenminister der Tschechoslowakei und Stalinist Vaclav Nosek, der „Sonka“ absurderweise eine Kollaboration mit der Gestapo zum Vorwurf machte. Der ehemalige Bergarbeiter Nosek war ein alter Bekannter von Sonnenschein. Beide waren Gründungsmitglieder der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei. Im Gegensatz zu Nosek, der ein strammer Stalinist geworden war, wurde Sonnenschein jedoch ein Antistalinist, der es unter anderem auch gewagt hatte, Leo Trotzki in den Moskauer Schauprozessen 1936 zu verteidigen. Vaclav Nosek, der sich auch das Ziel gesetzt hatte, Oppositionelle aus den eigenen Reihen zu eliminieren, wurde schnell wieder auf Hugo Sonnenschein aufmerksam. Dieser musste mundtot gemacht und aus dem Verkehr gezogen werden. Obwohl kein einziger Anklagepunkt nachgewiesen werden konn­te, wurde Hugo Sonnenschein mit Wirkung vom 28. April 1947 zu zwanzig Jahren schweren Kerkers in der Haftanstalt Mirov verurteilt. Er stirbt schließlich nach acht Jahren Kerkerhaft an einem von Tuberkulose ausgelösten Gehirnschlag. In einem seiner letzten Gedichte „Auschwitzer Testament“ resümiert er sein Leben:

Mein Leben war nichts als Furcht vor dem Tod,
der mir gefolgt war bis tief in die Träume,
mein Leben: die Chance, die sich mir bot,
damit ich sie sicher und glücklich versäume.

Ein ruhlos Beginnen, doch nur ein Beginnen
und kein Beenden und nie ein Vollenden.
So geh ich von hinnen,
Ohnmacht in Händen.

Ich hab nichts zu vererben
als Schäume und Schein.

Mein Leben war ein stetes Sterben –
das Sein wird Sinn des Todes sein.7

Hugo „Sonka“ Sonnenschein, nach eigener Definition „Judenjunge, Slowakenkind und Kulturbastard“, wartet noch immer auf seine Rehabilitation. Das Schandurteil von 1947 ist nie aufgehoben worden!

 

1 Hugo Sonnenschein, Ichgott, Massenrausch und Ohnmacht, Utopia des Herostrat, Verlag Utopia, Paris/Wien, 1910, S. 122, „Gebot“.

2 Harta, Felix Albrecht (1884–1967), österreichischer Maler und Graphiker, lebte in Wien.

3 Seit dem 27. Januar 1945 ist Auschwitz-Birkenau befreit. Militärärzte und Sanitäter der Roten Armee, unterstützt von Freiwilligen des polnischen Roten Kreuzes, und ehemalige Häftlinge, die im Auschwitzer Krankenrevier arbeiteten, bemühten sich, die Überlebenden – 7500 Menschen – zu versorgen.

4 Hugo Sonnenschein Sonka: Schritte des Todes, Traumgedichte aus Auschwitz; Edition Wilde Mischung, Band 6, S. 2.

5 Ebd., S. 1.

6 Karl-Markus Gauß, Der „weltverkommene Bruder Sonka“. Leben und Werk des Dichters Hugo Sonnenschein. In: Österreich in Geschichte und Literatur, 28 Jg., Heft 4, 1984, S. 262.

7 Hugo Sonnenschein Sonka: Schritte des Todes, Traumgedichte aus Auschwitz; Edition Wilde Mischung, Band 6, S. 9.

Ein Fest für Hugo Sonnenschein.
Eine Revue von Papiertheater Zunder featuring Laut Fragen
Das Papiertheater Zunder featuring Laut Fragen hat zu Hugo Sonnenschein aktuell ein Programm gestaltet: Die musikalische Revue bewegt sich zwischen Leseperformance und Puppentheater. Im Rahmen eines turbulenten, szenischen Festaktes wird der jüdisch-mährische Schriftsteller, Vagabund und Revolutionär Hugo Sonnenschein geehrt und dieser wird sich noch einmal kräftig zu Wort melden.

Institut für Anarchismusforschung: anarchismusforschung.org

Die Serie in der Referentin ist auf Anregung von Andreas Gautsch bzw. der Gruppe Anarchismusforschung entstanden.

Einer der letzten Antiquare

In den vergangenen fünfundzwanzig Jahren haben elf Antiquariate in Linz zugesperrt. Peter Steinberg ist einer der letzten, der seinen Beruf mit Leidenschaft und mittlerweile ohne finanzielle Abhängigkeit ausübt. Silvana Steinbacher hat das Antiquariat Steinberg in Urfahr besucht und fragt nach den Perspektiven dieses Berufs, falls es sie denn noch gibt.

Komm doch ins Antiquariat in der Peuerbachstraße 9 in Urfahr. Foto Christian Steinbacher

„Der Raum hatte sieben Wände, aber nur vier davon enthielten Öffnungen, breite Durchgänge zwischen schlanken, halb in die Mauer eingelassenen Säulen, überwölbt von Rundbögen. Vor den Wänden erhoben sich mächtige Bücherschränke voller säuberlich aufgereihter Bände.“

Die Ordnung in Umberto Ecos Bestseller Der Name der Rose täuscht, doch das stört mich nicht, denn schon befinde ich mich gedanklich in diesen Räumen mit – so stelle ich es mir weiter vor – knarrenden, alten Holzböden.
Und damit zur Realität: Die Städte wechseln, die Atmosphäre aber bleibt die gleiche. Ob in Köln, Lyon oder Venedig, es sind nicht nur die touristischen Highlights und die berühmten Kirchen, die ich sofort besuche. Mich zieht es immer auch zu den Antiquariaten. Hier kann ich stöbern, womöglich sogar über Bücherberge steigen und meine literarischen Fundstücke erwerben. Verändert hat sich aber die Dauer meiner Suche, denn noch vor einigen Jahren bin ich bei den Städteerkundungen zwangsläufig auf ein Antiquariat gestoßen, jetzt muss ich mich davor erst informieren, um nicht unnötig Zeit zu verlieren. Wo auch immer ich bin, die Antiquariate verschwinden mehr und mehr.
Fest steht: Mit alten Büchern lässt sich immer schwerer ein Geschäft machen, und dafür sind diverse Gründe verantwortlich. Die meisten Antiquariate bleiben angesichts der düsteren finanziellen Perspektiven ohne Nachfolge, passionierte Bibliophile sind, warum auch immer, rar geworden, billige Nachdrucke nehmen überhand und zudem werden die Mieten vor allem in der Innenstadt zu teuer.
Linz ist da keine Ausnahme. In den vergangenen fünfundzwanzig Jahren haben elf Antiquariate zugesperrt, Neugebauer am Taubenmarkt erst Anfang 2018, die dazugehörige Buchhandlung blieb erhalten. Als die letzten beiden Dinosaurier haben nun die Alt-Buch-Zentrale Linz und das Antiquariat Steinberg, beide in Linz/ Urfahr überlebt.
Bereits bei einem Blick durch die großen Rundfenster des Ladens von Peter Steinberg bekomme ich einen Eindruck der thematischen Vielfalt seines elftausend Exem­plare umfassenden Bestands, rund siebentausend sind im Internet aufgelistet. Und dabei sind wir in unserem Gespräch bereits bei jenem Stichwort angelangt, das für die Arbeit und das Überleben des Antiquars unvermeidlich wurde. Es zählt jedoch noch immer nicht zu seiner Leidenschaft.
Als Antiquar hingegen arbeitet der über siebzigjährige Peter Steinberg seit beinah fünfundzwanzig Jahren leidenschaftlich gerne und manchmal sogar sechzig Stunden wöchentlich. Sein Verdienst stehe in keinem Verhältnis zu seinem Aufwand, doch er sei seit seiner Pensionierung unabhängig, erzählt er mir, während wir an einem kleinen Tisch mit Blick auf die Friedenskirche sitzen. Die Leidenschaft, um diesen Begriff noch einmal zu bemühen, stand auch am Beginn seiner Berufszäsur vom Einkaufsleiter eines Elektrogroßhandels zum Antiquar. Zunächst unschlüssig, ob er eine Kunstgalerie oder ein Antiquariat eröffnen sollte, versuchte er anfangs beides zu verknüpfen. So zeigte er in seinen Räumen, damals noch in Harbach, auch Ausstellungen, diese Kombination ließ sich allerdings in der Praxis nicht nach seinen Vorstellungen realisieren.
In diesem Vierteljahrhundert seines Lebens als Antiquar hat er das Auf und Ab und besonders das Ab seines Gewerbes miterlebt. Steinberg erzählt mir von dem „riesigen Wandel“, der innerhalb seiner Branche stattgefunden habe. Zwei Jahre nach der Gründung seines Antiquariats im Jahr 1996 ist er mit zweitausend Büchern online eingestiegen und konnte bereits am ersten Tag zweiundsiebzig Bestellungen registrieren. Die anfängliche Blüte des Verkaufs durch das Netz ist allerdings längst einem Existenzkampf gewichen. Im Internet knallen sich die Anbieterinnen und Anbieter quasi die Bücher um die Ohren, denn dort verkauft nur jener, der die günstigste Ware präsentiert. Durch diese Entwicklung stürzen die Preise ab. Der virtuelle Marktplatz für überwiegend deutschsprachige Bücher ist das sogenannte Zentrale Verzeichnis Antiquarischer Bücher, kurz ZVAB, bei dem nur professionelle Antiquariate anbieten dürfen. 1996 von drei Studenten gegründet, wurde es mittlerweile von Amazon geschluckt. Rückschlüsse aus dieser enthusiastischen Geschichte des ZVAB sind herzlich willkommen. Rund 350 Antiquarinnen und Antiquare gründeten aber als mittlerweile recht gut funktionierenden Versuch einen Gegenpol zu diesem Giganten. So entstand vor fünfzehn Jahren die Genossenschaft der Internet-Antiquare e. G., GIAQ, auf der sie unter antiquariat.de ihre Bücher anbieten. Als eine Intention der GIAQ stand ursprünglich auch der Wunsch eine Vertriebsmöglichkeit zu schaffen, in der das Wissen der Antiquare einfließen kann. Gegründet wurde das Portal als Genossenschaft, kann also nur dann übernommen werden, wenn alle Mitglieder zustimmen.
Womit könnte ein Antiquariat von heute noch verdienen, frage ich Peter Steinberg. Mit Heinz Prüllers Buch Grand Prix Story aus dem Jahr 1971 in tadellosem Zustand ließen sich beispielsweise sicher noch bis zu eintausend Euro erzielen (Anm.: Grand Prix Story ist der Titel von Prüllers seit 1971 geschriebenen Jahrbuchreihe über die jeweilige Formel-1-Saison). Sammelnde suchen oft lange, um die Bände einer Reihe zu vervollständigen und sind dafür auch bereit tief in die Tasche zu greifen. Für manche Erstausgaben eines Grillparzer-Werkes hingegen könne man nur noch wenige Euro lukrieren.
Ich erlebte an einem Freitagnachmittag bei Peter Steinberg auch die Besucher, in diesem Fall waren es nur Männer, die teils interessierte Anfragen zu Spezialgebieten stellten, sehr skurrile Wünsche äußerten, beinah freundschaftlich auf ein Glas Wein vorbeischauten oder dem Antiquar einfach die Geschichte ihrer fünfzigjährigen Ehe im Schnelldurchgang erzählten. Normalerweise aber kommen wenige Besucherinnen und Besucher in sein Antiquariat und die interessanten Begegnungen face to face haben sich so natürlich deutlich reduziert.
Für mich stellt sich in unserem Gespräch angesichts des Aussterbens vieler Antiquariate auch die Frage: Was wird vom Buch mit Qualität einst erhalten bleiben? Der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges stellte bereits vor beinah achtzig Jahren eine poetische Prophezeiung an: „Ich vermute, dass die Gattung Mensch im Aussterben begriffen ist und dass die Bibliothek fortdauern wird: erleuchtet, einsam, unendlich, vollkommen unbeweglich, gewappnet mit kostbaren Bänden, überflüssig, unverweslich, geheim.“
Kehren wir in unsere effiziente und unzureichende Realität zurück. Für die nächsten Generationen geht wohl vieles verloren, ist Peter Steinberg überzeugt, vor allem die Überprüfung der Fakten wird schwierig. Der vielzitierte Fake und Mutmaßungen entwickeln sich damit wohl zu sogenannten Tatsachen. Werden für die Generationen nach uns noch die Korrespondenzen von Kunstschaffenden, Forschenden, Politikerinnen und Politikern erhalten bleiben und sie somit an einem Teil des Denkens und Fühlens bestimmter Personen teilhaben können? Wohl kaum anzunehmen, dass E-Mails, SMS oder Social-Media-Timelines überdauern.
Peter Steinberg glaubt zwar an den Bestand des Buchs, doch nicht an den Bestand der Vielfalt, die wir heute noch vorfinden. Und bereits jetzt lässt sich das Buch doch beinah als Anarchist gegenüber den digitalen Medien bezeichnen. Die traditionell Lesenden, die wir alle seit Jahrzehnten kennen, beobachte ich im Alltag immer weniger. Hautnah erlebe ich es, wenn ich etwa reichlich „antiquiert“ mit dem Buch in der Hand im Zug sitze.
Kehren wir nach diesem kleinen Gedankenausflug wieder ganz zu den Antiquariaten zurück. Einige von Steinbergs Kolleginnen und Kollegen, und das sei auch nicht verschwiegen, blicken optimistischer in die Zukunft als er. „Das Antiquariatssterben gibt es nicht“, meint etwa die Frankfurter Vorsitzende des Verbands Deutscher Antiquare Sibylle Wieduwilt, „die Antiquariate sind nur umgezogen: ins Internet.“ Ihr Credo: Keine Massenware. Nach diesem Motto arbeitet auch das Antiquariat Hennwack in Berlin. Auf einer Fläche von über 1300 Quadratmetern finden die potentielle Käuferin und der potentielle Käufer rund 400.000 Bücher, zum größten Teil aus Spezialgebieten. Möglicherweise, und das bestätigt auch Peter Steinberg, kann diese Methode das Überleben einiger Antiquariate hinauszögern, denn Liebhaberinnen und Liebhaber eines bestimmten Buches stöberten auch gerne vor Ort. Sie schätzten die spezielle Atmosphäre in einem Antiquariat, den kompetenten Rat und die überbordenden Holzregale.

 

Antiquariat Steinberg
Peuerbachstraße 9, 4040 Linz
Tel.: 0732/750877
www.antiquariat-steinberg.at

Horrordates

Dating im digitalen Zeitalter: Sarah Held hat die Online-Plattform „Horrordatestorys“ besucht und schreibt über Geschichten aus dem Patriarchat 2.0

Screenshot eines Story-Highlights auf „Horrordatestorys“. Foto Horrordatestorys, Screenshot vom 16. Nov. 2019

Dating im Digitalzeitalter wird von verschiedenen Faktoren beeinflusst – keine Sor­ge, das wird kein Artikel mit moralisierendem Beigeschmack, der sich zum Themenfeld „Dating-Apps bzw. Online-Dating tragen zu zwischenmenschlicher Entfremdung bei und lassen Menschen zu Konsum­gü­tern werden“ äußert. Diesen Acker haben andere Leute schon gut bearbeitet und es gibt genügend Beiträge im soziologischen und kulturellen Diskurs. Es geht auch gar nicht primär um Tinder & Co, sondern um „Horrordatestorys“ (für alle Grammatik-Nerds: schreibt man im Deutschen auch im Plural mit Y). Dabei handelt es sich um einen metakontex­tuel­len Account auf Instagram, wo Geschichten von ge­scheiterten Dates aus dem deutschsprachigen Raum gesammelt werden. Im Rahmen dieses Artikels sollen ein paar persönliche Beobachtungen geteilt werden, die mit einer Prise feministischem Framing daher­kommen.

Für alle, die mit dem Inhalt von „Horrordatestorys“ nicht vertraut sind, führe ich ein paar prägnante Beispiele bzw. folgen­de inhaltliche Zusammenfassungen auf: Neben unzähligen Postings, die von vor­zeitiger Ejakulation erzählen, themati­sie­ren viele Einträge den Ekel vor Körper­flüs­sigkeiten. Oder viele der Beiträge re­präsentieren ein patriarchales Denken in Form von „Slut Shaming“, wie beispiels­weise: „Tinder. Er meint, er sucht keine Beziehung, eher was Lockeres. Ich sage, ich auch, will einfach bisschen rumdaten. Er: ‚Sorry aber das klingt nach Flitt­chen’“. Viele der Geschichten reichen von banal bis witzig-skurril. In der Kürze, die in diesem Text möglich ist, verweise ich aber mit zwei Fallbeispielen auf soziokulturelle Richtungen, dir mir als Followerin besonders negativ aufgefallen sind: einerseits vermeintliche deviante Abweichungen von sexuellen Standardvorstellungen und andererseits tatsächlich deviantes Verhalten im sozialen Miteinander von Cis-Männern.

Pseudo „Patrick Bateman“
Eingehend auf Letzteres möchte ich ein Fallbeispiel vom 19. 09. 19 aufzeigen (Rechtschreibung wie im Originaltext): „Ich habe einen psychpath gedated. tinder, bar, ab zu ihm – er war sehr charismatisch und sah gut aus. Als wir uns auf der couch näherten holte er plötzlich sein Handy raus und ging auf horrordatestorys ich dachte mir nichts dabei bis er anfing diverse posts vorzulesen in denen er selbst involviert gewesen wäre. Amüsiert las er mit leuchtenden augen die widerwärtigsten schoten vor. Als ich ihn fragte ob er noch ganz dicht sei, nannte er mich eine ahnungslose h*re und fing an zu erklären. Für ihn wären horrordates eine kunstform in der er sich selbst verwirklichen könnte. […] seine eigene story im netz zu lesen würde in der szene sowas wie den ritterschlag bedeuten“ (gekürzte Fassung, die eingeladene Person hat die Wohnung verlassen).
Dieser kurze Erlebnisbericht weist auf abartiges Sozialverhalten und Männerbünde hin, es erinnert stark an die selbst ernannten Pick-Up-Artists, die bis vor einigen Jahren im feministischen Diskurs­universum ziemlich verbreitet waren. Dabei handelt es sich um heterosexuelle Cis-Männer, die sich im Internet zusammenschließen, Challenges ausmachen, um Frauen „aufzureißen“ oder sich mit weir­dem Verhalten, für die beteiligten Frauen meist herabwürdigend, im Nachhinein online brüsten. Sie sind allerdings immer noch da, nur scheinbar ruhig ist es geworden um diese fragwürdige Gruppe der Cis-Männer. Der Diskurs hat sei­nen Fokus aktuell in eine noch dunklere Ecke verlagert, wo sich Incels (Involuntary Celibate), also männliche Jungfrauen bzw. unfreiwillig zölibatär lebende Männer, zusammenrotten. Eines ist beiden Aus­prägungen männlicher Hybris und Dominanzverhalten gemeinsam: Es sind zutiefst misogyne Männer mit archaischen Besitzansprüchen und hegemonialen Denk­strukturen, in deren Mindset sich die toxische Verbindung von Rassismus, Sexismus, Homophobie und Antisemitismus spiegelt. Es geht im genannten Beispiel demnach nicht nur um das Erobern von Frauen und deren Verfüh­rung, sondern um deren gezielte Demütigung. Diese Gruppe heterosexueller Männer handelt nach „Ritualen der Macht“, die, gemäß Klaus Theweleits „Männerphantasien“, Folgen der männlichen So­zialisation sind. Das Performen von heteronormativer Männlichkeit benötigt in dieser toxischen Manifestation, wie das Beispiel oben illustriert, die Abwertung an­derer Geschlech­ter. Diese Abwertungs­strategie ist essenziell für die Herstellung der eigenen (vermeintlichen) Überlegenheit. Souveränität wird durch stereotype Hypermaskulinität inszeniert.

Standard ja, kink nein
Neben ausgeprägter Misogynie, die das angeführte Fallbeispiel traurigerweise darstellt, ist mir aufgefallen, dass generell Abweichungen von dem, was als Vorstellung eines sexuellen Standards verstanden wird, häufig als Kategorie Horror beim Date erzählt wird. Auffällig ist, dass im Gros der Posts Heteronormativität (Heterosexualität als dominante Gesellschaftsnorm) und sogenannter Blümchensex (Cis-Hetero-Missionarsstellung etc.) omnipräsent sind. Gerade wenn es um Kinksex (z. B. Fetisch, BDSM) oder andere trans­­gressive Sexualitätsausprägungen geht, wer­den diese von der Normgesellschaft als deviant oder pervers gelabelten Handlungen im Account ebenso durch Irritation oder Ablehnung inszeniert. Das lässt sich aus folgendem Fallbeispiel ableiten (Schreibungen wie im Originaltext): „Ich W19 er M24, es unser 5 date. Waren bei ihm und haben gekocht. Als es dann zu GV kam war alles gut, auf einmal holte er einen 1 Meter Dildo raus. Er wollte das ich ihn von hinten nehmen mit dem Rosa Monstrum. Als ich verneinte, hat er sich das Ding selbst reingesteckt und total abgegangen. Danach nie wieder gesehen“.
Die geschilderten Situation impliziert eine Konsensabfrage. Dieses Beispiel habe ich ausgewählt, weil es klar eine diskursiv zementierte Grenze von heterosexueller Männlichkeit durch die Begierde nach analer Befriedigung überschritten zeigt und somit als Irritation dargestellt wird. Das ist aus mehreren Perspektiven interessant, denn der heterosexuelle Cis-Mann wird selten Bottom (passiv Analsex empfangend) inszeniert. Inner­halb der heterosexuellen Matrix und ge­mäß dem wirkmächtigen Heteromainstream-Pornodiktum wird dieser Männ­lich­keitsentwurf im Kontext von Anal­ver­kehr als stählerner Top (aktiver Part beim Analsex) inszeniert. Die Person, die im Bei­spiel M24 genannt wird, äußert ihrem Gegenüber nicht nur das Verlangen nach analer Befriedigung, sondern performt diese Lust dann im Alleingang. Das Aus­sprechen solcher Kinks ist für viele Menschen mit Angst vor Beschämung verbunden. Was die knappe Erzählung nicht detailliert beschreibt ist, in welcher Weise Konsens und Sexpraktik besprochen wurden. Neben diesem prägnanten Fallbei­spiel ist mir beim Stöbern auf „Horrordatestorys“ aufgefallen, dass im Storytel­ling vieler Posts keine andere Flüssigkeit als Sperma zulässig ist. Alle anderen Formen von Körperflüssigkeiten werden dämonisiert, tabuisiert und stigmatisiert. Der Account bildet aber nicht nur das Standardbegehren der Dominanzkultur ab, son­dern auch die Abweichung von der körperlich-funktionierenden Norm zeigt sich mit sozialer Grausamkeit: Ein Rollstuhl­fahrer wird, gemäß seinem Beitrag, beim Zusammentreffen nach seinem Grindr-Date heftig beleidigt. Das Date äußert, den Rollstuhl als Fetisch verstanden zu haben und geht wieder, weil er keinen Sex mit einer körperlich beeinträchtigen Person haben möchte. Den genauen Wortlaut möchte ich hier nicht reproduzieren.
„Horrordatestorys“ bietet neben der skiz­zierten Kritik auch durchaus Unterhal­tungs­­potential. Das ist ein bisschen wie RTL2 oder ATV schauen, das wirkt zwar immer etwas verstörend und geht auch nur in der richtigen Stimmung – und in kleinen Portionen. Zum Abschluss möch­te ich aber noch einen besonders unangenehmen Aspekt erwähnen. Neben dem stark verbreiteten Hetero-Sexismus, dem Ableismus (Beschämen von nicht normativen Körpern) oder dem Kinkshame (Be­schämen von als pervers/deviant verstan­denen Sexpraktiken) finden sich auch ei­nige Fälle, die sich offenbar an der Grenze oder über der Grenze zur sexualisierten Ge­walt befinden, denn die Account-Betrei­ben­den geben in einem sogenannten Story-Highlight auf die Frage, was die „kras­sesten Geschichte“ gewesen wären, an, dass sie diese aufgrund ihres straf­recht­lichen Inhalts gar nicht veröffentlichen.

Abschließend möchte ich anmerken, dass mir ebenfalls eine Beeinflussung durch die­se Dating-Apps auf das Dating-Verhalten aufgefallen ist. Bei meinen Beobachtungen zum Account war mir ein nicht so neuer Gedanke häufig präsent: Das Fehlen von sozialen Verbindlichkeiten und die scheinbare Anonymität befördern unsoziale Verhaltensweisen, die durch Online-Dating vermutlich perpetuiert werden. Ohne soziokulturelle Nähe und Über­schnei­dun­gen in den Peergroups schei­nen manche Menschen dazu zu ten­dieren sich unso­zi­a­ler zu verhalten.

Von Lady Bitch Ray zu »Bitchsm«

Fiftitu, die Vernetzungsstelle für Frauen in Kunst und Kultur, hat Anfang Dezember Reyhan Şahin aka Dr. Bitch Ray zur Buchpräsentation eingeladen. Als Frau im wissenschaftlichen Unialltag, als türkisch-muslimische Alevitin und als Rapperin weiß Reyhan Şahin, wie alltäglich Sexismus, Diskriminierung und Rassismus sind. Ihr Buch »Yalla, Feminismus!« ist eine Streitschrift und ein Manifest der weiblichen Selbstermächtigung. Der Referentin hat Reyhan Şahin erfreulicherweise einen Textauszug aus Kapitel 1 zur Verfügung gestellt.

Reyhan Şahin aka Dr. Bitch Ray Foto Carlos Fernandez Laser, Hamburg

Mit zwölf habe ich begonnen, Musik zu hören. Mein älterer Bruder war Graffitisprayer, ein sogenannter Writer, der immer Kassetten und später CDs mit nach Hause brachte – von Ice-T, Public Enemy oder Eazy-E. Die hörte ich eifrig mit, schließlich schliefen wir zu dritt in einem Kinderzimmer und keiner konnte dem Ghettoblaster entkommen. Mir gefiel der aggressive gespittete Rap, mit dem ich meine Wut ausdrücken konnte, denn ich hatte eine Wut in mir, die ich damals noch nicht steuern konnte. Ich fing an, diesen Sound zu lieben. Deshalb nannten wir unseren Hamster nach dem Rapper Ice-T. Cora E. war damals die einzige sichtbare Frau im Deutschrap. Mich faszinierte als Kind, wie eine Frau ins Mic spittete. Das wollte ich auch! Nie hatte ich eine Faszination für Boygroups entwickelt, die fand ich schon immer uncool. New Kids On The Block, Backstreet Boys, Take That, sie begleiteten mich zwar durch meine Jugend, aber während sie heute wegen ihres Kultstatus gefeiert werden, waren es damals einfach nur langweilige, weißgespülte, fucking Boygroups, die die coolen Street Kids nicht hörten. Sie füllten die Seiten der Bravo oder damaligen Popcorn und wurden von fast allen jungen Mädchen unterwürfig angeschwärmt. Ich fand das schlimm. Ich wusste schon sehr früh, dass ich nicht wegen eines Mannes und seines Aussehens kreischend in Ohnmacht fallen würde, dass es viel wichtiger ist, als Frau selbst etwas zu schaffen und darauf stolz zu sein. Mein Vater hat immer gesagt, dass ich als Frau mindestens das Doppelte leisten muss wie Männer und dass Bildung sehr wichtig für Frauen ist, damit sie unabhängig werden. Heutzutage bin ich froh, dass ich so war! Woher ich in diesem Alter meine kluge Einsicht hatte, weiß ich nicht. Sicherlich nicht aus Magazinen oder aus dem Fernsehen.

Die Schwarzen US-amerikanischen Rapperinnen waren es, die mein Interesse für Emanzipation in meinen jungen Jahren weckten. MC Lyte, Lil’ Kim, Foxy Brown, Missy Elliott oder Lauryn Hill – sie empowerten mich, das Mic in die Hand zu nehmen und die Missstände der türkischen, muslimisch sozialisierten Frau kundzutun. Erst während meiner Promotionsphase entdeckte ich die Schriften von islamischen beziehungsweise muslimischen Feminist*innen. Mit ihnen fühlte ich mich neben dem US-amerikanischen Black Female Rap im feministischen Sinne zuhause. Denn diese muslimischen Feminist*innen sprechen genau die unterschiedlichen Patriarchate, Sexismen und Rassismen an, von denen ich und andere muslimisch sozialisierte Frauen und LGBTQI*s betroffen sind.

2006 wurde ich mit meiner Musik über Nacht berühmt. Über das soziale Netzwerk Myspace, das es damals gab, eine Internetplattform für Musiker*innen. Rap gemacht habe ich aber schon länger, seit 1994. Damals hörten fast nur »Kanaken«, also die Kinder von Arbeitsmigrant*innen, Hip-Hop und R & B. Weiße Deutsche hörten eher weiße Musik, Boybands, Grunge, Heavy Metal oder Rock. Guns N’ Roses zum Beispiel, das war whity-Rock pur. Schwarzen Rap oder Soul, den wir hörten, haben sie eher belächelt, aber keiner traute sich etwas zu sagen, weil’s sonst Ärger von uns gab. US-amerikanischer Rap wurde von der Mehrheit der Weißdeutschen viel später gehört, eher seit den Hits von Snoop Dogg und Dr. Dre. In meiner Schulklasse fingen weißdeutsche Jungs erst mit der Musik des afrodeutschen Rappers Nana an, Rap zu hören. Aber Nana war tatsächlich eher Euro-dance-Popmusik und kein echter Rap. Auch dafür lachte ich viele dieser Jungs aus.

Als ich mit dem Rappen begann, nannte ich mich »Lady Ray«. »Ray« ist seit meiner Schulzeit mein Spitzname, abgeleitet und verkürzt von meinem Vornamen »Reyhan«. Und »Lady« davor wegen folgender Vorgeschichte: 1995 nahm ich mit einem französischsprachigen Rap, den ich zuvor mithilfe des Französisch-Schulwörterbuchs geschrieben hatte, bei einer sogenannten Hip-Hop-Jam teil. Ich liebte damals französischsprachigen Rap von MC Solaar, Ménélik und Soon E MC. Meine französischen Schulwörterbuch-Sex-Rapsongs hat zwar niemand verstanden, aber alle fanden ihren Klang »so wunderbar«. Einmal war ich auf einem Black-Music-Konzert. Der Moderator, der die Acts ankündigte, war schon angetrunken, weshalb er mich wiederholt nach meinem Künstlernamen fragte. »Wie heißt du?«, sagte er und hielt das Mikro weg, damit nicht alle die Frage mitbekamen. »Mademoiselle Ray!«, sagte ich in sein Ohr. »What?!«, schrie er, »Mademoiselle Ray«, »Say it again, say it again …«. Er versuchte, das »Mademoiselle« halb-lallend zusammenzubrechen. Ich merkte, dass er’s nicht packen würde. Ich musste schnell etwas Leichteres sagen, da der Auftrittsmoment nahte. »Lady Ray!«, rief ich ihm unter Druck zu und er kündigte mich an. So war der Name Lady Ray geboren – für ein paar Jahre zumindest.

Zwei Jahre später hatte ich einen Auftritt in einem Freizeitheim in Bremen-Tenever, dort, wo Ferris MC geboren ist. Männliche Jugendliche tummelten sich vor der Bühne. Es hatte sich schon herumgesprochen, dass ich Türkin bin und unanständige Raptexte über Sex schrieb. Die Blicke der Jugendlichen durchbohrten mich, als ich zum Hintereingang der Bühne lief, ich fühlte mich, als wäre ich ein nackter Alien. Breite Klamotten, Baggyjeans, bauchfreies Top und dicke Goldklunker, meine Vorbilder waren T-Boz von TLC und MC Lyte – sowas gab’s damals sonst nur in den Rap-Videos auf MTV. Und eben bei mir, Lady Ray. Als ich auf die Bühne ging, hörte ich schon einige Flüstern: »Bitch«, »Schlampe«, »voll die Nutte«, schallte es leise aus verschiedenen Richtungen. Ich atmete tief ein und legte los. Der erste Song bouncte und die Herren wippten mit starrenden Blicken zu meinem Beat. Als ich losrappte, merkte ich, dass es ihnen gefiel. Nach drei Songs, als die Stimmung im positiven Sinne angeheizt war, stellte ich mich ganz vorne an den Rand der Bühne und kniete mich hin. Ich konnte manchen der Typen direkt in die teilweise ängstlichen Augen sehen. Ich sagte: »Ihr nennt mich also ›Schlampe‹? ›Hure‹, ›Bitch‹?« Ich machte eine Pause und ging auf der Bühne wütend auf und ab. Das Publikum wich sichtbar einen Meter nach hinten. – »Jaaa, das stimmt. Ich bin eine Bitch! Bitch Lady Ray, Lady mo-ther-fu-cking Bitch Ray!« Die drei Wörter dröhnten melodisch auf den Beat. Die Augen wurden noch größer. »Habt ihr mich verstanden?!«, fragte ich. Einige Köpfe nickten zustimmend, als hätte ihnen ihre Mutter gerade gesagt, dass sie heute auf keinen Fall zu spät nach Hause kommen dürfen, weil es sonst kein Abendessen gibt. Seit dem Tag nenne ich mich Lady Bitch Ray. Mir war damals nicht bewusst, dass die US-amerikanische Rapperin Roxanne Shanté den »Bitch«-Begriff zehn Jahre zuvor als Selbstbezeichnung auf einer Bühne in Philadelphia bereits für sich genutzt hat, doch dazu später mehr.

Mit meinen Songs »HengztArztOrgie« und »Ich hasse dich!« wurde ich berühmt. Dass das, womit ich seitdem in den sozialen Netzwerken stündlich überhäuft werde, ein Shitstorm war, eingebettet in übelsten Hatespeech, lernte ich erst zehn Jahre später. 2007 diskutierte ich bei Menschen bei Maischberger über Pornorap, 2008 schenkte ich Oliver Pocher bei der Sendung Schmidt & Pocher ein Döschen echtes Votzensekret von mir, 2011 diskutierte ich mit Alice Schwarzer über ihre einseitige Sicht auf das Kopftuch (auch wenn ich mich von ihr nicht verstanden gefühlt habe). Ich erinnere mich noch sehr gut an den Moment im Juni 2009, als ich vor dem Psychiater in der Klinik stand, in die ich wegen akuter Depression und Angst-Panik-Attacken, die mich im August 2008 überfielen, gegangen war. Er sagte zu mir: »Sie müssen sich das gut überlegen, Frau Şahin: entweder Sie entscheiden sich für Ihre Gesundheit – dann müssen Sie hier genau einen Cut machen und an Ihrer Heilung arbeiten, denn mittelschwere Depressionen sind kein Kinderspiel! Oder Sie machen weiter und fallen irgendwann tot um, weil Sie sich nicht um sich selbst gekümmert haben, Sie haben die Wahl.« Ich kümmerte mich von da an um mich und machte einen Break mit allem anderen. Da meine Musik vom Mainstream überwiegend fehlinterpretiert wurde, fühlte ich mich gezwungen, 2012 das Werk Bitchsm zu veröffentlichen. In diesem Buch erkläre ich, wie die Kunstform von Lady Bitch Ray als sexpositiver Weiblichkeitsentwurf verstanden werden kann, gehe auf die Emanzipation der muslimischen Frau ein, gebe Sextipps und empowere Frauen, trans-, intersexuelle und queere Menschen für eine selbstbestimmtere Sexualität. Da Bitchsm Jahre vor der weltweiten #MeToo-Bewegung erschien, wurde es von deutschen Medien weitgehend ignoriert. Also begann ich, meine Gedanken zum Feminismus in Form von Vorträgen zu verbreiten. Und widmete mich der Wissenschaft.

[…]

Feministische Intersektionalität. In den letzten zehn Jahren fiel das Wort Intersektionalität ziemlich häufig im feministischen Diskurs. Als gängigste Erklärung dafür taucht Mehrfachdiskriminierung auf, welche der Überschneidung von Schnittstellen entspricht, durch die Menschen in mehrfacher Hinsicht diskriminiert sein können, zum Beispiel als Schwarze Frau gleichzeitig von Rassismus und Sexismus betroffen zu sein. Fangen wir aber mal vorne an, denn das Thema der Intersektionalität ist alles andere als eindimensional. Intersektionalität gewinnt dann an Bedeutung, wenn nicht nur das Geschlecht einer Person beim Thema Unterdrückung und  /oder Geschlechterungleichheit eine Rolle spielt, sondern auch race. Oder zusätzlich noch die klassenspezifische Zugehörigkeit, was Triple-Oppression oder Dreifachunterdrückung genannt wird. Außerdem können weitere Faktoren wie etwa Körper, Alter, Gesundheit, Kultur, sozialer Status oder Religion bei der Mehrfachdiskriminierung eine Rolle spielen. Die Frage, ob eher race oder Geschlecht Unterdrückung ausmachen, gehört zu den zentralen und entscheidenden Themen, die bisher die Befreiungskämpfe bezüglich Geschlechterungleichheit mitbestimmt haben. Der Einbezug mehrfach marginalisierter Frauen und LGBTQI*s und insbesondere ihre Erfahrungen, so etwa innerhalb der Schwarzen Frauenbewegung, der lateinamerikanischen, muslimischen oder kurdischen Frauenbewegungen sind beim Thema Intersektionalität unabdingbar.

[…]

Textauszug (Kapitel 1) aus:
Reyhan Şahin aka Dr. Bitch Ray Yalla, Feminismus!
Klett-Cotta, 1. Aufl. 2019, 316 Seiten,
Klappenbroschur
ISBN: 978-3-608-50427-9

Fr 06. 12. 2019
Lesung Reyhan Şahin aka Dr. Bitch Ray: YALLA FEMINISMUS!
Gespräch mit der Autorin und Marie Luise Lehner
Musik von Bad&Boujee
Kunstuniversität Linz 
Hauptplatz 6 – Glashörsaal C, 5. Stock
Einlass: 20.00 Uhr, Beginn 20.30 Uhr
Eintritt frei! Um Anmeldung unter office@fiftitu.at wird gebeten
Supported by Frauenbüro Stadt Linz, Linz Kultur, Land OÖ, Bundeskanzleramt Eine Veranstaltung von FIFTITU% und dem Arbeitskreis für Gleichbehandlungsfragen, Kunstuniversität Linz.

www.lady-bitch-ray.com

It is (a) happening: Migration im Museum

Genealogie einer Selbsthistorisierung: Elena Messner gibt einen Überblick über Ausstellungen im Migrationskontext und beschreibt die Hintergründe einer Ideenwerkstatt, die aktuell an einem Konzept für ein Museum für Migration arbeitet – und an der sie beteiligt ist. Die Wanderausstellung „MUSMIG“ startet im Februar in Wien und könnte im kommenden Jahr auch in Linz zu sehen sein.

Globalisierung, Arbeitsmigration, Flucht, Vertreibung oder Mobilität zählen zu den dominierenden Phänomenen des 20. und 21. Jahrhunderts. Sie werden aber in staatlich finanzierten National- oder Stadtmuseen kaum dargestellt. Als eine lose Gruppe von Migrationsforscher_innen, Aktivist_innen und Theoretiker_innen arbeiten wir darum an der Vorbereitung des Projekts „MUSMIG“, einer Ideenwerkstatt für ein Museum der Migration. Dieses wird im Dezember 2019 in Wien gestartet und endet mit einer Ausstellung im Februar 2020, die als Wanderausstellung konzipiert ist.

Die bisherigen Versuche, Migration zu archivieren und in musealen Kontexten auszustellen sind in Österreich v.a. im Rahmen von Initiativen zur verstärkten Sichtbarmachung von Gastarbeit zu verorten. Das ist kein Zufall: kaum eine Form von Migration war für das Land seit den 1960ern so prägend, wie die Arbeitsmigration aus Jugoslawien bzw. seinen Nachfolgestaaten und der Türkei. Gegenwärtig ist ein verstärktes Interesse an dieser Thematik zu vermerken. Das Stadtarchiv Salzburg1, das Stadtmuseum St. Pölten2, das Vorarlberg Museum in Bregenz, das Stadtmuseum in Graz3, das Stadtmuseum Ferdinandeum und das Volkskundemuseum in Innsbruck, das Volkskundemuseum in Wien4 sowie das Wien Museum haben im den letzten Jahren Ausstellungsprojekte, und zwar zumeist im Kontext der Jubiläen der sog. „Gastarbeiterabkommen“ organisiert.

Die Impulse diesbzgl. kamen zumeist nicht aus den Museen oder der Politik, sondern wurden von Aktivist_innen oder Wissenschaftler_innen an die Institution herangetragen. Fakt bleibt, dass nur Selbstarchivierung und Selbsthistorisierung der Subjekte der Migration die Basis dafür boten, Migration in musealen Kontexten sichtbarer zu machen. Denn, wie Arif Akkiliç, Vida Bakondy, Ljubomir Bratić und Regina Wonisch es formulieren, „die Historisierung, Archivierung und Musealisierung der Migration wären ohne die Repräsentationskämpfe ihrer Subjekte und die Initiativen zur Selbstdokumentation nicht denkbar“. Das ist ein Statement, das als Ausgangsthese einen fixen Platz in unserer Werkstatt hat. Es ist unmöglich, alle bisherigen Projekte und Initiativen an dieser Stelle zu diskutieren, einen guten Überblick darüber kann man sich aber im Buch „Schere Topf Papier. Objekte zur Migrationsgeschichte“ (Mandelbaum, 2016) verschaffen, dem oben zitiertes Statement entstammt.
Für unser Vorhaben sind jene Initiativen relevant, die als Markierungen im Diskurs rund um das Thema Migration und Museum herangezogen werden können. Dazu zählt die Sonderausstellung „Gastarbajteri: 40 Jahre Arbeitsmigration“, die 2004 im Wien Museum von einem Rechercheteam5 in Kooperation mit der Initiative Minderheiten organisiert wurde (die Idee dafür lieferte Cemaletin Efe), oder auch das Nachfolgeprojekt „Viel Glück! Migration heute. Wien, Belgrad, Zagreb, Istanbul“.6
Andererseits sind für uns Kampagnen relevant, die den Diskurs um ein Museum der Migration vorangetrieben haben, wie das künstlerisch konzipierte Projekt „Verborgene Geschicht(en)/Remapping Mo­zart“7, ein von Ljubomir Bratić, Araba Evelyn Johnston-Arthur, Lisl Ponger, Nora Sternfeld und Luisa Ziaja kuratiertes Projekt im Rahmen des Mozartjahres 2006.8 Vier Konfigurationen, d. h. Ausstellungen, Vorträge, Kunst in Schaufenstern, Bustouren, Podiumsdiskussionen, wurden von je zwei Kurator_innen gestaltet. „Remapping Mozart“ war auch aufgrund der programmatischen Mehrsprachigkeit (Bos­nisch/Kroatisch/Serbisch, Türkisch, Deutsch und Englisch) exemplarisch.
Ein Höhepunkt der Debatte war die Kampagne „50 Jahre Arbeitsmigration – Archiv jetzt!“, die von Akkılıç und Bratić koordiniert wurde und den Migrations-Diskurs noch tiefer in Politik und in Museen trug. In Folge davon kam es zur Gründung des „Arbeitskreises Archiv der Migration“, welchem neben Bratić und Akkılıç noch Vida Bakondy, Wladimir Fischer, Li Gerhalter, Belinda Kazeem und Dirk Rupnow angehörten. Als eine Aktion der Kampagne wurde vor dem Wien Museum ein Plakat aufgestellt, auf dem die Forderung nach einem Migrationsarchiv ausformuliert war. Insbesonders auf Grund dieser Aktion wurde das Wien Museum von der Wiener Abteilung für Integration und Diversität beauftragt, ein Sammelprojekt zu organisieren. So kam es dazu, dass 2015 eine bis dahin in Österreich einzigartige Initiative unter dem Titel „Migration sammeln“ gestartet wurde. Das Projektteam Akkılıç, Bratić, Bakondy und Wonisch, wissenschaftlich von D. Rupnow beraten, sammelte für das Wien Museum Migrationsobjekte, und arbeitete dafür intensiv mit Vereinen, Akti­vist_innen, NGOs und Privatpersonen zusammen. Im Jahr 2017 konnten 770 Objekte ans Museum übergeben werden. Das Projekt mündete in einer leider nur eintägigen Ausstellung in fünf Vitrinen, die genauso wie die entstandene Sammlung, online dokumentiert ist.9 Als Nachfolgeprojekt wurde die Ausstellung „Geteilte Geschichte“ 2017–2018 von Vida Bakondy und Gerhard Milchram kuratiert.
Die vorangegangene aufwendige Recherchearbeit fand in dem eingangs zitierten Buch Niederschlag. Im Vorwort schreibt Museumsdirektor Matti Bunzl, die Initiative „Migration sammeln“ sei „durchaus programmatisch gemeint.“ Er spricht sich gegen die Idee von Migrationsmuseen aus, die er zwar als „potente Korrektive“ in „hegemonischen Narrativen“ sieht, aber auch als Fortführung der Trennung in normale und migrantische Geschichte. Mit dieser Positionierung geht sein Versprechen einher, die neu gesammelten „Kernstücke“ würden in der Dauerausstellung ihren fixen Platz bekommen – da er die Geschichte Wiens als eine migrantische sehe. So begrüßenswert solche Vor-Worte sind, so irritierend ist die behauptete Selbstverständlichkeit angesichts der Tatsache, dass erst die von Aktivist_innen initiierten Kampagnen dazu geführt haben, dass eine angeblich selbstverständliche Sammelpraxis im Museum implementiert wurde. Das Wien Museum wird derzeit renoviert und vergrößert. Nach der Sanierung wird, so darf man hoffen, genügend Platz und Gelegenheit vorhanden sein, um sich, wie Bunzl als Schlusssatz seines Vorwortes formulierte, weiter „an die Arbeit“ zu machen. Spannend bleibt, ob die Zusammenarbeit mit Aktivist_innen und Migrant_innen beibehalten wird, bzw. auch, ob auf der Personalebene nachhaltige Fortschritte zu erwarten sind. Denn trotz gelegentlicher Besetzungen von Migrant_innen oder deren Einsatz bei Projekten gilt nach wie vor, dass diese – freilich nicht nur im Wien Museum, sondern in den meisten kulturellen Institutionen – seltener als Kurator_innen oder Wissenschaftler_innen arbeiten.
Die Tatsache, dass in letzter Zeit Stadtmuseen verstärkt (lokale) migrantische Perspektiven in ihre Ausstellungen implementieren, sollte allerdings nicht als Argument dagegen benutzt werden, Migration zusätzlich in einer eigens dafür vorgesehenen staatlichen Institution zu archivieren und zu musealisieren. Migration beschränkt sich nicht auf Stadtgeschichte, sie betrifft nicht bloß Stadtmuseen, sondern sie umfasst nationale, transnationale und globale Geschichte und Kultur. Den archivierenden Blick auf Migration, und damit auf Rassismus und Kolonialismus zu lenken, ist als Aufgabe aktivistischer Initiativen längst nicht obsolet geworden. Angesichts punktueller Alibi-Aktionen von Museen und folgenloser Diversitäts-Slogans kultureller Institutionen ist sie wichtiger denn je. Zum Glück waren und sind Migrant_innen erfolgreich in der Selbst-Historisierung, auch außerhalb etablierter Institutionen.
Etwa Slobodan Jovanović, der zur ersten Generation der Gastarbeiter_innen gehört, die nach Wien gekommen waren. Er war aus privatem Interesse Sammler und Archivar. Vor rund zehn Jahren organisierte er eine Ausstellung, die heute noch im Sitzungsraum des Serbischen Dachverbandes in Wien hängt, ein prototypisches Beispiel der Selbstdokumentation von Migrierten. Diese Ausstellung wurde 2016-2017 zur Gänze im Belgrader Museum Jugoslawiens gezeigt, für welches Bratić gemeinsam mit Aleksandra Momčilović und Tatomir Toroman die Ausstellung „Jugo, moja Jugo“ organisierte. In Rahmen dieser Ausstellung in Belgrad wurde auch eine andere Ausstellung über aus Jugoslawien nach Deutschland migrierte Frauen integriert, die Bosiljka Schedlich 1987 in Berlin gemacht hatte. Diese wurde als Gesamte dem Museum in Belgrad geschenkt und noch mehrmals gezeigt. Der spannende Perspektivenwechsel (Zielland – Herkunftsland) wirft vor allem die Frage auf: an wen richtet sich eigentlich ein Museum der Migration, und wie kann eine transnationale Ausrichtung gewährleistet werden – außer durch (radikal) migrierende Ausstellungen selbst.
Eines der aktuellsten Projekte, das für Österreich zukünftig eine Markierung darstellen dürfte, ist das 2017 am Volkskundemuseum von den Kuratoren Alexander Martos und Niko Wahl geleitete Projekt „Museum auf der Flucht“, mit dem „das Volkskundemuseum Wien die Grundlage für eine intensive Auseinandersetzung mit den Themen Flucht, Migration und Ankommen in seinen Forschungs-, Sammlungs-, Ausstellungs- und Vermittlungs­tätigkeiten10 schuf“. Im Rahmen dieses Pilotprojektes kam es auch zu einer Stellenausschreibung, die sich durch gezielte Rekrutierung von Kurator_innen mit Asylhintergrund aktiv gegen automatische Ausschlüsse richtet. Das Projekt legt sich diskursiv mit dem Modell von Nationalmuseen an, es fragt neben einer Museologie des 21. Jahrhunderts auch nach einer Ethnologie des 21. Jahrhunderts, verbunden mit der Forderung eines noch zu erarbeiteten Konzepts für ein „Museums der Weltlosen“ bzw. eines „Hauses der Kulturen der Weltlosigkeit“. Im Rahmen der Wiener Festwochen wurde 2017 hierfür die „Akademie des Verlernens“ veranstaltet, und dieser künstlerische Rahmen verdeutlicht einmal mehr, dass die Debatten rund um Migrationsmuseen im 21. Jahrhundert die Grenzen von Performance, Kunst, politischer Diskussion, Wissenschaft und Straßen-Aktivismus mit großer Selbstverständlichkeit überschreiten.
Auch die Absicht hinter unserem Projekt ist mehr als Wissensvermittlung. Unsere Auseinandersetzung reagiert auf drängende gesellschaftliche Fragen, sie soll Plattform sein für theoretische Debatten, für Kunst- und Wissenschaftsaktivismus. Darum stellen wir auf methodischer Ebene die Frage danach, wie Ansätze aus der Migrationsforschung, der Geschichtswissenschaft und -pädagogik mit einer reflektierend-partizipativen Demokratiepraxis zusammen gedacht werden können. Auf der Ebene der künstlerischen Gestaltung fragen wir, wie das ästhetische Feld der Bewegung und des Transitären dargestellt werden kann. Auf der inhaltlichen Ebene fragen wir, ob es gelingen kann, das Museum der Migration selbst als Objekt auszustellen, nicht nur im Sinne der historischen Aufarbeitung der Debatten, die sich mit entsprechenden Konzepten beschäftigten, sondern als Sammlung realer und fiktiv-utopischer Museumsobjekte, die zusammengenommen als das – selbst ausgestellte – Museum fungieren könnten. Auf museumspolitischer Ebene beschäftigt uns die wiederkehrende Frage: Kann man beweglichen Migrationsaktivismus mit der konservativen Darstellungsform der statischen Ausstellung zusammenbringen?
Relevante Bezugspunkte für unser Projekt „MUSMIG“ sind daher Ausstellungen, die die Geschichte antirassistischer Praktiken dokumentieren. Etwa jene, die die Plattform no-racism.net im September 2019 anlässlich ihres 20jährigen Bestehens – und ihres Endes – organisierte. Was Objekte eines Migrationsmuseums sein können, und welche Ziele das Ausstellen solcher Objekte verfolgt, zeigt das Beispiel eines Flugblatts, auf dem ein Wanderdenkmal gefordert wird. Die auf dem Flugblatt propagierte Aktion, unter großer Beteiligung der schwarzen Community in Wien, war einer der Mitgründe dafür, dass Ulrike Truger den Gedenkstein für den bei einer Abschiebung getöteten Marcus Omofuma gestaltete. Die Ausstellung des Flugblattes dokumentiert somit einen gelungenen Akt aktivistischer (Selbst-)Historisierung.
Am Ende dieser kurzen Darstellung der schöpferischen Energie von Selbstorganisation soll die Geschichte eines Objekts stehen: Das Transparent „Wir würden wählen, wenn ihr nicht rassistisch wärt“ wurde von Vlatka Frketić, Andreas Görg und Ljubomir Bratić im Rahmen des Projekts „BUM – Büro für ungewöhnliche Maßnahmen“ gestaltet. Nachdem es bei mehreren Demonstrationen eingesetzt worden war, kam es im Jahr 2006 als Teil des Projektes „Remapping Mozart“ zweifach zur Anwendung, einmal in einer unangemeldeten kurzen Aktion vor dem Parlament, bei der es darum ging, das Thema Wahlrecht für Migrant_innen zu markieren, sowie in der Ausstellung „Es ist kein Traum!“. Im Jahr 2016 wurde es im Rahmen des Projektes „Migration sammeln“ dem Wien Museum geschenkt.
Wir schlussfolgern: Wie dieses Transparent so sollten auch das Museum der Migration und seine Objekte radikal grenz­offen sein, nicht nur hinsichtlich territorialer und nationaler Fragen, sondern auch hinsichtlich ihres Wirkungszusammenhangs. Und als ebenso grenzoffen verstehen wir unsere Ideenwerkstatt.

1 Das Archiv initiierte eine Ausstellung unter dem Titel „KOMMEN/GEHEN/BLEIBEN – 50 Jahre Anwerbeabkommen Österreich-Jugoslawien 1966–2016“.
2 Dort wurde 2014 unter dem Titel „Angeworben! Hiergeblieben! 50 Jahre Gastarbeit in der Region St. Pölten“ eine mehrmonatige Ausstellung organisiert.
3 Verena Lorber organisierte dort 2015-2016 eine Ausstellung zu slowenischen Gastarbeiterinnen, www.grazmuseum.at/ausstellung/lebenswege.
4 Der Verein JUKUS organisierte 2014 dort eine Ausstellung zu türkischer und 2016 zu jugoslawischer Gastarbeit.
5 gastarbajteri.at/im/107455867486.html
6 initiative.minderheiten.at/wordpress/wp-content/uploads/2019/05/03_Ausstellung-Viel_Glück.pdf
7 trafo-k.at/remapping-mozart/htm/main/konfigs/index.htm
8 trafo-k.at/remapping-mozart/htm/konfig2/rundgang/sub01.htm
9 Siehe: migrationsammeln.info
10 www.volkskundemuseum.at/museum_auf_der_flucht

MUSMIG. Ideenwerkstatt für ein Museum der Migration
14. 12. 2019: „Inventur“. Öffentlicher Workshop und Arbeitsgruppentreffen
21. 02. 2020: „MUSMIG. Museum der Migration“. Ausstellung in der Galerie „Die Schöne“ (Wien)
Teilnehmende: Fatih Özcelik, Petja Dimitrova, Sónia Melo, Arif und Evrim Akkiliç, Alice Fehrer, Georg Kö, Elena Messner, Natalie Bayer (angefr.), Goran Novaković, Alexander Matos, Petra Sturm, Handen und Ali Özbas, Ljubomir Bratić, Simon Inou, Sandra Chaterjee, Brigita Malenica, Gizem Gerdan, Regina Wonisch.
Detail- und Programminfos: www.textfeldsuedost.com/musmig-museum-der-migration

Die Wanderausstellung „MUSMIG“ startet im Februar in Wien, und könnte im kommenden Jahr auch in Linz zu sehen sein. Watch out.

Die Verortung von Erinnerung(en) im Raum

Das afo architekturforum oberösterreich fragt in der aktuellen Ausstellung zum Thema „Kontaminierte Orte“ danach, wie sich Gewalt und Kriminalität in Orte einschreiben oder wie die Rezeption solcher Orte aussieht – und ist gleichzeitig eine Geschichte darüber, jene zu erreichen, die sensibel genug sind, damit in „ange­messener Weise“ umzugehen. Bettina Landl hat die Ausstellung besucht.

Also es war immer dieses Lächeln, da hat man gewusst: Jetzt, o Gott, jetzt passiert irgendetwas Furchtbares.“, zitiert der Bildtext zu Stift Kremsmünster einen Konviktsschüler, der deutlich macht, dass es nicht ganz einfach ist, sich den dramatischen Ereignissen zu widmen, von denen diese Ausstellung auch erzählt.

Wer agiert wie mit dem Ort und dem Geschehen?
Die Ausstellung geht von Martin Pollacks wichtigem Essay „Kontaminierte Landschaften“ (2014) sowie von der anhaltenden Diskussion um Hitlers Geburtshaus in Braunau am Inn aus, spannt einen weiten historischen und geografischen Bogen und setzt sich mit 14 exemplarischen Orten in Oberösterreich auseinander. Von Architekturhistoriker und Kurator Georg Wilbertz wird der Blick auf jene Orte gerichtet, an denen Gewalt, Kriminalität, soziale oder ökonomische Verwerfung stattfanden, um sie vor dem Vergessen zu bewahren und die Kluft zwischen offizieller Geschichtsschreibung und kollektiver Erinnerung zu überbrücken. Aus einer unzähligen Fülle von Möglichkeiten wurden Orte ausgewählt, in verschiedene Kategorien der Gewalt und des Leidens eingeteilt und der Versuch unternommen, diese Methode epochenübergreifend anzuwenden.
Eingebettet ist das Thema in den umfang­reichen Diskurs zur Ortstheorie, wobei die Aspekte und Fragestellungen, die unmittelbar mit dem Thema der Gedenk- und Erinnerungskultur zusammenhängen, im Vordergrund stehen.
Individuelle Erinnerungen sind es, die unser Leben und unsere Persönlichkeit prägen. Das gilt auch für „Kollektivindividuen“, wie z. B. die Bewohner*innen einer Stadt bzw. einer Region oder auch für ganze Nationen. Insbesondere die verschiedenen Deutungen und Aneignungen der Orte im Laufe der Zeit, die Herausarbeitung ihrer Instrumentalisierung durch politische Gruppierungen sollen für die Manipulierbarkeit des kollektiven Gedächtnisses sensibilisieren.

Wie sieht die Rezeption von Ort und Geschehen aus?
Die Diskussion um Hitlers Geburtshaus dient der Ausstellung lediglich als Einstieg in die Thematik, die das oft beschworene Idyll Oberösterreichs durchbricht und den widersprüchlichen Umgang mit solchen Orten aufzeigt. Anhand der Einführung, einer Überblickskarte, einer künstlerischen Intervention und 14 exemplarischen Orten, die durch Gewalt, Leid oder kriminelle Handlungen geprägt waren und sind, wird das komplexe Thema vorgestellt. So ist beispielsweise das Kriegsgefangenenlager Marchtrenk, das von 1914 bis 1918 in Betrieb war und 1915 eine Höchstbelegung mit 35.000 Gefangenen verzeichnete und das aus einer umfangreichen Infrastruktur mit Verwaltungstrakten, Lagerspital, Quarantänelager, Schlachthof, Klärschlammverbrennung, Werk- und Arbeitsstätten sowie einem Lagerfriedhof bestand, Forschungsgegenstand und Teil der Ausstellung. Ebenso Teil der Ausstellung ist auch das Bettler-Haftlager in Schlögen, das von Sommer 1935 bis zum „Anschluss“ 1938 nach landesweiten Bettlerrazzien in Oberösterreich mit bis zu 739 Männern belegt war. Lager dien(t)en der Aussonderung, der Repression, der „Erziehung“. Sie ermöglich(t)en Gesellschaften und politischen Systemen, diejenigen sozial zu isolieren, die man als schädlich oder gefährdend identifiziert, und an dafür vorgesehenen Orten zu konzentrieren. Das 20. Jahrhundert wird immer wieder als „Jahrhundert der Lager“ bezeichnet. Verfolgt man aktuelle Debatten und Diskurse in rechtskonservativen Kreisen, scheint das „Lager“ als probates Mittel der Problemlösung eine bedenkliche „Renaissance“ zu erleben.

Erinnerungsorte
Zu den Orten, die mit dem Enthusiasmus der Reform, des Heilens und der philanthropischen Sorge um den Menschen verbunden sind, gehören etwa psychiatrische Einrichtungen (früher als Tollhäuser, Irrenanstalten etc. bezeichnet). Dass jedoch die wohlmeinenden Intentionen oft in ihr krasses Gegenteil verkehrt wurden, zeigen v. a. die psychiatrischen Einrichtungen des 18. und 19. Jahrhunderts. Diese sind häufig gekennzeichnet durch Verwahrlosung und Verrohung. Man sonderte die vermeintlich nicht integrierbaren Mitglieder einer Gesellschaft ab. So wurde beispielsweise das Prunerstift in Linz 1734–39 zuerst als Anstalt für Waisenkinder und Bedürftige erbaut, 1786 durch Joseph II. aufgelöst, dann bis 1833 zu einem Findelhaus und einer Gebäranstalt umfunktioniert, bis es von 1833 bis 1867 eine Irrenanstalt war (seit 1979 die Musikschule der Stadt Linz).

Weiters ermöglicht die Ausstellung eine Auseinandersetzung mit Orten wie dem Kriegsgefangenenlager in Mauthausen, der Psychiatrischen Klinik Niedernhart, dem Sozialpädagogischen Jugendwohnheim Wegscheid, dem Intertrading-Gebäude und dem Landesgericht in Linz, dem Benediktinerstift in Kremsmünster, der Jahnturnhalle in Ried im Innkreis, dem „Dichterstein“ in Offenhausen, der Siedlung Ennsleite in Steyr, dem Richtstättenweg in Lochen sowie dem Frankenburger Würfelspiel in Frankenburg.
All diese Beispiele machen deutlich, dass sich kollektive Erinnerungen immer in irgendetwas manifestieren, sei es in einem Ort, einer Persönlichkeit, einer mythischen Gestalt, einem Ritual, einem Brauch oder einem Symbol, also eine Gestalt annehmen bzw. einen begrifflichen Topos (wörtlich: einen Ort) bilden, in dem gemeinsame Assoziationen kondensieren. Erinnerungsorte sind identitätsstiftend. Dabei haben verschiedene gesellschaftliche Gruppen durchaus unterschiedliche Erinnerungsorte.

Ausstellen gegen das Ausschweigen und Verdrängen
In der Ausstellung werden Fälle seit der frühen Neuzeit exemplarisch beleuchtet, es wird das jeweilige Geschehen beschrieben und die Frage gestellt, wem Erinnerung nützt, wer sie verdrängt, wer sie steuert oder gar von ihr profitiert. Gleich ob Taten Einzelner oder jene staatlicher bzw. öffentlicher Institutionen eingeschrieben sind, beeinflusst die Kontamination von Orten unsere Rezeption der Geschichte. Manche Grausamkeit wandelte sich mit zeitlichem Abstand zu Folklore oder zum touristischen Event.
Falsch verstandene Erinnerung, das Exponieren als „faszinierender“ Ort des Gruselns oder der voyeuristischen Neugierde sind Indizien dafür, dass sich mit zeitlichem Abstand die Erinnerung und die Rezeption der Taten wandeln. Es gibt nicht DIE Erinnerung, nicht DIE Erzählung, die mit einem kontaminierten Ort verbunden sind.

Die Ausstellung zeigt, dass um Erinnerung, ihre Orte und die Interpretation historischer Ereignisse gesellschaftliche Auseinandersetzungen geführt werden. Es geht um Deutungsfragen, die konstituierender Teil unseres kollektiven Bewusstseins sind.
Der Verzicht auf kontaminierte Orte im Österreich der Nazizeit in der Ausstellung stellt eine bewusste Entscheidung dar. Sie ist begründet in der Dimension der Verbrechen von 1938 bis 1945 und der Tatsache, dass diese durch berufenere Institutionen, Gedenkstätten und Forschungseinrichtungen bereits sehr weit aufgearbeitet und dokumentiert sind.

Zur Aktualität von Geschichte(n)
Die Ausstellung hat eine eigene innere Ordnung, die sich aus Bezügen entwickelt hat und ist nicht, wie man annehmen würde, chronologisch aufgebaut. Vom Dokument bis zum Buch und Interviews mit Zeitzeugen wird der Zugang zum Thema bzw. zu den Themen auf vielfältige Weise ermöglicht.
Wenn gleichzeitig auf politische Inanspruchnahme oder den politischen Missbrauch bestimmter Begriffe und Phänomene hingewiesen wird, macht die Ausstellung anschaulich, dass einzelne Fragestellungen höchst aktuell sind.
Neben der Fülle der Aspekte und Fragen, die mit den konkret ausgewählten Orten und Bauten verbunden sind, geht es u.a. darum, möglichst viele Fragestellungen und Phänomene anhand der Einzelbeispiele exemplarisch zu erfassen und darzustellen. Ziel ist nicht nur die Darstellung eines möglichst breiten Spektrums, sondern die Erstellung eines „Katalogs“ der mit problematischen Orten verbundenen Aspekte und Herausforderungen.

„Kontaminierte Orte“ bietet bzw. bieten vielfältige Möglichkeiten der Rezeption. Die Spanne kann von der politisch-gesellschaftlichen Instrumentalisierung über Legitimations- und Identifikationsstrategien bis hin zur ökonomischen Nutzung reichen. Dem gegenüber stehen Interessen und Strategien des Vergessens, der Tilgung oder der Verdrängung. Beide Richtungen können je nach historisch-politischer Situation in ein dynamisches Wechselverhältnis treten. Ein spezifischer Aspekt ist die touristisch-ökonomische Nutzung derart problematischer Orte. Der in den letzten Jahren verstärkt geführte Diskurs zum Stichwort „Dark Tourism“ stellt bezüglich der Theoriebildung und theoretischen Aufarbeitung derartiger Orte einen wichtigen Beitrag dar. Damit wird in und mit der Ausstellung ein sensibler Umgang eingefordert und eingeübt und das notwendige Gespräch über diese Themen (weiter-)geführt.

 

Anmerkung Redaktion: Hinsichtlich Nazizeit und der Dimension der Verbrechen von 1938 bis 1945 findet sich in der aktuellen Versorgerin #124 ein Text über doch immer noch nicht so recht aufgearbeitete und dokumentierte Orte der Nazi-Verbrechen in Oberösterreich.

Kontaminierte Orte
Ausstellung bis 31. Jänner 2020
Mi–Sa 14.00–17.00 Uhr, Fr 14.00–20.00 Uhr
afo architekturforum oberösterreich
Herbert-Bayer-Platz 1, 4020 Linz
Kurator: Georg Wilbertz
Gestaltung: Leonie Reese
Produktion: afo

Ende Gelände

Christel Kiesel hat mit der Masterarbeit Ende Gelände dieses Jahr ihr Studium der Plastischen Konzeption abgeschlossen. Die Arbeit war danach mehrfach in Linz zu sehen und wurde bereits mit zwei Preisen bedacht. Tanja Brandmayr hat sich die Arbeit angesehen und mit der Künstlerin gesprochen.

Zuerst die kurze, aber doch beachtliche Ausstellungsgeschichte der Arbeit und die Info für alle, die beim Thema Preise hellhörig werden: Ende Gelände war heuer im März als Masterarbeit in der Kunstuniversität ausgestellt, danach im Sommer in der Galerie Maerz, und im Oktober wieder in der Kunstuni bei Best Off. Dazwischen hat Christel Kiesel mit Ende Gelände den AK-Kunstpreis zuerkannt bekommen sowie den Preis des Diözesankunstvereins. Weiter geht es in puncto Präsentationen im Dezember mit einer Ausstellung bei EFES42, einem Verein für Skulptur in der Linzer Schubertstraße. Voraussichtlich im kommenden April wird Kiesel in der Arbeiterkammer zu sehen sein, im Mai in der Diözese.

Damit zum Werdegang von Christel Kiesel: Die Plastische Konzeptionistin bzw. die Bildhauerin und bildende Künstlerin wächst im ehemaligen Osten Deutschlands in einem Betrieb in Südbrandenburg auf, einer Töpferei, die es seit 1837 gibt. Später studiert sie Industriedesign in Halle an der Saale (2009–2014), danach Plastische Konzeption in Linz (2015–2019). Die Arbeit Ende Gelände markiert 2019 den Schlusspunkt und die Masterarbeit dieses Studiums. Was sich im beruflichen Werdegang schon längere Zeit abzuzeichnen scheint: Das Faible für Gegensätzlichkeiten, einerseits zwischen Keramik und Industriedesign (Kiesel: „auch zwei sehr entgegengesetzte Bereiche – mich interessiert das“), andererseits später – und immer noch – zwischen Industriedesign und Kunst. Obwohl sie schon während ihres Designstudiums immer wieder die Rückmeldung erhalten habe, dass sie „eigentlich in die Kunst gehört“, bezeichnet Christel Kiesel ihren industriedesignerischen Zugang als prägend, um Kunst zu machen. Dabei sind für Kiesel „sowohl Kunst als auch Design Methoden, um Objekte wahrzunehmen und zu lesen“. Schlussendlich hinterfrage sie Objekte oder auch Alltagsgegenstände etwa immer noch auf eine Funktionalität und verschiedene Zwecke, wobei sie diese Selbstverständlichkeit des funktionalen Nutzens als „eine Art Poesie“ bezeichnet. Und ihre Herangehensweise folgendermaßen: „Generell geschieht viel mit Plan, der allerdings spontan wieder verlassen wird“. Kiesels Arbeitsprozess findet jedenfalls hauptsächlich zwischen Schreibtisch und Werkstatt statt, weniger im Atelier, und ist sehr materialbezogen. Seit sie in Linz ist, arbeitet sie etwa auch vermehrt mit dem Material Stahl.

Ende Gelände umfasst nun im Wesentlichen drei Komponenten mit jeweils eigener Betitelung – namentlich I Follow, Stiebsdorf Blau und Konglomerat L. Diese drei Komponenten stellen eigene Themenkreise dar und lassen sich jeweils als größere Abstraktionen von Raum und Landschaft fassen. Sie stellen sich in unterschiedlicher Form und Materialität zueinander und thematisieren – gemeinsam und für sich – grundlegende bildhauerische Fragestellungen. I Follow etwa besteht aus filigranen, schwefelgelb lackierten Stahlobjekten, die formal zuerst als Geländer im Raum angelegt sind, zusätzlich aber bei der Form von Schranken, Leitern und Hochsitzen Anleihen nehmen. Das gelbe Gestänge verhandelt dabei bildhauerische Grundfragen von Fragilität, Stabilität, Raumausdehnung und Raumbezug, zitiert aber auch, durchaus auf entfremdete Weise, eben Objektfragen von Nutzung und Design. Die nächste Komponente, Stiebsdorf Blau, hängt als leicht schwebende Stoffbahn im Raum, mit einem vertikalen Farbverlauf von blau nach weiß, was Wahrnehmungen von Wasser, Luft, Sinnlichkeit, Durchlässigkeit und Sättigung eröffnet – und möglicherweise eines Übergangs per se. Dazu weiter unten. Und, last but not least, verlegt Konglomerat L mehrteilige Bodenplatten – und damit etwas sehr Basales, Bodennahes und Schweres. In ihrer offensichtlich organischen Zusammensetzung von Ton bis Kiefernnadeln stellen diese Platten Fragen nach lebendigem und totem Material, bestehen aus Bodenschichten und Erosion, und sind in ihrer Hergestelltheit selbst vergänglich. Dazu Christel Kiesel: „Das sind temporäre Manifestationen, sie würdigen die Präsenz des Materials, wie in einem Moment des Ein- und Ausatmens“. Was wohl auch symbolhaft für eine geologische Zeitdimension stehen soll, die auch dementsprechend angearbeitet wurde. Denn die von Kiesel für diese Bodenplatten in der brandenburgischen Landschaft vorgefundenen Materialien von verschiedenen „Sanden, Tönen und Erden“, teilweise mit Schwefelgeruch und eben mit diversen Beimengungen, wurden im quasi-archäologischen beziehungsweise analytischen Arbeitsprozess von der Künstlerin zuerst voneinander separiert, um danach wieder als Arbeitsmaterial zusammengefügt zu werden. Schlussendlich soll dieses temporär dem Boden entnommene Material der Landschaft zurückgegeben werden.

Insgesamt und zusammen befragen die oben vorgestellten Objekte eine ganz grundlegende Materialität und Präsenz. Sie präsentieren sich als eine Art gemeinsames, aber sehr gegensätzliches Ameublement der bildhauerischen Abstraktion. Christel Kiesel zieht nämlich durchaus zarte kunst- und kulturgeschichtliche Bande zu Raum- und Formfragen an sich. So sind etwa die Form- und Arbeitsvorgaben für das schwebende Tuch oder die Bodenplatten die des Vorhanges oder des Teppichs. Oder sie entfaltet innerhalb des Systems Kunst für ihren fröhlichgelben Geländer-Slapstick entsprechend ihrem vorangegangenen Industriedesign-Studium eine spielerische „Stilsicherheit des Designs“, die sie jedoch andersrum in den Raum umleitet und in formale Thematiken einfügt. Während die Arbeit also sozusagen einerseits ein „Ameublement“ aus Kunstreferenzen und ästhetisch geöffneten Formen- und Materialsprachen darstellt, verweist Ende Gelände im größeren inhaltlichen Zusammenhang einer geographisch-territorialen Aufladung aber kräftig nach außen – nämlich auf Christel Kiesels Heimat, das Gebiet von Brandenburg, der Lausitz und damit ins Braunkohlerevier. Im Zentrum steht damit eine real devastierte Landschaft des Braunkohletagebaus und das insgesamt komplexe Thema des Niedergangs und des Verschwindens von Landschaften und Menschen sowie die ökonomischen, sozialen, ökologischen Folgewirkungen in diesem „Energieland“. Titel wie das oben genannte Stiebsdorf Blau beziehen sich genau auf dieses Gebiet. Und auf einer weiteren, theoretisch aufgearbeiteten Ebene, die Christel Kiesel als schriftliche theoretische Arbeit recht umfassend angelegt hat, werden hinsichtlich der weitreichenden Bezüge dieser Landschaft und ihrer Bewohner und Bewohnerinnen „alle diese Fässer aufgemacht“, sagt sie – von der glazialen Erdgeschichte bis zur heutigen Bergbaufolgelandschaft, vom Tagebau, den riesigen Ma­schinen, die selbst Landschaften gleichen, bis hin zur Zerstörung dieser Landschaft, von der Arbeit oder der sorbischen Identität ihrer Familie – bis hin zum Verschwinden und zum nunmehrigen Übergang in eine Sukzessionslandschaft. Einen wesentlichen Teil dieser theoretischen Arbeit bilden die Fotos, die Kiesel vor Ort in Brandenburg aufgenommen hat.

„Für jeden See, sprich für jedes geflutete Tagebaurestloch heute, stehen mehrere verschwundene Dörfer“ – so ein sinngemäßes Zitat aus Christel Kiesels Masterarbeit. Und Stiebsdorf Blau, also die leicht in der Raumluft wehende Stoffbahn mit ihrem Farbverlauf von Wasserblau ins Weiß, ist – in aller irritierenden Leichtigkeit und im mehrfachen Bezug – als Referenz auf ein solches, verschwundenes Dorf, auf eine verschwundene Landschaft und einen nunmehrigen See zu lesen. So verschwanden wegen des Braunkohleabbaus in ihrem Herkunftsland Südbrandenburg seit über 100 Jahren um die 140 Dörfer – mit der meist üblichen Vorgangsweise: Sprengung des Kirchturms, Verlegung des Friedhofes, Umsiedlung der Menschen – dann folgte der Braunkohleabbau im leergeräumten Gebiet. Auf die Industrie beziehen sich übrigens auch die schwefelgelb lackierten Stahlgeländer der künstlerischen Arbeit. Die realen Geländer organisieren im Gelände des Braunkohleabbaus die Raumwege, sie führen, halten auf, sind wie territoriale Bestandteile, die anleiten („I Follow“) – allerdings natürlich weniger diffizil und eigensinnig als in Kiesels Interpretation, denn Form und Material wird im Gebiet dann doch ganz klar dem gemeinsamen industriellen Zweck untergeordnet. In der Riesenanlage wälzen jedenfalls gigantische Bagger wie megalomanische Insektenmaschinen Tag für Tag die Landschaft um. Noch vier davon sind im Braunkohlerevier in Betrieb, trotz bereits mehrfach geplantem Braunkohleausstieg. Die Industrie hinterlässt hier immer noch – bis zum derzeit geplanten Braunkohleausstieg 2038 – in einem großangelegten, anmaßenden Experiment eine aufgerissene, dekonstruierte Landschaft sowie riesige, tiefe Löcher im Boden, die nach dem Abbau „geflutet werden, um sie zu sichern“. In der derzeitigen Bergbaufolgelandschaft bedeutet das dann zum Beispiel, dass diese gefluteten Löcher, alias Seen, dann mitunter giftig sind. Kein Insekt lebt dort. Denn je nach den geologischen Bestandteilen der seit Jahrtausenden gebildeten und nunmehrig in kürzester Zeit aufgerissenen Erdschichten mischen sich durch die Flutung verschiedene Bodenbestandteile und verschiedene chemische Prozesse setzen ein. Ganz generell gibt es in dieser Bergbaufolgelandschaft ganz verschiedene Prozesse – man weiß schlichtweg oft nicht, was passiert. Und so existieren diese Landschaften mitunter auch als Totalreservate oder andere Sukzessionsgebiete, jedenfalls aber Langzeitexperimente mit ungewissem Ausgang, immer mal anders. Christel Kiesel dazu: „Es gibt dabei kein Ziel: Die Sukzession beschreibt den Prozess, wie die Natur sich dieses Gebiet zurückholt. Es verändert sich jeden Tag. Man kann zuschauen. Es ist extrem. Da ist dann über Nacht eine neue Landzunge und plötzlich Lebensraum für 6.000 Kraniche, 20.000 Gänse. Oder der Wolf kommt zurück.“

Alles in allem habe die Arbeit an Ende Gelände ihren eigenen Bezug zum Herkunftsdorf verändert, sagt Kiesel, es geht etwa um ein Gefühl von Heimat und von Verlust. Das Gefühl von früher, dass man immer wegwollte, löst heute ein Gefühl von Erkenntnis ab, nämlich darüber, dass man jetzt versteht, was los ist – „und etwa vor dem See steht und dem See verzeiht“, so Kiesel. Interessant sind jedenfalls die vielen Ebenen dieser Arbeit – wie viele es tatsächlich sind, darüber gibt die schriftliche Arbeit Auskunft. Beziehungsweise: Dass im künstlerischen Teil von Ende Gelände diese realen Tatsachen nicht nur codiert wurden, sondern das Material mit Kontextualität und Eigenschaften aufgeladen wurde, lässt die Raumsituation quasi außersprachlich werden – was natürlich nochmals andere Wirkungen entfaltet. Eine ganz wesentliche Eigenschaft von Kunst. Und eine Arbeit ganz oben.

 

Christel Kiesel wird im Dezember bei EFES42, ein Verein für Skulptur in der Schubertstr. 42, ausstellen und dort die „Linzer Position“ repräsentieren.
www.efes42.at

Und der Rest ist für Sie
EFES42
Eröffnung Mi, 18. Dez, 19.00 Uhr
Öffnungszeiten: Do, 19. Dez., 18.00–20.00 Uhr und per tel. Anmeldung +43(0)650 73 88 464

Time-Ache

Teresa Cos at bb15: Im November war die Künstlerin Teresa Cos im Rahmen des Artist-in-Residence-Programms im bb15 zu Gast und präsentierte ihr neues Projekt Tunnel Boring Machine. Beatrice Forchini schreibt über Teresa Cos und eine Arbeit, die sich zwischen Zeit und Zug bewegt.

Teresa Cos erforscht im Rahmen ihrer künstlerischen Praxis die Möglichkeiten, mit zeitbasierten Medien lineare Zeitabläufe zu stören und die von ihr untersuchten architektonischen, infrastrukturellen und sozialen Räume schichtweise zu lesen. In ihrer Arbeit werden intime Dimensionen und globale Phänomene, öffentliche Reden und innere Stimmen sowie persönliche Erinnerungen und transhistorische Reflexionen in Verbindung gebracht. Durch die Verwendung von Wiederholungen, Loops, Registern, Archiven, Diagrammen und Karten – als semi-analytische wie poetische Werkzeuge – verkörpert sich in ihrer Praxis eine Dynamik, in der Erschöpfung und Auflösung auf paradoxe Weise produktive Kräfte entfalten. Die Auflösung von Sound in einem sich wiederholenden Loop; die Erschöpfung in all den möglichen Wegen, die an ein Ende führen; das erratische Kartieren von physischen und mentalen Geographien – Prozesse wie diese eröffnen neue narrative Herangehensweisen im Werk von Teresa Cos.

Der Kritiker, Autor und Kulturtheoretiker Jan Verwoert reflektiert über Erschöpfung als Resultat des permanenten Drucks, performen zu müssen und betont im Hinblick darauf die Bedeutung des Latenten – die schlummernden, nicht zum Ausdruck gebrachten Möglichkeiten, die in Werken angelegt sind. Daran anknüpfend denkt er über unterschiedliche Wege nach, dieses latente Potenzial zu aktivieren und neue zeitliche Dimensionen in künstlerischen Arbeiten zu eröffnen.1 Als widerständiges Moment zu den Beschränkungen der ge­genwärtigen neoliberalen „Zeit ist Geld“-Wirtschaft sieht er „Arbeit, die in dieser Weise die Erinnerung an ihren eigenen Prozess einbezieht und so ihre eigenen temporalen Parameter konstituiert, sowohl innerhalb als auch außerhalb ihrer selbst.“ Und weiter: „Durch ihre immanente Zeitlichkeit steht diese Arbeit in einem strukturellen Konflikt jedweder reglementierten Vorstellung von Zeit. Sie stört die homogene Schrittgeschwindigkeit der High-Performance-Kultur durch ihren immanenten Rhythmus gedehnter, geraffter, verzögerter oder beschleunigter Zeit der Erinnerung, die im Prozess der Entstehung am Werk ist.“2

Die künstlerische Praxis von Teresa Cos verhandelt die temporalen Bedingungen der Kontexte, in die sie durch Umordnung, gegensätzliche Wirkungen und Problematisierung zu intervenieren versucht. Im bb15 in Linz präsentiert sie die Multi-Channel-Videoinstallation Tunnel Boring Machine (2019). Die Arbeit basiert auf einer ephemeren Videoperformance-Intervention, die sich zwischen Improvisation und loser Choreographie bewegt. Tunnel Boring Machine spielt in zwei Zügen und zeigt eine repetitive Handlung, die ein integraler Bestandteil der Reise der Künstlerin von Brüssel nach London am Wochenende der letzten Europawahlen wird. Das Stück entspringt den persönlichen Erfahrungen von Teresa Cos, die in den zwei Städten lebt und zwischen ihnen pendelt. Sowohl während der Hin- als auch der Rückfahrt geht sie die gesamte Länge des Zugs ab, während dieser den Eurotunnel passiert.

Mit einer an der Brust fixierten Action-Cam werden Single-Shots in beide Richtungen aufgenommen. Ihr Weg führt sie durch kühl beleuchtete Waggons, die Türen und den funktionalen Raum des Speisewagens, die Erste- und Zweite-Klasse-Abteile; währenddessen registriert sie die Gesichter von mitreisenden Personen, deren Gesten, die Screens ihrer Smartphones und Laptops sowie ein Register an banalen Aktivitäten, die sich durch Langeweile oder Zufall ergeben. Die anderen Personen im Zug werden zu unbewussten ZuschauerInnen und TeilnehmerInnen einer unangekündigten Performance. Während der Intervention wird jede Mikro-Szene, die sich während des Durchgangs entfaltet, doppelt mit einem Delay aufgenommen, das der Dauer entspricht, die man brauchen würde, um denselben Ort im Zug aus entgegengesetzter Richtung zu erreichen. Der Sound wurde mit einem Kontaktmikrofon von einem Zugfenster abgenommen und entsprechend dem geologischen Querschnitt samt den höchsten und tiefsten Punkten des Tunnels moduliert. Umliegende Smartphones verursachen die Störgeräusche auf der Aufnahme und signalisieren einen Overload an Kommunikation und Interaktion.

Tunnel Boring Machine dreht sich um die minutiöse Berechnung der verschiedenen Zeitebenen, die in den verschiedenen Situationen im Spiel sind und aus denen sich die beinahe unmerkliche Partitur der Arbeit ergibt: die „Tunnel-Zeit“ oder „Un­ter­wasser-Zeit“; das Schritttempo der Künstlerin; die Zeit, die sich in den Gesten der mitreisenden Personen materialisiert; die Lücke zwischen dem ersten und dem zweiten Durchgang der Kamera von derselben Stelle aus; die verringerte Geschwindigkeit des Videos; die Rückwärtsbewegung, die verschiedenen Zeitzonen, die der Zug überquert. Durch die scheinbar lineare und nackte visuelle Sprache verdichtet Tunnel Boring Machine die befremdliche, beinahe starre Atmosphäre in der die mitreisenden Personen versunken sind und macht sie für die BetrachterInnen spürbar. Der Zug als Nicht-Ort, als Raum der Anonymität und Monotonie, erscheint durchdrungen von diffusen Gefühlen der Erschöpfung, Passivität oder Langeweile; wirkt wie ein Register an Symptomen des weitverbreiteten time-ache3 (dt. „Zeit-Schmerz“).

Die bildliche Umkehrung der Gefühle von Erschöpfung und Starre ist in der Arbeit Eight Chapters in Four Movements (2015) realisiert, eine zeitbasierte Video-Performance, in der die Zuseher*innen mit dem Strom der Menschenmasse konfrontiert sind, die während der morgendlichen Rush­hour die London Bridge überquert. Hier wird Cos zu einem disruptiven Element in der Menschenmasse, indem sie in deren eingespielte Routine und apathische Gleichförmigkeit eingreift. Die Handlung beginnt zunächst mit der mimetischen Immersion der Künstlerin in die Menschenmasse und steigert sich, indem ihr Gang durch die Menge immer mehr zum Störelement wird; ein Körper wird, der den regulären Fluss der Masse verhindert. Das Gefühl der Erschöpfung tritt dabei in den unzähligen Gesten und Eigenarten einer alltäglichen Szene zutage, die Teresa Cos mit Lefebvres Text Rhythmanalysis erforscht. Der in ein Register an Schlüsselbegriffen fragmentierte und zergliederte Text wird für eine Spoken-Word-Performance verwendet, die synchron mit den bewegten Bildern sowie im Einklang mit den Schritten der gehenden Masse rezitiert wird.
Die individuellen Erschöpfungssymptome dieser Ökonomie der Zeit werden vis-à-vis zu den Anzeichen eines allgemeinen Zu­sammenbruchs in größerem Ausmaß gestellt, Anzeichen, welche durch die verschiedenen Schauplätze, Kanäle, Zwi­schen­räume und Strukturen unseres Lebens ersichtlich werden. Mit diesen Gegenüberstellungen auf Mikro- und Makroebene erfasst Teresa Cos die Potenziale der Erschöpfung als neue Wege zur Auseinandersetzung mit der chronopolitischen Dimension der Welten, die sie bewohnt, beobachtet und konstruiert.

 

1 Jan Verwoert, Exhaustion & Exuberance. Ways to Defy the Pressure to Perform, 2008, in Facing Value, Lauwaert, Van Westrenen, Valiz / Stroom, Den Haag, 2016, S. 143–164
2 Ebd., S. 151
3 Sven Lütticken, Autonomous Symptoms in a Collapsing Economy of Time, in Keine Zeit/Busy, 21er Haus, Wien, Hg. Husslein-Arco, Agnes und Steinbrügge, Bettina, Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln, 2012

Die Residency von Teresa Cos fand vom 17. – 28. November im bb15 statt. Im Rahmen der Residency gab es eine Ausstellung und eine Performance zu sehen. Mehr zu Teresa Cos: www.teresacos.co

 

Hosted by bb15

Seit 2009 organisiert bb15 ein professionelles Ausstellungsprogramm mit bis dato mehr als 120 öffentlichen Veranstaltungen. Auf rund 100m2 Ausstellungsfläche finden in monatlichem Rhythmus Ausstellungen, Performances und Screenings statt. Darüber hinaus werden die Räumlichkeiten von den bb15 Mitgliedern als Atelier und Produktionsort genutzt. Internationale Kooperationen mit ähnlichen Institutionen sowie ein jährlicher Open Call spielen eine zentrale Rolle bei diesen Aktivitäten. Als Arbeits- bzw. Nutzungskonzept bemühen wir die Idee eines „artist run space“ – wobei wir diesen Terminus im weitesten Sinne als Label benutzen, um uns in einem Netzwerk ähnlicher Institutionen im In- und Ausland zu positionieren.

bb15 versucht ein Möglichkeitsraum für lokale und insbesondere internationale Künstler*innen zu sein und bietet deshalb auch Residencies an. Die Rolle der eingeladenen Künst­le­r*innen besteht nicht nur in der Produktion von Kunst, sondern auch in der aktiven Reflexion der künstlerischen Positionierung von bb15. Das Hauptaugenmerk wird auf eigenständige und experimentelle Ansätzen im Bereich der Klangkunst und der Schaffung neuer ortsspezifischer Arbeiten gelegt. Installationsbasierte, skulpturale, multimediale oder performative Im­plementierungen sind willkommen. Das kuratorische Team, das aus dem bb15-Vorstand besteht, arbeitet eng mit den Künstler*innen zusammen. In intensivem Austausch werden Arbeiten ausgewählt, Ausstellungskonzepte entwickelt und die Präsentation in den Ausstellungsräumlichkeiten umgesetzt.

bb15.at


A time-ache

Teresa Cos at bb15: In November the artist Teresa Cos was a guest at bb15 as part of the Artist-in-Residence programme and presented her new project Tunnel Boring Machine. Beatrice Forchini writes about Teresa Cos and a work that moves between time and time ache.

As part of her practice artist Teresa Cos explores the potentialities of time-based media to undo linear temporalities and stratify the reading of the architectural, infrastructural and social spaces she investigates. In her work she holds together intimate dimensions and phenomena of global scale, public speeches and inner voices, personal memories and trans-historical reflections. Through the means of repetition, the loop, the index, the archive, diagrams and maps–used as semi-analytical and as poetic tools–her practice incorporates a drive towards exhaustion and dissipation as paradoxically productive forces. The dissipation of a sound repeated in a loop; the exhaustion of all the possible streets that lead to an end; the erratic mapping of physical and mental geographies – through these processes the work opens up new narrative potentialities.

Reflecting on exhaustion as a consequence of a constant pressure to perform, the author, theorist and critic Jan Verwoert speaks about the importance of latency in the work – as a potentiality that remains untold, unexpressed – and about ways of activating this latency and opening up new temporal dimensions in the work1. As a drive to defy the constraints of the current neoliberal temporal economy, the work that ‘incorporates the memory of its own process in this way constitutes its own parameters of time both in- and outside of itself. […] Through its immanent temporality such work is structurally at odds with any regimented notion of time. It interrupts the homogeneous pace of high performance culture through the immanent rhythm of expanded and compressed, delayed and accelerated time of the memory at work in the process of its making’2.

The practice of Teresa Cos negotiates the temporal conditions of the contexts in which it intervenes and that she attempts to reprogram, counter-influence and problematize. At bb15 in Linz Cos presents a multi-channel video installation, Tunnel Boring Machine (2019). The work is based on an ephemeral video-performance intervention, halfway between the improvised and the loosely choreographed. Tunnel Boring Machine is a piece that takes place aboard two trains. It consists of a repeated action that becomes part and parcel of the artist’s return trip from Brussels to London on the weekend of the last European elections. The piece stems from Cos’s experience of the commute between the cities where she lives. In both journeys Cos walks the entire length of the train during the train’s passage under the Euro Tunnel.

She walks end to end and back, holding an action camera fixed to her chest, and filming each path as a single shot in both directions. She walks through the cold-lit aisles of the carriages, the doors and the functional spaces of the restaurant area, the first and the second class; she registers passengers’ faces, their gestures, the screens of their phones and laptops, and a whole index of banal activities that come out of boredom or chance. The passengers turn into unaware spectators and participants of a non-declared performance. During the peripatetic intervention each micro-scene that unfolds at her passage is captured twice with a delay–the time required in order to walk back to the same spot again, in the opposite direction. Sound is recorded with a contact microphone applied to the window of her seat, and then modulated according to the geological cross-section of the tunnel, with its peaks and its lowest points. The recording is disturbed by the interferences of the mobile phones, signaling an overload of communications and interactions.

Tunnel Boring Machine revolves around a meticulous calculation of the different temporalities at play in the situation and serves to write the almost imperceptible score of the piece: the ‘Tunnel-time’ or ‘underwater-time’; the pace of the artist’s walk; the time that materializes in the gestures of the passengers; the gap between the first and the second passage of the camera on the same spot; the reduced speed of the video; the reverse motion; the time of two different time-zones that the train crosses. Through its apparently linear and naked visual language, Tunnel Boring Machine thickens and makes palpable the almost numb and alienated atmosphere in which the train’s passengers are all immersed. The train as a non-place, a place of anonymity and monotony, feels like an environment with a diffuse sense of fatigue and passivity, or boredom, an index of symptoms of a widespread time-ache3.

The flipped image of this sense of numbness and fatigue is to be found in the work Eight Chapters in Four Movements (2015), a durational video-performance where the viewer is confronted with the flow of the crowd crossing London Bridge during the morning rush hour. In this work Cos becomes a disruptive character in the crowd, altering its normalized routine and apathetic sameness. The action starts as a mimetic immersion in the crowd and climaxes to the point that the artist’s walk becomes an element of disturbance, a body that obstructs the regular pace of the people. Here the feeling of fatigue reappears in the myriad of gestures and tics of an everyday scene that Cos investigates through the words of Lefebvre’s Rhythmanalysis. The text, fragmented, dissected and made into an index of key-terms, is used for a spoken-word performance, recited in sync with the images in motion and tuned-in with the steps of the walking mass.

The individual symptoms of exhaustion in this economy of time are used vis-à-vis the symptoms of a general collapse happening on a bigger scale, symptoms that become visible in different locales, channels, interstices and structures of our living. In generating this confrontation – this feedback loop between the micro and the macro scale – Teresa Cos’s work embraces the potential of exhaustion as a way of imagining new possibilities of coping with the chronopolitical dimension of the worlds that she inhabits, observes and constructs.

Hosted by bb15

Since 2009, bb15 has organized a professional exhibition program of over 120 public events to date. Exhibitions, performances, and screenings take place every month in around 100m2 of exhibition space. Alongside these activities, the premises are used by the bb15 members as a studio and production site. International co-operations with similar institutions as well as an annual open call play a central role. As a working and usage concept, we strive for the idea of an ‘artist-run space’ in the broadest sense, positioning ourselves within a network of similar institutions at home and abroad.

bb15 tries to be a space of opportunity for local and especially international artists and therefore also offers residencies. The role of the invited artists consists not only in the production of art but also in the active reflection of the artistic positioning of bb15, which focuses on independent and experimental approaches in the field of sound art and the creation of new site-specific works. Installation-based, sculptural, multimedia or performative implementations are welcome. The curatorial team of bb15 works closely with the artists. In an intensive exchange, works are selected, exhibition concepts developed and the presentations implemented in the exhibition spaces.

The artist Teresa Cos was a guest at bb15 in November 2019 as part of the Artist in Residence program and presented her new project Tunnel Boring Machine.

bb-15.at

1 Jan Verwoert, Exhaustion & Exuberance. Ways to Defy the Pressure to Perform, 2008, in Facing Value, Lauwaert, Van Westrenen, Valiz / Stroom, Den Haag, 2016, p. 143-164

2 Ibid., p. 151

3 Sven Lütticken, Autonomous Symptoms in a Collapsing Economy of Time, in Keine Zeit/Busy, 21er Haus, Vienna, eds. Husselin-Arco, Agnes and Steinbrügge, Bettina, Verlag der Buchhandlung Walther König, Cologne, 2012

Schöne Illu, aber die Beinhaare müssen weg!

Soziales Design als illustrierter Aktivismus: Silke Müllers ausdrucksstarke Plakate verschönern die graue Fadesse von Linz – speziell die alljährlichen zu Feminismus & Krawall. Rollenklischees haben ausgedient, ebenso Beschränkungen im Stil. Christian Wellmann versucht dem Namen Silke Müller ein Bild in Worten zu geben.

Auf keinen einheitlichen Stil festgelegt, illustriert Silke Müller am liebsten zu gesellschaftspolitischen Themen, Frauenrechten und Ökologie. Sozial engagiert und mit Charme. Bevorzugt werden äußerst lebendige Menschen (starke Frauen!), Pflanzen und Tiere entworfen – für Poster, Zeitungen und Magazine (Augustin, Das Magazin/Berlin, Datum etc.). Vieles mit Ausziehtusche und Pinsel, in dicken, schwarzen Konturen, manchmal auch digital – die Arbeitsweise ist einem stetigen Wandel unterzogen. Zudem Arbeiten u. a. für die Stadt Linz, Time’s Up, Nordico, Kulturquartier OÖ, pro mente – sowie Ausstellungen, wie zur Frankfurter Buchmesse (100 Frauen, 2018, das Buch erschien bei Jacoby & Stuart) oder Artist-in-Residence-Aufenthalte (Klaipeda/Litauen). Wer in Linz (und anderswo) auf Plakate achtet, auch diesen Menschenschlag soll es noch geben, sollte die Augen bereits des Öfteren auf ihren wirkungsvollen Sujets ausgerastet haben.
Homebase ist das Atelier im HolzHaus, in der namensspendenden Holzstraße in Linz. Diese Ateliergemeinschaft, mit sechs geteilten Ateliers und derzeit 11 KünstlerInnen, nimmt dort ein ganzes Stockwerk ein. Im Hof werden Mülltonnen des gegenüberliegenden Schlachthofs ausgespült, aber wo Elend, da auch Jauchzen im HolzHaus: Zwetschgen können direkt vom Küchenfenster gepflückt werden. Der Offspace ist zugleich Kulturverein, mit einem Projektraum, offen für externe Ausstellungen oder Konzerte. Neben Epileptic Media waren dort in letzter Zeit Ausstellungen von Franziska Wiener oder eine Präsentation von sechs Skizzenbüchern (An einem Sommer im August), an der die HolzHaus-Obfrau Müller beteiligt war, zu sehen. Aktuell gibt’s die Dezember-Ausstellung – Hey, schau vorbei! – Infos siehe unten. Sie genießt es, in so einem Haus ihren Zeichentisch zu beackern, wo ein Einverständnis von Menschen vorhanden ist, die sagen: „Ich will von dem leben, was ich mir ausdenken kann.“ Das Atelier teilt sie sich mit der Kostüm- und Bühnenbildnerin Leonie Reese. Mit ihr pflegt sie das Trash-„Fetisch“-Hobby „Elsa im Holzhaus“: Bei geschenkten Möbeln war u. a. ein Holzschaukelpferd dabei, die Elsa – daraus begann ein Sammeln von Pferdedeko, eher Kitschpferdesachen vom Flohmarkt (check Tumblr-Seite, s. u.).

Von der Ostsee in die Donau
Müller kommt von Rügen, der Ostseeinsel, einem Dorf mit 29 EinwohnerInnen, und beschreibt ihre ersten Schritte dort wie folgt: „Ich habe großes Glück gehabt, unsere Nachbarin war Grafikerin, die hat viel Tiefdruck und Radierungen gemacht. Bei ihr durfte ich zwei Tage die Woche sein, statt im Kindergarten. Ich hab ganz viel von ihr gelernt, da hab ich quasi angefangen zu zeichnen. Die hat vorgelebt, dass man vom Zeichnen leben kann.“ Sie hat dann Mediengestalterin in einer kleinen Agentur auf Rügen gelernt, die Tourismuswerbung gemacht hat und sie auch illustrieren ließ, danach folgte ein Kommunikationsdesign-Studium in Wismar. „Ende des Sommers 2009 bin ich nach Linz, alles war toll, wie das Gelbe Haus, die vielen Ausstellungen. Irgendwie alles so charmant und schön, ich bin dann relativ schnell beim Strom gelandet, und dann dachte ich, hier kann ich auch wohnen.“ Über ein EU-Projekt, Leonardo, kam sie zu Radio FRO. Auch jetzt macht sie noch Sendungen, selten und meistens mit Petra Moser, wie 2019 für das Ottensheim-Festival. „Anfangs hab ich für den Kultur- und Bildungskanal Beiträge gemacht, viele Porträts, dann auch Grafik, Plakate. So bin ich auch in der Stadtwerkstatt bekannt geworden: ‚Ah, die kann ja auch ein Plakat machen‘ …“

Illustrierter Aktivismus
Etwas, mit dem ihre Arbeit gut beschrieben werden kann, ist Social Design, das Gestalten für NGOs oder politische Anliegen, nun ein neuer Studienlehrgang an der Angewandten Wien. „Ich habe bei FRO gemerkt, es liegt mir selber am Herzen, dass Illustrationen einen sozialpolitischen Antrieb haben können und es nutzt, ein Anliegen zu vertreten. Bei mir ist das ein großer Motivator, wie ich mitbeeinflussen kann, wie Menschen auf etwas blicken. Wie sind Frauen abgebildet, wie werden Familien dargestellt. Es ist wichtig, Sachen anders abzubilden, jenseits von Rollenklischees. Körperformen in der Bandbreite, wie es uns gibt, darzustellen. Ich find es ganz schlimm, wenn Illustrationen Frauenbilder immer reproduzieren, wie im Großteil der Frauenzeitschriften. Wie Erwartungen an Frauen aussehen, ob Frauen kurze oder lange Haare haben, Beinhaare oder nicht. Das ist ein Klassiker, dass die KundInnen sagen: „Schöne Illu, aber die Beinhaare müssen weg!“ Das kann auch von Menschen kommen, von denen man das nicht erwartet … dieses in konservativen Bildvorstellungen festhängen.“ Als Illustratorin kann sie das mitbestimmen. Dies zu nutzen, ist ihr ausgesprochen wichtig. Sie arbeitet für niemanden, wo sie nicht mitträgt, was diejenigen machen.

Der Kampf geht weiter!
Den Frauentag hat Müller in Linz als großes Lerngeschenk erfahren: „Ich bin in der DDR sozialisiert, da war Frauentag, dass Frauen eine Blume bekommen. Es hieß: wir feiern die Frauen, weil sie genauso starke und ‚nützliche‘ ArbeiterInnen sind, wie alle anderen Personen auch. Beim Mauerfall war ich noch Jungpionierin, bevor ich das rote Halstuch bekommen hätte, fiel die Mauer. Ich bin dankbar, dass es keine Mauer mehr gibt, und ich nicht in diesem System aufwachsen und in diesem Gehorsam mein Leben verbringen musste. In Linz habe ich auch kennengelernt: das ist auch ein Frauenkampftag, wo man sichtbar macht, dass ein Kampf für Frauenrechte stattgefunden hat und immer noch stattfindet. Ich habe Feminismus & Krawall jetzt seit sieben Jahren begleitet, und die Plakate dafür gemacht. Ich will Plakate gestalten, wo es nicht um einen lieben Feiertag geht, sondern darum, sich für etwas stark zu machen. Und es darum geht, starke Frauen abzubilden oder ein politisches Plakat zu machen … Wo klar wird: das ist ein gesellschaftspolitisches Anliegen, wir machen jetzt nicht nur ein Konzert und eine Party. Für mich war es ein totales Geschenk, die machen zu dürfen.“

Nein zum Ein-Stil
Ihre Vorlieben sind zwei-, dreifarbige Arbeiten – bunt sind sie nie. Eine dunkle Kontur ist fast immer da, ganz selten nicht. Es gibt drei, vier unterschiedliche Arbeitsweisen, die sich immer wiederholen, aber auch zum Nachteil für Kommerzialität geraten können. „Bei Illustrationen sagt man oft: wegen ihrem Stil gebucht, deswegen versuchen die meisten Menschen, die in diesem Bereich arbeiten, dass die Illustrationen immer gleich aussehen. Mich langweilt das.“ Zurzeit macht es ihr auch unheimlich viel Spaß mit dem Grafiktablett zu zeichnen. „Sowas wie die Zufälligkeit von Wasserfarben lässt sich aber digital nicht generieren – oder der Dreck auf den Zeichnungen, wie vom Kohlepapier. Ich möchte mich nicht beschränken, daher habe ich so viele unterschiedliche Arbeitsweisen, die sich im Laufe der Zeit verändern.“
Mit dem Autor (und Vokalisten) Stephan Roiss reichte sie bei der Akademie Graz eine Arbeit für einen Graphic-Novel-Wettbewerb ein, die prämiert wurde. Es entstanden die zwei Zines Bergen und Hafen (Anm.: als Trilogie geplant. Lieber Stephan, falls du das hier zufällig lesen solltest: Vollende doch bitte!). Verpackt in szenische Lesungen, die von Manuel Stadler musikalisch begleitet wurden – dazu ließ sie die Webkamera hubschraubergleich über die gezeichneten Berge fliegen. Zu einer solchen Lesung kam Tim Boykett von Time’s Up, der sie danach einlud, auch mal für sie zu zeichnen. Daraus wuchs eine langjährige Zusammenarbeit, das erste Mal für Mind the Map, wo Müller ein Tagebuch zum Thema Migration illustrierte, das sich mit Praktiken der europäischen Asylpolitik, insbesondere mit den Flüchtlingsbewegungen im Mit­telmeer, auseinandersetzte.
Danach gestaltete sie bei der Turnton-Ausstellung im Lentos die Medusa Bar sowie kraftvolle einseitige Illus für das 20-Jahre-Jubiläumsbuch von Time’s Up (Lückenhaft & Kryptisch, 2018). Drei davon sind auch als Risoprints erhältlich – ein erster Test mit der (sehr individuellen und haptischen) Risotechnik.
Mit der deutschen Kinderbuchillustratorin Tine Schulz verbindet sie eine langjährige Freundschaft. Der Austausch hält an, sei es durch Projekte (wie die oben erwähnten Skizzenbücher), oder durch die unterschiedlichen Bereiche, in denen die beiden illustrieren. „Ihre Sachen sind lustig. Die meisten Sachen, die ich mache, sind überhaupt nicht lustig, vielleicht ganz selten. Ich arbeite für ganz viele Menschen, wo die Themen eigentlich nicht lustig sind“, so Müller. Auch Comics macht sie sehr gerne – oft nebenbei, von Beobachtungen.
Aktuell ist Silke Müller bei einer Ausstellung in Graz (Arm in Österreich) beteiligt, mit Zeichnungen für Katalog und Reader, sowie mit Figuren in der Ausstellung. Zum 20-Jahre-Stadtmuseum-Leonding-Jubiläum machte sie aus einer 2D-Zeichnung ein 3D-Objekt: den Turm gibt es ganz frisch als goldenen Pin – erhältlich im Stadtmuseum.
Jedes Jahr erscheint ein Wandkalender zu einem bestimmten Thema, wie 2018 über zivilcouragiertes Handeln. Nun gibt es ihn in einer Neuauflage, da er ihr so wichtig ist, dass sie ihn noch einmal machte. „Gerade bei sexuellen Belästigungen oder rassistischen Übergriffen, wenn man so etwas beobachtet oder wenn das einem selber passiert … Da weiß man oft überhaupt nicht, was man machen soll und ist so hilflos, und im Nachhinein fällt einem dann ein, was man hätte machen können. Der Kalender ist als Leitfaden zu sehen, wie man reagieren oder einschreiten kann. Oder der Kontakt zur Person, die angegriffen wird … dass man nicht mit dem Angreifenden spricht, sondern sich mit der Person solidarisiert, die belästigt wird. Auf die Monate verteilt, gibt es immer eine Illu, und dann ist beschrieben, wie man jetzt sprechen oder unterstützen kann.“ Zu bestellen ist der Kalender in ihrem Webshop oder direkt im HolzHaus abzuholen.

 

www.silkemueller.net
www.instagram.com/silke.mueller.illustration
elsa-im-holzhaus.tumblr.com
www.dasholzhaus.at
www.museum-joanneum.at/museum-fuer-geschichte/ausstellungen/ausstellungen/events/event/8774/arm-in-oesterreich-1

 

HolzHaus-Dezember-Ausstellung:
noch bis 11. Dezember 2019
Eine Ausstellung mit allen, die aktuell im Holzhaus arbeiten: Ahoo Maher, Julia Hinterberger, Yara Lettenbichler, Silke Müller, Leonie Reese, Franziska Wiener, Katharina Grafinger, Melanie Moser, Maxi Kumpf