Das ‚DIY Fernsehformat‘

Selbstgebaute Guckkastenbühnen und die Sache mit der Rätebewegung: Das Papiertheater Zunder spielte im Mai im Leondinger Dreierhof das Stück „Pannekoeks Katze“, eine Erzählung über die Idee einer radikalen Erneuerung der Gesellschaft nach sozialistischen und rätedemokratischen Vorstellungen. Die Zunder-Macherinnen Anna Leder, Andreas Pavlic und Eva Schörkhuber geben einen Innenblick über die Bretter des Papiertheaters, die vielleicht die Welt, auf jeden Fall aber die Sehgewohnheiten verändern.

Im September 2018 hat das Papiertheaterkollektiv Zunder im Rahmen des Stadt- und Kunstfestivals WienWoche sein Stück Pannekoeks Katze – Die Sache mit den Räten uraufgeführt. Mittlerweile tourt es durch die Bundesländer und wird an politisch-aktivistischen Orten ebenso gezeigt wie in Klassenzimmern, in Kunsträumen und bei Festivals. Der Titel des Stücks bezieht sich auf Anton Pannekoek (1873 – 1960), den bedeutenden niederländischen Astronomen, Astrophysiker und einen der wichtigsten Theoretiker des Rätekommunismus. Er arbeitete über die Sternverteilung in der Milchstraße und deren Struktur. Politisch war er ursprünglich in der SPD beheimatet, ab 1917 bekannte er sich zum Rätekommunismus und lehnte damit Parlamentarismus, Mitarbeit in den Ge­werk­schaften sowie jegliche Parteiherrschaft ab. Pannekoek hatte mit seinen Veröffentlichungen erheblichen Einfluss auf die rätekommunistische Bewegung in den Niederlanden und in Deutschland. Zu sei­nen wichtigsten Schriften gehört „Lenin als Philosoph“ und „Arbeiterräte“.
Im Stück kommt er u. a. mit folgenden Ge­danken zu Wort:
„Die Räte, schreibt er, sind keine Re­gie­rung; nicht einmal die zentralen Räte ha­ben regierungsartigen Charakter, denn sie verfügen über kein Organ, den Massen ihren Willen aufzuerlegen; sie besitzen kei­ne Gewaltmittel. So webt die Räteorganisation ein buntes Netz zusammenarbeitender Körperschaften in die Gesell­schaft hinein, die Leben und Fortschritt im Einklang mit ihrer eigenen freien Tatkraft regeln. Und alles, was in den Räten beraten und beschlossen wird, erhält seine wirksame Macht aus dem Wissen, dem Wollen und dem Handeln der arbeitenden Menschheit selbst …“

Der Konzeption und Umsetzung des Stückes, das sich mit der kaum bekannten Rätebewegung in Österreich beschäftigt, liegen Überlegungen zu Geschichtsschreibung im historisch-politischen wie im künstlerisch-emanzipatorischen Sinn zugrunde, die wir an dieser Stelle dokumentieren und reflektieren möchten: Wie sind wir zu diesem Thema gekommen? Was hat es mit der Form des Papiertheaters auf sich? Und wie können sich kollektive Schreib- und Inszenierungsprozesse ge­stalten, die darauf fokussieren, historische mit zeitgenössischen Gegen­geschichten zu verknüpfen?

Die Geschichte in der Geschichte
Nachdem die ersten Ankündigungen für das 100jährige Republiksjubiläum auftauchten, begannen wir im Sommer 2017 mit unseren Überlegungen, dieses Thema aufzugreifen. Unser Interesse galt jener breiten Bewegung, die 1918/1919 für eine radikale Erneuerung der Gesellschaft nach sozialistischen und rätedemokratischen Vorstellungen eintrat. Uns war klar, dass die hiesige Erinnerungs- und Gedenkkultur für diese Geschichte wenig übrighaben würde. So zeigte es sich dann auch: Prä­sentiert wurde eine rot-weiß-rote Erfolgsgeschichte. Ihre Kurzformel lautet: Ein gemäßigter Pragmatismus hat sich zu­nächst gegen jeglichen Extremismus durch­gesetzt. Dann kamen Faschismus und Nationalsozialismus als kurze katastrophale Abweichungen. Nachdem diese besiegt worden waren, ging der Erfolgs­lauf weiter – so als wären den bürgerlich-kapitalistischen Republiken nicht genau jene destruktiven und autoritären Kräfte inhärent, sondern als wären sie von außen gekommen. Wenn über die anfänglichen revolutionären Bewegungen gesprochen wurde, dann als Phantasiegespinst überdrehter Dichter*innen oder sonstiger Hitzköpfe.

Diese Art von Geschichtslosigkeit – nämlich der Darstellung der Repräsentativen Demokratie als dem Ende der Geschichte – versuchten wir aus zwei Richtungen zu begegnen. Einmal in Form einer Erzählung, die sich als Gegengeschichte oder Geschichte von unten versteht. Wir wollten, indem wir einzelne Protagonist*innen dieser Rätebewegung zu Figuren unseres Stückes machten, die ausgeblendeten Ereignisse in Erinnerung rufen und die damaligen Kämpfe sichtbar machen – unter anderem auch, um ein gebrochenes und weites „Wir“ zu bauen, das über die vergangenen 100 Jahre hinweg Ver­bin­dungen ziehen und knüpfen lässt.
Dementsprechend galt die zweite Richtung der Überlegung, welche Elemente einer Rätedemokratie heute noch von Bedeutung sein könnten. Neben dem Primat der Selbstverwaltung und Selbstbestimmung ist es die Aufhebung der Trennung von Politik und Ökonomie. Die Idee der Räte bedeutet, dass sowohl das alltägliche politische Leben als auch der Bereich der Ökonomie von den Menschen selbst und nicht über ihre Köpfe hinweg bestimmt wird.
Diese Aspekte der Rätebewegung gilt es in Erinnerung zu rufen und im Hinblick auf gegenwärtige Probleme zu aktualisieren, denn wie damals gilt es auch heute, Ant­worten auf drängende soziale, öko­no­mi­sche und ökologische Probleme zu finden.

Das Papiertheater, vom Kopf auf die Füße gestellt
Es war eine aus England stammende Mode, die seit dem Biedermeier „die Bretter, die die Welt bedeuten“ in die bürgerlichen Wohnzimmer Österreichs brachte. Vor allem im theaterbegeisterten Wien bastelten bürgerliche Familien aus Ausschneidebögen Kulissen und Figuren nach. Sogar ein eigener Verlag hatte sich auf die Produktion solcher Bögen spezialisiert. In selbstgebauten Guckkastenbühnen, die mit Schlitzen versehen waren, wurden die ausgeschnittenen Figuren hin- und herbewegt, Kulissen an der Rückwand und den Seiten angebracht. Sie gaben die Illusion von Tiefe und Raum der großen Bühnen wieder und ermöglichten einer faszi­nier­ten Anhänger*innenschaft, das zeitgenössische Repertoire der großen Theater und Opernhäuser nachzuspielen.
Das Papiertheaterkollektiv Zunder knüpft an dieser Tradition an, stellt es aber im emanzipatorischen Sinn ‚vom Kopf auf die Füße‘. Nicht mehr das bürgerliche Wohnzimmer, sondern eine an widerstän­digen Inhalten interessierte Öffentlichkeit ist nun die Adressatin dieses Formats. Das Stück kommt zu den Leuten: Jeder Wirts­haussaal, jedes Klassenzimmer, jede Betriebskantine eignet sich als Aufführungs­ort. Mit der geringen Größe der Bühne – sie ist nicht größer als ein Fernseher – ist die Zahl der Zuschauenden auf 20 bis 30 Menschen begrenzt. Auf solch engem Raum ist es möglich, miteinander in Kontakt zu kommen, miteinander zu spre­chen. Das ‚DIY Fernsehformat‘ Papiertheater verlangt von seinem Publikum, seine Sehgewohnheiten zu verändern, sich in theatraler Entschleunigung zu üben, auf der Basis des gelesenen Texts und der reduzierten Darstellung Bilder im eigenen Kopf zu entwickeln und sich so das Stück auf ganz persönliche Art anzueignen.
Die Leser*innen, aber auch sämtliche Handgriffe der Puppenspieler*innen, das Einsetzen und Bewegen der Figuren, das Wechseln der Kulissen, das Ein- und Ausschalten der Bühnenbeleuchtung sind für die Zuschauer*innen sichtbar. Dies kann durchaus als Aufforderung verstanden werden auch selbst zur Theaterproduzent*in zu werden. Eine Schuhschachtel und ein paar ausgeschnittene Figuren reichen für den Anfang. Zu erzählen gäbe es jedenfalls genug …

Kollektive Theaterpraxis
Was es wie für uns zu erzählen gab, hat sich im Laufe vieler Treffen entlang der Überlegungen zur Rätedemokratie und zum Format Papiertheater entwickelt. Die konkrete Arbeit am Stück begann mit einer mehrdimensionalen Zeitleiste, auf der historische Fakten ebenso verzeichnet wur­den wie Figurenporträts, die es erlaubten, die löchrigen Biografien der Protagonist*innen der Rätebewegung zu ergänzen, und mögliche Handlungs­strän­ge, die auch auf die Gegenwart verwiesen. Anhand dieser Zeitleiste ver­dichteten wir die historischen Ereignisse zu einzelnen Szenen und legten jene Orte und Zeit­räume fest, die wir auf die Bühne bringen wollten. Nachdem wir eine gemeinsame Grundlage für das Stück erarbeitet hatten, bildeten wir Arbeitsgruppen mit je eigenen Aufgaben- und Verantwortungsbereichen: Einige bauten an der Bühne, entwarfen die Kulissen und die Figuren, andere schrieben gemeinsam den Text. Bei den regelmäßigen Treffen wurden die Zwischenergebnisse diskutiert, erweitert und verändert.
Abgestimmt wurde dabei nicht, Fragen und Einwände wurden solange verhandelt, bis es zu einem Ergebnis kam, mit dem alle, zumindest halbwegs, einverstan­den waren. Diese Art der Zusammenarbeit wurde auch bei den Proben fortgeführt: Wie die einzelnen Figuren gelesen und bewegt, wie die Kulissen gewechselt werden und das Licht zum Einsatz kommt, wurde an langen Abenden ent­wi­ckelt, wobei es wiederum eine Person gab, an der es lag, den Überblick über die Inszenierung zu behalten. Einfälle und Einwände wurden von allen eingebracht und erwiesen sich, selbst wenn sie wieder verworfen wurden, stets als produktiv, da in jedem einzelnen Fall der Möglichkeitssinn geschärft und die Entscheidung für eine Variante nachvollziehbarer, ja, demokra­tischer wurde.

Die Arbeit an dem Papiertheaterstück hat Geschichte und Gegenwart, Inhalt, Form und Theaterpraxis derart miteinander verknüpft, dass die Frage, ob Theater po­litisch sein kann, darf oder soll, obsolet er­scheint. Es sind nicht die Bretter selbst, die die Welt verändern, sondern die Arten und Weisen, wie die Bretter bespielt werden und, vielleicht, über sich selbst hinaus verweisen auf etwas, das es zu tun gibt im Hinblick auf die drängenden sozialen, öko­nomischen und ökologischen Proble­me unserer Gegenwart.

 

Das Theaterstück ist im folgenden Buch abgedruckt:
Anna Leder, Mario Memoli und Andreas Pavlic (Hg.):
Die Rätebewegung in Österreich. Von sozialer Notwehr zur konkreten Utopie, Mandelbaum Verlag, 2019

Die Revolution erscheint in Frauengestalt

Die frühen sozialen Bewegungen: Über Berta Pölz, eine Vertreterin der Rätebewegung und eine weitgehend unbekannt gebliebene Kämpferin gegen den Krieg und für ein besseres Leben, schreibt Peter Haumer. Außerdem geht es um die ewige Angst der Herrschenden vor einer sozialen Revolution und den neuen starken Frauen.

Berta Pölz ist eine von mehreren ProtagonistInnen in „Pannekoeks Katze“ – ein Stück des Papiertheaters Zunder. Papiertheater Zunder

Berta Pölz war 24 Jahre alt, als im Frühjahr 1919 der Stummfilm Der Kampf der Gewalten in Österreichs Kinos kam. Der Film griff ein damals tagespolitisch aktuelles Thema auf: Vor dem Hintergrund der Existenz von Räterepubliken in Russland, Ungarn und Bayern werden Arbeiter einer Fabrik von einem Bolschewiken namens ‚Borski‘ gegen ihre Direktoren aufgewiegelt. ‚Borski‘ entpuppt sich jedoch als Frau in Männerkleidern – die Revolution erscheint in Gestalt einer Frau. Sie agitiert und stellt Hierarchien und Eigentum infrage. Die Arbeiter treten, angetrieben von ihr, immer fordernder auf und gehen schließlich mit den Kapitalisten eine Abmachung ein: Sechs Monate werden sie die Fabrik übernehmen – wirtschaften sie besser als die alten Eigentümer, werden sie die neuen Besitzer sein. Die Selbstverwaltung scheitert jedoch kläglich und die Arbeiter begrüßen die Rückkehr der Direktoren. Die Praxis lehrte die Arbeiter, dass sie „eine Kraft, doch ein Rumpf ohne Kopf“ seien. Der Film ist ein christlich-soziales, eine berufsständische Ordnung propa­gie­rendes Machwerk. Und er zeigt offen die 1918/19 vorherrschende Angst der Herr­schenden vor einer sozialen Revolution und den neuen starken Frauen.
Berta Pölz war eine dieser neuen starken Frauen, die unermüdlich agitierte und Hierarchien und Eigentum infrage stellte. Bereits als Mädchen und Jugendliche organisierte sie sich in der sozialdemokratischen Mädchen- und Frauenbewegung und vertrat dort linksradikale Positionen. Als die österreichische Sozialdemokratie 1914 in das Lager der Kriegsbefürworter desertierte und den Krieg der Habsburger mittrug, schloss sich Berta der kleinen aber aktiven Strömung der Linksradikalen um Franz Koritschoner1 und Leo Roth­ziegel2 an. Sie war Arbeiterin in einem Rüs­tungsbetrieb in Wien und machte dort aus ihrer antimilitaristischen und revolutionären Haltung kein Geheimnis. Sie be­teiligte sich an Streiks, Hungerdemonstrationen und politischen Kundgebungen, wie zum Beispiel während des Prozesses gegen Friedrich Adler.
1917 war nicht nur das Jahr der russischen Revolution, sondern es begann sich unter den Arbeiterinnen und Arbeitern in Österreich-Ungarn auch eine Kampfbereitschaft gegen den Krieg, für den sofortigen Frieden und ein besseres Leben zu ent­wickeln. Höhepunkt dieser Entwicklung war der Jännerstreik 1918, an dem 750.000 Arbeiterinnen und Arbeiter teil­genommen hatten. Der Jännerstreik wur­de nicht von den sozialdemokratischen Arbeiterorganisationen SDAP und deren Gewerkschaften organisiert. Diese befanden sich im Burgfrieden mit dem Regime und taten alles um Streiks zu verhindern. Berta Pölz gehörte dem illegalen Arbeiter- und Soldatenrat an, der gemeinsam mit Vertrauensmännern aus vielen Rüstungsbetrieben den Jännerstreik organisiert hatte. In Flugblättern versuchten sie beizutragen, dass der Streik erfolgreich zu Ende geführt werden konnte – es bei den Frie­densverhandlungen mit den Bolsche­wiki in Brest-Litowsk zu einem gerechten Frie­densabschluss kommen würde. Doch der Ausstand der 750.000 Arbeiterinnen und Arbeiter, die sich in vielen Orten und Fabriken autonom in Arbeiterräten organisiert hatten, musste ergebnislos abgebro­chen werden. Das Massensterben an den Fronten ging bis November 1918 weiter – insgesamt verloren mehr als 9 Millionen Soldaten und 10 Millionen Zivilisten im 1. Weltkrieg ihr Leben.
Der illegale Arbeiter- und Soldatenrat umfasste radikale SozialdemokratInnen, SyndikalistInnen, AnarchistInnen, Linksra­di­kale, linke ArbeiterzionistInnen und Bol­schewistInnen aus den verschiedensten Sprachgruppen der Donaumonarchie. Auf den Erfahrungen dieser Struktur wurde versucht, nach der Ausrufung der 1. Republik am 12. November 1918 aufzu­bau­en und so wurde Ende November 1918 die Föderation Revolutionärer Sozialisten „Internationale“ (F. R. S. I.) gegründet, mit der sozialistischen Wochenzeitung Der Freie Arbeiter. Berta Pölz war nicht nur Gründungsmitglied der F. R. S. I., sondern gemeinsam mit der Lehrerin Hilde Wertheim auch verantwortlich für die Herausgabe des Freien Arbeiter. Berta Pölz war darüber hinaus aktiv in der Arbeitslosenbewegung und wurde auch in den Arbeiterrat gewählt.
Für die F. R. S. I. war die soziale Revolution und die Errichtung einer Räteherrschaft aktuelles Ziel ihres Handelns. Als im März 1919 in Ungarn und im April 1919 in Bayern die Räteherrschaft ausgerufen worden war, schien die Zeit reif dies auch in Österreich zu tun. Mehrere Male sind zwischen April und Juli 1919 Versuche unternommen worden, die Herr­schaft der Arbeiter- und Soldatenräte zu errichten – jedoch ohne Erfolg! An allen diesen Versuchen war Berta Pölz maßgeblich beteiligt.
Einer dieser Versuche sollte am 15. Juni ausgehend von Wien und dem Wiener Becken zur Ausrufung der Räterepublik führen. Zwei Tage vorher wurde Berta Pölz gemeinsam mit Franz Koritschoner nach Ternitz und Neunkirchen geschickt, um dort die sofortige Ausrufung der Räteherrschaft in die Wege zu leiten.3 Koritschoner erklärte den Arbeiterräten von Ternitz und Neunkirchen, dass es not­wen­dig sei, „daß das Wiener Neustädter Industriegebiet die Ausrufung zuerst voll­zieht, alles andere werde dann folgen. Die ungarische Regierung habe die Versor­gung mit Lebensmittel übernommen.“4 Doch die sozialdemokratischen, aber auch die kommunistischen Arbeiterräte stellten sich gegen die Vorschläge von Franz Koritschoner und Berta Pölz. Der Auf­standsversuch vom 15. Juni 1919 wurde schließlich abgeblasen.
Mitte Juli 1919 gab es noch einen letzten Versuch, ausgehend von Vöslau, doch noch die Ausrufung einer Räterepublik in Österreich zu erreichen. Wieder war Berta Pölz wortführend mitten im Getümmel zu finden. Und wieder waren ihre Bemühungen zum Scheitern verurteilt. Als dann die ungarische Räterepublik Anfang August 1919 von der Konterrevolution niederge­schlagen worden war, war Berta Pölz und ihren Genossinnen und Genossen klar, dass sich damit der Kampf für die soziale Revolution in Österreich von einer aktuellen Tagesaufgabe wieder auf ferne Tage verschoben hat. Die Niederlage las­tete schwer auf ihnen.
Berta Pölz heiratete 1922 den Journalisten David Pollak. 1923 kam ihr gemeinsamer Sohn Roland zur Welt. Im Juni 1938 mussten alle drei vor den Nationalsozialisten über Luxemburg und Brüssel nach Paris flüchten, wo sie vom 12. 4. 1941 bis 23. 8. 1944 als so genannte U-Boote in Paris und Montauban lebten. 1946 kehr­ten sie nach Wien zurück.

Dieses Portrait von Berta Pölz steht auch exemplarisch für viele Revolutionärinnen und Antifaschistinnen, denen aus meh­re­ren Gründen wenig Beachtung geschenkt wurde. Sie war eine Frau, eine Arbeiterin und sie war radikal. Und bekanntlich wird dies von den herrschenden Gewalten in Österreich noch immer als Bedrohung gesehen.

 

1 Franz Koritschoner wurde 1892 in Wien geboren. Im Jännerstreik 1918 spielte Koritschoner eine führende Rolle, wurde verhaftet und erst kurz vor dem Zusammenbruch der Monarchie freigelassen. Im November 1918 wurde er bei einer Demonstration in Wien schwer verwundet. Mit einer kleinen Gruppe von Linksradikalen trat Koritschoner kurze Zeit nach ihrer Gründung der KPÖ bei.

2 Leo Rothziegel, Schriftsetzer, geboren 1892 in Wien; gestorben in Vámospércs bei Debreczin (Ungarn), 22. 4. 1919 (gefallen). Anarchosyndikalist, war an der Organisierung des Jännerstreiks 1918 maßgeblich beteiligt.

3 Anfang Juni 1919 trat die F. R. S. I. in die im November 1918 gegründete Kommunistische Partei ein. Die so hergestellte Einheit im revolutionären Lager sollte den Kampf für die Räterepublik und die soziale Revolution effektiver machen.

4 Arbeiter-Zeitung, 18. 6. 1919, S. 5.

 

Literaturtipp:
Peter Haumer: Die Geschichte der F. F. S. I.
Die Föderation Revolutionärer Sozialisten „Interantionale“ und die österreichische Revolution 1918/19
Mandelbaum Verlag, 2018

Das Vorhaben der Insect-City

Christoph Wiesmayr, seines Zeichens Rurbanist, Planer und autobefreiter Initiator von Gemeinschaftsgartenprojekten bzw. „Schwemmland“-Mitbegründer, legt ein Raum beanspruchendes Buch auf den Tisch, einen wahren Ziegel. Anlässlich seines Insect-City-Vorhabens hat sich Lisa Spalt mit ihm getroffen, um übers Bauen zu sprechen, und zwar aus der insektoiden Perspektive.

Wir kreisen um den Honigtopf des eingangs erwähnten Bandes. Das Buch stammt von Paul Westrich, es geht darin um die Wildbienen Deutschlands. Wir rufen uns, davon abhebend, ins Gedächtnis, dass die Diskussion um die süße Honigbiene eine ist, die dem Problem des Insektensterbens zwar ein marketingträchtiges Sumsi-Gesicht gibt (kennen wir vom Weltspartag!), als fahrlässig apis-mellifera-zentrischer wird der Diskurs jedoch den meisten Insekten nicht zum nötigen Anteil an Pollen-Kuchen und Lebensraum verhelfen. Die Honigbiene wiederum leistet, was die Bestäubung der Pflanzen und viele andere Aktivitäten angeht, nicht den Hauptteil der Arbeit. In einer Zeit des Hochhaltens von Leistungsträgern sollte daher wohl darüber diskutiert werden, wie den Tierchen geholfen werden kann, damit uns geholfen werde. Ein Blick nach China reicht, um zu sehen, wie gravierend die Folgen der Ausrottung von Insekten sind, nämlich dort, wo bereits Menschen von Blüte zu Blüte gehen und – da sie die insektoiden ArbeiterInnen ausgerottet haben – den Bestäubungsvorgang selbst in Szene setzen.
So weit soll es in Österreich, wo Tempo 140 auf der Autobahn und Flugtaxis absolute Priorität haben, nicht kommen. Mikroaufnahmen von Nestern und Entwicklungsformen, Aufnahmen der von den Insekten zum Leben benötigten Strukturen werden daher von Wiesmayr erkundet. Er will Landschaft aus der Sicht der so wichtigen Krabbler und Flieger verstehen. Wo nisten sie in einer Zeit, in der die Wiesenstreifen zwischen Äckern und Straßen verschwinden, weil das künstliche Rieseninsekt der Drohne dem Bauern die Felder so exakt vermisst, dass er diese Käfige gezähmter Natur bis auf den letzten Zentimeter mit Nutzpflanzen möblieren kann? Auch Architekt*innen im klassischen Sinne verbauen Landschaft, so Wiesmayr. Es gehe ihm nun aber nicht unbedingt darum, die Bebauung zu verhindern, sondern darum, darüber nachzudenken, wie diese aussehen könnte, damit sie Lebensraum für Menschen und Insekten bietet. Mit Studierenden gleich des ersten Semesters führt er dieses Jahr einen Workshop zum Thema durch. Die Grundlagen für diesen liefert ein Vortrag von Dr. Martin Schwarz, der Biologe am Biologiezentrum Linz ist. Anschließend wird versucht werden, Gebäudetypen neu zu denken. Wanderungen zu speziellen Orten in Linz, die sich als günstig für die Ansiedlung von Insekten erwiesen haben, sollen das Verständnis vertiefen.
Gebäudehüllen seien in der gegenwärtigen, technisch orientierten Ausprägung insektenfeindlich, so Wiesmayr. Man stelle sich die geschlossene, nischenlose Fassade des typischen Repräsentationsgebäudes vor, Wiesmayr ergänzt das Bild, spricht von hinterlüfteten Fassaden mit Insektenschutzgittern. Das Insekt als Gottseibeiuns der heiligen Hallen Eindruck schindender Gebäude wird hier um jeden Preis an der Entweihung der sterilen Naturlosigkeit gehindert. Dabei besitzen die meisten Wildbienen nicht einmal einen Stachel, mit dem sie wider die Herrschaft des Menschen löcken könnten. Wenn sie unsere Behausungen aufsuchen, so nur auf der Suche nach einer Herberge, in der ein paar geflügelte Kindlein geboren werden könnten. Im Workshop Wiesmayrs wird es daher einen Schwerpunkt Theorie geben, und zwar zur Frage, wie Gebäudehüllen aussehen könnten, um Insekten Unterschlupf zu bieten. Der sich selbst als „Rurbanist“ bezeichnende Planer sieht hier einen neuen Zugang heraufdämmern. Wo bisher die Technik Vorrang hatte, wird Stadt langsam doch eher grün gedacht.
– Hm, wahrscheinlich geschieht das nur dort, denke ich, wo den Leuten nicht das rechte Braune vom mittlerweile ewig strahlenden, alles verdörrenden Himmel heruntergefaselt wird. Aber den Gedanken verdränge ich zugunsten der erfreulicheren Vision von Menschen, die sich um die Welt und ihre Mitkreaturen bemühen. Solche haben schon einmal damit begonnen, Fassaden zu begrünen. Hier können sich Bienen zum Ernten einfinden. Wiesmayr will weitergehen. Dafür muss geforscht werden. Insekten siedeln sich nämlich beileibe nicht immer dort an, wo man es vermuten könnte, sie lassen nicht selten das schicke Insektenhotel links liegen und kampieren wild in den Bohrlöchern von Ikea-Regalen. Oder man schleppt sich mit der Bio-Erde die Trauermücke ins Habitat der zum Zimmerpflanzendasein verdonnerten Kräuter und überlegt sich, welchen vom Aussterben bedrohten Vogel in seinem Hirnkästchen man hier eigentlich füttert. Wo ist die Grenze der Insektenliebe? Wie kann ein Miteinander funktionieren?
Neue Erscheinungen wie das Passivhaus machen das Öffnen von Fenstern mehr oder weniger unnötig. So verirrt sich auch kein Tier in die Gebäude und der Mensch kreist in seiner totalen, weil ihn gleichzeitig repräsentierenden und enthaltenden Umwelt. Wiesmayr weist darauf hin, dass es auch bei Büro- und Wohngebäuden mit kontrollierter Wohnraumlüftung nicht mehr nötig bzw. nicht mehr möglich ist, ein Fenster zu öffnen. Die im Bauch solcher Gebäude arbeitenden Menschen klagen daher mitunter sogar über den fehlenden Bezug zum umgebenden Asphaltbiotop, in dem die Auto- und Bustiere sich munter vergnügen. Wiesmayr sieht diese bautechnischen Abhängigkeiten kritisch. Aber warum, da diese Fassadenformen schon einmal da sind, nicht zumindest die Fassade begrünen, sodass die Natur durch die Fensterscheiben ins Gebäude hineinsieht? Warum der Biene als einer Abgeordneten der Natur nicht die Möglichkeit geben, das Gebäude zumindest von außen zu bewohnen?
Wir sprechen noch einmal über die Sehnsucht nach dem romantischen Wald der Maler, die durch die Angst vor der waffentragenden Wespe und der bissigen Gelse zur löchrigen und juckenden Wollstrumpfhose wird. Und besonders insektoide Kulturfolger geraten oft ins Visier des nach Grün und Frischluft lechzenden Menschen. Bitte, was ist mit Borkenkäfern und Asseln? Beide Populationen sind deswegen so angeschwollen, weil sie mit uns Menschen mitleben. Die Tiere fänden eben, so Wiesmayr, in unserem Umfeld die richtigen Refugien, um sich zu vermehren. Es gehe aber eigentlich um die anderen, die, die unsere Kulturlandschaft vernichte. Wiesmayr erwähnt „Permakultur Holzer“-Junior, der mit ihm ein Projekt in Ottensheim entwickelt hat. Bei diesem ging es darum, der Streuobstwiese gemeinsam mit der Bevölkerung zu ihrem Recht zu verhelfen. Es wurden 600 Bäume hochgezogen, die nun, nach drei bis vier Jahren ausgesetzt werden können. Dabei wurde deutlich, dass manche Mähmaschinen perfekt dafür geeignet sind, Insekten-Smoothies herzustellen. Die Tiere werden darin, da das Gehäuse geschlossen ist, richtiggehend püriert. (Grüßgott, das hier ist mein Aufruf, das Produzieren von Rasen bleiben zu lassen! Ich hoffe, dass die Dame, auf deren Schrebergarten mein Büro raussieht, den Text hier lesen wird. Warum kommt niemand auf die Idee, alle die teppichartigen Rasenflächen in der Stadt zu Wiesen oder Gärten umzufunktionieren?)
Karg und aufgeräumt wirken österreichische Landschaften im Frühjahr, so Wiesmayr. Es gebe keine verfallenen Gebäude mehr, keine Scheunen, die Refugien bilden könnten. Ich erinnere mich, dass solche Einrichtungen nicht nur in Niederösterreich Gstettn genannt werden und in den dortigen Regionalzeitungen der Entrüstung der Bevölkerung zum Fraß vorgeworfen werden. Hier kommt die Frage nach der Stadtentwicklung ins Spiel. Wiesmayr will sich mit seinen Studierenden die problematische Lage aller Insekten ansehen, experimentieren mit Lehm, Stroh und Holz. Aus diesen Materialien sollen Modell-Elemente, zum Beispiel in Form von Kacheln aus perforiertem und anschließend glasiertem Ton, hergestellt werden. Das Insektenhotel als Unterkunft für eine verschwindend kleine Elite von Tieren, die sich einen Platz darin sichern kann, wird bewusst nicht als Modell verstanden. Das Ganze soll weitaus umfassender gedacht werden im Sinne einer Umwandlung der Stadt in eine „Insect City“. Gerade bei Sanierungsmaßnahmen wäre hier einiges möglich. Man würde die bestehende Struktur dämmen und anschließend mit einer Schutzhülle versehen. Niemand müsste sich fürchten, dass es den Insekten einfallen könnte, direkt in den Wänden leben. Und welche Möglichkeiten der Gestaltung hält das Thema Landschaft bereit? Wie verhält sich die Größe des Menschen zu seinem Lebensraum, wie die der Termite zu ihrem Bau? Was braucht das Insekt, um ein sorgenfreies Leben führen zu können und gerne in unsere Dienste zu treten? Oft überraschen die Tiere hier den Menschen. Mancherorts entdeckt man oft sonnenseitig gelegene Brüche im Gelände, Hangkanten, an denen Erde freiliegt, die wir vielleicht als Zerstörung der Natur wahrnehmen würden, doch gerade diese Wunden in der Landschaft bieten Insekten die idealen Bedingungen zum Nisten. Auch alte Häuser gönnen in Mörtelfugen vielen Insektenarten Unterschlupf. Können solche Strukturen gefördert werden? Wiesmayr erwähnt Louis G. Roy und sein Buch „Natur ausschalten. Natur einschalten“, das Ihnen hiermit empfohlen sei. Der Öko-Pionier hat aus alten Baumaterialien sogenannte Öko-Kathedralen errichtet, in denen sich Insekten eingenistet haben: vielleicht ein Modell? Die Frage, die sich Bauende laut Wiesmayr jedenfalls heute stellen müssen, lautet: Wie könnte Architektur aussehen, würden Insekten sie denken?
Mein Kopf ist voller Science Fiction, voller Utopien und optimistischer Gedanken, als ich nach Hause komme. Ich sehe auf dem Balkon nach den Pflanzen. Insekten? Ich entdecke, dass die Bambusstecken, die ich benutze, um das gezähmte Grün zu stützen, gerade heute von irgendwelchen nistenden Insekten mit gut gekauter Erde verschlossen worden sind. Ein günstiges Zeichen, hoffe ich.

 

INSECT-CITY
Bei der Insect-City geht es um Entwurf, Erforschung und Entwicklung neuartiger Gebäudehüllen für Wildbienen im Kontext Architektur und Landschaft. Der Research findet mit Christoph Wiesmayr und ArchitekturstudentInnen des ersten Jahrganges der Kunstuniversität Linz / BASEhabitat statt, im Rahmen von „Entwurfsaspekte C“. Start war bereits im Mai mit Vorträgen, Wanderung und Erkundungen naturnaher Nistplätze. Von 24. bis 28. Juni folgt eine Intensivwoche mit Umsetzung von Prototypen.

Spezialveranstaltung zu Störstrategen am 29. Juni
www.gfk-ooe.at/event/god- garden-of-disturbia

Couragiert euch!

Das beim diesjährigen Festival der Regionen im Juni stattfindende „CouRage – Eine Hör- und Gedenkreise“ rückt Geschichten ins Zentrum, die von einer Welt der Zivilcourage und des Widerstandes erzählen. Theresa Gindlstrasser hat Gerald Harringer getroffen.

Sich für jemanden einsetzen, für etwas aufstehen. Foto Gerald Harringer

Am 5. Mai 1945 wurden die Überlebenden des Kon­zentrationslagers Mauthausen und der Nebenlager Gusen durch US-amerikanische Truppen befreit. Der in Zürich geborene Bankangestellte Louis Häfliger, der im April als Delegierter für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz einen Lebensmitteltransport ins KZ begleitet hatte, geleitete die Soldaten auf das Gelände.

„Es war der Plan sämtliche Häftlinge in die Stollen von Gusen zu bringen. Und das ist Ende April 1945 auch passiert. Die mussten viele Stunden lang eingesperrt in den bis auf einen Eingang schon vermauerten Stollen von Gusen verbringen und wussten, sie sind in einer Todesfalle, denn die Sprengkabel an den Eingängen waren schon gelegt. Diesen Plan wollte Louis Häfliger vereiteln. Und es war ihm klar, das kann er nur, wenn er die Amerikaner überraschend und schnell in unsere Gegend bringt. Und er wusste, sie sind bereits im Raum mittleres und westliches Mühlviertel. Louis Häfliger begab sich mit einem weiß gestrichenen Opel, den er im Lager Mauthausen von der Widerstandsgruppe streichen ließ, in Begleitung des SS-Mannes Reimer, der eingeweiht war in diesen Plan, ins Gusental, in dieses enge Verbindungstal zwischen St. Georgen und Katsdorf-Lungitz, Richtung Gallneukirchen und ist auf der Höhe des Riedererhäusels tatsächlich auf einen Spähtrupp, nämlich dieses Platoon D, der 11th Armored Division 41st Mechanised, gestoßen. Er hat diese Leute mit Kosiek an der Spitze ersucht, sofort nach Mauthausen und Gusen zu kommen. Es gab für Häfliger ein enormes Risiko, er hat seine Aufgabe als Vertreter des Internationalen Roten Kreuzes bei weitem überschritten. Ob die Sprengungen der Stollenanlagen in Gusen, oder in St. Georgen, im Stollen ‚Bergkristall‘ wirklich durchgeführt worden wären, kann man heute nicht mehr sagen, aber der Plan und der Befehl dazu waren vorhanden.“

So die in St. Georgen an der Gusen lebende Diplompädagogin und Heimatforscherin Martha Gammer in einem Interview mit Gerald Harringer im Jahr 2013. Tatsächlich wurde Häflinger für sein eigenmächtiges Handeln verurteilt, da er gegen das Prinzip der Neutralität des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz verstoßen habe.

Harringer, Mitbegründer von „Die Fabrikanten“, Medienkünstler, Filmemacher und Kulturmanager, lebt seit 10 Jahren in Katsdorf, einer 3000 EinwohnerInnen-Gemeinde im Bezirk Perg in der Nähe von St. Georgen. Seit 2014 recherchiert er zum Thema NS-Zeit im Mühlviertel. Für das Festival der Regionen, das 2019 unter dem Thema „Soziale Wärme“ in der Region Perg-Strudengau stattfindet, hat er das Projekt „CouRage – Eine Hör- und Gedenkreise“ konzipiert. Gemeinsam mit Roswitha Kröll, ehemalige Geschäftsführerin von FIFTITU% und Leiterin des Aus- und Weiterbildungsbereichs von Radio FRO, findet Mitte Mai ein Radio- und Medienworkshop statt, wo Erzählungen über Zivilcourage gesammelt werden und eine Radiosendung produziert wird.

Ausgehend von dieser partizipativen Anordnung wird „CouRage“ als Busfahrt durch die Region führen. Start- und Endpunkt ist Perg. Dazwischen orientiert sich die Route an den in den gesammelten Geschichten markierten Orten. Die Passagiere bekommen historische und aktuelle Beispiele von Courage zu hören. Die Audioaufnahmen dieser Geschichten werden zum Teil innerhalb des Radio-Workshops produziert.

Weil das Projekt noch im Entstehen ist (Anm.: zur Zeit der Entstehung dieses Textes), vor allem die aktuellen Geschichten derzeit erst recherchiert werden, ist die Route der „Hör- und Gedenkreise“ noch nicht fixiert. Harringer: „Wir werden ziemlich sicher durch Ried in der Riedmark, Lungitz, Katsdorf, St. Georgen und Mauthausen kommen.“ Auf die Frage nach dem Ausgangspunkt dieses Projektes antwortet er: „Mein Vater war während des 2. Weltkrieges Feldwebel in der Deutschen Wehrmacht und überzeugter Nationalsozialist. Er wurde 1912 geboren und starb, als ich 15 Jahre alt war. Eine Auseinandersetzung mit ihm zu diesem Thema fand daher nicht statt. Dies mag einer der persönlichen Beweggründe für die langjährige Auseinandersetzung mit dieser Thematik sein. Nachdem nun bald die letzten Überlebenden des Holocausts gestorben sind, sehe ich es als meine, als unsere Aufgabe, die Erinnerung an Geschehnisse in dieser Zeit am Leben zu halten, gerade in meiner Umgebung, wo der Faschismus in Mauthausen und Gusen ein besonders grauenhaftes Gesicht zeigte.“ Harringer über andere Vorhaben: „Im Jahr 2012 bin ich auf Zeitzeugendokumente zur NS-Zeit in den ‚Katsdorfer Heimatblättern‘ und auf Franz Steinmaßls Buch ‚Das Hakenkreuz im Hügelland‘ gestoßen. In den letzten sechs Jahren ist ein Spielfilmdrehbuch entstanden. Ein Dokumentarfilm zum Thema Zivilcourage während der NS-Zeit mit Fokus auf Deportationszüge auf der Summerauerbahn und einem Fokus auf das KZ Gusen ist in Produktion.“ Und weiter: „Es wird im Alltag immer wichtiger, Zivilcourage zu zeigen, sich für jemanden einzusetzen, ungehorsam zu sein, Befehle zu verweigern, sich zu wehren, für etwas aufzustehen, seine Meinung in aller Öffentlichkeit kundzutun, dort, wo niemand sonst den Mut dazu findet. Nachforschen, hinterfragen. Weil sonst kann sich auf tragische Weise die Geschichte wiederholen.“

Am 5. Mai 2019 fand wie jedes Jahr die Gedenkfeier zur Befreiung in Mauthausen statt. Mehr als 9000 Menschen nahmen an der Veranstaltung teil. Nach Verlesung des Mauthausen-Schwurs, den Überlebende kurz nach der Befreiung verfasst haben, erfolgten Kranzniederlegungen und wurden Reden gehalten, welche die Notwendigkeit von Gedenken und Erinnern thematisieren. Willi Mernyi, Vorsitzender des Mauthausen-Komitees Österreich betonte: „Wir sehen das Wiedererstarken von Gruppierungen, die Identität zum The­ma machen, die Entindividualisierung und Entsolidarisierung vorantreiben und die die Gesellschaft bewusst spalten wollen. Es liegt an uns, sich der Menschenverachtung entgegenzustellen und die Menschenwürde von uns allen zu verteidigen.“ Und Oskar Deutsch, Präsident der Israelitischen Kulturgemeinde, formulierte: „Was bringen die roten Linien, wenn sie ständig übertreten werden und keine Konsequenzen folgen. Früher sagten sie Umvolkung, heute nennen sie es Bevölkerungsaustausch.“

Im Rahmen dieser Gedenkfeier ist ein Foto entstanden, das Bundeskanzler Sebastian Kurz sitzend und die Vorsitzende der Sozialistischen Jugend, Julia Herr, mit einer Plakat-Tafel zeigt. Darauf steht: „Einzelfall #3. FPÖ-Gemeinderat schickt Weihnachtsgrüße mit Nazi-Propaganda“. Die sogenannten „Einzelfälle“ oder „Entgleisungen“ von RegierungsvertreterInnen sind Provokationen gegen die im Mauthausen-Schwur formulierte „Welt des freien Menschen“. Rassistisches Denken rückt dergestalt ins Zentrum der medialen Aufmerksamkeit. Das Projekt „CouRage – Eine Hör- und Gedenkreise“ versucht jedoch, solche Geschichten ins Zentrum zu rücken, die von einer Welt der Zivilcourage und des Widerstandes gegen Ungerechtigkeit, Rassismus und Verfolgung erzählen. Nach dem Zusammenhang von Courage und Rage gefragt, antwortet Harringer: „Es ist besser, seine Wut, die Rage (die sehr oft entsteht, wenn man sich die aktuelle politische Lage ansieht) zu kanalisieren und zu kultivieren, nämlich in die Courage, die dann eher jemandem zugute­kommt.“

 

Festival der Regionen – „Soziale Wärme“
28. Juni bis 7. Juli in der Region Perg-Strudengau
fdr.at

TIME’S UP

Mit der aktuellen Arbeit „Change was our only Chance“, ab 29. Mai in Wien zu sehen, möchte Time’s up die Angst vor der Zukunft in eine Lust auf die Zukunft verwandeln. Ein anderes wichtiges Projekt wird im Juni und Juli im Rahmen des diesjährigen Festivals der Regionen verwirklicht – die „Wärmegreißlerei 1.0“. Georg Wilbertz reflektiert den größeren Kontext der Linzer Initiative am Hafen.

Als Kunsthistoriker mag man Bücher. Als der Wunsch, über aktuelle Projekte von Time’s Up zu schreiben, an mich herangetragen wurde, erinnerte ich mich, dass es da doch etwas gab. Eine opulente, text- und bildreiche „Festschrift“ zum 20-jährigen Bestehen des Künstlerkollektivs (schon dieser Begriff trifft nur einen Teil der Wahrheit), die ich schon häufiger durchgeblättert hatte, ohne sie wirklich zu lesen (Kunsthistoriker blättern gern). Nun stand das systematische, methodische, zielgerichtete Lesen an und noch vor dem ersten Aufschlagen legte ich mir das inhaltlich-terminologische Rüstzeug zurecht, das mich durch das Buch leiten sollte. Ehrlich gesagt sucht man auch im Neuen meist das, was man schon weiß oder ahnt. Meine Ahnung folgte naheliegenden Bahnen, Spuren und Wegen. Es würde, so hoffte ich, im Buch um Inszenatorisches gehen, um Performatives, Szenisches, um einen offenen Kunstbegriff, um Räume, öffentliche Räume, atmosphärische Räume. Um das Verhandeln des Sozialen, Politischen, Kulturellen. Vielleicht den gesellschaftlichen Diskurs mit Mitteln der Kunst. Im Idealfall wohlgeordnet und effektiv verarbeitbar. Sicher, all dies steckt in der Publikation, die unter dem Titel „L CKENHAFT & KRYPTISCH“ (man hätte gewarnt sein können) 2016 erschienen ist. Allerdings sperrt sich das Buch gegen einen allzu leichten, systematischen Zugang, der einem ein rasches, unkompliziertes Bild der Arbeit von Time’s up vermitteln könnte. Es ist eher ein Such- und Wimmelbuch voller Projekte, Bilder, Szenen und unterschiedlichen Textbeiträgen einer kaum zu überblickenden Zahl von AutorInnen. Und damit ist es auf ideale Weise wohl genau das, was es sein soll: ein repräsentativer Einblick in das Wesen und die Arbeit von Time’s up. Ein hoher Grad an Komplexität wird deutlich. Vieles ist netzwerkartig miteinander verwoben, durchdringt sich thematisch, räumlich, zeitlich und personell. Die Spanne reicht von Diskurs- und Theorieformaten bis zu aufwendigst realisierten räumlichen Installationen und Inszenierungen, die ein immersives Eintauchen der BesucherInnen ermöglichen.

Im Zentrum der Arbeit von Time’s up stehen umfassende räumliche Inszenierungen, für die die üblichen Charakterisierungen wie Installation oder Bühnenbild trotz erheblicher Schnittmengen zu kurz greifen. Mit analogen, handwerklichen und vom Material her handfesten Mitteln werden künstl(er)ische „Wirklichkeiten“ geschaffen, die bis ins Detail hinein funktionieren müssen. Ziel ist die Schaffung von räumlich-inszenatorischer Authentizität, die die Voraussetzung für ein authentisches Wahrnehmen und Erleben durch die BesucherInnen darstellt. Viele BesucherInnen „überprüfen“ gerne auch kleinste Elemente der Inszenierung, um sich der Ernsthaftigkeit und Glaubwürdigkeit des Dargebotenen zu versichern. Es entstehen „begehbare Erzählungen“, deren räumlich-materielle Konsistenz eine fast widersprüchliche Wirkung erzielen. Die BesucherInnen wissen, dass sie sich in einem inszenierten Rahmen bewegen, trotzdem ermöglicht dieser eine unmittelbar sinnlich-physische Verbindung von Körper und Raum. Der heikle, kaum greifbare Begriff der Atmosphäre tut sein Übriges.

Den aktuellen Diskurs zum Begriff der Immersion und ihrer Wirkung dominiert, wie sollte es anders sein, vor allem die Schaffung komplexer digital-virtueller Wel­ten. Die Arbeiten von Time’s up distanzieren sich bewusst, fast nostalgisch und anachronistisch von den schier unendlich scheinenden Potentialen des Digitalen. Begründet ist dies nicht nur durch die Lust am Material, am Handwerk, am Spiel mit Gegenständen und Objekten, am Schweißen, Schrauben und Dengeln. Am Ende langwieriger Prozesse stehen Inszenierungen, die auf das Mittel der technisch-medialen Vermittlung zwischen Bild (Raum) und Rezeption durch die Sinne und Körper der BesucherInnen verzichten können. Jede Form der technisch-medialen Vermittlung stellt, egal wie überzeugend, wie virtuos sie gestaltet ist, eine Wahrnehmungsgrenze dar. Wie „perfekt“ aktuelle und zukünftige digital-immersive Tools auch sein werden: die einfache, schlichte, fast banale aber dennoch in ihrer Komplexität kaum „nachbaubare“ physisch-emotionale Präsenz des Körpers im Raum ist medial nur in engen Grenzen realisierbar.

Trotzdem ließe sich natürlich provokant fragen, wozu der ganze Aufwand. Ohne den Bogen überspannen zu wollen: Inszenierungen im physisch real vorhandenen und erlebbaren Raum stellen in Zeiten von Fakefetischismus und ideologisch transzendentierter Wirklichkeitsverweigerung schon fast ein politisch-gesellschaftliches Statement sui generis dar. Die Wirkungsabsicht und das Wirkungspotential der Time’s up-Inszenierungen schaffen etwas, das aus naheliegenden Gründen des gesellschaftlichen Missbrauchs eines sich verflüchtigenden Wirklichkeitsbegriffs zunehmend negiert wird (Nebenbei bemerkt: Wirklichkeit lässt sich nicht verflüchtigen, sondern „nur“ durch die destruktiven Mythen negativer Ideologien sinnloserweise in Frage stellen). Es handelt sich um den überprüfbaren, existenziell relevanten Raum, der nicht nur ein euklidisches Faktum umreißt, sondern auch reale Hülle für alles Soziale ist. Die früher zwar komplexe, aber selbstverständliche Überprüfbarkeit dieses Raums wird als zunehmend obsolet erachtet. Das Beharren auf die Existenz des sozialen Raums und der in ihm herrschenden Regeln, Vereinbarungen und Diskurse ist inzwischen erstaunlicherweise zu einer Frage von Ethik, Moral, Politik und Gesellschaft geworden.

Wenn also Time’s up die analoge, physisch erlebbare Inszenierung und Gestaltung „begehbarer Erzählungen“ real werden lässt, steckt darin eine deutliche gesellschaftliche Botschaft. Eine Botschaft, die – auch hier bleibt man analog – vom Kollektiv am maßstäblichen Modell verhandelt und durchgespielt wird, bis die Inszenierung steht. Überhaupt das Spielen, aber das ist ein anderes Thema …

Wozu nutzt Time’s up all dies. Mehr und mehr wurde in den letzten Jahren das Thema der Zukunft in den Fokus genommen. Es steht jedoch nicht DIE eine Zukunft im Mittelpunkt, sondern aufgrund der komplexen Gegenwart und Ausgangslage werden in den Arbeiten und Diskursen meist mehrere Zukünfte verhandelt und angeboten. Auf diese Weise gelingt es Time’s up, den Zeitstrahl postmoderner Differenziertheit, bei dem heterogene Vergangenheiten in eine vielfältige (manche behaupten „beliebige“) Gegenwart führen über diese hinaus zu erweitern und in die Zukunft zu spiegeln. Für die Gegenwart werden teils bedrohliche und beängstigende gesellschaftlich-politische Zustände und Symptome konstatiert. Die Zukünfte tragen daher latent das Potential der Gefährdung und Gewalt in sich. Jedoch geht es Time’s up auch immer darum, Ängste abzubauen und den Zustand gesellschaftlicher Paralyse zu vermeiden. Dies zum Glück nicht im Sinne einer umfassenden Utopie, sondern in der spielerisch-forschenden Akzeptanz des Offenen, Unterschiedlichen und Widersprüchlichen.

Die Komplexität und Offenheit ihres Zeitbegriffs und realen Zugangs zu Fragen der Gegenwart und Zukunft manifestiert sich auch im Time’s up-Gebäude am Linzer Hafen. Das Zentrum bildet die große Werkhalle, die mit ihren Maschinen und Regalen voller Gegenstände deutlich eher einer Werkstatt als einem Künstleratelier ähnelt. Im Sammelsurium eigener Ordnung finden sich gebrauchte Dinge (Vergangenheit) und neue Materialien (Gegenwart), aus denen szenographisch-fiktive Realisierungen zukünftiger Verhältnisse gestaltet werden. Der Raum verströmt eine fast schon nostalgische Aura des Tuns und Formens. Ein größerer Kontrast zu den aseptischen Produktionsbedingungen digital-virtueller Kreativer, die gerne einen Monopolanspruch auf die Zukunft reklamieren, lässt sich kaum denken.

Mit der aktuellen, inszenatorisch-räumlichen Arbeit „Change was our only Chance“ (ab 29. 5. in Wien) möchte Time’s up die Angst vor der Zukunft in eine Lust auf die Zukunft verwandeln. Ein anderes wichtiges Projekt wird im Rahmen des Festivals der Regionen 2019, das das Thema „Soziale Wärme“ hat, verwirklicht. Es kehrt die beschriebene räumliche Perspektive der künstlerisch-forschenden Arbeit um, indem sich die BesucherInnen nicht in eine Szenerie begeben, sondern Time’s up sie und ihre Lebenswirklichkeit aufsucht. Mit der „Wärmegreißlerei 1.0“ begibt sich Time’s up während des Festivals in die Region Perg-Strudengau, besucht verschiedene Standorte und widmet sich der Frage, inwieweit und in welchen Formen die soziale Wärme eine Zukunft bzw. Zukünfte hat. Vorausgegangen ist 2018 eine niederschwellige Befragung zum Thema in der Region, die – wenig verwunderlich – das Ergebnis brachte, dass für die meisten eine Gesellschaft oh­ne soziale Wärme weder wünschenswert noch vorstellbar wäre.

Mit der „Wärmegreißlerei“ segelt Time’s up im übertragenen Sinne hinaus aufs Land. Besucht man das Time’s up-Gebäude am Linzer Hafen, so begegnet man nicht nur aufgrund seiner Lage häufig Motiven der Seefahrt. Die Schiffsreise ist eine Metapher, die auf vielfältige Weise das Unwägbare, Unsichere und Forschende der Arbeit von Time’s up repräsentiert. Zwar gibt es geographisch kaum noch wirklich neue, unbekannte Ufer zu entdecken, andererseits gibt es bis heute kaum etwas, das den Optimismus in eine wie auch immer geartete Zukunft besser symbolisiert, als das Schiff, das den Hafen verlässt und sich auf die Reise begibt.

 

timesup.org

Festival der Regionen – „Soziale Wärme“
28. Juni bis 7. Juli in der Region Perg-Strudengau
fdr.at

im Rahmen von Vienna Biennale for Change 2019
Ausstellung „Change Was Our Only Chance“
29. Mai – 27. September 2019
Angewandte Innovation Lab, Franz-Josefs-Kai 3, 1010 Wien

Here comes the electric machine

Im Mai war das Kollektiv Okabre im Linzer City Kino zu Gast und präsentierte dort die aktuelle Filmkonzert­reihe Tetsuo: The Iron Man. Der Film ist das Werk des japanischen Kultregisseurs Shinja Tsukamoto aus dem Jahr 1989. Alexander Eigner war dort.

Es scheint ruhig. Foto Ronny Sandmayer

Der Regisseur Shinya Tsukamoto widmet sich in seinem experimentellen und kontrastreichen Schwarzweiß-­Horrorfilm Tetsuo: The Iron Man einem Sarariman, also einem männlichen Büroangestellten in einem renommierten Unternehmen. Es wird kaum gesprochen, die Akteurinnen und Akteure, von denen es im ganzen Film nur sechs gibt, haben keine Namen.

Das Linzer Kollektiv Okabre besteht seit 2015 und widmet sich der Vertonung von Filmen, Lesungen und Performances. Das Sextett besteht aus: Andreas Wahl, Florian Graf, Günther Gessert, Manfred Rahofer, Thomas Pichler und Rainer Fehlinger. Im Spektrum der Klangwelt scheint es für die sechs Musiker kaum Grenzen zu geben – dieser Eindruck entsteht, wenn man der Vertonung beiwohnt. Vocal, Gitarre, Theremin, Bass, Drums, Synthesizer, Marxophone, Electronics und verstärkte Objekte kommen dabei zum Einsatz.

Gegen 21.30 Uhr greifen die Musiker zu ihren Instrumenten und beginnen zu spielen. Es wirkt wie ein ruhiges Intro, während am Anfang noch einige japanische Wörter auf der Leinwand erscheinen. Doch als die erste Person auftritt, werden die Sounds der einzelnen Instrumente schneller. Ein Mann bewegt sich auf einem alten Industriegelände, viel Metall ist zu sehen und plötzlich schneidet er sich eine Wunde in den Oberschenkel, in die er ein großes Metallstück implantiert. Kurz darauf wird die Wunde von Maden befallen und der Mann, welcher vom Regisseur Shinya Tsukamoto selbst gespielt wird, verliert die Beherrschung und läuft vor ein fahrendes Auto.
Nun erscheint der Protagonist, der vor einem Spiegel merkt, dass ein Metallstück in seiner Wange steckt. Als er auf dem Weg zur Arbeit ist, wird er von einer Frau in der U-Bahn angegriffen, deren Hand aus Metallteilen und Schläuchen besteht. Es folgen Jagd- und Kampfszenen zwischen den beiden.
Und ab hier zeigen die Musiker des Kollektivs Okabre ihre musikalischen Fähigkeiten. Sie erzeugen ein voodooähnliches Spannungsfeld zwischen Bild und Musik. Es knallt, zischt, dröhnt, donnert, klopft, quietscht, das Theremin fährt höchste Tö­ne auf, das Schlagzeug wird immer schneller und der Sänger verfällt in Schreien. In diesem freien Spiel wird die Dramaturgie für die Zuseher spürbar: Musik und Film verschmelzen. Ob man nun auf die Leinwand blickt oder einem der Musizierenden zusieht, ist nicht mehr entscheidend, sie scheinen eins geworden zu sein.
Als der Kampf vorerst vorüber ist, werden die Sounds ebenfalls ruhiger, was nicht weniger eindrucksvoll ist. Die Gitarre rückt stärker in den Mittelpunkt, der Gesang wird harmonischer und das knallende Klopfen wird zu einem sanften Dröhnen.
Doch nun passiert im Film, was für manche schon vorhersehbar war: Der Büroangestellte beginnt, zu einem Maschinenwesen zu mutieren. Er erkennt, dass sein Arm und sein Bein schon aus Metall bestehen. Mit wachsender Sorge, was nun plötzlich mit ihm passiert, wird nun auch die Musik wieder experimenteller und der Gesang predigt: Here comes the electric machine!

Je länger der Film dauert, umso mehr vereinen sich Traum- und Realszenen. Die Kameraführung ist sehr hektisch, es gibt viel Szenenwechsel und viele Schnitte. Doch die Ausführung der Musik durch das Kollektiv Okabre schlägt gleichsam einen Weg durch die vielen skurrilen Szenen und befeuert aber zudem die Sinne der Zuseher.
In einer der groteskesten Szenen von Tetsuo wächst dem Protagonisten ein riesiger, rotierender Metallpenis. Die Livevertonung trifft diese Szene abermals perfekt und so haben die Zuseher ebenfalls das Gefühl zu rotieren. Abermals hört man: Here comes the electric machine. Ereignisse und Klänge überschlagen sich. Wie es nun mit dem Iron Man weitergeht, bleibt hier besser unerwähnt.
Soweit noch: Gegen Ende des Films singt sich Sänger Rainer Fehlinger in einen Wahn und wiederholt immer wieder things are ahead, things are behind.

Das Kollektiv Okabre bringt mit seiner experimentellen Art, Musik und Film zu vermischen den Kinobesuch auf ein neues, spannendes Level. Eine Livevertonung á la Okabre beschert nicht nur Musik auf hohem Niveau, sondern zudem eine Kombination, die Sinnes- und Klangwelten neu erscheinen lässt. Die Atmosphäre im Kinosaal war atemberaubend. Schon bevor der Saal geöffnet wurde merkte man unter den wartenden Gästen Neugier und Vorfreude. Wie wird ein japanischer Experimentalfilm mit Musik aus Österreich verknüpft und was kann man davon erwarten? Es wurde über vorhergegangene Auftritte des Kollektivs in Linz und Wien gesprochen. Manche sprachen auch über den Auftritt beim letzten Klangfestival in Gallneukirchen. Es war zu fühlen, dass es ein besonderer Abend werden würde und es ist schön, dass es mit dem City Kino einen Raum in Linz gibt, in dem Veranstaltungen dieser Art möglich sind.

Im November 2018 hatte das Kollektiv Okabre schon einmal einen Auftritt im Linzer City Kino. Damals mit der Echtzeitfilmvertonung des Horrorklassikers Night of the Living Dead von George A. Romero aus dem Jahr 1968. Romero gilt nicht umsonst als Mitbegründer des modernen Horrorfilms, schließlich hatte er in Night of the Living Dead Zombies erstmals aus eigener Kraft aus den Gräbern aufsteigen lassen. Die Vertonung dazu war damals ganz anders als bei Tetsuo und dennoch unverkennbar das Kollektiv Okabre. Obwohl die Filme so unterschiedlich sind, war die Atmosphäre im Kinosaal trotzdem sehr ähnlich. Das Sextett schaffte es in beiden Fällen, das Publikum mit seiner musikalischen Vielfalt zu beeindrucken.
Außerdem ist noch zu erwähnen, dass es 2019, abseits der Vertonung von Tetsuo noch eine weitere Filmkonzertreihe gibt: Sayat Nova von dem armenischen Regisseur Sergei Paradschanow, aus dem Jahr 1968.
Es zeigt sich, dass sich das Kollektiv Okabre im Wandel befindet und genau das macht ihre Live-Performances so beson­ders.

 

Weitere Auftritte des Kollektivs Okabre:
07. September: Röda / Steyr (Konzerttermin ohne Film)
18. Oktober: Club Noir / Waidhofen/Ybbs
19. Oktober: Programmkino Wels

okabre.com

Pulp Fiction aus der Stahlstadt

In der Hitze der Stadt stottern plötzlich die Leben von fünf Menschen. Wann ist man plötzlich nicht mehr jung gewesen? Andreas Kump hat mit „Über Vierzig“ seinen ersten Roman veröffentlicht. Klemens Pilsl bespricht ihn.

Viele Subgeschichten und Lokalkolorit – auch das Familienbecken im Parkbad kommt als erinnerter Ort vor. Foto Die Referentin

Andreas Kump hat schon viel getextet (keinesfalls nur Werbung), gesungen (meist bei Shy) und erlebt (nicht zuletzt am Fußballplatz). Vor einigen Jahren hat er ein stark rezipiertes Buch zur Geschichte des Linzer Untergrunds der 1980er und 90er Jahre niedergeschrieben: ProtagonistInnen und ZeitzeugInnen erinnern sich in „Es muss was geben – Die Anfänge der alternativen Musikszene in Linz“ der aufdräuenden Rebellion in der „Stahlstadt“ und berichten vom Cafe Landgraf, von Willi Warma, von der Stadtwerkstatt und der KAPU.

Mit „Über Vierzig“ verlässt Kump den Boden des Dokumentarischen – aber nicht die Hintergrundfolie des subkulturell bewegten Linz (und Wiens). In seiner nunmehr fiktionalen Erzählung widmet er sich der Gegenwart jener Menschen, die vor 25 oder mehr Jahren die „Szene“ bildeten. Der Leser trifft im Buch auf fünf Romanfiguren, die an einem sauheißen Sommertag ihre Existenzen verhandeln – auf banale, brutale oder auch tragische Weise. Ein einziger Tag gibt Einblick in fünf Biografien, in fünf Werdegänge, in fünf Lebensmodelle und natürlich fünf Midlife-Krisen.

Angst und Würde
Die fünf HauptdarstellerInnen sind sorgfältige Verdichtungen potentiell realer Vorbilder – und lebensecht. Dem hiesigen Leser drängen sich unweigerlich Assoziationen auf: ist das nicht der Dings, die Dings? Roland, System-Administrator bei einem semi-alternativen Internetprovider, erholt sich nur schlecht von psychischem Zusammenbruch und Panikattacken; Mona ist „eigentlich“ eine bildende Künstlerin, deren Leben aber von Lohnarbeit im Copy-Shop und Kleinfamilie geprägt ist; Tommi vercheckt immer noch Speed am Bindermichl und verdingt sich als Geldeintreiber; Pia ist Werbegrafikerin, gefangen zwischen Leistungsethos und Distinktionsarbeit; Lesbos ist gealterter Rock’n’Roller, der irgendwie immer noch vom Ruhm seiner längst vergangenen Rockband zehrt.

Nunmehr über vierzig sind Kumps Figuren nicht nur erwachsen, sondern vor allem am Zweifeln. Prekäre Leben (so anders als die der Eltern!), die unübersehbare Risse bekommen haben. Die äußeren Klammern des Buches mögen die Hitze, die subkulturellen Vergangenheiten, oder manche die Lokalbezüge bilden. Das Motiv des Romans liegt aber im Ringen um Würde: Verängstigt, wütend oder auch ratlos feilschen die Charaktere um ihre Rollen und Identitäten. Dabei reiben sie sich an den großen Fragen: Gibt es nun das Richtige im Falschen? Welche faulen Kompromisse ist man eingegangen, welche hätte man besser (nicht) verweigert? Wie lange kann das überhaupt noch so weitergehen? Und was zum Teufel ist mit all den jungen Menschen los?

Liebevolle Distanzen
Im Laufe der Handlung verringert sich die anfänglich noble Distanz des Autors seinen Figuren gegenüber (die er ohnehin niemals belächelt und immer respektvoll zeichnet). In der zweiten Hälfte des Werkes vermag Kump seine Sympathien für einzelne Figuren nicht mehr zu verhehlen, insbesondere für den tapfer-tragischen Rockveteranen Lesbos. Der wird unerwartet aus seiner Stasis gerissen: Zum einen macht eine attraktive, aber auch unverschämt junge Kellnerin dem Mitfünfziger das Coolbleiben schwer, zum anderen lockt ein letztes Mal der Kommerz – ein Stadtrat wünscht sich gegen gutes Geld eine Reunion von Lesbos’ ehemaliger Com­bo. Ebenso wie Schläger Tommi darf die Figur Lesbos zum Ende körperliche Genugtuung erfahren: Tommi festigt mit brutalen Schlägen seinen Ruf als Hooligan, Lesbos wird wider Erwarten ins Bett der Angebeteten geladen.
Die weiblichen Figuren hingegen haben weniger Glück bei ihrem Autor, sie scheinen zum Ende hin zunehmend zu verblassen. Die Zeichnung der karriereorientierten Pia, die zwar keinen Mann, aber Trost bei ihrer Katze findet, schrammt dabei mehrmals an der hauchdünnen Grenze zwischen idealtypischem Charakter oder eben doch stereotypem Klischee entlang. Das ist besonders schade, denn gerade ihr Psychogramm und kreativindustrielles Milieu sind im ersten Drittel gelungen beschrieben.

Dieses Verblassen der weiblichen Figuren zu Ende hin resultiert auch daraus, dass sich die Handlung des Romans im Laufe des Sommertages zunehmend weg von Wien und hin nach Linz verlagert – die Frauen aber in der Bundeshauptstadt zurückbleiben und ins erzählerische Hintertreffen geraten. Während im urbanen Wien für die Figuren Entwicklungsschritte und sogar Karrieren zumindest denkbar sind, scheint das provinzielle Linz für das „Hängenbleiben“ und eine kontinuierliche Verweigerungshaltung zu stehen. Hier arbeiten sich die männlichen Charaktere an ihrer Vergangenheit ab, ihre Erzählstränge streifen sich letztendlich in der als „Kulturfabrik“ fiktionalisierten Stadtwerkstadt. Die Geschichte der Männer überlagert sich dabei deutlich mit stadthistorischem und subkultuellem Lokalkolorit (SKV, STWST, Willi Warma) von Linz. Interessant die methodische Fiktionalisierung der Orte: Während der öffentliche Raum (z. B. die Badeanstalten Kongo-, Hummelhof- und Parkbad) auch namentlich unverändert wiedergegeben wird, sind die Lokalitäten (z. B. Hansibar, Kulturfabrik) analog zu den Menschen des Romans fiktionale Verdichtungen realer Spots, die durchwegs vertraut wirken.

Andreas Kump hat für sein Buch diffizile Beschreibungen von Mikrokosmen, Situationen und Charakteren produziert. Eine Fülle an Beobachtungen erzeugt im Leser ein nachhaltiges Bild der Figuren und ihrer Generation. Die Schreibe ist am Leser orientiert, diese Wirkungsorientierung zeugt von der popkulturellen Verortung von Werk wie Autor. Besondere Bedeutung kommt dem ebenso eigenwilligen wie sorgfältigen Arrangement der einzelnen Subgeschichten zu. Die raffinierte Montage der Biografien und Ereignisse führt das Buch von einer (an sich schon aussagekräftigen) Sammlung an Milieustudien in einen funktionierenden und gelungenen Roman über. Auch wenn es manche enttäuschen mag, ist „Über Vierzig“ keine Fortsetzung von „Es muss was geben“. Andreas Kump hantiert großzügig mit realen Versatzstücken, hat aber darauf geachtet, keinen weiteren Beitrag zur Mythenbildung rund um die „Stahlstadtkinder“ zu schaffen – was wohl auch durchaus geklappt hätte.
So hat der Autor den Sprung vom Chronisten zum Romancier gewagt – und mit „Über Vierzig“ ein Stück eigenständige und lesenswerte Literatur geschaffen. Lesen Sie!

 

Andreas Kump: „Über Vierzig“
Milena Verlag, Wien 2019
Hardcover, 272 Seiten

Zur (Architektur-)Sprache

Anlässlich des Todes des im März verstorbenen Dichters und Architekturtheoretikers Friedrich Achleitner schreibt Florian Huber über die ungebrochene Aktualität von Achleitners Denken.

Bild Wikimedia Commons: Anton-kurt

Seiner letzten literarischen Buchpublikation wortgesindel aus dem Jahr 2015 hat der am 23. Mai 1930 im ober­österreichischen Schal­chen geborene und am 27. März 2019 in Wien verstorbene Dichter und Architekturtheoretiker Friedrich Achleitner eine Sentenz des Philosophen Fritz Mauthner (1849–1923) vorangestellt: „Sprache ist ein Werkzeug, mit dem sich die Wirklichkeit nicht fassen läßt.“ Bereits seine literarischen Anfänge im Wien der 1950er-Jahre im Umfeld des Art Club und als späterer Protagonist der Wiener Grup­pe scheinen dieser Einsicht verpflichtet, wie etwa eine Lektüre des gemeinsam mit H. C. Artmann und Gerhard Rühm verfassten hosn rosn baa zeigt. Im wienerisch gefärbten Titel der 1959 publizierten Dialektdichtungen wird jene ironische Distanz gegenüber dem poetischen Sprechen und seinen Grundmotiven erkennbar, die auch für Achleitners Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Architektur zu einem stilbildenden Prinzip wurde, an deren Beginn ein Architekturstudium und das Diplom an der Meisterschule Clemens Holzmeister an der Akademie der bildenden Künste Wien stand. Als Architekturkritiker in der Abendzeitung und in Die Presse sowie in zahlreichen Aufsatzbänden widmete er sich ab den 1960er-Jahren „Problemen der Architektur […], Fragen der Architektur an Hand von Objekten“, wie es in der Vorrede zu seinem fünfbändigen, zwischen 1980 und 2010 im Residenz Verlag verlegten Haupt­werk Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert heißt. In der Ver­bin­dung von Fotografien, Konstruktionsplänen, Selbstaussagen der beteiligten Architektinnen und ihrer kritischen Be­schrei­bung durch den Autor entstand über die Jahre eine Typologie moderner Bau­kultur, die trotz ihrem Fokus auf die öster­reichischen Bundesländer weit über nationale Kontexte hinauszuweisen vermag, wie etwa die Beschreibung der von 1955 bis 1957 errichteten Pfarrkirche am Bindermichl im ersten, 1980 publizierten Band des Architekturführers verrät: „Der parabelförmige Grundriß, die Art und Lage des Fensterbandes und nicht zuletzt die ‚zarte‘ Konstruktion zeigen eine Verarbeitung sowohl deutscher […] als auch schweizerischer Einflüsse. Ihre ‚Synthese‘ wird wohl einmal als typisch für die fünf­ziger Jahre angesehen werden.“ Vor al­lem der im letzten Satz beschworene Blick zurück verdeutlicht die besonderen Qualitäten und Herausforderungen von Ach­leitners theoretischer Herangehens­weise an die Architektur. Die möglichst umfassende Kenntnis ihrer Geschichtlich­keit war für den Kritiker unabdingbar, zumal sich die spezifische Bedeutung vieler Bauvorhaben nur retrospektiv und in Be­zug zu anderen Objekten beurteilen lässt. Sein Interesse galt daher nicht nur so ge­nannten Landmarks, sondern vor allem auch der Alltagsarchitektur in Gestalt von Mehrzweckhallen, Industriebauten, Schwimm­­bädern, Kindergärten und Schu­len oder Bauernhöfen sowie ihrer histo­ri­schen Entwicklung, deren Spuren Achleitner unermüdlich dokumentierte, wie sein architekturtheoretischer Nachlass im Architekturzentrum Wien beweist, der zehntausende Fotografien sowie 22.340 objekt­bezogene und 2.690 Karteikarten zu Architektinnen umfasst. Die gleichermaßen dem Gang in die Archive und Vor-Ort-Begehungen abgerungene Materialfülle war wohl auch dem Umstand geschuldet, dass bereits zum Zeitpunkt der Entstehung des Architekturführers zahlreiche Bauwerke bis zur Unkenntlichkeit ent­stellt, abgetragen oder vom Abriss bedroht waren. Dem mangelnden historischen Bewusstsein gegenüber den Errungenschaften architektonischer Modernen korrespondierte die jahrzehntelange Abwe­sen­heit einer deutschsprachigen Architekturtheorie, an die Achleitner mit seinem Vorhaben hätte anschließen können, wie er noch 1992 in einer autobiografischen Notiz mit Blick auf seinen Kollegen Gerhard Rühm bemerkt: „Ich habe ihn jedenfalls immer um das musiktheoretische Instrumentarium beneidet, dem etwa die Architektur (auf deutschsprachigem Boden) nichts Adäquates entgegenzusetzen hat.“ Die Klage über fehlende Vorbilder wurde freilich von der Einsicht begleitet, dass architektonische Denk- und Arbeitsweisen nur ungenügend im Vokabular der Alltagssprache gefasst werden können, zumal Bauwerke und ihre diversen Vorstufen nicht allein aus Worten geformt sind. Viel­mehr folgt der architektonische Sprach­gebrauch bis in die Bausubstanz hin­ein einem eigenem, aber nur selten explizit formulierten Regelwerk, wie an einem Text Achleitners „Zur Topographie und (Architektur-)Sprache Wiens“ aus dem Jahr 1994 abzulesen ist: „Auffallend ist […], daß Wien im 19. Jahrhundert, ausgerechnet in den nonverbalen Künsten, ein merkwürdiges Sprachbewußtsein, eine Sensibilität gegenüber sprachlichen Phänomenen entwickelt. Schon vor Psychoanalyse und kritischer Sprachphilosophie demonstrieren die pro­mi­nenten Ringstraßenarchitekten […] nicht nur den Gebrauch unterschiedlicher Architektursprachen durch einen Künstler, sondern auch den Gebrauch ,sprachlicher Regeln‘ innerhalb der Architektur.“ So besehen vermittelt Architektur eine spe­zifische Weltsicht, deren Rekonstruktion und kritische Analyse nicht nur im Zentrum von Achleitners Forschungen stand, sondern auch sein literarisches Schreiben informierte, wie eine Prosa­mi­ni­atur aus den 2003 erschienenen einschlafgeschichten illustriert: „heute fällt niemandem mehr auf, dass die häuser von gastein erst durch ihre aufschriften das werden, was sie vielleicht scheinen. wer könnte sonst ein hotel von einem grandhotel unterscheiden, eine villa von einem landhaus oder ein landhaus von einem haus.“ Die Rede vom Sprachgebrauch und die Thematisierung der Aufschriften an den Häusern erinnern dabei daran, dass Architektur und Literatur für Ach­leitner soziale Praktiken und Kommuni­ka­tionsformen verkörperten, die nicht unabhängig von den an ihnen beteiligten Individuen und Räumen gedacht werden können. Auch die von ihm initiierten Debatten zum Denkmalschutz und städtebaulicher Erneuerung sowie die 2015 unter dem Titel Wie entwirft man einen Architekten? gesammelt erschienenen Essays über ArchitektInnen, vor allem aber die Überlegungen zum richtigen Standort zeugen von dieser Haltung, wie seine Darstellung der Linzer Donaulände um 1980 bestätigt: „Der Baukörper des Parkbades mit seiner signifikanten Eingangsfront ist nicht nur ein charakteristischer Bau der frühen dreißiger Jahre, sondern auch vorbildlich in seinen Dimensionen als freistehendes Objekt in der Aulandschaft. Lediglich das Brucknerhaus hat in der späteren Verbauung auf diesen Maßstab Rücksicht genommen. Die Bebauung an der unteren Donaulände hat schon längst ihren ‚eigenen Maßstab‘ geschaffen, der weder auf die Altstadt noch auf die Uferlandschaft Rücksicht nimmt.“ Im minutiösen Verzeichnen historischer Versehrungen und Versäumnisse zeigt sich die ungebrochene Aktualität von Achleitners Denken. Wer erfahren möchte, wie die Stadt und ihre Bewohnerinnen wurden, was sie heute sind, kommt an einer Lektüre seiner Schriften nicht vorbei.

„Wir sind das Genre!“

LINZ FMR ist ein biennales Format für Kunst in digitalen Kontexten und öffentlichen Räumen, das Ende März zum ersten Mal stattfindet. Hybris – Artists in Residence am diesjährigen LINZ FMR – fanden sich zum Skype-Brunch ein und erzählen zum Einstieg von Ladekabelkrisen, Cyberfeminismus und dem Kampf um Aufmerksamkeit Digital-Post- Pubertierender. Ein Interview von Romana Bund.

Hybris – Auch der Kapitalismus hat Komplexe! (2017)

Hybris – Auch der Kapitalismus hat Komplexe! (2017)

Wie schmeckt ein Skype-Brunch?
Nach Mok-Bang mit Kaffee.

Apropos Skype: Skype als eines der Urgesteine unter den Video-Chat- und Instant-Messaging-Plattformen – wie wichtig sind derartige Kanäle für euch?
Wir wohnen alle in verschiedenen Städten und deswegen ist es natürlich schon sehr wichtig. Wir machen ständig Skype-Dates aus, die dann nicht stattfinden, oder bei denen dann nach fünf Minuten eine von uns ganz dringend weg muss. Wir sind aber dann trotzdem froh, dass wir darüber geredet haben.

Plant ihr eure künstlerischen Arbeiten über Skype und ähnliche Kommunikationsplattformen oder macht ihr das dann doch lieber analog, Face to Face und ohne Computer, Handy und Kabelsalat neben dem Frühstücksei?
Es ist eher mehr so eine Mischung aus monatelangem Brainstorming und therapeutischen Sprachnachrichten; oder besser gesagt, dann zwei Tage vorher auf einmal merken, dass wir jetzt wirklich was brauchen.

Und was ist mit Social Media?
Benutzen wir nur um Andere darauf aufmerksam zu machen, wie toll wir sind! Und um Crushes zu stalken.

Facebook oder Instagram?
Instagram und Twitter.
Felizitas ist ohnehin von Facebook ausgetreten und Instagram gleicht in ihrem Fall einem Accountfriedhof, bzw. kreiert sie immer wieder neue Accounts, nur um ein paar Wochen später alles zu deaktivieren. Theresa dagegen ist noch auf Facebook aktiv, lässt auf ihrem Instagram-Account aber immer andere für sich posten.
Natalia ist bei Facebook contemporary not available. Auf Instagram gibt sie sich gerne die volle Dröhnung und landet dann bei 5-Minute Crafts.

Wo spielen diese digitalen Vernetzungskanäle in euren Arbeiten eine Rolle?
Unser Instagram-Account ist eigentlich auch Teil unserer Kunst. Wenn wir was Neues posten, denken wir immer, jetzt gehen wir viral, gleich ruft Jan Böhmermann an. Und wundern uns dann tatsächlich, wenn das nicht passiert.

Eure künstlerischen Arbeiten bewegen sich – auch mit Hinblick auf euren Instagram-Account – zwischen analogen und digitalen Welten hin und her. Seht ihr euch auf beiden Seiten gleich stark verankert?
Wir stehen eher zwischen den Welten und wundern uns, wo die Realität stattfindet.

Ist das Wechselspiel von analog und digital auch der Grund für eure Namensgebung Hybris?
Der Grund für unsere Namensgebung ist eher die bescheidene Eingebung, dass wir uns einfach mehr feiern sollten.

Wie definiert ihr Hybris und wie manifestiert sich diese in euren Arbeiten?
Hybris kommt aus dem Altgriechischen und steht für eine extreme Form der Selbstüberschätzung oder auch des Hochmuts. Damit wir aber nicht total arrogant rüberkommen, nennen wir uns inzwischen auch mal Hybris0815.

Und wo kommt nach altgriechischer Begriffsdefinition der Übermut und die Selbstüberschätzung ins Spiel?
Wenn uns jemand ein Kompliment macht und es wird creepy, verstehen wir nur Groupie.

In euren Arbeiten spielt auch immer wieder der weibliche Körper und die gesellschaftliche Situierung der Frau eine Rolle. Seht ihr euch – auch als Anwenderinnen digitaler Technologien – als Cyberfeministinnen?
Unsere Ideen wachsen auf einem politischen Nährboden, der mit unseren Alltagsproblemen und Konfliktsituationen gedüngt wird. Da wir alle drei Frauen, #toughtitties sind und uns gerne mit uns selber beschäftigen, spielen Sexismus und digitale Weiblichkeit dabei natürlich ein große Rolle.
Feminismus bedeutet aber für uns auch, das sich jede/r frei bewegen kann, ohne dafür gleich einen Stempel aufgedrückt zu bekommen oder in eine Schublade gesteckt zu werden.

Bedeutet das, ihr könntet euch vorstellen, als geschlechtslose oder übersexualisierte Cyborgs im Sinne Donna Haraways zu agieren, die mithilfe von Technik und Digitalität übliche Denkkategorien in Frage stellen, aushebeln und den emanzipatorischen Charakter eben jener hervorheben?
Das übernehmen wir gerne als Artist Statement für unser Portfolio. #nopressure Unsere Hybris ist auf jeden Fall genderlos und kämpft an der Front der Freiheit.

Aber insbesondere online liegen Safe Space wie Shitstorm, Macht und Unterdrückung, Nähe und Distanz, Candy und Shit sozusagen eng beieinander. Sind diese von digitalen Technologien produzierten Ambivalenzen für eure Arbeiten primär produktiv oder auch restriktiv?
Sowohl als auch, denn zwischen: „Wir haben technische Probleme – auch WIFIs haben ihre Tage“, Keanu-Reeves-Fan-Accounts und einer selbst komponierten Hymne für zwei Chatbots machen wir so alles mit. Außerdem sammeln wir gerne Kommentare zu unserer Kunst, digital und analog. Momentaner Favorit unserer letzten Ausstellung: „Um es wie in der Höhle der Löwen zu formulieren – ich bin raus“.

Und würdet ihr eure Arbeiten lieber online oder im MoMA sehen?
Die Hybris lässt nur beides zu!

Lässt sich eure gemeinsame künstlerische Arbeit in ein Genre einordnen?
Wir sind das Genre!

Was ist mit Post-Internet Art?
The future is email.

Eine von Brian Droitcour gesetzte Definition der Post-Internet Art spielt mit der Figur der Insiderin und behauptet: „You know it when you see it“. Könnt ihr euch damit identifizieren?
You know it when you MEME it.

Versteht ihr euch als sogenannte Digital Natives?
Eher Digital-Post-Pubertierende.

Wisst ihr über eure tägliche Screen Time Bescheid?
Wir waren schon einmal auf Entzug. Felizitas hat eine App, die ihr das sagt, die wurde dann aber wieder zwecks Datenschutzes gelöscht. Theresa wiederum fährt viel U-Bahn und muss für eine Fahrt von 45 Minuten immer entscheiden, welches Lied jetzt auf YouTube geladen wird und was man solange ertragen kann. Natalia hat bei Instagram eine dreißigminütige Sperrklausel, aber jeweils für ihre drei Accounts.

Falls der Strom dann aber wirklich einmal ausgeht, besitzt ihr Powerbanks oder seid ihr dann doch lieber zwischendurch offline?
Wir besitzen sogar Powerbanks für die Powerbanks und trotzdem versagt die Technik immer. Außerdem herrscht eine Android und Apple betreffende Ladekabelkrise zwischen uns. #toobigtoofail

Und abschließend eine Frage, die das Internet seit Jahren beschäftigt: Ist das Kleid nun schwarz-blau oder gold-weiß?
Wir haben immer die Lichtapp namens Flux aktiviert, da wird alles sepia. #notsponsered

 

HYBRIS
Hybris ist ein Kunstkollektiv, das 2016 von Natalia Jobe, Theresa Hoffmann und Felizitas Hoffmann gegründet wurde. Es entstand aus ihrer Leidenschaft gegen die beunruhigend narzisstische Repräsentation von Kunst, die gerade in den sozialen Medien zunehmend verstetigt zu werden scheint. Jobe, Hoffmann und Hoffmann nähern sich dazu aus jeweils unterschiedlichen künstlerischen Hintergründen, aber mit einem gemeinsamen Ziel: die Kunstwelt mit einer einzigartigen satirischen Sichtweise auf ihren Wandel neu zu beleben: „Watch out for Hybris because they are about to defy the norm.“

 

 

Festival LINZ FMR
LINZ FMR ist ein biennales Format für Kunst in digitalen Kontexten und öffentlichen Räumen, kuratiert und organisiert von qujOchÖ, servus.at, dem Atelierhaus Salzamt, der Abteilung Kulturwissenschaft der Kunstuniversität Linz und der STURM UND DRANG GALERIE. Die erste Ausgabe findet Ende März 2019 in Linz statt.

LINZ FMR 19
Kunst in digitalen Kontexten und öffentlichen Räumen
Mittwoch, 27. – Samstag, 30. März 2019, Donaulände, Linz, Österreich
Eröffnung: Mittwoch, 27. März 2019, 17:00 Uhr, LENTOS Freiraum

Kern des Formats ist eine Ausstellung im öffentlichen und offenen Raum mit Arbeiten von internationalen und lokalen Künstlerinnen und Künstlern, die sich mit Kunst in digitalen Kontexten auseinandersetzen. Begleitend wird ein Vermittlungsprogramm mit verschiedenen Führungen und ein Rahmenprogramm mit Vorträgen, Konzerten und Gesprächen angeboten, um sich neuen Ansätzen, Arbeitsweisen und Entwicklungen zum Thema zu widmen.
Mehr: linzfmr.at

The Old New

Deutsche Textversion! (Englische Version: weiter unten)

Festival LINZ FMR – Alessio Chierico über Medienkunst und den Medienbegriff in der Post-Medien-Praxis. Der Autor meint: Kunst sollte sich immer in sozialen und kulturellen Praktiken entfalten, unabhängig von jedem Versuch der Kennzeichnung und Klassifizierung. Um relevante Entwicklungen zu erkennen, müssen wir müssen jedoch einige Etiketten verwenden.

Karl Philips – Periscope (2015)

Karl Philips – Periscope (2015)

Hier geht es um die Auseinandersetzung mit einigen der Fragen, die auftreten, wenn das Wort Medien mit dem Begriff Kunst in Verbindung gebracht wird – und wenn das Label Media Art mit dem Label Contemporary Art in Verbindung gebracht wird. Das Verhältnis zwischen dem, was diese beiden Labels repräsentieren, wurde im Laufe der Zeit ausführlich diskutiert, aber in letzter Zeit hat sich etwas geändert. Die Medienkunst schlägt neue Ansätze vor, während die Contemporary Art zu erkennen beginnt, dass unsere Welt von den neuesten Technologien irgendwie berührt wurde. In anderen Worten scheint es, dass jede künstlerische „Erschließung“ ausdrückt, dass unsere kulturelle, soziale und politische Erfahrung in hohem Maß von Technologien vermittelt wird. Aus diesem Grund mag Kunst, die eine Art Techno-Fetischismus feiert, begründet, aber fragwürdig sein. Die Kunst, die sich mit Auswirkungen der Medien auseinandersetzt, ist wünschenswert und sicher notwendig. Das Label Medienkunst wurde mehrfach kritisiert, was eine Ungreifbarkeit und Mehrdeutigkeit dieser Definition betrifft. (1) Dieser Begriff impliziert eine gewisse Beziehung zwischen Medien und Kunst, aber die Art und Weise, wie diese beiden Wörter verbunden sind, ist sehr verschwommen. Im Bewusstsein, uns auf eine zu starke Vereinfachung zubewegen, können wir diesen Aspekt aufzeigen, indem wir die folgenden Fragen stellen: Ist Medienkunst eine Art von Kunst, die mit Medien gemacht wird? Mit welchen Medien? Wenn Malerei ein Medium ist, ist sie dann auch Medienkunst? Sprechen wir über Medien, die mit Kunst gemacht sind? Das wäre eine interessante Erklärung, aber wie kann man dies dann als Kunstform an sich anerkennen? Vielleicht kommt die beste Antwort, wenn man das Wort Medien als Kommunikationsmittel definiert. In gewisser Weise kann dann alles als Medium betrachtet werden. (2) Darum kann auch diese Lösung nicht befriedigen: Wenn alles ein Medium sein kann, dann kann alles Medienkunst sein. Die Liste aller möglichen Fragen ist lang und Sie werden hier keine Antworten finden. Jeder, der in diesem kulturellen Feld tätig ist, hat seine eigene Meinung und jede dieser Meinungen scheint gleichermaßen vernünftig.

Die einzige Tatsache ist, dass es historische Gründe gibt, die die Community dazu gebracht haben, das Label Media Art zu übernehmen (neben vielen anderen ähnlichen Definitionen). Auf jeden Fall muss klar sein, dass die Infragestellung dieses Labels den Wert dessen, was in diesem Bereich produziert wird, nicht beeinflusst. Die vorangegangenen Fragen führen uns jedoch zu einer wichtigeren Frage, die den Angelpunkt der Missverständnisse aufdeckt, die das problematische Verhältnis zwischen Medienkunst und zeitgenössischer Kunst hervorrufen: Welche Rolle spielen Medien in der Kunst? In der Kunsttheorie konzentrierte sich eine der größten Diskussionen der letzten Jahrzehnte auf den Gegensatz von Moderne und Postmoderne. Im Zentrum dieses Gegensatzes steht (unter anderen Faktoren) die Rolle der Medien in der künstlerischen Produktion, also ihre Funktion bei der Bestimmung der Kunstsparten. Tatsächlich hat uns die lange akademische Tradition der Kunst – quasi den Avantgarden widerstehend – an die klassischen Kategorien gewöhnt, die die Kunstpraxis durch die Produktionsmittel differenzieren (historisch: Malerei, Skulptur usw….). In diesem Zusammenhang können wir sehen, dass Medienkunst per Definition von dieser Argumentation stark beeinflusst ist.

Wenn wir das Wort Medien also mit dem Kunstkontext in Beziehung setzen, müssen wir zuallererst bedenken, wie dieser Begriff verstanden werden kann. In der Tat ist es leicht, sich mit irreführenden Konnotationen zu beschäftigen, wenn das Wort Kunst auf das Wort Medien bezogen wird. Dies geschieht, weil es eine etymologische Mehrdeutigkeit des Begriffs Medium gibt. Es kann als ein Werkzeug angesehen werden, das Kommunikation vermittelt, aber es kann auch ein Werkzeug der künstlerischen Produktion definieren. Historisch gesehen können wir feststellen, dass dieses Wort im 17. Jahrhundert in englischer Sprache die Bedeutung des „Kommunikationskanals“ annahm. Während mit dem Jahr 1853 die Moderne Kunst entstand, und zu dieser Zeit erstmalig die Verwendung des Begriffs Medium verzeichnet wurdein Bezug auf die Mittel der künstlerischen Produktion. Dies erklärt, warum jede Verwendung des Wortes Medien im Kunstkontext oft mit der Idee der „künstlerischen Medien“, also mit dem Modernismus und der Idee der Mediumspezifität verbunden ist. Kurz gesagt, dieses letzte Konzept, formuliert vom Kunstkritiker Clement Greenberg, identifizierte das dominante Merkmal des Modernismus: eine Erforschung der spezifischen Ästhetik der künstlerischen Medien, um die Bedeutung der Kunst selbst neu zu definieren. Dementsprechend erkennt er, dass die Emanzipation der Kunst von dem Moment an stattfindet, in dem sie sich mit der Spezifität ihrer Medien zu befassen begann. (3) Wie auch immer, einige Ansätze von Avantgarden (z.B. Dada) und Post-Avantgarden durchkreuzen jedoch die Greenbergs Theorien und zeigen eine Inkompatibilität zwischen den Theorien der Moderne und der praxisorientierten Kunst. Im Wissen um diese Inkohärenzen begründet, unter anderen, Rosalind Krauss ihre These in der Definition des post-medialen Zustands als Status, den die Kunst erlangt hat, nachdem sie von den Zwängen der Konzeption künstlerischer Medien befreit wurde. (4) Mit diesem Paradigmenwechsel benannte die Medienkunst ihre Wurzeln und wurde sowohl zur Verewigung eines modernistischen Ausdrucks als auch zum Experimentierfeld für eine Postmedien-Praxis. Tatsächlich scheint die Medienkunst besonders durch das modernistische Paradigma der Medienspezifität konnotiert zu sein. In dieser, ihrer eigenen Definition und Unabhängigkeit wurde (neben des Vorwurfs des Formalismus) der Ausschluss aus der elitären Kunst begründet. Wie auch immer, die Allgegenwart und der zunehmende Einsatz neuer Technologien, die von den neuen Medien angetriebene Sprache, werden jedenfalls zu einem gemeinsamen Fachjargon in der Öffentlichkeit. Da dies weithin üblich geworden ist, wurden Ansätze, die traditionell zur Medienkunst gehörten, auch für die zeitgenössische Kunst zur brauchbarenPraxis.

Laut Rosalind Krauss verkündete das Aufkommen des Structural Film Movements in den 60er Jahren das Ende der Medienspezifität. Rosalind Krauss betrachtet Video unter Berücksichtigung einiger technischer Aspekte als ein Medium, in dem eine Heterogenität keine „Essenz“ findet, was erlaubt, seine Medienspezifität in Frage zu stellen. Die modernistische Absicht des Structural Films anerkennend und mit dem Willen, das filmische Medium zu erforschen, beschreibt Krauss ihre Kritik an der Greenberg-Theorie: Eine Kunstanalyse lässt sich nicht auf die einzelnen Eigenschaften eines künstlerischen Mediums reduzieren, ohne die Ansammlung all dieser Eigenschaften und die Präsenz eines Publikums in Bezug auf sie zu berücksichtigen. Der Structural Film und das experimentelle Kino waren starke Inspirationsquellen für die künstlerischen Praktiken, die zur Entwicklung der Medienkunst führten. Aus diesem Grund sind die Überlegungen von Rosalind Krauss weithin anwendbar, um die ursprünglichen Absichten der Medienkunst zu verstehen und eine Perspektive zu rehabilitieren, die diese Kunstform als geeignetes Beispiel einer Post-Media-Praxis liest.

Ähnlich wie die künstlerische Erfahrung des Structural Films und nach den Prinzipien der Mediumspezifität stützte sich das Feld der Medienkunst stark auf die Erforschung der ästhetischen Möglichkeiten von Medien. Da dieser Ansatz jedoch ein starkes modernistisches und formalistisches Erbe trägt, müssen wir uns noch mit einer anderen Frage befassen: Wie kann eine künstlerische Praxis die Eigenschaften eines Mediums widerspiegeln, ohne in Annahmen einer modernistischen Rhetorik zu verfallen? An dieser Stelle ist es notwendig, zwei grundlegende und getrennte Richtungen der künstlerischen Praxis zu unterscheiden. Die Absicht, die Medienästhetik zu erforschen, kann sowohl durch die Nutzung der technischen Möglichkeiten des Mediums als auch durch Interventionen entwickelt werden, die diese Möglichkeiten „missbrauchen“. Mit anderen Worten ist es möglich, zwischen den künstlerischen Praktiken zu unterscheiden, die dem Skript folgen, das das Medium in seinem Design vorgibt, und den Praktiken, die dieses Skript untergraben. Der erste Fall handelt von einer Erschließung oder „Ausnutzung“ eines technischen Potenzials des Mediums und macht die Kunst zu einer Art stilistischen Übung. Der zweite Fall bietet einen entgegengesetzten Weg, eine Erforschung der Medienästhetik zu entwickeln, indem er seine technischen Potenziale „erforscht“, unter ihrer Oberfläche ausgräbt und die Sprache seiner Inhalte dekonstruiert. Die Frage nach der Natur von Medien und Technologien sollte nicht die einzige Frage und auch nicht das Vorrecht der Kunst sein. Dennoch können diese Fragen nicht aus dem Bereich der Post-Media-Praktiken ausgeschlossen werden. Die zeitgenössische Kunst ist voll von Beispielen künstlerischer Absichten, die darauf abzielen, einige Aspekte unserer zeitgenössischen Kultur zu enthüllen. Unter anderem aus den Bereichen Wirtschaft, Politik, Anthropologie, etc. …. Ein Ausschluss der Medienkunst aus der künstlerischen Elite könnte nur als ein Vorurteil erklärt werden, das von einem blinden Widerstand gegen jede der erwähnten Reminiszenzen an die Moderne angeführt wird. Die Natur der künstlerischen Praxis lässt sich nicht durch ihr Subjekt definieren. Mit einem Medium kann man sich auseinandersetzen, indem man der Sprache von Post-Media folgt. Es ist möglich, eine künstlerische Forschung zu entwickeln, die sich auf die Ästhetik und Spezifizität der Medien konzentriert. Es ist möglich, ein künstlerisches Medium zu erschaffen, das es in seiner Agency ermöglicht, Kunstpraxen voranzutreiben und zu entfalten. Post-Media-Konzepte und die Kunst, die über Medien reflektiert, sind keine entgegengesetzten Perspektiven. Im Gegenteil, sie ergänzen sich und verschmelzen langsam, indem sie ihre Grenzen verwischen.

 

(1) Erläuterungen: Paul, Christiane. Digital Art. Thames and Hudson.

(2) Marshall McLuhan ist eine großartige Quelle, um diese Perspektive anzuerkennen: McLuhan, Marshall. Understanding Media: The Extensions of Man. MIT Press.

(3) Dieses Argument in: Greenberg, Clement. “Towards a Newer Laocoön.” In Pollock and After: The Critical Debate, edited by Francis Frascina.

(4) Die ausführlichen Theorien: Krauss, Rosalind E. A Voyage on the North Sea: Art in the Age of the Post-Medium Condition. Thames & Hudson.

 

LINZ FMR ist ein biennales Format für Kunst in digitalen Kontexten und öffentlichen Räumen, kuratiert und organisiert von qujOchÖ, servus.at, dem Atelierhaus Salzamt, der Abteilung Kulturwissenschaft der Kunstuniversität Linz und der STURM UND DRANG GALERIE. Die erste Ausgabe findet Ende März 2019 in Linz statt.

LINZ FMR 19
Kunst in digitalen Kontexten und öffentlichen Räumen
Mittwoch, 27. – Samstag, 30. März 2019, Donaulände, Linz, Österreich
Eröffnung: Mittwoch, 27. März 2019, 17:00 Uhr, LENTOS Freiraum

Kern des Formats ist eine Ausstellung im öffentlichen und offenen Raum mit Arbeiten von internationalen und lokalen Künstlerinnen und Künstlern, die sich mit Kunst in digitalen Kontexten auseinandersetzen. Begleitend wird ein Vermittlungsprogramm mit verschiedenen Führungen und ein Rahmenprogramm mit Vorträgen, Konzerten und Gesprächen angeboten, um sich neuen Ansätzen, Arbeitsweisen und Entwicklungen zum Thema zu widmen.

linzfmr.at

 


English Version:

Festival LINZ FMR – Alessio Chierico about Media Art and the Medium Relativity of Post-Media Practice. The author says: Art should always unfold in the social and cultural practices irrespectively from any attempt of labelling and classification. However, we need to use labels in order to see the emergence of some occurrences.

Karl Philips – Periscope (2015)

Karl Philips – Periscope (2015)

Here the concern is about facing some of the issues that appear when the word media is associated to the term art and when the label Media Art is associated with the label Contemporary Art. The relation between what these two labels represent has been extensively debated over time, but recently something changed. Media Art is proposing novel approaches while Contemporary Art begins to realize that our world has been somehow touched by the recent technologies. In other terms, it seems that any artistic “enclosure” is remembering that our cultural, social and political experience is highly mediated by technologies. For this reason, the art that celebrates some sort of techno-fetishism might be fair, but questionable. The art that finds in the effects of media an argument to face, is desirable and certainly needed. The label Media Art attracted several criticisms concerning the ephemerality and the ambiguity of this definition.(1) This term implies a certain relation between media and art, but the way in which these two words are connected is very blurry. Conscious of moving toward an oversimplification, we can expose this aspect by posing the following questions: Is Media Art a kind of art made with media? Which media? If painting is a medium, is it also painting Media Art? Are we talking about media made with art? This would be an interesting explanation, but then how to acknowledge this as an art form per se? Maybe the best answer might come by assuming media as a word that defines means of communication. In some sense, anything can be seen as a medium.(2) However, also this solution cannot satisfy: if anything can be a medium then anything can be Media Art. The list of all the possible questions is still long and here you will not find an answer. Anyone who operates in this cultural field has his own opinion and each of them is equally reasonable. The only fact is that there are historical reasons that brought the community behind this field to adopt the label Media Art (among many other coincident definitions). In any case, it must be clear that questioning the label does not affect the value of what is produced in this area. However, the previous questions drag us toward a more important question, which exposes the pivot point of the misunderstandings which creates the discrimination between Media Art and Contemporary Art: Which is the role of media in art?

In art theory, one of the largest discussions that crossed the latest decades focused on the opposition between Modernism and Post-Modernism. Among many factors, at the centre of this opposition appear the role given to the media in the artistic production, thus their function in determining the taxonomies of art. Indeed, resisting to the avant-gardes, the long academic tradition of art accustomed us to the classical categories that differentiate art practice by the production means (historically: painting, sculpture etc …). In this context we can see that by definition Media Art is highly exposed to this argumentation. First of all, while relating the word media with the art context, we must account how this term can be understood. Indeed, on any occasion the word art relates to the word media, it is easy to incur in misleading connotations. This happens because there is an etymological ambiguity about the term medium. It can be seen as a tool that mediates some communication, but it can also define a tool of artistic production. Tracing a historical path, we can notice that in English language this word assumed the significance of “channel of communication” in the 1600s. While in 1853, the same period in which Modern Art was conventionally beginning, it has been recorded the first use of the term medium in reference to the means of artistic production. This last definition explains why any usage of the word media, in the art context, is often linked to the idea of “artistic media”, thus to Modernism and to the idea of Medium Specificity. Shortly, this last concept, formulated by the art critic Clement Greenberg, identified the dominant feature of Modernism: an exploration of the specific aesthetics of the artistic media, as a way to redefine the meaning of art itself. Accordingly, he sees that the emancipation of art occur from the moment which it started to be concerned in the specificity of its media.(3)

However, some approaches of avant-gardes (Dada for instance) and post avant-gardes, foil the Greenberg theories, revealing an incompatibility between the theories of Modernism and the practice-based art. Acknowledging these incoherences, Rosalind Krauss, among others, bases her thesis in the definition of post-medium condition as a status which art acquired after being liberated from the constraints of the conception of artistic media.(4) During the shift of this paradigm, Media Art poses its roots and became both a perpetuation of the modernistic imprint and territory of experimentation for post-media practice. Indeed, Media Art appears to be particularly connoted by the modernist paradigm of Medium Specificity. Its own definition and independence (in addition to the accusation of formalism) became reasons for exclusion from the elitarian contexts of art. However, the ubiquity and the spreading use of new technologies, the language propelled by new media become a common jargon in the public sphere. Since this has been widely recognized, the approaches that traditionally belongs to Media Art became also proper practices for Contemporary Art. According to Rosalind Krauss, the advent of the Structural Film movement during the ’60s proclaimed the end of Medium Specificity. Accounting some technical aspects, Rosalind Krauss sees the video as a medium in which heterogeneity cannot be found any “essence” which allows questioning its specificities. Recognizing the modernist intent of Structural Film, and its will of inquiring the nature of the cinematic medium, Krauss explains her critiques to the Greenberg’s theory: an analysis of art cannot be reduced to the single properties of an artistic medium, without taking into account the aggregation of all these properties, and the presence of an audience in relation with them. The Structural Film and the Experimental Cinema have been powerful sources of inspiration for the artistic practices that lead to the development of Media Art. For this reason, the concerns of Rosalind Krauss are widely applicable to the understanding of the original intentions of Media Art and to rehabilitate a perspective that reads this art form as a proper instance of a Post-Media practice. Similarly to the artistic experience offered by Structural Film and in accordance with the principles of Medium Specificity, the Media Art field strongly relied on the research of the aesthetic possibilities of media. However, since this approach carries a strong modernistic e formalistic heritage, now we need to address another issue: how an artistic practice can reflect the properties of a medium without falling in the conjectures of modernist rhetoric? At this point, we necessitate distinguishing two fundamental and separate directions of artistic practice. The intent to research the media aesthetic can be developed with both the use of the technical possibilities offered by the medium or with interventions which “misuse” these same possibilities. In other words, it is possible to discriminate between the artistic practices which follow the script given by the design of a medium and the practices which subvert this script. The first case is about an “exploitation” of the aesthetics offered by the technical potential of the medium, leading art toward a form of stylistic exercise. The second case offers an opposite way to develop an exploration of media aesthetics, made by “enquiring” its technical potentials, excavating under their surface and deconstructing the language of its contents.

Questioning the nature of media and technologies should not be the only necessity and prerogative of art. Nevertheless, an intent which follows this purpose, cannot be implicitly excluded from the realm of Post-Media practices. Contemporary Art is plenty of examples of artistic intentions which aims to reveal some aspects of our contemporary culture. From the fields of economics, politics, anthropology, etc. … An exclusion of Media Art from the artistic elite could just be explained as a prejudice conducted by blind opposition to any reminiscence of Modernism. The nature of artistic practice cannot be defined by its subject. A medium can be questioned by following Post-Media languages. It is possible to develop artistic research which focuses on the aesthetics and specificities of media. It is possible to create an artistic medium which gives it the agency to process and unfold the subject of art practice. Post-Media conceptions and the art that reflects on media are not opposite perspectives. At the contrary, they are complementary and are slowly merging by blurring their borders.

1 More detailed explanations can be found in: Paul, Christiane. Digital Art. Thames and Hudson.

2 Marshall McLuhan is a great resource to acknowledge this perspective: McLuhan, Marshall. Understanding Media: The Extensions of Man. MIT Press.

3 This argument can be found in: Greenberg, Clement. “Towards a Newer Laocoön.” In Pollock and After: The Critical Debate, edited by Francis Frascina.

4 Theories expressed in: Krauss, Rosalind E. A Voyage on the North Sea: Art in the Age of the Post-Medium Condition. Thames & Hudson.

 

LINZ FMR is a biennial format on art in digital contexts and public spaces, curated and organized by qujOchÖ, servus.at, the Atelierhaus Salzamt, the Department of Cultural Studies of the University of Art and Design Linz and the STURM UND DRANG GALERIE. The first edition will take place at the end of March 2019 in Linz, Austria.

LINZ FMR 19
Art in digital contexts and public spaces
Wednesday, March 27 – Saturday, March 30, 2019, Donaulände, Linz, Austria
Opening: Wednesday, March 27, at 5:00 p.m., LENTOS Freiraum

The heart of the format is an exhibition in public and open space with works by international and local artists who deal with art in digital contexts. An art education program with various guided tours and a supporting program with lectures, concerts and talks will accompany the exhibition, to reflect on new approaches, working methods and developments related to art in digital contexts.

Mehr: linzfmr.at