Zwischenräume, Zwischenklänge

Als die Linzer Musikinitiative Musik im Raum (MIR) 2010/11 begann, Konzerte zu programmieren und zu realisieren, verstand sie sich vor allem als eine Plattform, die es MusikerInnen und KomponistInnen ermöglichen wollte, möglichst niederschwellig eigene Werke und Programme umzusetzen. Georg Wilbertz und Karen Schlimp geben einen Über- und Innenblick von MIR und das heurige Thema [körper_playful(l) bodies].

Tree Talk: Das Trio Phillips/Hollinetz/Schlimp, hier im Bild der Kontrabassist Barre Phillips. Bild Sam Harfouche

Neben den arrivierten Ins­titutionen und Veranstaltern (Brucknerhaus, Bruckneruni etc.) existier(t)en im Linzer Raum nur wenige Mög­lichkeiten zeitgenössische Musik und Improvisation zur Aufführung zu bringen. MIR wollte unter größtmöglicher Freiheit aller Beteiligten (womit bis heute ausdrücklich auch das Publikum gemeint ist) diese Lücke zumindest ein wenig schließen.
MIR verstand sich in der Frühphase vor allem als eine Initiative zur Ermöglichung musikalisch-künstlerischer Aufführungen, wobei von Anfang an eine Einschränkung auf bestimmte Gattungen, Genres oder Kunstformen bewusst vermieden wurde. Bis heute ist die MIR-Arbeit durch eine weitgefasste, über ein bloßes Lippenbekenntnis hinausgehende Interdisziplinarität gekennzeichnet, die neben Musik, Klang und Geräusch das Zusammenspiel mit Literatur (Text, Sprache, Lyrik), bildender Kunst, Performance, Bewegung, Tanz, Körper etc. sucht und in idealen Momenten findet. Nimmt man die in vielen Konzerten einbezogenen außereuropäischen kulturellen Bezüge hinzu, ergibt sich ein komplexes Beziehungs- und Bedeutungsgeflecht, das trotz der bescheidenen Mittel, die MIR zur Verfügung stehen, zu jährlichen, anspruchsvollen Konzertprogrammen führt.
Die Idee der Ermöglichung wurde in den ersten Jahren durch „call for concerts“ umgesetzt. Musikschaffende konnten zu von MIR ausgearbeiteten Jahresthemen Konzepte und Werke einreichen, aus denen in der Folge das jeweilige Jahresprogramm von einer Jury zusammengestellt wurde. Diese Herangehensweise erwies sich schon bald als zu aufwändig, und brachte MIR zunehmend in die kaum mehr bewältigbare und dauerhaft unbefriedigende Rolle eines ehrenamtlich agierenden Konzertveranstalters. Eigene musikalisch-künstlerische Projekte rückten hinter die organisatorische Arbeit.
Seit einigen Jahren hat sich diesbezüglich das Selbstverständnis von MIR gewandelt. Das Kernteam der Gruppe entwickelt ein Jahresthema, das den Konzerten als Grundlage dient. Organisation und Durch­führung der jeweiligen Konzerte werden einzelnen Mitgliedern übertragen, Gäste (Instrumentalisten, SängerInnen, SchauspielerInnen, TänzerInnen etc.) zur Mitwirkung eingeladen. Vereinzelt bestreiten Gastensembles Konzerttermine komplett. Auf diese Weise hat sich in den letzten Jahren der Pool der beteiligten KünstlerInnen und damit der musikalisch-klanglichen Möglichkeiten für MIR stetig erweitert.

In Themen denken, Konzepte realisieren
Nach wie vor ist es problematisch und durchaus diskurswürdig, künstlerische Arbeit in ein thematisches Korsett zu zwängen. Auch MIR hat hierüber lange und intensiv diskutiert und ist sich der damit verbundenen Einschränkung künstlerischer Freiheit und Gestaltung bewusst. Insgesamt hat sich das Denken (und Gestalten) in Themen allerdings bewährt. Es führt nicht nur zu einer – durchaus hilfreichen – inhaltlichen Konzentration, sondern wurde zum auch öffentlich wahrgenommenen Kennzeichen: der Realisierung von musikalisch-klanglichen Konzepten. Zwar spielen vereinzelt auskomponierte Werke oder als Gegenpol zu diesen die vollkommen freie Improvisation in Konzertprogrammen noch eine Rolle. Im Mittelpunkt steht allerdings seit längerem eine Aufführungspraxis, die sich wesentlich auf das Prinzip des Konzeptes stützt. Im Verständnis von MIR nimmt das musikalische Konzept eine Zwischenstellung zwischen auskomponierten Werken und reiner Improvisation ein. Das Denken und Arbeiten in Konzepten ermöglicht beides: das Festlegen von Ideen, Abläufen und Strukturen wie auch das freie, assoziative Improvisieren. Beide Ebenen treffen in den Konzerten aufeinander, ergänzen, verdrängen oder überlagern sich, entwickeln sich im Extremfall zur akustischen Konfrontation. In welcher Dosierung, mit welchen Anteilen und Elementen dieser nur in Teilen vorhersehbare Spielprozess abläuft, bleibt – zumeist – weitestgehend offen, wodurch nicht nur lebendig-dynamische Momente und Stücke entstehen. Wesentlich ist eine konzentrierte, das gegenseitige Hören und Reagieren fordernde Haltung der Ausführenden. Musikalisch-spielerische Interaktion, die sich im Ideal des unumkehrbaren Moments realisiert (was durchaus auch Augenblicke des Scheiterns einbezieht), wird zum grundlegenden Prinzip. Vom Publikum fordert diese Herangehensweise eine vergleichsweise hohe Konzentration, die allerdings durch besondere Hör- und Seherlebnisse belohnt wird.

Räume entdecken
Der elementare Konnex von Raum und Klang (Musik) ist eine allseits bekannte Tatsache. Für MIR stellen die für Konzerte genutzten Räume einen grundlegenden Rahmen und eine wesentliche Inspiration für die jeweiligen Programme, ihre inhaltliche Ausrichtung und die Besetzungen dar. Jeder Raum wird sorgsam ausgewählt, auf seine Wirkung und seinen Zusammenhang (funktional, semantisch, klanglich etc.) zum jeweiligen Konzept hin überprüft. Dabei spielen auch kaum „messbare“, intuitive Aspekte wie Atmosphäre oder Aura eine wesentliche Rolle. Ziel ist dabei nicht das ausschließlich harmonische, affirmativ klangliche Schönheit evozierende Zusammenspiel zwischen Raum und Aufführung. Gleichbedeutend können auch Gesichtspunkte wie Konfrontation, Aggression, Widerspruch etc. bei der Raumwahl ausschlaggebend sein. So wurde beispielsweise 2018 ein Konzert in der Linzer Hinsenkamp-Passage zur klanglich-atmosphärischen Herausforderung für Musiker, Sprecher und ZuhörerInnen. MIR möchte letztendlich auf diese Weise neue Räume für das Publikum „entdecken“, klanglich-künstlerisch erforschen und den Orten – zumindest für die Dauer des Konzerts – eine neue musikalisch-inszenatorische Identität ein­schrei­ben.

Aktuell: Körperfragen
Nachdem in den letzten Jahren u. a. Programme zum Zusammenhang von Wort, Ort und Klang oder zur Frage der Aktualität von klanglich-musikalischer Sakralität gestaltet wurden, widmet sich MIR 2019 mit dem Thema „playful(l)_Bodies“ verschiedenen Aspekten des Verhältnisses von Musik, Klang, Raum, Körper und Bewegung. Das Verhältnis des Individuums zu seinem Körper ist komplex, widersprüchlich, lust- und angstvoll. Körper werden gepflegt, geheilt, gequält, verbessert, inszeniert, zerstört, präpariert und vergessen. Der Körper ist mehr als die äußere Erscheinung unserer Existenz. Er vermittelt unser Sein in die Welt, resorbiert das Außen, generiert aus sinnlichen Reizen Emotionen, Befindlichkeiten, psychologische Pathologien. Und er handelt. Für all dies braucht der Körper den Raum, kann ihn „beherrschen“ oder von diesem beherrscht werden. Ebenso essentiell ist das Wechselverhältnis von Körper und Klang (Musik). Musik führt – manchmal unausweichlich – zur Bewegung des Körpers. Bewegende Musik kann missbraucht werden, Körper in Bewegung auch.
MIR möchte heuer mit „playful(l)_Bodies“ diese essentiellen Grundverhältnisse und Paradigmen exemplarisch erkunden, künstlerisch interpretieren und sowohl akustisch wie auch visuell expressiv zum Ausdruck bringen. Dabei greift MIR bewusst auf tradierte und „klassische“ Formen zurück und verortet die Konzerte im durch die Moderne widerspruchsvoll geprägten Spannungsfeld von Körper- und Bewegungskult, Tanztheater und Performance.

 

TREE_TALK:
14. 09. 2019, 17.00 Uhr
am Baum mit bekanntem Linzblick (hoch über der Donau beim Schlosspark-Kinderspielplatz) Mitwirkende: Barre Phillips (Kontrabass), Klaus Hollinetz (Field Recordings), Karen Schlimp (Klavier & Leitung, Konzeption „Klavier im Baum“)

FAKE_BODIES:
17. 11. 2019, 20.00 Uhr
afo Linz (Herbert-Byer-Platz 1, 4020 Linz)
Mitwirkende: Karin Küstner (Akkordeon), Georg Wilbertz (Schlagwerk), Joachim Rathke (Rezitation)

FLOW MOTION:
01. 12. 2019, 19.00 Uhr
Red Sapata (Tabakfabrik, Ludlgasse 19, 4020 Linz)
Mitwirkende: Klaus Hollinetz (Komposition), Werner Puntigam (Komposition), Tänzer*innen IDA / Anton Bruckner Privatuniversität

Frauen am Hackbrett des Barocks

Nonnenklöster in Süditalien und die Wieder-Erweckung eines Instruments des 18. Jahrhunderts: Das Salterio gilt als „Hackbrett des Barocks“. Der Recherchehintergrund der Spielgeschichte des Instrumentes, den die Musikerin Franziska Fleischanderl ausbreitet, ist faszinierend – in unerwarteter Weise geht es gleichermaßen um eingesperrte Aristokratinnen und emanzipierte Künstlerinnen.

Franziska Fleischanderl er­zählt im Gespräch, dass die Musik der süditalienischen Nonnen, die sie über mehrere Monate in den Archiven vor Ort beforscht hat, nach wie vor Hauptgebiet ihrer Arbeit ist, weil diese Musik zum qualitativ Besten der ganzen Salterio-Literatur zählt. Zudem ist die Geschichte der aus der Aristokratie stammenden Nonnen, die im Klosterleben gefangen waren, dort aber andererseits künstlerische Frei­räume hatten, die sie „draußen“ nicht ge­habt hätten, berührend und unfassbar – aber dazu weiter unten. Im Grunde ge­nommen versuche sie ein erstes umfas­sendes Grundlagenwerk zur Geschichte, Verwendung, zum Instrumentenbau, Re­pertoire, zu Virtuosen und Virtuosinnen und der Spieltechnik des italienischen Salterios im 18. Jahrhundert zu schreiben, so Franziska Fleischanderl.
Hintergrund der musikalisch-wissen­schaft­lichen Recherche: Franziska Fleischanderl wurde in Linz geboren und war schon als kleines Mädchen vom Klang des Hackbretts fasziniert, das sie später auch studiert hat. Es folgten Masterstudien in Linz und Basel in Hackbrett und Salterio, das man gemeinhin als „Hackbrett des Barocks“ bezeichnet. Ihr Interesse gilt der Erforschung und Aufführung historischer Salterio-Spielpraxis des 18. Jahrhunderts sowie der Ausdehnung des zeitgenössischen Repertoires für modernes Hackbrett. Von 2008 bis 2015 widmete sie sich ausschließlich der Ausdehnung des zeitgenössischen Repertoires für modernes Hackbrett sowie der damit verbundenen Ent­wicklung moderner Spieltechniken und de­ren Notation. 30 Kompositionen in unterschiedlichsten Besetzungen wurden für sie geschrieben. Ein Höhepunkt war die Kollaboration mit György Kurtág, der sich für ihre Transkriptionen seiner Musik begeisterte und diese für sie autorisierte. Danach hat Franziska Fleischanderl zum Salterio gewechselt. Heute verfolgt sie ein Doktoratsstudium zur „Spieltechnik des italienischen Salterio im 18. Jahrhundert“ an der Universität Leiden. Franziska spielt ein originales Salterio aus dem Jahr 1725. Für die Referentin hat sie den folgenden Text zur Verfügung gestellt, der den künstlerischen und soziologischen Recherche­hintergrund des Instruments und seines in weiten Teilen in den Frauenklöstern Süditaliens entstandenen Repertoires in beeindruckender Weise umreißt.
Das Salterio, das man gemeinhin als das Hackbrett der Barockzeit bezeichnen kann, avancierte im 18. Jahrhundert zum gern gespielten Instrument der Aristo­kra­tie in ganz Europa. Den Höhepunkt seiner Reputation feierte es aber in Italien, wo es gerne von den Grafen, Gräfinnen oder Kardinälen selbst gespielt wurde. Existierte das Instrument zwar schon im Mit­telalter und der Renaissance, so wurde es im Barock durch eine Neuanordnung der Töne vom diatonischen zum chromatischen Instrument, und damit fähig, das Repertoire der Zeit ohne Einschränkungen zu spielen.
Das originale Repertoire für Salterio umfasst alle Genres der Zeit. Es erklang nicht nur in der Kirche, sondern auch am Hof und im Theater. Es wurden Sonaten, Ari­en, Konzerte, Kantaten, Messen, und kam­mermusikalische Quartette für Salterio intoniert. Gefeierte Komponisten wie Antonio Vivaldi, Niccola Piccini, Nicola Porpora, Giovanni Paisiello, Niccolo Jomelli oder Antonio Sacchini haben für dieses Instrument geschrieben. Die Ma­nus­kripte mit originaler Salteriomusik fin­den sich in Bibliotheken und Privatsammlungen in ganz Europa und Amerika. Die vielen kunstvoll verzierten Instrumente in den Museen erzählen vom hohen sozialen Status des Salterios und seiner weiten Verbreitung im 18. Jahrhundert. Das Salterio wurde entweder battuto mit zwei Schlä­gelchen gespielt oder pizzicato mit den Fingern oder Plektren gezupft. Ähnlich wie das Cembalo verschwindet das Salterio am Ende des 18. Jahrhunderts aufgrund neuer Klangideale und dem Wandel der Gesellschaftsstruktur, und wartet seit daher auf seine Wiederentdeckung.

Zu den verborgenen musikalischen Schät­zen der Frauenklöster Neapels und zur Musizierpraxis in den Frauenklöstern: Das künstlerische Erbe der italienischen Frauenklöster des 18. Jahrhunderts ist auf­­grund unzureichender Forschung bis heute eine unbekannte Größe, deren vollständige Wiederentdeckung wertvolle Kunst­­schätze erhoffen lässt. Insbesondere was die Musik betrifft, beherbergen zahl­reiche Kloster-Archive umfangreiche Samm­­lungen an Originalmanuskripten, die Wesentliches über die Musizierpraxis der Zeit offenbaren. Die Manuskripte wur­den bisher weder durch Digitali­sie­rung noch systematische Katalogisierung der breiteren Öffentlichkeit zugänglich ge­macht.
Wie aber kommt es, dass sich in den Ar­chiven der Nonnen eine so breite Kollektion an geistlichen und weltlichen1 Wer­ken der renommiertesten Komponisten der Zeit befindet?
Viele der Nonnen in italienischen Frauenklöstern des 18. Jahrhunderts waren aristokratischen Ursprungs und haben deshalb vor ihrem Klostereintritt eine aristokratische Ausbildungsschiene durchlaufen, in der man den damals in adeligen Kreisen üblichen Verhaltenscodex, das comportamento ordinario2, erlernte. Zum comportamento ordinario zählte nicht nur Lesen, Schreiben, Philosophie, Theologie, Mathematik und Juristik, sondern auch Zeichnen, Fremdsprachen, sowie Singen und ein Instrument spielen3. Viele der Nonnen waren somit bereits als Novizinnen hoch gebildet und nicht selten hervorragende Sängerinnen und Instrumentalistinnen, die als Exccellentissimae Donne das kulturelle Leben im Kloster bereicherten.

Zudem kommt, dass die meisten dieser jungen, aristokratischen Damen nicht freiwillig, sondern auf Wunsch ihrer Herkunftsfamilien ins Kloster eintraten. Die allerwenigsten fühlten sich zum Leben im Kloster berufen. Somit war die damals strenge Klausur wie ein Gefängnis für vie­le der jungen Aristokratinnen, die es bislang gewohnt waren, am bunten, kulturell reichen, urbanen Gesellschaftsleben teil­zu­nehmen.
Was sich durch diesen Umstand in den Klöstern in ganz Italien auszubilden begann, war eine äußerst regelmäßige und offenbar großmütig geduldete Praxis von „geheimen Rekreationen“ der Nonnen, die Ricreazioni segreti. In diesen Ricreazioni segreti trafen sich die Nonnen, um miteinander zu musizieren oder Poesie zu rezitieren. Oftmals wurden gemeinsam die neuesten Opernarien studiert und aufgeführt4. Diese Praxis ging in den größeren Klöstern sogar so weit, dass sich die Nonnen einen eignen Musiksalon, einen Kon­zertraum, oder sogar ein kleines Theater im Kloster einrichteten.

Die künstlerischen Treffen der Nonnen hatten Grund und Ursprung nicht nur darin, dass die Eccelentissimae Donne Freu­de daran hatten, ihre künstlerischen Fähigkeiten auszuleben. Sie konnten durch die Beschäftigung mit Musik ihren aristokratischen Selbstwert und die damit verbundenen Privilegien weiterhin auf­recht­erhalten. Deshalb war die regel­mä­ßige Ausübung ihrer Kunst ein wichtiges psychologisches Fenster zurück in ihre Vergangenheit, das ihnen ermöglichte, trotz strenger Klosterklausur, ein Stück Freiheit zu leben. Bedenkt man, dass nicht wenige der Nonnen auch selber Musik komponierten (die dann auch aufgeführt wurde), zeigt sich, dass ihnen zumindest in künstlerischer Hinsicht größere Frei­räume im Kloster zustanden, als sie im weltlichen Leben jemals gehabt hätten.
Es waren auch die Nonnen und deren Fa­milien im Hintergrund, welche die not­wen­digen finanziellen Mittel mit in die Gemeinschaft brachten, die es brauchte, um neue Kompositionen bei den besten Komponisten der Zeit in Auftrag zu ge­ben, und Kopien der beliebtesten und aktuellsten Opernarien der Zeit zu bestellen. Sie legten damit den Grundstein für den Aufbau der umfangreichen Archive, die wir heute vorfinden. Viele der Auftragskompositionen waren dezidiert einzelnen Nonnen gewidmet, die besondere gesangliche oder spieltechnische Fähigkeiten aufwiesen. Nicht selten treffen wir bei diesen Werken das Salterio als Obligato-Instrument an, was auf eine ausgeprägte Praxis dieses Instruments in den Frauenklöstern Italiens im 18. Jahr­hundert schließen lässt.

Zum Abschluss: Angestoßen durch den sensationellen Kauf eines originalen Salterios von 1725, erbaut von Michele Barbi in Rom, gilt Franziska Fleischanderls Interesse nicht nur der Erforschung und Aufführung historischer Salteriomusik des 18. Jahrhunderts. Um ihre Forschungs­er­gebnisse auf die Bühne zu bringen, gründete sie 2016 ihr eigenes Ensemble namens „Il Dolce Conforto“, mit welchem sie nun auf internationalen Bühnen gas­tiert. Im Herbst ist sie auch hierzulande zu hören.

 

1 In vielen Klöstern überwiegen in der Anzahl die weltlichen Werke (Opern, Arien, Kammermusik, etc.) bei weitem.

2 Oder: Ausbildung zum Gentiluomo

3 Im Falle der männlichen Jung-Aristokraten ergänzte sich die Ausbildung zum Gentiluomo um Reiten und Fechten.

4 Im Falle der männlichen Jung-Aristokraten ergänzte sich die Ausbildung zum Gentiluomo um Reiten und Fechten.

 

Der Text wurde von Franziska Fleischanderl zur Verfügung gestellt und von der Redaktion bearbeitet.

 

Termine im Herbst:

13. September 2019 – St. Georgen/Längssee (Kärnten) Konzert für Salterio und Violine beim Trigonale Festival. Mit Georg Kallweit

10. November 2019 – Linz Konzert im Rahmen von Musica Sacra. Mit dem Ensemble Colcanto

Die Scharlatanerie der natürlichen Sprache

Komponieren oder Improvisieren? Anlässlich eines Abends zu und mit Christian Steinbacher im Keplersalon schreibt Forian Huber über den Linzer Dichter und Sprachtorpedierer Steinbacher, der im Sinne der Sprachkunst unter anderem meint, dass es „eben immer um ein Gewohnheiten torpedierendes Spiel mit Künstlichkeit“ gehe.

Christian Steinbacher bei einem Auftritt in Lyon im März 2019. Foto Louis Roquin

Seine Texte fertigt der 1960 in Ried im Innkreis geborene und seit 1984 in Linz lebende Schriftsteller Christian Steinbacher auch „zu und mit Musik“, wie er in einer poetologischen Selbstauskunft bemerkt. Diesen Eindruck bestätigt auch ein Blick auf die Programmgestaltung des von ihm 2005 initiierten Linzer Poesiefestivals „Für die Beweglichkeit“, das neben Literatur und Bildender Kunst stets auch mit Vertreterinnen Neuer Musik wie den Komponistinnen Clemens Gadenstätter, Peter Ablinger und Annette Schmucki oder Interpretinnen wie Robin Hayward, Maja Jantar und Teodoro Anzellotti bekannt machen wollte.
Vor allem aber die Lesungen des Dichters aus seinem umfänglichen und vielgestaltigen Werk verdeutlichen, wie sehr dieses von einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Regelwerk der Musik, ihrer Notation und Aufführungspraxis bestimmt wird. Wir sehen den Autor atmen und mit Händen und Füßen den Takt vorgeben, hören Motive wiederkehren oder erleben, wie er dem Textmaterial unterschiedliche Stimmen leiht, das Vortragstempo moduliert und seine Rede bisweilen mit Geräuschen und Musik unterlegt, wie anlässlich seiner Performance „Trio für Camposelice, Glücksschwein und Stimme“ aus dem Jahr 2000, die hierfür eine historische Aufnahme der Berceuse, op. 57 von Frédéric Chopin durch den Geiger Vaša Prihoda benutzt. In Visueller Poesie, Prosa, Gedichten und Aufsätzen reflektiert der Autor dabei nicht nur sein persönliches Verhältnis zur Klangästhetik und Hörerlebnisse zwischen aktueller Chartmusik, Schlager, Jazz und Klassik, sondern auch die gemeinsamen historischen Wurzeln von Dichtkunst und Musik. Schließlich stammt der Begriff der Lyrik von der griechischen Lyra, einem Lauteninstrument, das im Altertum zumeist den poetischen Vortrag begleitete. Es verwundert daher nicht, dass auch Steinbacher in einem jüngst entstandenen Kurzhörstück „Purpurmantel, zu einer Wurst gedreht“ an die antike Sängerdichterin Sappho erinnert, deren Lieder und Hymnen nur in Fragmenten und ohne die zugehörige Musik überliefert sind. Dabei sind die musikalischen Bezüge in seinem Werk nicht auf eine historische Motivsuche, die neben den Anfängen der Dichtkunst etwa auch die mittelalterliche Minne, das romantische Kunstlied des 19. Jahrhunderts oder die seit den 1950er-Jahren entstandenen Chansons und Balladen von H. C. Artmann und Gerhard Rühm adressiert, beschränkt.
Vielmehr ist jedes Schreiben über Musik für ihn an den Versuch gebunden, Klängen und Tönen, Musik und Stille eine geeignete sprachliche Gestalt zu geben, wie etwa seine letzte, 2019 erschienene Buchpublikation im Wiener Czernin Verlag Wovon denn bitte? Gedichte und Risse vor Augen führt. Diese enthält etwa neben der Textgrundlage für das Sapphische Hörstück den Zyklus ERNEUT ZU FLÖTEN WISSEN DIE, „der im genauen Horchen auf Aufnahmen von Improvisationen des Flötisten Norbert Trawöger erarbeitet wurde“ und „Flötentöne in Gedichte überführt“, wie Steinbacher notiert. Den Ausgangspunkt für den Schreibprozess bildet nicht die musikalische Notation, sondern die aus ihr erwachsende Interpretation wie auch im Fall der Anfang der 2000er-Jahren entstandenen Textsammlung „Bartóks Bocksprüng’“, der die Duos für zwei Violinen des ungarischen Komponisten in der Einspielung von András Keller und János Pilz zugrunde liegen. Die poetischen Umschriften des Autors, deren Satzbild gelegentlich, wie etwa beim Hörspiel nach Schuberts „Gondelfahrer“ aus dem Jahr 2003, an Partituren erinnert, evozieren somit weniger einen etwaigen musikalischen Urtext als die uneinholbare Differenz zwischen Text und Musik, zwischen Hören und Sehen. Nicht für jeden Ton lässt sich schließlich eine sprachliche Entsprechung finden und überhaupt stehen Klänge und Worte in keinem natürlichen und daher folgerichtigen Verhältnis: „Wu-wu-wu tönt die Flöte. ‚Madame Wu‘ heißt ein Teehaus“, heißt es dazu lapidar im Gedicht. Die vermeintlich willkürlichen Assoziationen beim Hören eines Musikstücks münzt der Autor in poetische Tugenden. Schließlich „gehe es eben immer um ein Gewohnheiten torpedierendes Spiel mit Künstlichkeit, und die Behauptung der Alternative einer das Sprachspiel wie auch immer übersteigenden natürlichen Sprache deute doch nur auf Scharlatanerie hin“, wobei kreative Erfindungsgabe und Debatten um die korrekte Lesart in diesem Falle ausgedient hätten.
Dem Bekenntnis zur literarischen Künstlichkeit folgend, unterzog Steinbacher seine transkribierten Hörerfahrungen wie­derholt einer Überarbeitung, aus der bisweilen neue Texte entstehen konnten wie sein im Jahr 2000 publiziertes Prosabuch Für die Früchtchen bestätigt, das in einigen Teilen auf eine Zusammenarbeit mit dem Musiker Karl Wilhelm Krbavac zurückgeht. Umgekehrt inspirierten Steinbachers Dichtungen auch die Entstehung neuer Musik, wovon die 2009 gemeinsam mit dem Komponisten Christoph Herndler und dem bildenden Künstler Markus Scherer realisierte Aufführung Subjekt/ Objekt oder das 2018 für das Kölner Trio sprechbohrer geschriebene Sprechstück „Dösender Grünspan“ zeugen. Dem Dickicht der Stimmen, der Fülle musikalischer Formen und Einfälle begegnet der Dichter mit poetischem Übermut und bildgewaltiger Sprache. Sein Schreiben und sein Vortrag bringen in uns etwas zum Klingen und machen dadurch die Grenzen und Möglichkeiten poetischer Wahrnehmungsfähigkeit erfahr- und neu verhandelbar.

 

Veranstaltung im Keplersalon:
„Komponieren oder Improvisieren? Ein Abend zu und mit Musik im Werk von Christian Steinbacher“;
7. Oktober 2019, 19.30 Uhr.

Logothetis, nicht …

Xenakis. Robert Stähr verwechselt zunächst die beiden Komponisten – um sich dann zwischen Elektroakustik und Tonband, zwischen Neuer Musik und Notation im größeren Zusammenhang mit dem Werk von Anesthis Logothetis auseinanderzusetzen. Anlass dazu ist eine im Schundheft Verlag erschienene Publikation, die unter dem Titel „LOGOtheSEN“ Texte zu Anestis Logothetis versammelt. Den dort abgedruckten einleitenden Beitrag hat Robert Stähr der Referentin zur Verfügung gestellt.

Xenakis. In den Regalen schau ich bei „L“ nach, zuerst unter „Elektronische Musik Musique Concrete“, dann unter „Zeitgenössische Musik“. Beide Male erfolglos. „Klassische Musik“, Unterabteilung „20./21. Jahrhundert“? Wieder nichts gefunden, keine CD mit Stücken von Anestis Logothetis. Oder war es … eine LP? – Der einzige Tonträger, den ich von dem griechischen Komponisten besitze, ist eine … Compact Disc.
Hab ich die CD – irrtümlich – falsch eingeordnet und jetzt Mühe, sie in meinem Musikarchiv zu finden? Ich verschiebe die weitere Suche auf später. Auf dem Sofa liegend, Klassische Musik hörend, kommt mir der Verdacht: Ich hab ihn verwechselt. Ich sehe unter „Elektronische Musik Musique Concrete“ bei „X“ nach; dort steht die einzige CD, die ich besitze von … Iannis Xenakis: ein griechischer Komponist und Architekt, dessen kompositorisches Oeuvre stark von seinem Interesse an mathematischen und akustischen Gesetzmäßigkeiten geprägt ist und der die sogenannte „Stochastische Musik“ entwickelte, in der zufällige („stochastische“) Elemente wie das Fallen von Regentropfen oder Menschenansammlungen eine entscheidende Rolle spielen. Auch Zahlentheorie und Mengenlehre hat Xenakis auf Kompositionsverfahren angewendet.

Warum aber habe ich diesen Komponisten mit Anestis Logothetis verwechselt? Zwei Gemeinsamkeiten sind, abgesehen von der griechischen Herkunft und der späteren Übersiedlung in westeuropäische Länder, jedenfalls auszumachen: das Kre­ieren eigener musikalischer Notations- bzw. Kompositionssysteme und die Beschäftigung mit elektronischer Musik.
Auf Websites, die über „Leben und Werk“ des Komponisten Auskunft geben, erfahre ich, dass Logothetis nach seiner Übersiedlung nach Österreich in Wien neben Komposition Klavier und Dirigieren studiert hat. Er erfuhr seine Ausbildung im geistigen Klima der künstlerischen Nachkriegsavantgarde, die im Bereich notierter Musik von Serialismus und Zwölfton-Technik geprägt war. Davon ausgehend entwickelte Logothetis graphische Notationssysteme, die es ihm erlaubten, improvisatorische Elemente in seine Kompositionen einzubauen. In den 1950er Jahren nahm er an den „Darmstädter Ferienkursen“ für Neue Musik teil und arbeitete im Elektronischen Studio des Westdeutschen Rundfunks in Köln – beide damals Brennpunkte und Begegnungsstätten der zeitgenössischen Komponisten-Szene. Zurück in Wien, fand er ein Betätigungsfeld am Institut für Elektroakustik der Musikhochschule.
Logothetis komponierte zum einen Stücke für verschieden große Ensembles von akustischen (nicht elektronisch verstärkten) Instrumenten, wobei er deren Kombinationen im Falle einiger Werke der freien Wahl der Aufführenden überließ. Derart offene, fakultative Vorgaben erinnern stark an die musikalische Philosophie des US-Amerikaners John Cage, einen der einflussreichsten Pioniere radikal experimenteller musikalischer Verfahrensweisen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts; die „Fluxus“-Bewegung und mit Zufall arbeitende Ansätze künstlerischen Schaffens („Aleatorik“) bilden um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts das prägende Umfeld dafür.
Zum anderen arbeitete Logothetis immer wieder mit Tonbändern. Er schuf zum Teil collagehafte, vorgefundene Sounds mit Sprache/Stimmen u. ä. kombinierende und diese elektronisch verfremdende Kom­positionen, Musikstücke, die – so mein Eindruck beim Hören von Auszügen – einer gewollt spröden bis ruppigen, auf Brüche und Diskontinuitäten setzenden Ästhetik verpflichtet waren, welche, durch das akustische Fernglas heutiger digitaler Klangerzeugungs- und -kombiniermöglichkeiten gehört, trotz oder gerade wegen ihres damaligen, „Hörgewohnheiten“ her­ausfordernden Avantgarde-Charakters reizvoll verstaubt anmutet. Zu Logothetis’ Genre gehören zudem sogenannte „Radio Operas“, deren Tradition bis in die 1920er Jahre zurückreicht.
Wie viel an spontanen Entscheidungen vonseiten des Komponisten in der Gestaltung seiner Musik steckt, was hingegen an „Klangereignissen“ strukturell geplant war, erschließt sich mir zumindest beim Hören entsprechender Audiofiles im Netz nicht – doch das stört, mich zumindest, auch nicht: Struktur und Aura belauern einander.

Von Anestis Logothetis’ Beschäftigung mit Elektronik und Tonbandmusik lassen sich Verbindungslinien in verschiedene Rich­tungen ziehen: zunächst zurück zu … Xenakis, der zumindest bei einigen seiner Werke in ähnlichen Gefilden „wilderte“ und damit – wie auch Logothetis – lange vor den Möglichkeiten digitaler Klangerzeugung so etwas wie Pionierarbeit im Feld musikalischen Arbeitens mit analoger Elektronik leistete.
Über das Einbeziehen von Haus aus „außermusikalischer“ Klangquellen stößt man auf die sogenannte „Musique Concrete“; deren französische Hauptvertreter Pierre Henry und Pierre Schaeffer schufen – wiederum viele Jahre, bevor diese Bezeichnung geprägt wurde – Klanglandschaften (keine „soundscapes“), an filmische Strukturen erinnernde Montagen akustischer Umgebungen aus urbanen und ländlich geprägten Räumen, arbeiteten mit menschlichen Stimmen, Rhythmen und anderem mehr. Die mir bekannten Stücke der beiden Komponisten (herausragend: das ca. einstündige „La Ville“/ „Die Stadt“ von Henry) muten weniger spröde als Tonbandkompositionen von Logothetis an, haben zum Teil sogar meditative Wirkung – ohne an gestalterischer Präzision einzubüßen.

Diese Musik bildet gleichsam die Basis für den Zeitsprung in nur auf das erste Hören ganz andere musikalische Gefilde, zu Richtungen, die als „Ambient“ und „Noise“ bezeichnet werden und gemeinhin nicht zu den Ausprägungen zeitgenössischer E-Musik gezählt werden. Es sind musikalische Genres, die – im Falle von „Ambient“: Musik als Ambiente, Klangumgebung – auf Erik Saties zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte „Musique d’Ameublement“ zurückgehen oder – vor allem bei „Noise“ – genuin außermusikalisches Material verwendende Ansätze aus „analoger Zeit“ als Hintergrund haben.
Einer meiner – jenseits von „E“ und „U“ agierenden – Favoriten ist der Komponist, Musiker, Kunsttheoretiker Brian Eno. Eno, so etwas wie Neuerfinder der „Ambient Music“ nach Satie, ihr Weiterentwickler und Verfeinerer, veröffentlicht seit den 1970ern kontinuierlich Alben mit Stücken, in denen er elektronisch generierte Klangflächen mit Naturgeräuschen und anderen akustischen Quellen amalgamiert, die seiner Intention nach sowohl für aktives Zuhören als auch als Hintergrundmusik dienen können. Sein Oeuvre, das zwischen „Ambient“ und „Pop“ pendelt und beide Genres auch in Richtung neuer musikalischer Ufer verbindet, ist zudem durch einen nahtlosen Übergang von analoger zu digitaler Klangerzeugung gekennzeichnet.
Der Einsatz digitaler Technik vervielfacht einerseits die Möglichkeiten, Klangquellen zu verändern, zu kombinieren; andererseits verleitet die niederschwellige Handhabung dieser Möglichkeiten viele autodidaktische Musiker zu … Beliebigkeit in der Wahl ihrer Mittel, einem gedankenlosen Kombinieren heterogener Quellen, die musikalische Bedeutung dort suggerieren sollen, wo keine zu finden ist. Das gilt beileibe nicht für alle Musiker, die im sich schon lange überlagernden Feld von „Ambient“ und „Noise“ tätig sind; der inflationäre Gebrauch dieser Kategorien freilich trägt sicher nicht zu deren Präzisierung bei. Enos „Hintergrundmusik“ war und ist mit Sicherheit keine Klangtapete für Lounge und Fahrstuhl.

Das führt zurück zu Anestis Logothetis: Die mit analogen und zum Teil direkt physischen Mitteln (wie geschnittenem und neu montiertem Bandmaterial) von Logothetis und Zeitgenossen geschaffenen Kompositionen zeigen „Ecken und Kanten“, lassen den Verdacht beliebiger Kombinatorik nur selten aufkommen. Montage und Collage sind – anders als etwa bei der literarischen Arbeit mit sprachlichem Material – nicht präzise unterscheidbar.

Is there any escape from noise? There is so much noise. I can hear the music. Was sind paranormale Tonbandstimmen? Es sind Stimmen unbekannter Herkunft. Es sind paranormale Tonbandstimmen. … unbekannter Herkunft. Escape … hear the music. (zit.: Negativland; Laurie Anderson)

 

LOGOtheSEN
Texte zu Anestis Logothetis
Mit Beiträgen von: Robert Stähr, Angelika Ganser, Peter Hodina, Richard Wall, Wally Rettenbacher, Angela Flam, Waltraud Seidlhofer, Herbert Christian Stöger (Text und Textbilder) Sylvia Dhargyal (Grafik)
Verlag und Herausgeber: unartproduktion,
Bestellung: office@unartproduktion.at
Einzelheft: 5 Euro
Jahresabo: 5 Schundhefte zu 15 Euro
www.unartproduktion.at
www.schundheft.at
#zanzenberg © 09/2019

Verantwortung, Widerstand und Fügung

Im Löcker Verlag ist aktuell Michael Guttenbrunners Prosawerk Im Machtgehege als Sammelband erschienen. Zum 100. Geburtstag des Dichters, Essayisten und zeitlebens Widerständigen, der im Literaturbetrieb stets Außenseiter blieb, schreibt Richard Wall.

Foto Richard Wall

Der Dichter und Essayist Michael Guttenbrunner trug das Herz auf der Zunge und pflegte Schluderei in Wort und Bild verlässlich zu kritisieren. Er galt als Außenseiter und hielt Distanz zu den Lakaien des Literaturgeschäfts. Im schnelllebigen Kulturbetrieb dieser Tage nahezu vergessen, umgab ihn zu seinen Lebzeiten eine Aura, die sich aufgrund seiner kompromisslosen Haltung gegen Sprachverhunzung, Konsumismus (P. P. Pasolini), Alt- und Neofaschismus um seine Person gebildet hatte. Man könnte auch sagen, ihm ging eine Fama voraus, die aus Gerüchten bestand, von sensationslüsterner Journaille in die Welt gesetzt. Unter den Literaten hatte er kaum Freunde, und die Kritik (bis auf wenige Ausnahmen) sah in ihm einen un­gehobelten, aus der Zeit gefallenen Ra­bau­ken, dessen Schriften man glaubte nicht lesen zu müssen.

Es gibt nur wenige Dichter seiner Generation, die sich, wie er, so fundiert mit Bil­dender Kunst und Architektur aus­einan­dergesetzt haben. Mit Fritz Kurrent, der 1950 mit Wilhelm Holzbauer, Otto Leitner und Johannes Spalt die „arbeitsgruppe 4“ begründet hat, verband ihn eine jahr­zehntelange Freundschaft; mit Werner Berg hingegen nur eine kurze. Wer im Frühjahr dieses Jahres die Lentos-Ausstellung „Rainer – Lassnig. Das Frühwerk“ gesehen hat, wird auch auf Guttenbrunner gestoßen sein: Er und Maria Lassnig wa­ren befreundet, sie malte u. a. einen Akt von ihm, der, als das expressive Werk 1947 in Klagenfurt gezeigt wurde, einen Skandal auslöste, weil der Penis des Dar­gestellten aufgrund der Farbgebung unmittelbar ins Auge stach. Zudem stand er mit dem Dichter und Kunsthistoriker Klaus Demus und mit dem Morphologen Heimo Kuchling, Lehrbeauftragter an der Kunstuni Linz und an der Akademie in Wien, in Gedankenaustausch.

Guttenbrunners Zugang zur Bildenden Kunst war einerseits von seinen autodidaktischen Studien grundiert, andererseits berührten ihn Kunst- und Bauwerke unmittelbar kraft ihrer ästhetischen wie geis­tigen Qualitäten. Kurzum, er konnte sich für sie begeistern, vorausgesetzt er sah in den Ergebnissen, dass der Schöpfer, weiblich oder männlich, ernsthafte formale Ab­sichten verfolgt hatte. Ihn interessierte weder „dekoratives Hundertwasser“ noch die lauen Ergebnisse einer „dreihundert­jährigen manieristischen Entwicklung“. In seinen Prosabänden Im Machtgehege, auf die ich noch näher eingehen werde, sind Begegnungen mit und Hommagen an Künstler wie Herbert Böckl, Arnold Cle­mentschitsch, Giovanni Segantini, Alfred Wickenburg und Wander Bertoni festgehalten.

Dass er aus bäuerlich-proletarischen Verhältnissen kam, verschwieg der 1919 geborene Kärntner nicht: „Mein Vater war bis zum Krieg 1914 Rossknecht im Gurktal, und ich bin ihm 1934 auf dem Zoll­feld in dieser Bestallung gefolgt. Mein Bett stand im Stall neben den Barren. Zwei große, wenig verschiedene Braune bildeten zusammen den Anblick fremden Le­bens, denn jetzt, da ich mit ihnen arbeiten sollte, erschienen mir die Pferde fremd, als unübersteigliches Hindernis. Ich musste alles lernen, und der Dienst drängte. Ich lernte füttern, „wassern“, striegeln, auf­zäumen, anschirren und fahren. Wir mussten pflügen, eggen, walzen und im Winter Holz liefern, geschlagenes Holz, das unter dem Schnee begraben im Wald lag.“ (Im Machtgehege II),

Mit 14 Jahren kam er erstmals mit dem Gesetz in Konflikt: „Der Februar 1934 hat mich, zusammen mit andern, in die Illegalität geführt. Ich habe Flugzettel ge­streut und die auf Seidenpapier gedruckte und aus der Tschechei eingeschmuggelte Arbeiterzeitung kolportiert.“ (Im Machtgehege II)

Als Schüler der Höheren Graphischen Bun­des-Lehr- und Versuchsanstalt in Wien, die er seit 1937 besucht hatte, erlebte er den Einmarsch der Deutschen Wehr­macht. Wegen seiner Weigerung, das Horst-Wessel-Lied zu singen, wurde er von der Schule verwiesen. Alsbald landete er in der Rossauer Kaserne, angeklagt wegen „illegaler Betätigung für die verbotenen Sozialdemokraten“. Zur Wehrmacht ein­gezogen stand er – notorisch jede Art von Autoritär und Hierarchie ablehnend – als Aufsässiger und Befehlsverweigerer drei­mal vor dem Kriegsgericht und entkam nur knapp der Todesstrafe. Er war alles andere als ein disziplinierter Soldat: Er missachtete Befehle, sprach dem Alkohol zu, verlängerte eigenmächtig seinen Ur­laub, führte aufsässige Reden, beleidigte und bedrohte Vorgesetzte.

Sein erster Gedichtband, Schwarze Ruten, der zur Gänze kriegsbedingt war, erschien 1947 bei Kleinmayr in Klagenfurt. „Er enthielt“, so Guttenbrunner, „was im Krieg entstanden war, was er verschont hatte und was gerettet und ausgearbeitet werden konnte.“ Kurz nach Kriegsende wie­der in Kärnten, attackierte er einen britischen Offizier, der einen Ausweis von ihm verlangt hatte. Einige Monate Irrenanstalt waren die Folge. Diese dumpfe Haft verarbeitend führte zu seiner ersten Prosa­dichtung, Spuren und Überbleibsel, ebenfalls 1947 erstmals in Klagenfurt erschienen.

Guttenbrunners literarische Form, die seinem Wesen entsprach, blieb vorerst die Lyrik; er veröffentlichte in unregelmäßigen Abständen die Bände Opferholz (1954), Ungereimte Gedichte (1959), Die Lange Zeit (1965) und Der Abstieg (1975). Aufgrund der Tatsache, dass er keine Gedichte mehr schreiben konnte, wie er mir einmal sagte, begann er mit der Niederschrift von kurzen Prosastücken. Da­mit begann, vorerst absichtslos, eine neue Werkphase: Im Machtgehege (Verlag Günther Neske, Pfullingen, noch ohne Nummerierung) wurde erstmals 1976 ver­öffentlicht.

Viele Dichter, die über die Erregung, zur poetischen Form begabt zu sein, hinausgekommen sind, fanden früher oder spä­ter zur Prosa, zur Erzählung, zum Roman. Guttenbrunner hatte kein Interesse, einen Plot zu erfinden. Er rieb seine Sprache an der Fülle des Erlebten und an den Verrücktheiten der Moderne. Er begegnete all dem Drängenden, indem er ein Leben führte, das sich vollkommen, seiner Haltung entsprechend, dem Leid verpfändete und gegen „Komfortgesinnung und Re­kla­megeist“ das Wort erhob. Er hielt nichts von dem Verdikt, nach Auschwitz sei Schweigen angemessen. Vergessen, Ver­drängen, Wegschaun war ihm nicht Gegeben. „Dass einer nicht floh, sondern das gelebte weiterlebt, findet die dümmste Interpretation.“ (Im Machtgehege IV)

Den Krieg thematisierte er zeitlebens: Je­nes ungeheure Zwangserlebnis ließ ihn nicht los, dass er nicht vergessen konnte, wurde ihm immer wieder angekreidet. Im Machtgehege ist eines der außergewöhnlichsten autobiographischen Prosaprojekte der jüngeren österreichischen Literatur. Hier wird nicht chronologisch erzählt, sondern die Textsplitter – manche aus nur wenige Zeilen bestehend, manche mehrere Seiten lang – sind im Buch wie unser assoziierendes Denken angelegt. Von den ersten Kindheitserinnerungen ausgehend, die man sich als Zentrum vorstellen kann, werden um diese kreisförmig, aber in unterschiedlichen Abständen, brisante und merkwürdige Stationen seines Lebens sowie kritische Vignetten zu politischen und kulturbetrieblichen Schandtaten der Gegenwart angelegt. Formal erinnern manche Texte an Baudelaires Prosa­ge­dich­te, manche an Attacken in der Tradition von Karl Kraus, dessen Fackel er schon als Jugendlicher kennengelernt hatte. Der großartige wie sprechende Titel „Machtgehege“ verweist auf die existentielle Gefangenschaft und Befangenheit der Menschheit, die unfähig ist, aus einem Zustand der politischen, religiösen sowie ideologischen Unmündigkeit auszu­bre­chen.

Michael Guttenbrunner ist vor 15 Jahren viel zu früh an den Folgen einer zu spät behandelten Lungenentzündung gestorben. Am 7. September wäre er 100 Jahre alt geworden. Mit einer treffenden wie wertschätzenden Passage aus einem Nach­ruf seiner Tochter Dr. Katharina Guttenbrunner, die das Werk ihres Vaters betreut, sei in diesen Tagen an ihn erinnert: „Er war ein Mann der Extreme, die in seiner Prosa vollständig miteinander verwoben und voneinander durchdrungen schie­nen. Ungeheuer explosiver Zorn verbunden mit zartestem Mitgefühl für alles Lebende, weitest gehende Bedürfnislo­sig­keit materiellen Ansprüchen gegenüber mit einer förmlich greifbaren Begierde nach Büchern, die er besitzen wollte, stolzes Selbstbewusstsein mit größter Verehrung anderer, autoritär patriarchale Durchsetzung mit anarchistischer Umsetzung, völliger Rückzug in die Einsamkeit mit lebensvoller Freude an Freunden und Geselligkeit.“ (Michael Guttenbrunner, Texte und Materialien, Wien 2005)

Nun ist im Löcker Verlag, der eine mehrbändige Werkausgabe vorbereitet, das ursprünglich nach und nach in acht Bänden im Rimbaud Verlag herausge­kommene Prosawerk Im Machtgehege (Aachen 1994–2005) als Sammelband erschienen. Die Neuauflage kommt zur richtigen Zeit: Guttenbrunners Prosa ragt aus all dem Wortgeklingel hervor als Säule, auf die gebaut werden könnte, auch wenn ringsum alles bröckelt. Die Lektüre sei jeder und jedem an Herz gelegt.

 

Michael Guttenbrunner, Im Machtgehege, Werke Band 1, herausgegeben und mit einer Nachbemerkung versehen von Helmuth A. Niederle, 455 Seiten, Löcker Verlag, Wien 2018, ISBN 978-3-85409-792-1, 29,80 Euro

Der Biss zum Biss

So kann queer_feministische Radioarbeit funktionieren – meinen Helga Schager und Michaela Schoissengeier, die von der Referentin eingeladen wurden, über ihr seit 2017 bestehendes und auf Radio FRO laufendes Sendungsformat „X_XY (Un)gelöst und (Un)erhört!“ zu berichten. Die beiden haben sich in die schreiberische Außenperspektive der dritten Person versetzt und erzählen.

Der Sendungsname auf dem Schwarzen Brett. Foto X_XY

„X_XY (Un)gelöst und (Un)erhört!“ so ein sperriger Titel, was heißt denn das eigentlich und überhaupt zu lang für einen Sendungsnamen!“

Diese und andere Kommentare haben die Radiojournalistinnen zu Beginn ihres neuen Sendungsformats im Jahre 2017 mehrmals gehört. Die zwei Gründungsfrauen Helga Schager und Michaela Schoissengeier haben sich nicht abbringen lassen und haben fleißig geübt, diese Worte, ohne mehrmals zu stolpern, charmant und souverän über die Lippen zu bringen. Sie haben es geschafft und wenn sie sich über das Magazin austauschen, heißt es dann einfach kurz und knapp: XXY.

Ohne ihre feministischen Grundhaltungen verlassen zu wollen, dachten sie, es sei an der Zeit, einen erweiterten Blick auf Geschlecht, Gender und Gesellschaft, auf deren Auswirkungen auf die sich rasant verändernde politische Landschaft zu werfen und diese in die praktische und theoretische Radioarbeit zu integrieren und zu aktualisieren.

X_XY steht als Synonym für Varianz. Von Geschlechtsidentitäten, die der Biologie nicht entsprechen müssen, ist hier die Rede. Geschlecht bewegt sich auf einem Kontinuum, das heißt, der Versuch wird gewagt, sich von binären Geschlechternormen zu lösen und nach Erlösung wird gestrebt.
Gelöst ist noch lange nicht alles, ungelöst ist vieles und manches braucht keine Lösung, sondern Respekt und Akzeptanz.

„Wir finden das (un)erhört! und bringen das zu Gehör!
Wir wünschen uns nicht eine neue Form von feministischer Politik –
Wir machen sie!“1

Das Miteinander ist durch das binäre Geschlechterkonstrukt geprägt. Vom Gang aufs WC bis zum X am Bewerbungsbogen gibt es Regeln, das schafft Ordnung in unserer Welt.
In den letzten Jahren bröckelt zunehmend diese vermeintlich unverrückbare Grenze. Menschen wechseln ihre Geschlechtsidentitäten, der 3. Geschlechtseintrag „inter“ und die „Ehe für Alle“ sind in Österreich seit kurzem Realität.
Unglaublich aber wahr, die Welt bricht nicht zusammen, ganz im Gegenteil! Menschen fassen Mut, so zu leben, wie es ihnen entspricht und wie es sie glücklich macht. Das soziale Gefüge ist divers und dynamisch und das nicht seit gestern, nicht seit heute.

Selbstverständlich schafft es immer wieder Verwirrung, Unklarheiten und auch Verwunderung. Das ist nicht immer angenehm, regt aber zum Nachdenken an und erlaubt einen Blick über den eigenen Tellerrand.
Reaktionäre Kräfte wollen dies verhindern, doch keine Chance, der Zug rollt. Dieser Widerstand zeugt auch davon, welche Relevanz besser gesagt Brisanz diese Themen beinhalten.

Um was geht es?

Nicht nur der alte, weiße Mann wird panisch (sondern auch der junge), wenn seine Pfründe ins Wanken geraten.
Das Patriarchat wirkt in alle Lebensbereiche und die erste Welle der Frauenbewegung sägte schon kräftig an deren Stuhlbein.

Viele Jahrzehnte sind vergangen, vieles hat sich verändert, der Kampf (ja, es ist immer wieder ein Kampf!) nach gelebter Gleichheit in all ihren Unterschieden und Facetten ist im Grunde der gleiche geblieben. Die Rapperin Sookee bringt’s auf den Punkt: „Ich fänd’s unanständig kein*e Feminist*in zu sein.“

„Wir sind Feministinnen, haben den Anspruch, positiven und mutigen Vorbildern eine Stimme zu geben und kritisieren Ungerechtigkeit und Abwertung ohne Wenn und Aber aufs Schärfste!“, zeigen sich die beiden Radiomacherinnen resolut.

Die Geschichte zeigt, dass Frauen wenig bis gar keinen Platz bekommen haben. Weibliche Leistungen wurden und werden unter den Teppich gekehrt oder gleich von Männern geklaut.
Eine wesentliche Aufgabe von „X_XY (Un)gelöst und (Un)erhört!“ ist es, Lebensgeschichten aufzuspüren, Menschen zum Erzählen zu ermutigen und diese Geschichten zu archivieren.

Es ist ein Beitrag zur Hörbarkeit, zur Sicht­barkeit von verschiedenartigen Le­bens­entwürfen und deren Haltbarkeit über eine Lebenszeit hinaus.

Wie und womit wird das gemacht?

Es werden die freien Medien genutzt, um Themen in die Öffentlichkeit zu bringen, die von privaten und öffentlich-rechtlichen Sendern vernachlässigt werden.

Thematische Vielfalt ist Programm. Breit gestreut reicht diese von Kunst- und Kulturaktivismus, Frauen*- / Gesellschafts- / Entwicklungs- und Migrationspolitik, Alltagsleben von Frauen*, Lesben, inter- und trans-Menschen über Hörspiele bis zu experimentellen Radiosendungen (Radio als Kunstform).
Außerdem wird der Kurzlebigkeit und Kurz­berichterstattung ein Schnippchen geschlagen.
Ausführlichkeit und seriöse Berichterstattung sind gelebte Praxis.

Und was hat es mit dem „queeren Biss“ im Sendungsuntertitel auf sich?

Der Begriff „queer“ bezog sich ursprünglich auf etwas Merkwürdiges, Fremdartiges, Abweichendes und wurde als Schimpfwort benutzt. Inzwischen ist es zu einem positiv besetzten Wort geworden, mit dem sich Menschen selbst bezeichnen. Queer meint eine politische Haltung, die auch die vorherrschenden Normen rund um Geschlecht und Sexualität hinterfragt und alternative Wege des Denkens und Handelns herausfordert.
„Ja und den Biss zum Biss haben wir noch immer und noch allemal!“2

 

1 Statement 2017
2 Statement 2019

X_XY (Un)gelöst und (Un)erhört!
Das feministische Magazin mit queerem Biss FREIE Projektinitiative
Sendetermine: Jeden ungeraden Freitag, 19.00–20.00 h
Wiederholung jeweils: Jeden ungeraden Samstag, 11.00–12.00 h
am darauffolgenden Werktag, 14.00–15.00 h auf Radio FRO 105.0 und 102,4 MHz
Sendungsarchiv: cba.fro.at/series/x_xy-ungeloest-und-unerhoert

Kontakt: Helga Schager & Michaela Schoissengeier mailto: helgaschager@gmail.com, michaela.sch@gmx.at

Theater. Ein Fantasie-Raum mit realen Grenzen?

Gerlinde Roidinger hat im Juni das Schäxpir Festival in OÖ/Linz besucht. Ein (B)Logbuch über Darstellende Kunst für junges Publikum, Astro-Physik und blaue Pillen, die Beziehung zwischen Menschen und Objekten und sonstige raumgreifende Fragen.

Katharina Senk und Maartje Pasman in ihrer raumübergreifenden Schäxpir-Koproduktion [White Hole]. Foto Gerlinde Roidinger

Die austauschbare Vielfalt an trendigen Marketing-Strategien und knalligen Festivals ermüden mittlerweile etwas, umso wichtiger erschien es mir dieses Jahr, mir Raum und Zeit zu nehmen, um der so genannten „jungen Generation“ und den New Acts der Tanz- und Theaterszene in echter Aufmerksamkeit zu begegnen. Aufmerksamkeit, Zeit und Raum sind nach Georg Franck1 übrigens konstitutive Letztbestandteile der subjektiven Erlebnissphäre, wonach Zeit und Raum die Dimensionen und Aufmerksamkeit die Substanz mensch­lichen Erlebens sind.
Und so gab ich mich Ende Juni in der atmosphärischen Substanz meines persönlichen Lebens – also bei Höchsttemperaturen, Unwetterwarnungen und diverser anderer Krisen – dem oö Festivaltreiben hin und betrat die kontroversielle, äh, multiverselle Troposphäre des 10-jährigen Schäx­pir-Jubiläums.
Für die Tour-Notizen hatte ich mir ein reales Logbuch bereitgelegt, plus etwas Schreibmaterial, einen einfachen Bleistift: Die Gedanken meiner Aufmerksamkeit und die Erlebnisse dieser subjektiven Sphäre wollte ich in St_ICH_Worten darin festmachen …

Tag 1: Von auswärts kommend lande ich Montagmorgen am Linzer Hauptbahnhof, um via Bim rasch zur Kulturtankstelle zu gelangen, wo ich mich von zwei zeitgenössischen Tänzerinnen räumlich ins weiße Loch und durch die multisensorisch aufgeladenen Underg_rounds der dortigen Tiefgaragen-Räume führen lasse. Katharina Senk und Maartje Pasman (tanz.sucht.theater) reflektieren in dieser raumübergreifenden Schäxpir-Koproduktion [White Hole] die Grenzen von Körperlichkeit in der Zukunft und erforschen auf tänzerisch-performative Weise die physischen Möglichkeiten technologisch „überarbeiteter“ Menschen sowie deren neue Wirklichkeiten. Ich bin begeistert! Ein wahrlich feiner Ort, diese Tankstelle! Und umso spannender, weil ich höre, dass es hier schon einige kulturelle Impulse gegeben hat und immer wieder welche folgen sollen. Dass es Tanz an jenem besonderen Ort an diesem Tag offenbar aber zum ersten Mal zu sehen gibt, macht mich ir­gendwie traurig – Hallo ihr TänzerInnen da draußen, wo seid ihr!? Und warum bespielt ihr nicht diesen wundervollen Ort!?….
Kurz darauf habe ich in der STWST ein Meeting in eigener Sache, ich treffe mich mit einer Kollegin aus Wien, die im Festspielhaus St. Pölten arbeitet und wohl zum ersten Mal vom „Strom“ hört, wo wir ebenfalls über Tanz sprechen. Abends eile ich noch schnell in die Kammerspiele, um der Eröffnungsrede zum Thema „Multiversum“ und dem Schmusechor aus Wien zu lauschen. Bei vollem Haus widme ich mich dann dem Thema Mensch-Maschine, einer österreichisch-belgischen Produktion namens Homodeus Frankenstein von Johan De Smet und Sara Ostertag, einer der künstlerischen Leiterinnen des Festivals (!). Die Inszenierung erzählt mittels Videowall über das freundschaftliche Zusammentreffen einer älteren Damen mit einem Roboter, während im Bühnenraum davor zwei weibliche Protagonistinnen, die eine tanzend als Maschine, die andere in der Rolle des Menschen, auf der Suche nach der Spezies des vermeintlich anderen immer wieder aufeinandertreffen und zusammenprallen. Musikalisch begleitet von fünf Instrumentalisten und mit viel Feingefühl werden Fragen aufgeworfen, die mit Sorgen und Ängste über die Zukunft verwoben sind, wobei sich die Geschichte vorsichtig der Beziehung zwischen Mensch und Maschine anzunähern versucht…
Tag 2: Ich muss passen und das Festival auf mich warten. Ich verschanze mich in meinem „Home Office“ vor dem Computer, um voller Tatendrang den eigenen Tanz-Projekten zu frönen.
Tag 3: Um 8:29h nehme ich erneut den Regionalexpress zur „Main-Station Linz“ und check mir auf der Fahrt den Weg zur Bruckneruni, die ich seit dem Neubau vermutlich wegen der dezentralen Lage erst einmal von innen zu sehen bekam. Im Foyer dort angekommen, treffe ich einen Bekannten, der begeistert von der Vorstellung des Vorabends schwärmt und mir ausführlich von der versäumten Proletenpassion berichtet: Ein politisches und zeitkritisches Stück der Prolos (Österreich) über die Geschichte von Herrschenden und Beherrschten, eine Wiederaufnahme des Autors Heinz R. Unger und der Band Schmetterlinge aus dem Jahr 1976, das erstmals bei den Wiener Festwochen gezeigt wurde und in der aktuellen Fassung die neoliberale Realität der Gegenwart beleuchtet. Inhaltlich thematisiert die performativ-musikalische Darbietung revolutionäre Zeitfenster von Gestern und Damals, die offensichtlich deutlich vor meiner Zeit auf diesem Planeten stattgefunden haben, deren Brisanz rund um das Thema Klassenkampf und die Kritik an der Geschichtsschreibung wohl aber aktueller denn je sind …
Schwarz-weiß gestreift ist die Schleife schließlich, die mir kurz darauf ein junger Mann an den Oberarm bindet, während mir seine Kollegin „Frau Löfberg“ (Skript und Dramaturgie) eine Flüssigkeit auf die Augenlider tropft um mich zu einer erholsamen „Auszeit“ einzuladen. Die Vorstellung beginne etwas später, bedauert „Herr Finnland“ (Regie und Konzept) dann freundlich, da wir noch auf eine Schulklasse warten. Geduldig sitze ich also neben einer Ansammlung artiger HTL-Schüler und gönne mir in Frédérics Bistro ein frisches Croissant. Kurz darauf werden wir in Teams eingeteilt und die Uraufführung der Sommernachtsmatrix von Nesterval (Österreich) beginnt. Bei brütender Hitze starten wir in den Uni-Garten, davor gibt’s ein paar Einführungsworte inkl. Erklärung der Spielregeln sowie einen Stationen-Plan in Papierform, danach subito die erste Szene: Figuren in weißen Kleidern sprechen, Schlafende erwachen, und ich anachronistischer Anti-Konsolen-Mensch verstehe nur langsam: Das interaktive Real-Life-Computerspiel – die Shakespeare-Schnitzeljagd – ist im vollen Gange: Über zwei Stunden werden wir durch antike Liebes-Geschichten gejagt, mit täuschenden Aufträgen betraut, von AgentInnen mit Wasser-Spritzpistolen verfolgt und mit Hilfe von weißen Kaninchen in ferne Länder versetzt, um uns am Ende für eine von zwei farbigen Pillen zu entscheiden: Wir stimmen ab und ich lasse mich überreden: Unser Team schluckt die blaue. Und ich frage mich, ob das wohl Gutes verspricht oder ich nun für immer unwissend im Kaninchenloch verweile und die Wahrheit über diese Welt womöglich gar nie erfahre …?
Ohne weiße Kaninchen, aber ebenso spielerisch geht es kurze Zeit später im Posthof weiter, wo die drei Performerinnen Deborah Hazler, Martina Rösler und Emmy Steiner sich in On the Other Side auf die Reise nach Australien begeben, um die andere Seite der Erde zu erforschen, alles und jeden auf den Kopf stellen, verkehrt zu laufen und rückwärts zu denken: Ein schönes und reichhaltiges Konzept, das nicht nur zum Perspektivenwechsel einlädt, vielmehr noch: Die Neugier auf das Fremde weckt und sowohl Kinder als auch Erwachsene anregt das Anders-Sein und sich selbst mit allen Sinnen zu entdecken …
Tag 4: Dass es mehr als zwei Seiten der Welt(-Anschauung) aufzuspüren gilt, zeigt am nächsten Tag auch das Kollektiv kunststoff, welches mit ihrem Stück Und die Erde ist doch eine Scheibe das Universum der digitalen Kommunikation in die BlackBox des Landestheaters befördert. Mit transformativen Klang- und Sounddesigns von Peter Plos und künstlerischen Visuals von nita. (Anita Brunnauer) wird der Bühnenraum mit realen Youtube-Channels und physischen Touchpads bespielt, den das Publikum später durchaus gespalten verlässt: Merkwürdige Irritation sowie das eine oder andere Fragezeichen bei den Kindern einerseits und bestätigendes Nicken der LehrerInnen und Begleitpersonen andererseits.
Follow the Rabbit
heißt die Gruppe, die danach im Central das Stück Mongos erzählt, eine berührende Geschichte über zwei Außenseiter, die sich in einem Krankenhaus kennen lernen, der eine querschnittsgelähmt, der andere nervenkrank. Humorvoll und voller philosophischer Fra­gen agieren die beiden sympathischen Schauspieler Nuri Yildiz und Jonas Werling unter der Regie von Martin Brachvogel, der sich mit adäquater Jugendsprache den Themen Liebe, Hoffnung und anderen Seltsamkeiten dieser Welt heranwagt. Die Auszeichnung mit dem STELLA-Darstellender.Kunst.Preis für junges Publikum 2018 in der Kategorie „Herausragende Produktion für Jugendliche“ kann ich an dieser Stelle nur unterstreichen.
Ermutigt, aber auch ein wenig gerüttelt von den melancholischen Szenen dieses Stücks treffe ich mich etwas später mit Anna. Eigentlich war geplant, Anna würde die gesamte Woche meine „jugendliche“ Verstärkung sein. Als 13-jährige Schü­lerin hat Anna in der Zeit des Schäxpir-Festivals (vorletzte Schulwoche!) aber einen dichten Stundenplan: Mathematik-Olympiade, Exkursion, Projekttage etc., weshalb wir uns leider nur für zwei Stücke treffen können. In ihrem knappen Zeitfenster verabreden wir uns an diesem Tag also in der Bruckneruni, um uns gemeinsam Randale und Liebe anzusehen. Auf dem Weg zum Bahnhof erzählt mir Anna danach, ihr habe der Stil des Theaterstücks recht gut gefallen, eine Inszenierung von der Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien, der AHS Rahlgasse und dem Jungen Volkstheater Wien. Die Szenen wechselten zwischen dem Original-Text und den freien Interpretationen der SchauspielerInnen, von denen manche durchgehend im Publikum saßen und wodurch für Anna ein Vergleich vergangener Lebenswelten und der Gegenwart erkennbar wurde. Anna meinte außerdem, sie wäre bei der Darstellung all der unterschiedlichen Vaterrollen durchaus angeregt worden über ihren Vater nachzudenken, auch wenn die meisten davon überzeichnet und einem Stereotypus zu entsprechen schienen …
Im Zug Richtung Selzthal angekommen, verliert sich das Gespräch über das Vater-Stück schnell im Fahrtwind, trotzdem mache ich ein paar Notizen, während Anna in ihrem Buch zu lesen beginnt. Nach ein paar Stationen frage ich sie nach dessen Inhalt und Anna erklärt, sie interessiere sich für Astronomie und Physik. Dieses Buch – No idea: Vorletzte Antworten auf die letzten Fragen des Universums – sei eine witzig-ironische Sammlung von verschiedenen Themen dazu. Das aktuelle Kapitel behandle den Raum und es gehe um die Frage, ob alles Raum, dieser unendlich oder lediglich die Beziehung von Menschen und Objekten sei. Raum könne aber auch einfach nur Farbe sein. Da gäbe es in der Physik eben verschiedene Theorien, ergänzt Anna schließlich. Klingt mehr als spannend, sage ich, wobei mir das Festival-Wort Multiversum durch den Kopf geht und ich mich erneut frage, was genau all diese Stücke mit der Realität und dem Leben der Kinder und Jugendlichen zu tun haben, wohin sie zielen und wie es um die Gewichtung von Provokation, Angepasstheit, Ästhetik, Pflichterfüllung, Verantwortung, Rebellion, Pädagogik, Pop und Punk steht. Und ob bei all dem – zumindest potenziell erreichbaren – Luxus und der Vielzahl von Weltproblemen das Theater etwas Adäquates abbildet bzw. überhaupt anbieten kann und welche Rolle die hierarchische Institution mit ihrer multituden Festival-Prämisse der Teilhabe hat bzw. ob diese denn auch etwas Nützliches anpeilen kann. Und ob Jugendliche wie Anna in ihrem – trotz Schulschluss – übervollen Stundenplan überhaupt Zeit finden um ins Theater zu gehen …

Tag 5: Am Freitag schaffe ich es vormittags dann noch zu Unkraut, ein Stück mit sechs jungen Frauen mit (mir scheint) Model-Maßen, deren tänzerische Darbietung sich um den Körperkult, Macht und die Sehnsucht nach Individualität dreht, eine Inszenierung, deren choreografische Hand­schrift nur unschwer zu erkennen ist: Doris Uhlich. Nicht nur wegen der lauten Bum-Bum Musik, sondern auch wegen des persönlichen Zugangs, wenn die Mädchen nach mehreren physisch anspruchsvollen Sessions erschöpft am Boden sitzend über ihre eigenen Erfahrungen zum Thema Körper und Leistungsdruck sprechen.
Später treffen wir uns im AEC, ich bin bereits vor Ort und Anna kommt mit dem Zug extra von Zuhause angereist. Auf die­ses Angebot habe sie sich schon die ganze Woche gefreut, sagt sie. Eine Ausstellung namens Memories of Borderline von Schauspiel Dortmund (u. a. Kay Voges), die sehr vielversprechend klingt. Doch leider soll es nicht sein und dieser virtuelle Raum bleibt uns trotz Ticket-Reservierung und wegen zu großem Publikumandrangs verwehrt. Dennoch bitte ich Anna später mir ihre Erinnerung an dieses Erlebnis mitzuteilen:

Memories of Borderline
[Gedankensplitter von Anna Hofer]

Eine Installation
Mehr oder weniger digital
Mit VR-Brille, angeblich
Borderline-Syndrom
3 von 100 Leuten leiden daran
Ungefähre Anzahl derer, die die Installation sehen durften
Echt schade
Wäre sicher cool geworden
Für junge, technisch interessierte Leute
Nur sechs Leute pro Stunde sind eine Frechheit
Deprimierte Heimfahrt
In der prallen Sonne
In Gedanken an das verpasste Stück
Gratulierte still den glücklichen Gewinnern
Die es sehen durften.

Tag 6+7: An den letzten beiden Festivaltagen entscheide ich mich für ein freies Wochenende und stimme mich bei Sonnenschein und erfrischender Abkühlung auf einen hoffentlich entspannten Sommer ein, auch Anna plantscht vergnügt im örtlichen Freibad (… wohl aber nur solange ein solches in unserer Gemeinde für die Öffentlichkeit noch zur Verfügung steht …).

Zurück zum Theaterraum: Wer es wie Anna und ich ebenfalls nicht in die besagte Installation geschafft hat, wird hoffentlich im genannten Museum der Zukunft auch nach der Neugestaltung und abseits des Festivals noch Gelegenheit (?) dazu haben. Und alle, die sich diesen Sommer sowieso lieber in fremden Gefilden erholt haben oder in andersartigen Gewässern abgetaucht sind, dürfen sich schon jetzt über die Spieltermine der heimischen Szene freuen, welche sich neben den nationalen und internationalen Gruppen (insgesamt 270 KünstlerInnen) in jedem Fall nicht nur beim Schäxpir-Festival, sondern auch im Herbst in Linz und darüber hinaus unbedingt sehen lassen können:

Else (ohne Fräulein) von Thomas Arzt nach Arthur Schnitzler (ab 14 Jahren)
Si(e)Si von Silk Fluegge YOUNG Audience (ab 10 Jahren)

Und wer 2019 gar nicht in den Schäxpir-Trubel eintauchen konnte oder wollte, darf sich in diesem Fall auf die Astrologie verlassen: Laut Eröffnungsrede steht ein solches Festival nämlich schon wieder fix in den Sternen …

Provinzposse mit Happy End?

Oberösterreich ist ein Bundesland für Menschen, die Ambivalenzen ertragen. Dank des Wirtschaftsbooms darf sich die Landesregierung über 100 Millionen mehr im Budget freuen, Frauen, Kulturschaffenden und sozial Schwache werden aber von der schwarzblauen Koalition behandelt, als sei sie insolvent. Gerne rühmt sie sich der „Aufarbeitung“ der NS-Geschichte, zugleich wählt sie um ein Haar einen Deutschnationalen in den Kulturbeirat. Ein Stimmungsbild mit Aufforderungscharakter von Dominika Meindl.

Ein erster lauer Abend Anfang Mai. Mit Mühe müssen die freundlichen MitarbeiterInnen der Kul­turdirektion die Men­schen, die angeregt in Trauben vor der Landesbibliothek schwat­zen, in das kühle Haus treiben. Ein neues Kulturleitbild soll entstehen, und dieser Abend bildet den Auftakt für einen längeren Diskussionsprozess. Nicht geplant ist eine Diskussion darüber, warum es überhaupt eines neuen Leitbildes bedarf – das „alte“ ist gerade einmal zehn Jahre alt und in etlichen Punkten noch gar nicht umgesetzt.

Die Stimmung ist betont freundlich. Nach den heftigen Protesten der freien Kunst- und Kulturszene gegen den Kahlschlag im Vorjahr und existenzbedrohendem Chaos in den Förderabteilungen (#kulturlandretten) bemüht man sich seitens des Landes offensichtlich um ein gutes Auskommen. Die Anwesenden werden in Gruppen ge­teilt, die Autorin landet in jener mit dem Titel „Kunst als Botschaft nach außen und Motor nach innen“. Ein redegewandter Mitarbeiter der Landesregierung erklärt, es gehe hier um die „Positionierung der oberösterreichischen Kultur als Marke“. Die Mitglieder diskutieren artig über die Einbindung der Jugend, eine junge Frau lobt das Förderwesen. Die Autorin verkneift sich ein Augenrollen und schreibt konstruktiv „Landesmusikschulwesen auf sämtliche Sparten ausdehnen“ auf die Flipchart.

Fünf Tage später positioniert die Landes-FP die heimische Kultur auf ihre ganz eigene Weise: Sie nominiert Norbert Ho­fers Lieblingsmaler Manfred „Odin“ Wie­singer für den Landeskulturbeirat. War der mäßig geniale Innviertler Kunstmaler bis dahin hauptsächlich in freiheitlich-deutschnationalen Kreisen bekannt, dürf­ten seine Vita und seine Geisteshaltung nun hinlänglich bekannt sein. Wer im Mai auf Urlaub oder im Tiefschlaf war: Wie­sin­gers Lieblingssujet sind schlagende Bur­schenschafter und Wehrmachtsoldaten, Frauen sind für ihn schon mal ein „hässliches und dummes Stück Fleisch“, beim Holocaust ist er sich nicht sicher, und seinen KritikerInnen droht er nach den heftigen Protesten: „Euch merke ich mir, und irgendwann seid ihr dran.“ Hinweise etwa der Grazer AutorInnen Autorenversammlung Oö, dass seine Mitgliedschaft gegen das oberösterreichische Kulturfördergesetz (Kultur als „Trägerin einer humanen Gesellschaft) verstoße, ver­hallten ungehört.

Die zunächst erfolgreiche Nominierung durch die FPÖ geriet zum beabsichtigten Skandal; dem rechtsextremen Flügel schien seine Legitimierung und Normalisierung über die Gremien zu gelingen; die Opposition sowie die Kunst- und Kulturschaffenden entflammten in hellem Zorn, die unnötige Posse zog Kreise bis ins Ausland. „Was ist denn da bei euch schon wieder los?“, war die Frage des Tages. So viel zur „Kunst als Botschaft nach außen“. Landeshauptmann Thomas Stelzer verwies kühl auf die Gepflogenheit, das Nominierungsrecht anderer Par­teien zu respektieren. Die Oberösterrei­chi­schen Nachrichten vertraten die Blattlinie, dass man sich habe provozieren lassen wie ein Kind, dass auch schon Thomas Bernhard ein Provokationskünstler gewesen und dass der Landeskulturbeirat ohnehin zahnlos sei.

Auch die folgenden Ereignisse sind bestimmt noch bestens bekannt: Die FPÖ jag­te auf Ibiza die Koalition in die Luft. Hektisch wurden auch auf Landes- und Ge­meindeebene „Diskussionsprozesse“ eingeleitet. Fazit: Die FPÖ muss ihren Sicherheitslandesrat, Aula-Fan und AfD-Berater Elmar Podgorschek opfern. Und der Landeshauptmann hat die Eingebung, dass „Odin“ Wiesinger im Kulturbeirat doch untragbar ist. Podgorschek und Wiesinger treten zurück, um weiteren Schaden von ihren Familien fernzuhalten.

Dem Land und seinem Kulturbeirat ist eine gewaltige Peinlichkeit erspart ge­blie­ben, Schaden ist dennoch zur Genüge angerichtet. Es bleibt zu hoffen, dass die Ver­antwortlichen Konsequenzen ziehen. Der Beirat hat kein Politikum zu sein, sondern ein Gremium aus bewährten Fachkräften, dem die Bedeutung beikommt, die es verdient. Wie absurd ist es eigentlich, wenn die Regierungsparteien Fixplätze mit ih­ren Vertrauensleuten besetzen, dann aber die Empfehlungen nicht einmal ignorie­ren?

Und wenn es schon eines neuen Kulturleitbildes bedarf, möge die Politik ihre Verantwortung wahrnehmen und darin den in der Verfassung verankerten Anti­faschismus festschreiben. In ihrem ge­mein­samen Protestbrief schlugen KUPF und die Gesellschaft für Kulturpolitik folgenden Satz vor: „Ein neues Kulturleitbild muss ein ganz klares und glaubwürdiges Bekenntnis zu einer demokratischen, offenen, inklusiven Kulturpolitik enthalten, die alle rechtsextremen, identitären Kultur- und Heimatbilder, die sich aus einer Geisteshaltung ableiten, von der Öster­reich 1945 befreit wurde, eindeutig ab­lehnt.“ Word. Das muss gar nicht mehr diskutiert werden und stünde Oberösterreich, dem Spitzenreiter bei rassistischen und rechtsextremen Straftaten, auch mehr als gut an. Gar nicht mehr diskutiert werden muss auch eine adäquate Frauenpolitik; sämtliche Kürzungen müssen flugs zu­rückgenommen und per Neuformulierung im Landesfördergesetz verhindert werden. Mit diesem „Motor nach innen“ dürfte die Kulturpolitik des Landes wirklich eine „Botschaft nach außen“ senden. Und wir alle müssen uns nicht schämen, wenn wir das Wort „Heimat“ hören. Irgendwann können wir es dann vielleicht sogar ohne Anführungsstriche ans Ende eines Essays schreiben.

Femicides im Spiegel der Heimat

 

Sarah Held gibt Einblicke in die Verflechtungen von genuin feministischen Forderungen und einer Regierungspolitik, die mit sexualisierter Gewalt gegen Frauen fremdenfeindliche Politik betreibt.

Österreichische Zustände – Femicides im Spiegel von Heimat und rassistischer Ressentiments
Mit der Schlagzeile „Die Taten werden brutaler“ zitiert Silvana Steinbachers Artikel in der letzten Ausgabe der Referentin aus dem aktuellen (Zeitungs-)Diskursuniversum zum Thema Frauenmorde in Österreich. Frauenmorde bzw. Femicides sind hierzulande demnach seit Beginn des Jahres eklatant gestiegen. Dieses Gespräch über einen wichtigen gesellschaftlichen Missstand wird auch stark von Boulevard-Formaten und rechten Parteien/ Gruppierungen beeinflusst. An die Gedanken der Kollegin anschließend gibt dieser Artikel weitere Einblicke in die Verflechtungen von eigentlich genuin feministischen Forderungen und einer Regierungspolitik, die mit sexualisierter Gewalt gegen Frauen fremdenfeindliche Politik betreibt.
Zur Erinnerung bzw. Einführung an dieser Stelle zunächst einmal die Definition: Femicides, ein Neologismus aus den englischen Begriffen Female und Homicide, sind Verbrechen gegenüber Frauen (in der Regel handelt sich um Frauen, aber auch als Frauen gelesene Personen sind davon betroffen), die meistens von Männern ausgeübt werden, die durch Hass, Dominanzverhalten und Machtasymmetrien motiviert sind. Patriarchal geprägte Gesellschaftsordnungen, in denen Sexismus allgegenwärtig ist, perpetuieren diese misogynen Mechanismen. Im kulturellen Gedächtnis sind Femicides fest mit südamerikanischen Ländern verzahnt, so wurde das im Norden Mexikos liegende Ciudad Juárez zum Sinnbild des Grauens. Dort wurden seit den 1990er Jahren mehrere tausend Frauen ermordet oder sind verschwunden. Daher ist auch das spanische Kofferwort Feminicidio sehr geläufig. Es handelt sich also scheinbar um Verbrechen, die assoziieren, dass sie in der Ferne und nicht in der Heimat stattfinden. Das wirft die Frage auf, wer ist wo von wem und generell davon am meisten betroffen? Zudem scheint diese Verbrechenskategorie nicht nur auf sprachlicher Ebene einen exotischen Anstrich zu haben. Exotisch, wird hier im Sinne von weit weg verstanden, also Verbrechen, die von den Anderen an Anderen im Anderen ausgeübt werden. Soweit der eurozentrische Blick und seine kulturelle Wirkmächtigkeit auf gesellschaftliche Ausschluss- und Wahrnehmungsmechanismen innerhalb von westlichen Industriekulturen Mitteleuro­pas. Seitens der FPÖ/ÖVP-Regierung wird die steigende Rate an Frauenmorden mit einer gestiegenen Zuwanderungsrate aus Krisengebieten begründet. Zudem erscheint es einfach, dabei mit dem Finger in Richtung Südamerika zu zeigen und hegemoniale Verhältnisse als Begründung für barbarische Phänomene wie Femicides anzuführen.

Post-Colonialism und rassistisch gefärbte Instrumentalisierungen im Strafgesetz
Die Silvesternacht 15/16 in Köln markiert eine Zäsur in der öffentlichen Wahrnehmung von sexualisierten Übergriffen gegenüber Frauen. Wie keine andere Stadt ist Köln zur Chiffre für sexualisierte Gewalt geworden, die von migrantischen Männern an deutschen Frauen verübt wurde. Dazu beigetragen hat auch die rassistisch-pauschalisierende Sprache der örtlichen Polizei, die die Täter als „Nafris“ (Abkürzung für Nordafrikaner) bezeichnete. „‚Köln‘ steht also für die Behauptung, dass bestimmte Migranten nicht integrierbar sind, sich nicht integrieren wollen und dass es ‚irgendwie‘ doch fundamental unüberwindliche Differenzen zwischen Kulturen gibt.“1 Unter dieser Formel werden im deutschsprachigen Raum aktuell Themen, die zwischen Femicides, sexualisierter Gewalt und Sexualstraftaten oszillieren, von politisch rechten Lagern und Regierungsparteien verwendet, um rassistische Ressentiments zu schüren und fremdenfeindliche Politik zu machen. So verkünden die österreichischen Politikerinnen Edtstadler, Bogner-Strauss und Kneissl auf einer Pressekonferenz im Januar dieses Jahres, dass es einen kausalen Zusammenhang zwischen den gestiegenen Femicides und aktuellen Migrationsbewegungen gäbe. Vergleicht man damit die polizeistatistischen Zahlen, die auf der Homepage der österreichischen Frauenhäuser veröffentlicht sind, wird die Aussage als Panikmache und rassistisches Ressentiment dekonstruiert: „Insgesamt gab es 2018 55 Mordfälle sowie 76 Täter, davon waren 41 Inländer, 35 Täter kamen aus dem Ausland. Laut Medienberichten wurden in den ersten Monaten des Jahres 2019 schon 10 Frauen von ihren (Ex-) Partnern oder Familienmitgliedern ermordet.“2 Die verschärfenden Strafrechtsmaßnahmen, die gerade unter Türkis-Blau in Österreich stattfinden, dienen weniger dem Betroffenenschutz als der Katalysierung von rassistischen Mechanismen, denn ein strengeres Strafrecht in diesen Fällen beschleunigt Abschiebeverfahren. Mit dieser Politik treten vor allem traditionelle Muster von Dämonisierungsmechanismen in den Vordergrund. Die Trope des bösen, fremden (schwarzen) Mannes, der im öffentlichen Raum lauert, um Sexualdelikte zu begehen, wird damit verstärkt. Die Bestärkung dieses Diskurses ist höchst problematisch, da so nicht nur Rassismen perpetuiert, sondern auch Frauen* der Aufenthalt im öffentlichen Raum nicht nur diskursiv eingeschränkt wird.
Das ist immer noch besonders paradox, denn es ist nun kein Geheimnis, dass ein Großteil der verübten sexualisierten Gewalttaten und Sexualdelikte im persönlichen Nahraum betroffener Personen stattfindet und häufig von vertrauten Personen ausgeübt wird. Eine Verschärfung des Strafrechts, gerade im Kontext von Aussage gegen Aussage, ist somit für die Betroffenen eher Hindernis als Befreiungsschlag – zumal sich Betroffene ohnehin mehr Schutz- und Unterstützungsmaßnahmen wünschen. Genau diese Supportmöglichkeiten, welche häufig von Vereinen, Frauenhäusern oder Nichtregierungsorganisationen übernommen werden, sind allerdings stark von Kürzungen betroffen. Im Narrativ der anti-feministischen und reaktionären konservativen Politik von Türkis-Blau lässt sich mit echtem Betroffenenschutz eben kein Wahlpublikum gewinnen. Schließlich gehören zu deren Zielen keine echten soziopolitischen Maßnahmen zur Unterstützung Betroffener bzw. zur Vermeidung von Sexualdelikten. Bei der aktuellen Fokussierung handelt es sich lediglich um eine rassistisch aufgeladene Instrumentalisierung von Übergriffsfällen.

Trotz aller dystopischer Realitäten, die aktuell vorherrschen, sollte trotzdem der Blick auch auf positive Entwicklungen gerichtet werden. Denn neben dem Demonstrieren auf der Straße werden auch wei­terhin neue feministische Zusammenschlüsse und Allianzen gebildet. Als Beispiel sei hierbei ein junger Verein aus Wien erwähnt: Changes for Women (im Folgenden kurz Changes). Die engagierten Gründerinnen, zu denen auch ich gehöre, möchten mit ihrem Verein als Schnittstelle zwischen ungewollt Schwangeren und Abtreibungskliniken fungieren. Leider haben in Österreich nicht alle ungewollt Schwan­geren Zugang zu Abtreibungskliniken. Das hat auch mit der demographischen Struktur der verschiedenen Bundesländer zu tun, aber häufig sind es finanzielle Gründe. Das österreichische Gesundheitssystem übernimmt keine Kosten für einen Schwangerschaftsabbruch. Die einzige Personengruppe, die finanziell unterstützt wird, sind Menschen, die Mindestsicherung erhalten. Das bedeutet, dass alle, die nicht gezwungen sind, auf diesem prekären Level zu leben, sondern anderweitig nahe der Armutsgrenze sind (wie Studierende oder geringfügig Tätige), aus dem Raster herausfallen. Diese Lücke möchte Changes füllen und ungewollt Schwangere mit niederschwellig erreichbaren Finanzierungsunterstützungen auffangen. Gerade im Kontext der toxischen Abtreibungspolitik von christlich bis zuweilen fundamentalistisch gefärbten Politstrategien stellt der Verein einen Lichtblick am dunklen Polithorizont Österreichs dar. Der Verein möchte die feministische Parole „Your Body, Your Choice“ ein Stück weit verwirklichen und ungewollt Schwangeren die Möglichkeit schaffen, selbst über den Zeitpunkt der Familienplanung zu entscheiden. Changes steht hier exemplarisch für ein feministisches Aufbegehren in Stellvertretung für eine Vielzahl von Gruppen, die mit ihrer Arbeit versuchen, Österreich ein bisschen weniger sozialkalt zu machen.
Wenn eingangs auf die steigende Brutalität misogyner Verbrechen referenziert wurde, möchte ich abschließend anmerken, dass die strukturelle Brutalität, die von der aktuellen Regierung ausgeht, ebenfalls exponentiell steigt. Man denke an dieser Stelle an die vermeintlich behindertenfreundliche Abtreibungskampagne „#fairändern“, die von Regierungsmitgliedern öffentlich unterstützt wird. Diese fördere einen schrittweisen Abbau vom Recht auf körperliche Selbstbestimmung und die Folge könnte ein sukzessiv umgesetztes generelles Abtreibungsverbot sein.3

 

Changes im Web: changes-for-women.org

1 Hark, Sabine; Villa, Paula-Irene: Unterscheiden und Herrschen. Ein Essay zu den ambivalenten Verflechtungen von Rassismus, Sexismus und Feminismus in der Gegenwart. 2017. S. 10.

2 Zahlen und Fakten zu geschlechterbedingten Gewaltverbrechen: www.aoef.at/index.php/zahlen-und-daten (aufgerufen am 08. 05. 2019)

3 Horaczek, Nina: „Das Ziel ist es den legalen Schwangerschaftsabbruch zu Fall zu bringen“, März, 2019. www.falter.at/archiv/wp/das-ziel-ist-den-legalen-schwangerschaftsabbruch-zu-fall-zu-bringen (aufgerufen am 08. 05. 2019)

Experimentierfreudige Inszenierung

Kinder mit Schreibwerkzeug am ersten Schultag, Briefe oder unlesbare Kürzel in einem Kalender: Das Linzer Stifterhaus zeigt in der Schau „Etwas schreiben“ Objekte aus Frauennachlässen. Die Kuratorin Sarah Schlatter verzichtet dabei auf einzelne Biografien. Im Vordergrund stehen für sie Schrift und Dokumentieren in ver­schiedenen Facetten.

„Kontinuität“, Kindergedichte Rudolfine Fellinger, 1962–88

 

Etwas schreiben über „Etwas schreiben“. Was für eine groteske Situation, denke ich, als die Kuratorin Sarah Schlatter die rund zwanzig Objekte der Ausstellung erläutert und einige Journalistinnen, Journalisten sich Notizen machen, um über diese Schau, die im allerweitesten Sinn Schrift und Geschriebenes thematisiert, zu schreiben.
Ein kurzer Zeitsprung zurück: Einige Minuten bevor ich im Stifterhaus ankomme, überlege ich, was ich dort vorfinden werde. Ich stelle mir Vorstufen zu Texten, korrigierte Manuskriptseiten, hingeworfene Notizen von Autorinnen vor, die im besten Fall einen ephemeren Einblick zur Entstehung eines bestimmten Werks erlauben. Meine Erwartungshaltung wird jedoch keineswegs erfüllt, was ich bei Präsentationen bisher aber als durchaus bereichernd empfunden habe.

Die aus Vorarlberg stammende und in Berlin lebende Absolventin der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst Sarah Schlatter lässt nämlich Literarisches fast überhaupt beiseite, sondern zeigt die Schrift, das Schreiben im alltäglichen Leben. Dementsprechend eingängig lautet auch der Titel der von ihr kuratierten Schau schlicht „Etwas schreiben“. Sie zog dafür Tagebücher, Taschenkalender, Zettel und Manuskripte von Frauen heran. Schlatter präsentiert das Material in einer eigenständigen Inszenierung. Und gerade diese Inszenierung ist es auch, die im Zentrum ihrer Arbeit steht, was auch mit der grundlegend selektiven Auswahl der Beispiele bestens korreliert.
Ziemlich zu Beginn der Ausstellung sieht die Besucherin, der Besucher keine Schrift, sondern Schwarz-Weiß-Fotografien von zwei Schulanfängern aus dem Jahr 1955, die mit ihrem Schreibwerkzeug in der Hand erwartungsvoll-fröhlich in die Kamera blicken. Ahnen die beiden Kinder womöglich, dass sich ihnen durch die Fähigkeit des Schreibens schon bald eine neue Welt erschließen wird?
Ein weiteres Exponat ist als Projektion zu sehen: Blätter eines Taschenkalenders laufen ab. Eine Sekretärin hat von 1986 bis zu ihrem Tod 2011 mittels teils sogar übereinander geschriebenen Kürzeln, die aber wohl nur sie entziffern sollte, ihr eigenes tägliches Leben, das jeweilige Wetter, ihre Pflichten und Termine notiert. Auf diese Weise enthüllt sich ein Lebensabschnitt vor dem Betrachtenden, lässt die Veränderung von einer individuellen Schrift innerhalb von 25 Jahren erkennen. Sarah Schlatter verzichtet bei dieser Ausstellung auf die Thematik der spezifisch weiblichen Schrift, falls es denn eine solche gibt, sondern setzt auf Individualität, es geht ihr um das Schreiben und Dokumentieren.
Das Schreiben abseits eines qualitativen Anspruchs gehört anscheinend zu den Grundbedürfnissen des Menschen. Ob der derzeitige Trend zum wieder handgeschriebenen Tagebuch auch auf dieses Grundbedürfnis weist oder eher Ausdruck einer narzisstischen Gesellschaft ist? Die Gegenwart, auch die Schrift und das Schreiben im Kontext der Digitalisierung hat Sarah Schlatter in dieser Ausstellung nicht in ihre Überlegungen einbezogen, was aber keineswegs als fehlend empfunden wird. Die Dokumente dieser Ausstellung stammen aus der Sammlung Frauennachlässe an der Universität Wien und des OÖ. Literaturarchivs des Linzer Stifterhauses und reichen bis ins 18. Jahrhundert zurück, wobei der Großteil aus dem 19. und 20. Jahrhundert stammt. Ein Stück Zeitgeschichte verbindet sich hier mit dem Erleben und Dokumentieren einiger Frauen.
An den Seiten der schon erwähnten Tagebuchprojektion hat Schlatter zwei korrespondierende Fotografien platziert. Und gerade eines dieser Objekte bleibt mir im Gedächtnis: Es zeigt eine alte Frau, die sich im Spiegel ihres schon vergilbten Spiegels mit dem Fotoapparat abzubilden versucht. Dieses Bild wirkt auf mich in mehrfacher Weise interessant und berührend. Der Versuch der gebrechlichen Frau, ihr Gesicht festzuhalten, misslingt, weil sie offenbar die Kamera nicht mehr entsprechend halten kann. Sie bleibt so quasi anonym, da sie das Gerät direkt vor ihr Gesicht hält. Was steckt hinter der fast spürbaren Anstrengung der alten Frau? Wollte sie sich im hohen Alter noch ihrer eigenen Identität versichern, am Ende ihres Lebens stehend etwas von sich zurücklassen?
Die Ausstellung dokumentiert wiederholt den Wunsch danach, etwas von sich festhalten zu wollen, etwas zu hinterlassen, und geht über das Schreiben im ursprünglichen Sinn auch durch das gerade erwähnte Beispiele hinaus.
Ihr Ausstellungskonzept hat die Kuratorin durch den Einbezug von Material aus im Stifterhaus befindlichen Nachlässen eigens erweitert. Dies betrifft die 1955 in Linz verstorbene Autorin Enrica von Handel-Mazzetti, der 2006 eine eigene Ausstellung im Stifterhaus gewidmet war, und zum anderen die Greiner Schriftstellerin Rudolfine Fellinger (1921–1996).
Neben ihrer Inszenierung vorhandenen Materials bringt Sarah Schlatter auch selbst geschaffene Arbeiten in diese Ausstellung ein. So hat sie in zwei Arbeiten Buchstabe um Buchstabe bis zur Unlesbarkeit übereinandergeschrieben. Dass sie sich dazu entschieden hat, bei dieser vielschichtigen Schau, die auf sehr unterschiedliche Quellen zurückgreift, auch noch die eigene Aktion als weiteres Element hinzuzufügen, kann man reizvoll finden. Für mich verlässt sie dadurch den Fokus ihrer Präsentation.
Mit „Etwas schreiben“ zeigt die Kuratorin Sarah Schlatter aber ein Gefühl für die Ästhetik einer Ausstellung. Die Platzierung der Elemente, die bedachte Färbung einzelner Wandteile beweisen ihren subtilen Umgang mit der Raumsituation. Und natürlich schwingt gerade bei dieser Schau stets die Frage mit: Wie kommt die Zeit in den Raum?
Nach der im Übrigen auch überzeugenden, opulenten Ausstellung davor – „Bezwingung seiner selbst. Liebe, Kunst und Politik bei Adalbert Stifter“ – geht „Etwas schreiben“ wieder in Richtung einer schlichten Raumbehandlung im Linzer Stifterhaus.

 

Etwas schreiben
Eine Ausstellung von Sarah Schlatter
Unter Verwendung von Archivmaterial der Sammlung Frauennachlässe an der Uni Wien und des OÖ. Literaturarchiv, Linz
Dienstag–Sonntag, 10–15 Uhr
Noch bis 13. Juni
StifterHaus
www.stifter-haus.at