For a Micro-Phenomenal Definition

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Eine mikro-phänomenologische Definition

Noch einmal das ephemere LINZ FMR: Vincenzo Estremo argumentiert für eine mikro-phänomenologische Definition des digitalen Ephemeren und schreibt über dessen Anziehungskraft für den Kapitalismus. Zu Beginn das „Unmögliche“.

Das LINZ FMR 19 Sujet – eine Arbeit von Sun Li Lian Obwegeser.

Das LINZ FMR 19 Sujet – eine Arbeit von Sun Li Lian Obwegeser.

Nach Angaben des Google N-gram-Viewers (1) ist die Verwendung des Wortes „unmöglich“ seit etwa Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts stark zurückgegangen. Aber was sagt uns das? Bedeutet das, dass immer weniger Dinge unmöglich sind? Bedeutet das, dass sich die Unmöglichkeit „als solche“ im historischen Niedergang befindet? Vielleicht bedeutet das nur, dass sich die Bedingungen für Möglichkeiten als solche im Laufe der Zeit ändern können? Sind sowohl das Mögliche als auch das Unmögliche durch historische und äußere Bedingungen definiert? (2)

Vorneweg: Einige Gedanken zur Ästhetik für diejenigen, die sich noch an die Ästhetik erinnern.

Als im zwanzigsten Jahrhundert die Begriffe Ästhetik, Objekt und Werk (Kunstwerk) von den ideologischen und normativen Zwängen der Tradition befreit wurden, wurde die Lücke mit dem gefüllt, was wir heute zeitgenössische Kunst nennen. Ich meine all diese Praxen und Prozesse, die mit Objekten und Dingen verbunden sind, die keinen „a priori“-Wert haben, sondern einen Wert in der Manifestation einer grundsätzlichen Präsenz ihres Seins erlangen. Mit diesem Zeitpunkt, wo wir begonnen haben, über die Geschichte des Werks, über seine Unabgeschlossenheit an sich und gleichzeitig sein dauerhaftes Bestehen nachzudenken, sollten wir meiner Meinung nach unsere Überlegungen über das Ephemere und über seine gegenwärtigen Ausformungen, einschließlich der ästhetischen, anstellen. Meine Absicht ist es, die frühere Idee der esthéticien zu überwinden, in Richtung von etwas „nicht Vollendetem“, zu etwas, das vom intellektuellen Feld noch nicht vollständig ausformuliert ist. Das Ziel ist es, bis zum Bruch der Idee der „Schönheit“ fortzufahren und neue „Wege“ zu eröffnen, der uns auf die andere Seite der Barrikade gebracht (gezwungen) hat.

Das Wort „ephemer“ leitet sich vom Lateinischen ephemĕrus ab, das aus dem Griechischen epi (auf, bis) iméra (Tag) stammt. Es bezeichnet alles, was nicht mehr als einen Tag lebt. Ein Zustand von Kürze, der, wenn er mit Überprüfung oder Verwerfen des Konzepts der ästhetischen Produktion, und mit diesem Konzept der objektiven Realität verbunden ist, in der Lage ist, die Zeit zu überleben und die Nachwelt zu erreichen, den gegenwärtigen Zustand einer ewigen Gegenwart zu beschreiben scheint. Der zeitgenössische Begriff der Ästhetik, auch wenn er verlagert und fragmentiert ist, wie es auch seine eigenen Objekte zu sein scheinen, zeigt anstelle von Eindeutigkeit und festen Aussagen eine Reihe von Diskursen, die besser zu der Kontroverse und dem polymorphen Charakter der zeitgenössischen Kultur passen. Es ist etwas, das einerseits das Unbekannte annimmt, andererseits auf eine bestimmten Vorstellung von „Geschmack“ und „Schönheit“ bei künstlerischen Produkten verweist (der prozessorientierte Ansatz dieses Phänomens erlaubt es mir und Ihnen nicht nicht mehr, das Wort Werk zu verwenden). Ein Vergnügen, das, wie von Lascault geschrieben, als eine Art Nebel entsteht, „im verschwommenen, ausgefransten, verdrängten, unreinen, in der Skizze einiger spezieller Beschreibungen, die nie zu allgemeinen Aussagen werden“ (Übersetzung des Autors). (3) Ausgehend von dem, was Lascault gesagt hat, und dann weit, weit entfernt von der Gewissheit einiger ästhetischer Diskurse der Vergangenheit, und weit entfernt von polemischen und subversiven Schlussfolgerungen und Begleiterscheinungen, könnte der Diskurs der zeitgenössischen Ästhetik heutzutage „nomadisch“, „vagabundierend“, „wandernd“ oder „unsicher“ sein – eine unter anderen Möglichkeiten, wie sie Lascault genannt hat. Dieses ästhetische Projekt ist zugleich eine mikrophänomenale Analyse des Realen und deren hartnäckiger und mimetischer Anhaftung, oder besser gesagt, einer Anhaftung einer vermeintlichen „Pluralität“ der zeitgenössischen (Kunst-)Realität. Eine Analyse des Jetzt, das zu einem deskriptiven (normativen) Werkzeug wird, das den zeitgenössischen Phänomenen ihre fließenden Eigenschaften zurückgibt und sich nicht mehr mit deren Produkten (und Werken) beschäftigt. Ein dispositif, das es uns erlaubt, die künstlerische Produktion zu betrachten, ihre Inkonsistenz, ihr Ephemeres, das sprießt, wächst und verschwindet.

Soziale Netzwerke haben deine Seele gestohlen, aber dann fangen sie an, dir ihre unrechtmäßigen Gewinne zurückzugeben.

Die Einführung in die Neudefinition des Begriffs der Ästhetik wird notwendig, sobald ich die kontroversesten und komplexesten Phänomene unserer heutigen menschlichen Aktivitäten sorgfältig berühren würde: das Digitale und seine Epiphänomene, Daher werde ich mich in diesem Text auf einen sehr kleinen Teil der Makrofragen im Zusammenhang mit der Digitalen konzentrieren und bespreche hier exemplarisch: den Aufstieg und das Verschwinden von Google+. Dieses wurde 2011 als Google+ gestartet. Es war schon bemerkenswert, dass der kostenlose und deregulierte Goldrausch eine große Anzahl von persönlichen Daten über die Präferenzen der Social Media-Nutzer aus deren sozialen Präferenzen generierte. Ich werde versuchen zu zeigen, wie wir in dem Moment, in dem wir eine Debatte über das Eigentum unserer Daten (als Nutzer) eröffnen, bereits als Keil mitten in einem neuen ästhetischen Phänomens steckten. Die Google-Kampagne folgte den Beispielen anderer Unternehmen, die zu Medienkolossen wie Facebook (2004) und Twitter (2006), sowie zum aufstrebenden “social star” Instagram (2010) wurden. Die Einführung von Google+ war im Vergleich zu den Konkurrenten anders. Google versuchte, den Markt der sozialen Medien von einem markanten Punkt aus zu besetzen (4), anstatt auf ein vielversprechendes Geschäftsfeld zu setzen, wie es die ehemaligen Social Media Start-ups einige Jahre zuvor getan hatten, die buchstäblich auf das digitale Eldorado setzten. Die Tatsache aber dann, dass Google nach sieben Jahren erklärte (sieben Jahre könnten im Makrokontext des digitalen Business eine geologische Ära sein), dass Google+ vorbei war (5), eröffnet den Raum für einige ethische Überlegungen, die auch ästhetisch sein könnten. Beginnen wir mit der Feststellung, dass soziale Netzwerke künstlerische Praktiken unterfüttern und dass gleichzeitig die sozialen Netzwerke von ihnen gespeist werden (6). Ich spreche von den Praktiken, die sich mit der digitalen Technologie befassen und sich bildhaft mit den Formaten und Prozessen einer hyper-vernetzten zeitgenössischen Gesellschaft befassen, oder eine Reflexion über den Zustand des Menschen im technisch-politischen Rahmen des globalen Marktes beinhalten. Diese Praktiken lassen sich in ihrer Komplexität in Bezug auf die von mir erwähnten Veränderungen der zeitgenössischen Ästhetik beschreiben. Es ist ein Versuch, den zeitgenössischen Zustand von „Digitalität“ unter Berücksichtigung der systemischen Komplexität der Realität neu zu formulieren, ohne notwendigerweise ihr Auftreten selbst zu beschreiben. Es kommt vor, dass zeitgenössische Kunst oft eine Art Klon digitaler Realitäten sein können, die im Voraus die unheimlichen Ergebnisse unserer neuen Sozialität offenbaren. Und ich sah soziale Aspekte und Berührungspunkten von Kunstpraktiken und Social Networking in dieser E-Mail von Google, in der die Abschaltung von Google+ angekündigt wurde. Wir möchten die Analyse für das Verschwinden dieses sozialen Netzwerks auf Aspekte des Ephemeren beschränken, die an einige Merkmale zeitgenössischer Kunstpraktiken erinnern. Jedenfalls schien die E-Mail, die von Google an Millionen von Nutzern gesendet wurde, eher Kunstprojekt als Warnung eines digitalen Unternehmens zu sein – aber bringen wir die Dinge in die richtige Reihenfolge. Denn hinter der Entscheidung, Google+ abzuschalten, stand ein Bug, der private Daten von mehr als fünf Millionen Nutzern des sozialen Netzwerks hätte gefährden können. Ähnlich wie es bei Facebook und Cambridge Analytica passierte. Anwendungen von Drittanbietern hätten illegal Daten von einer großen Anzahl von Nutzern des sozialen Netzwerks erfasst. Ein Skandal, der weiter verfestigt hätte, was jemand bereits einmal als „digitale Geisterstadt“ des Netzes bezeichnet hatte. Der Text im E-Mail, von dem ich mir sicher bin, dass ihn auch LeserInnen dieses Texts erhalten haben, schlug uns nun vor, alle „unsere“ (7) persönlichen Inhalte neu zu archivieren, zu sichern, wenn wir nicht wollen, dass sie verschwinden würden. Nun, praktisch lädt Google seine eigenen Benutzer ein, private Sicherungskopien zu erstellen und gibt (einen Teil) der Informationen zurück, die dieselben Benutzer Google während dieser sieben Jahre der unglückseligen Aktivität von Google+ geschenkt haben. Ist das eine ironische Wiederaneignung oder das Eingeständnis eines kolossalen Fiaskos? Ich weiß es nicht. Tatsache ist, dass Google Cloud-Backups für seine eigenen BenutzerInnen anbieten hätte können, aber stattdessen bevorzugte, dass jeder einzelne Benutzer erneut handeln sollte, was seine eigenen Informationen betrifft. Etwas, das für einen Riss symptomatisch ist. Eine Art Verletzlichkeit, die eher ideologisch als technologisch ist. Ein Prozess der minimalen und privaten Rematerialisierung eines Teils dieses Google-Riesen, der aus durchsichtiger Materie besteht, eine Materie, die irgendwo dort draußen in einem Rechenzentrum versteckt ist und große Mengen an Elektrizität verbraucht. Eine Art Klassenkampf von heute, ein Ergebnis eines weiteren internen Widerspruchs der Kapitalakkumulation, bei dem die Produktionsmittel zurückkehren und den Arbeitern (den Nutzern) gehören.

Der Umgang mit dem Ephemeren und dem Kapitalismus

Als sich Ende der 90er Jahre Tausende von Demonstranten aus der ganzen Welt unter dem Wunsch vereinten, die Straßen zurückzuerobern, war BLOCKBUSTER, ein damals bekanntes Unternehmen, eines der am meisten gehassten Übel unter den Gottheiten des aufkeimenden globalen Hyper-Kapitalismus. Einige Jahre später, im Jahr 2013, als der Verleiher für Home-Movies und Videospiele pleite ging, schätze ich, dass viele von denen, die Jahre zuvor Steine geworfen haben, nostalgisch geseufzt haben – anstatt den Tod des ehemaligen Feindes zu feiern. Also, ist es auf eine seltsame Weise und als Vorstellung einer nicht klar definierten Zukunft möglich, dass Google das gleiche Schicksal vorausgesagt wird, das auch BLOCKBUSTER widerfahren ist? Ich habe keine genaue Antwort, aber einige Vermutungen hinsichtlich dieser Unmöglichkeit. Nach dem Stand der Dinge ist es sinnlos, einen Google-Standard zu erwarten, gerade wegen seiner eigenen digitalen Natur. Der prä-digitale Spätkapitalismus hatte einige versteckte Schwachstellen, aber stattdessen scheint die ephemere Natur des digitalen Spätkapitalismus die beste seiner Eigenschaften zu sein, der ephemere Beat des digitalen Spätkapitalismus, der auf den Pfaden der verschlungenen Nicht-Dinge basiert. Freiheit, Schwäche, kapitalistische Verflüssigung und die Vernetzung digitaler Plattformen setzen auf Paradigmen, die Arbeiter (Nutzer) ausbeuten, ohne die Ausbeutung sichtbar zu machen. Die neo-digital-kapitalistische Ausbeutung ist ungreifbar (8). Sie ist wie Nebel. Und wie Nebel könnte er in Zukunft noch stärker alles durchdringen. Kritische Theorie, eine Sache, die Social Media-Nutzer zuvor nie brauchten, wurde zu einer Notwendigkeit. Wir brauchen unseren Generationenkonflikt jetzt wie nie zuvor. Etwas, das die utopischen Kämpfe aus dem Reich des letzten Jahrhunderts auf das Schlachtfeld des ephemeren Nahkampfes von heute verlagert.

Die Alternative

In all diesem Gewirr müssen wir über die Vorstellungen von gestern hinausblicken. Zu glauben, Konzepte wiederholen zu können, die etwa vor einem Jahrhundert funktioniert haben, wäre so, als hätte zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts jemand Befreiungsstrategien und Kampfmethoden vorgeschlagen, die in der Ära der Sklaverei nützlich waren. Das mag prinzipiell richtig sein. Aber völlig unzeitgemäß, wenn man die Prozesse betrachtet, die der digitale Kapitalismus hervorgebracht hat. Ausgehend von den Defekten, Mängeln und Schwachstellen, vor allem aber im Bewusstsein der größeren Widersprüche, sollten wir anfangen, an dem ephemeren Käfig zu arbeiten, in dem wir eingesperrt sind, um ihn in etwas anderes umzuwandeln, das für einen Tag am Leben bleiben kann – oder so.

Notes (Sorry – not translated!)

1 https://en.wikipedia.org/wiki/Google_Ngram_Viewer [February 6th 2019]

2 H. Steyerl, Duty-Free Art, “e-flux Journal” n 63, March 2015.

3 G. Lascault, Ecrits timides sur les visible, Paris, U.G.E., 1979, p. 10.

4 Google could be associated with a media-state, something that has characteristics of bureaucratic-authoritarianism. The “modern” authoritarianism of Google is a kind of incarnation of new economic rationality which is presumed to be (also) necessary for the development of digital capitalism. Media-state enterprises are the newest form of bureaucratic-authoritarianism. Thus, thanks to these newest forms of state dispositif, emerges a social stratum which is created within the state (the nation-state) and yet which, paradoxically, achieves to some degree a separate basis of power and can eventually clash with the government under given circumstances. In this model, the use of state enterprises is meant to facilitate and legitimate digital-capitalist development and to reinforce their position of power.

5 Do you remember about Google Hangouts? Have you ever used it after 2013? The position of Google concerning accessory services as chat, social media, and photo sharing is kind of creepy. These attempts to contend on the proliferated and diversified business of media-services are everything but competitive. In a few words, a strategic asset or calculated fiascos.

6 It is no coincidence that Paolo Virno talks about art and more generally about creative contexts as anticipating social and economic trends. P. Virno, A Grammar of the Multitude, Cambridge MA, MIT Press, 2004.

7 Who Owns Your Data? Dear reader don not forget that search engines, governments, financial markets, social networks, and law enforcement agencies rely on the digital data market. Something that daily we gift to someone else just because the majority of us do not know how to take blood from a stone.

8 Digital Taylorism is more pervasive than any other former theory of management of the workforce. It mined and weakened any defensive system of whom might have protected the rights of these new subjectivities. Thus, if in one hand we are aware that the exploitation of the digital era is different compared with its own old brother, on the other hand, we must consider some factual alternatives.

 

LINZ FMR ist ein biennales Format für Kunst in digitalen Kontexten und öffentlichen Räumen, kuratiert und organisiert von qujOchÖ, servus.at, dem Atelierhaus Salzamt, der Abteilung Kulturwissenschaft der Kunstuniversität Linz und der STURM UND DRANG GALERIE. Die erste Ausgabe findet Ende März 2019 in Linz statt.

LINZ FMR 19
Kunst in digitalen Kontexten und öffentlichen Räumen
Mittwoch, 27. – Samstag, 30. März 2019, Donaulände, Linz, Österreich
Eröffnung: Mittwoch, 27. März 2019, 17:00 Uhr, LENTOS Freiraum

Kern des Formats ist eine Ausstellung im öffentlichen und offenen Raum mit Arbeiten von internationalen und lokalen Künstlerinnen und Künstlern, die sich mit Kunst in digitalen Kontexten auseinandersetzen. Begleitend wird ein Vermittlungsprogramm mit verschiedenen Führungen und ein Rahmenprogramm mit Vorträgen, Konzerten und Gesprächen angeboten, um sich neuen Ansätzen, Arbeitsweisen und Entwicklungen zum Thema zu widmen.

linzfmr.at


English Version:

Again the ephemeral LINZ FMR: Vincenzo Estremo about the micro-phenomenal definition of the digital ephemeral and its capitalistic magnetism. The author starts with some thoughts regarding to the “impossible”.

Das LINZ FMR 19 Sujet – eine Arbeit von Sun Li Lian Obwegeser.

Das LINZ FMR 19 Sujet – eine Arbeit von Sun Li Lian Obwegeser.

According to the Google N-gram viewer(1), the usage of the word “impossible” has steeply dropped since around the mid-twentieth century. But what does this tell us? Does it mean that fewer and fewer things are impossible? Does this mean that impossibility “as such” is in historical decline? Perhaps it just means that the conditions for possibilities as such are subject to change over time? Are both the possible and the impossible defined by historical and external conditions?(2)

Precondition: Notes on Aesthetics for Them Who Still Remember About Aesthetics.

When, in the twentieth Century, the notions of aesthetic-object and opera (piece of art) were freed from the ideological and normative grids often imposed by tradition, the chasm was filled with what we now call contemporary art. I mean: all that praxistic processes linked to objects and things that do not have an “a priori” value but that acquire value in the manifestation of their cardinal presence of being. It is, since that moment, since when we started to reflect on the opera ontology, on the infinity of its being and on the finiteness of its persistence, that I think we should start our reflection about ephemeral and about all its contemporary declinations including the aesthetic one. My intention is to overcome the former idea of esthéticien, going towards something “not finished”, something not perfectly acknowledged by intellective grids or to authorial activities. The goal is to proceed till the break of the idea of “beauty”, opening up new “ways” for that tunnel that has brought (forced) us in the other side of the barricade.

The word “ephemeral” derives from the Latin ephemerus, that comes from the Greek epi (up) iméra (day). It indicates all that things that live not more than one day. A state of brevity that, if associated with the discard or the reconsideration of the concept of aesthetic production, and then to that concept of objective reality able to survive the time with the ability to reach posterity, seems to describe the contemporary condition of an eternal present. The contemporary notion of aesthetics, even if displaced and fragmented, as seem to be its own objects, shows up, instead of sureness and fixed statement, a number of discourses that fit better with the controversy and polymorphic nature of contemporary culture. It is something that, if in one hand embrace the unknown, on the other hand winks at certain idea of “taste” and “beauty” concerning artistic products [the process-oriented approach of this phenomenon does not allow me (it does not allow you) to use the word opera anymore]. A pleasure that raises, as written by Lascault, in a sort of fog, “in the blurred, frayed, displaced, impure, within the sketch of some particular descriptions that will never become general statements” (my translation).(3) Starting from what stated by Lascault and far far away, then, from the certainty of some aesthetic discourses of the past, and far from polemic and subversive implications, the discourse of contemporary aesthetics nowadays – one among other possibilities as stated by Lascault – could be “nomadic”, “vagabond”, “wandering”, “unsure”. This aesthetical project is at the same time a micro-phenomenal analysis of the real and a callous and mimetic adhesion at it, or better adhesion at the supposed “plurality” of contemporary art reality. An analysis of the now, that becomes a descriptive (normative) tool, that gives back the fluxing nature of contemporary phenomena and does not deal anymore with its products (operas). A dispositif that allows us to look at the artistic production, at its inconsistency, at its ephemeral that sprouts, rises and vanish.

Social Networks Steal Your Soul but Then Start to Give You Back Their Ill-Gotten Gains

The introduction about the redefinition of the concept of Aesthetics becomes needed because I would carefully touch one of the most controversial and complex phenomena of our contemporary human activity: digital and its epiphenomena. Thus, in this text, I will concentrate on a very tiny part of the macro issues connected to digital: the rise and the vanishing of Google+. It was 2011 when Google launched Google+. It was time already remarkable for the free and deregulated Gold rush to acquire a huge number of personal data using the preferences of social media users’ social-preferences. I will try to show how, at the moment in which we open a debate about the property of our (as users) data, we are already in the wedge of a new aesthetical phenomenon. Google campaign followed the examples of other companies become media colossuses as Facebook (2004) and Twitter (2006) and of the rising social star Instagram (2010). The launch of Google+ was different if compared with the ones of its competitors. Google attempted to occupy the market of social media from a prominent point,(4) instead of bet on a promising business field as done by the former social media start-ups few years before, that literally bet on the digital Eldorado.

The fact that now, after seven years (seven years could be a geologic era in the macro context of digital business) Google declares that the experience of Google+ is over,(5) opens up the space for some more ethical considerations that could also be aesthetical.

Let’s start saying that social networks feed artistic practices and that, at the same time, the social networks are fed by them.(6) I am talking about the practices which deal with digital technology and that metaphorically relate themselves with the formats and the processes of hyper-connected contemporary society, or entail a reflection on the condition of human being in the techno-political frame of the global market. These practices can be described in their complexity referring to the changes occurred to contemporary aesthetics that I mentioned before. It is an attempt to reframe the contemporary condition of “digitality”, considering the systemic complexity of the reality, without necessarily describing its appearance. It happens that contemporary art productions may be, most of the times, clone of the digital reality, revealing in advance uncanny outcomes of our new sociality. Socialites and conjunction points between art practices and social networking, that I saw in the e-mail sent by Google announcing the Google+ shutdown. We may wish to restrict the analysis, for the disappearing of the social network, to ephemeral values that recall some features of contemporary art practices. The e-mail, sent by Google to millions of users, seems to be an art project more than a warning sent by a digital corporation. Let us get things in the right order, behind the decision to turn down Google+ there is a bug that could have put in danger private data of more than five million of the social network’s users. Something similar to what happened to Facebook with Cambridge Analytica. Third-party applications would have illegally acquired data from a large number of social network users. A scandal that would have further bury what that someone already defined the web’s “digital ghost town”. The e-mail text, that I am sure also who is reading received, suggests us to re-archive all “our”(7) personal contents if we do not want them to disappear. Well, practically Google invites its own users to make private backup copies, giving back (part) of the information that the same users had gifted to Google during these seven years of Google+ unlucky activity. Is that an ironic re-appropriation, or the admission of a colossal fiasco? I do not know. The fact is that Google might have offered cloud backups for its own users, but it preferred that every single user dealt back again with his/her own information. Something symptomatic of a crack. A kind of vulnerability that is more ideological than technological. A process of minimal and private re-materialization of part of that giant (Google) made out of diaphanous matter, a matter hidden somewhere out of there in some datacentre that drains a huge amount of the electricity. A sort of today’s class struggles, a result of another internal contradiction of capital accumulation, in which the means of production come back and belong to the workers (users).

Dealing with Ephemeral and Capitalism

When at the end of the ’90s, thousands of demonstrators from all around the world unified under the desire of reclaiming the streets, BLOCKBUSTER, a well-known corporation of that time, was one of the most hated evil among the deities of the divine council of the sprouting global-hyper capitalism. A few years later, in 2013, when the video provider of home movie and video game rental services went bankrupt, I guess that many of them, that years before threw stones at its windows, have sighed nostalgically instead of celebrating the death of the former enemy. So, in a strange way and imagining a not-well-defined future, is it possible to wish for Google the same destiny occurred to BLOCKBUSTER? I do not have a precise answer, but some more suppositions about its impossibility. At the state of things, it is futile to expect a Google default, precisely because of its own digital nature. The pre-digital late-capitalism had some hidden vulnerabilities. Instead, the ephemeral nature of digital late-capitalism seems to be its best feature. The ephemeral beat of digital late-capitalism bases itself on intertwined not-things. Freedom, weakness, capitalist liquidity, and interconnection of digital platforms exploited paradigms that exploit workers (users) without making the exploitation manifest. Neo-Digital-Capitalist exploitation is ungraspable.(8) It is like the fog. And like the fog, it could become even more pervasive in the upcoming future. Critical theory, a thing that social media users never needed before, became a necessity. We need our generational clash now as never before. Something that displaces the utopic struggles from the realm of last Century to the battlefield of the ephemeral melee of nowadays.

The Alternative

In all this tangle we need to know how to look beyond what we imagined yesterday. Who thinks to repeat the schemes that worked a Century ago is as if, at the beginning of the Twentieth Century, someone had proposed a process of liberation and methods of conflict useful in the era of slavery. It is right from the perspective of the principle. Totally out of time if considering processes that digital capitalism generated. Starting from the flaws, but above all from a spreader state of awareness. We should start working on that ephemeral cage in which we are locked up, in the way to convert it into something that may stay alive last for a day or so.

 

More: linzfmr.at

 

1 en.wikipedia.org/wiki/Google_Ngram_Viewer [February 6th 2019]

2 H. Steyerl, Duty-Free Art, “e-flux Journal” n 63, March 2015.

3 G. Lascault, Ecrits timides sur les visible,  Paris, U.G.E., 1979, p. 10.

4 Google could be associated with a media-state, something that has characteristics of bureaucratic-authoritarianism. The “modern” authoritarianism of Google is a kind of incarnation of new economic rationality which is presumed to be (also) necessary for the development of digital capitalism. Media-state enterprises are the newest form of bureaucratic-authoritarianism. Thus, thanks to these newest forms of state dispositif, emerges a social stratum which is created within the state (the nation-state) and yet which, paradoxically, achieves to some degree a separate basis of power and can eventually clash with the government under given circumstances. In this model, the use of state enterprises is meant to facilitate and legitimate digital-capitalist development and to reinforce their position of power.

5 Do you remember about Google Hangouts? Have you ever used it after 2013? The position of Google concerning accessory services as chat, social media, and photo sharing is kind of creepy. These attempts to contend on the proliferated and diversified business of media-services are everything but competitive. In a few words, a strategic asset or calculated fiascos.

6 It is no coincidence that Paolo Virno talks about art and more generally about creative contexts as anticipating social and economic trends. P. Virno, A Grammar of the Multitude, Cambridge MA, MIT Press, 2004.

7 Who Owns Your Data? Dear reader don not forget that search engines, governments, financial markets, social networks, and law enforcement agencies rely on the digital data market. Something that daily we gift to someone else just because the majority of us do not know how to take blood from a stone.

8 Digital Taylorism is more pervasive than any other former theory of management of the workforce. It mined and weakened any defensive system of whom might have protected the rights of these new subjectivities. Thus, if in one hand we are aware that the exploitation of the digital era is different compared with its own old brother, on the other hand, we must consider some factual alternatives.

„Die Taten werden brutaler“

Seit Beginn dieses Jahres vergeht kaum ein Tag, an dem nicht über die Zunahme von Frauenmorden, die möglichen Ursachen und Hintergründe geschrieben wurde. Eine Zahl dazu: Ein Viertel der ÖsterreicherInnen akzeptiert Gewalt an Frauen. Dieser Prozentsatz ist kein Ergebnis aus grauer Vorzeit, sondern stammt aus einer Untersuchung des Eurobarometers 2016. Silvana Steinbacher mit einer Betrachtung.

Vorbemerkung: Beim ersten Internationalen Tribunal zu Gewalt gegen Frauen in Brüssel 1976 prägte die amerikanische Soziologin und feministische Autorin Diana Russell den Begriff Femizid als eine „von Männern begangene Tötung von Frauen, weil sie weiblich sind.“ Femizide seien – so Russell – tödlich wirkende Hassverbrechen, eine extreme Manifestation von männlicher Dominanz und Sexismus.

DIE Fakten

Am 8. Jänner dieses Jahres wurde eine vierfache Mutter von ihrem Ehemann in Amstetten erstochen, am 11. Februar wurde das achte Attentat an einer Frau in Österreich begangen. Und die tödliche Gewalt ging durchgehend von einer engen, wenn nicht sogar der engsten männlichen Bezugsperson, die diese Frauen hatten, aus.

Die Geschäftsführerin des Gewaltschutzzentrums OÖ Eva Schuh spricht von einem Phänomen. „Wenn ein Mord passiert, folgen mehrere, die Hemmschwelle sinkt dann offensichtlich.“ Und: „Prinzipiell nehmen die Gewalttaten an Intensität zu, die Taten werden brutaler, enden zu oft tödlich.“

DIE Praxis

Im Gewaltschutzzentrum OÖ in der Linzer Stockhofstraße 40 arbeiten zwölf Expertinnen, unter anderem Juristinnen, Sozialarbeiterinnen und Psychologinnen. 2017 suchten dort beinah 14.000 persönlich oder telefonisch Unterstützung, die meisten davon Frauen. Rund 80 bis 85 Prozent jener Opfer familiärer Gewalt, die Hilfe in Schutzeinrichtungen benötigen, sind weiblichen Geschlechts.

Gleich in seinen ersten Amtsmonaten kürzte oder strich die Regierung Subventionen für viele Frauenvereine. Mitte vergangenen Jahres stoppte Herbert Kickl ein Projekt zu Fallkonferenzen, bei denen sogenannte Hochrisiko-Gewaltfälle gegen Frauen von Polizei, Justiz und Interventionsstellen untersucht wurden. Der erhoffte Nutzen für den Opferschutz sei nicht erzielt worden, lautete die Begründung. Doch ExpertInnen sind sich einig: Anzustreben ist vor allem die sogenannte multiinstitutionelle Zusammenarbeit von Staatsanwaltschaft, Justiz und Opferschutzeinrichtungen, denn wiederholt stellte sich nach einer Gewalttat heraus, dass zwar einzelne Stellen über Informationen verfügten, doch die umfassende Vernetzung fehlte.

Kehren wir zurück zu den Kürzungen, von denen das Gewaltschutzzentrum OÖ zwar nicht direkt betroffen ist, sehr wohl aber einige Beratungsstellen, denen jetzt die finanziellen Mittel fehlen, um gewaltbedrohte Frauen zu unterstützen. Entscheidend und nicht zu vergessen ist: Viele Frauen finden oft erst über andere Stellen den Weg zum Gewaltschutzzentrum. Wertvolle Zeit könnte verstreichen.

DIE Regierung

Sprechen wir über die jüngsten Ereignisse. Mitte Jänner stellten Frauenministerin Juliane Bogner-Strauss, Außenministerin Karin Kneissl und Staatssekretärin Karoline Edtstadler bei einer Pressekonferenz fest, dass die Zunahme der Frauenmorde ein Resultat der Flüchtlingswelle 2015 sei. (Es rauschte bereits durch einige Medien, aber ich muss dennoch an eine Fernsehdiskussion erinnern, die mich nachhaltig in Zorn versetzt hat. Am 20. 1. 2019 verkündete Edtstadler in der Sendung Im Zentrum vollmundig, man gewinne den Eindruck, dass hier Nachahmungstäter am Wort seien. Um welches Wort könnte es sich bitte bei Mördern handeln und sollten die Österreicher nachahmen?

Edtstadler bemühte gar die Literatur, und sprach vom Werther-Effekt. (Anm.: Der Begriff geht zurück auf das Auftreten einer Suizidwelle nach der Veröffentlichung von Goethes Roman Die Leiden des jungen Werther im Jahr 1774.) Wenn der Geheimrat wüsste, wofür er nun herhalten muss.

Eva Schuh kennt die Zahlen und widerspricht. „Die zunehmende Gewalt an Frauen ist keine Folge der Flüchtlingswelle 2015. Mir sind die Nationalitäten der Täter bekannt, 6% der Gewalttäter sind aus Staaten von denen seit 2015 Personen nach Österreich flüchteten.“ (Eine Ausnahme bilden allerdings die Morde der allerletzten Zeit, bei denen eine eklatante Mehrheit der Täter Migrationshintergrund aufweist.) „Gewalt an Frauen“, so Schuh weiter „ ist keine Frage der Herkunft, sondern der Machtverhältnisse. Und nach wie vor sind Männer meist die Hauptverdiener der Familien und somit in der dominanten Rolle.“

DIE Gesetze

Gleich vorweg: „An ihnen liegt es nicht, denn wir haben gute Gesetze“, stellt Eva Schuh fest.

Die Task Force Opferschutz und Täterarbeit, geleitet von Karoline Edtstadler, hat jetzt 50 Maßnahmen, gegen Gewalt an Frauen, erarbeitet. Strafverschärfungen, hier sind sich die ExpertInnen einig, verhindern keine Gewalttaten. Doch deren Empfehlungen wurden seitens der Regierung ohnehin nicht integriert. Vielmehr plädieren ProfessionalistInnen etwa für eine bessere Beweissicherung nach Gewalttaten, oder für eine Vereinfachung des Betretungsverbots. Stichwort Betretungsverbot: Derzeit ist die sogenannte Bannmeile im Gespräch. Zurzeit muss der Täter die Wohnung verlassen und darf vierzehn Tage nicht zurückkehren. Dadurch ist die Frau außerhalb des Hauses zu wenig geschützt. In Zukunft sollen sich der Täter zusätzlich nur im Abstand von fünfzig Metern der Frau nähern dürfen.

Eva Schuh, Geschäftsführerin des Gewaltschutzzentrums OÖ spricht einen für sie problematischen Aspekt in der Strafgerichtsbarkeit an: In den schwerwiegendsten Fällen wirken LaienrichterInnen mit. „Mir erscheint es so, als würde man eine Krankenschwester eine schwierige Herz-Operation machen lassen“, sagt sie. „Laien sind nicht gewohnt diese Verantwortung zu tragen, oft kennen sie die rechtlichen Hintergründe nicht, es fällt ihnen schwer, jemandem sechs Stunden konzentriert zuzuhören, zu erfassen, welches Stichwort wichtig sein könnte. Diese Verfahren gehören ausschließlich von BerufsrichterInnen entschieden. “

DIE Reaktionen

Wenn die Frau nicht geht, ist sie selber schuld. Sie muss nur laut genug nein sagen. Wahrscheinlich hat sie ihn provoziert. … Das ist Victim blaming oder Opferbeschuldigung.

Doch durch die Traumatisierung nach einer Gewalttat verhält sich eine Frau nicht so, wie manche es von ihr erwarten. Die betroffene Frau berichtet manchmal vom dramatisch Erlebten, als würde sie von einem Spielfilm erzählen. Ohne diese von ihr geschaffene Distanz könnte sie nicht mit dem Vergangenen leben. Im Gehirn verschieben sich außerdem Zeiten und Abfolgen der Tat, denn würde die Frau die Realität genauso, wie sie sich zugetragen hat, in Erinnerung behalten, könnte sie sie nicht bewältigen. Diese notwendigen Abspaltungen sind aber nur ExpertInnen bekannt, und auch nicht allen. Einige Frauen erhalten so nach dem schrecklichen Geschehen nicht die nötige Zuwendung und Unterstützung, sondern werden zudem mit dem Vorwurf der Lüge konfrontiert. Möglicherweise sucht eine Frau nach dieser Erfahrung beim nächsten Gewaltakt keine Hilfe mehr …

DIE Medien

In einigen Medien wurden die Frauenmorde der vergangenen Wochen als Familientragödie oder auch als Beziehungsdrama bezeichnet. Dies sind euphemistische Termini, die den Mord als beinah schicksalhaften Vorgang wiedergeben. Im Boulevard findet man offenbar zur Steigerung der Auflage teils auch detailreiche Schilderungen der Tat. Keine Frage: Medien können zur Bewusstseinsbildung beitragen, sie können aber auch manipulieren. Mehrfach wird bei Opfern eine (Mit-)Schuld am Mord gesucht, Aussagen des Täters werden unreflektiert übernommen. Doch es soll nicht verschwiegen werden, dass vor allem in den vergangenen Wochen die sogenannten Qualitätsmedien auch einige aufschlussreiche Hintergrundberichte und Analysen lieferten. Und eine – vielleicht auch nur subjektive – Beobachtung zum Schluss: Einige Boulevardblätter halten sich in den vergangenen Wochen zumindest ein wenig bei der Erwähnung der Herkunftsbezeichnung des Täters zurück oder kommentieren sie zumindest nicht wertend.

Die Perspektive Arbeit

Der Arbeitsplatz von gewaltbedrohten Frauen ist ständig in Gefahr. Viele Frauen sind durch die häusliche Situation wiederholt unfähig, ihrer Arbeit nachzugehen. Eine Kündigung, die die Frau noch mehr in die Abhängigkeit des Mannes treibt, ist nicht selten die Folge. Das Projekt Perspektive Arbeit ist ein Projekt des Gewaltschutzzentrums OÖ. Perspektive Arbeit unterstützt die Frauen auf ihrem Weg zurück ins Berufsleben, in unsicheren Arbeitsverhältnissen, bei Behördengängen und bei der Kontaktaufnahme mit anderen Beratungseinrichtungen.

Und damit schließt sich der Kreis, denn wie bereits erwähnt: Gewalt ist eine Frage der Machtverhältnisse, die oft finanziell grundiert sind. Um damit nur diesen einen Aspekt innerhalb dieser komplexen Thematik hervorzuheben.

 

Gewaltschutzzentrum OÖ, Stockhofstraße 40, 4020 Linz
Mo, Mi, Fr: 9–13 Uhr, Di, Do: 9–20 Uhr, Tel.: 0732/607760

Außenstellen an zwei Tagen in der Woche in Freistadt, Ried, Steyr und Gmunden Sprechtage in Bad Ischl, Kirchdorf, Perg und Rohrbach

Der Text wurde mit Stand 18. 2. 2019 erstellt.

Pussy Hats und Cunt Quilts

Sarah Held berichtet über feministische Protestpraxen, aktuelle Diskurse, ästhetisch-kulturelle Interventionen und unter anderem über Strategien gegen den Locker Room Talk.

Stitch’n’Bitch: Hier geht es nicht ums Handarbeiten. Foto Coralina Rodriguez Meyer

Stitch’n’Bitch: Hier geht es nicht ums Handarbeiten. Foto Coralina Rodriguez Meyer

Sexualisierte Gewalt gegen Frauen Stoppen – das fordern seit mehr als 40 Jahren verschiedene feministische (Protest-) Gruppierungen(1). Eine simple und klare Botschaft ist ebenso, dass dabei Hautfarbe oder soziale Herkunft sowie das bei der Geburt zugeordnete Geschlecht keine Rolle spielen sollten. Klingt ziemlich verständlich, auch wenn das nicht immer auf der Agenda feministischer Bewegungen war. Allerdings ist die Forderung einer Gesellschaft ohne sexualisierte Gewalt im Patriarchat eher Utopie als Usus.

Gesellschaftliche Veränderungen können aus verschiedenen Perspektiven angestrebt werden. Innerhalb feministischer Protestpraxen wird der Hebel unter anderem auch mit zeitgenössischen Interventionen gegen sexualisierte Gewalt(-verhältnisse) aus einer künstlerisch-feministischen Position eingesetzt, um die Utopie einer Welt ohne sexualisierte Gewalt ein Stück weit zu verwirklichen. Dabei stehen aktionistische Kunstformen im Vordergrund, die mit textilen Displays, unter anderem bekannt als Critical Crafting, im (teil)öffentlichen Raum arbeiten und so im Popdiskurs erscheinen.

Es werden exemplarisch die pinkfarbenen Pussy Hats, die misogyne Aussagen des aktuellen US-Präsidenten Donald Trump subvertieren und die zum Widerstandssymbol zeitgenössischer feministischer Proteste in der Popkultur avancierten, dargestellt. Wenn hier über das popkulturelle Phänomen der Pussy Hats, gemeint sind pinkfarbene Wollmützen auf Frauen*recht-Demos, geschrieben wird, ist es unerlässlich, kritische Stimmen bezüglich dieser Kopfbedeckung sowie zu der Repräsentationspraxis im Rahmen der feministischen Demonstrationen 2017 abzubilden.

Als Visualisierungsstrategie gemeinsamer Intentionen sind die Pussy Hats als eine Begleiterscheinung der im globalen Westen stattgefundenen Women’s Marches im Januar 2017 aufgetreten.(2) Dabei handelt es sich um handgearbeitete pinke Wollmützen mit Katzenohren, die optisch und sprachlich mit dem Begriff Pussy spielen. Entstanden sind sie als visuelle Metaphorik, um so Protestzeichen gegen Trumps sogenannten Locker Room Talk zu setzen.

Diese Floskel bezieht sich auf einen Gesprächsauszug zwischen Donald Trump und Journalist Billy Bush von der Washington Post. Sie beinhaltet misogyne Aussagen und zeigt den zutiefst sexistischen Habitus des US-Präsidenten.(3) Die aus dem „lockeren Herrengespräch“ resultierende Phrase „Grab ’em by the Pussy“, ging viral und wurde von Feminist*innen ironisch aufgegriffen. Im Rahmen der Demonstrationen dienten die Pussy Hats als visuelle Chiffre für Protest auf den Women’s Marches(4). Die Demonstrationen standen in der Kritik, einen weißen Differenzfeminismus, in dem sich nur die Gruppe der weißen bürgerlichen Frauen abbilden ließe, aufrechtzuerhalten. Schwarze Frauen, Women of Color, Transfrauen und andere marginalisierte und intersektional betroffene Frauen*gruppen würden (erneut) vom feministischen Massenaufbegehren nicht mitgedacht werden. Genau auf dieses Unsichtbarmachen und Exklusionsmechanismen machten beispielsweise schon bell hooks und Angela Davis in den 1970er Jahren vehement aufmerksam. Ihre Kritik bezüglich der oben genannten Ausschlussmechanismen ist immer noch aktuell. Absolut berechtigte Kritiken gab es auch bezüglich antisemitistischer Positionen durch Mit-Organisatorin und Sprecherin Linda Sarsour. Die hier vollständigkeitshalber genannt, aber weiters nicht mehr aufgegriffen werden.

Die oben genannte Kritik an feministischen Protestpraxen in den USA wird auf die Pussy Hats übertragen. Auch sie werden angeprangert, für ausschließende Feminismen zu stehen, denn aufgrund ihrer Farbe würden sich nur weiße Frauen in die pinke Widerstandssymbolik einschreiben können. Des Weiteren wurde betont, sie seien transexklusiv, da nicht alle als Frauen gelesenen Personen über eine biologische Vulva bzw. Vagina verfügen; somit sei der Begriff Pussy für diese Gruppe ebenfalls diskriminierend.(5) Diese Kritik lässt sich von der ästhetisch-bildsprachlichen Ebene aus jedoch einfach dekonstruieren, denn die Politiken der visuellen Kultur funktionieren anders als individualpolitische Ansätze. Die Pussy Hats fungieren als visuelle Vereinheitlichungsstrategie der unterschiedlichen Anliegen der Subjekte, die sich gegen Trumps sexistische Aussagen auflehnen wollen, egal welcher Hautfarbe und egal welches Geschlecht ihnen bei der Geburt zugeordnet wurde. Es muss in dieser Diskussion danach gefragt werden, ob nun gemeinsam gegen phallogozentristische Diskurse interveniert wird oder die divers strukturierte Kategorie Frau* visualisiert werden soll, zumal es sich bei der visuellen Retourkutsche um ein ironisches Statement handelt, das nicht funktionieren würde, wenn der Begriff Pussy nicht aufgegriffen werden würde. Um bei den Mechanismen der visuellen Kultur zu bleiben, kann an dieser Stelle mit der „Macht der Evidenz“6 argumentiert werden: Das Meer aus pinkfarbenen Mützen, zu dem die einzelnen Subjekte verschmelzen, steht für eine große Masse, die sich visuell eindeutig als Opposition zu Trump, stellvertretend für heterozentristischen Sexismus im Patriarchat, positioniert. Als allegorische Funktion im feministischen Protest ist ein intertextuelles Wirken von Bildsprache und Text („Grab ’em by the pussy“) völlig voneinander abhängig. Das bedeutet, dass die subversive Affirmation, die durch das Tragen von pinken Katzenmützen visualisiert wird, ohne das Benennen des Begriffes überhaupt nicht zustande kommen könnte. Zumal die Kritik, der pinke Farbton stünde ausschließlich für die Vulven von weißen Frauen und der Terminus Pussy exkludiere Transpersonen, hinsichtlich der Allegoriefunktion des Pussy Hats beim Tragen auf der Demo aufgrund der Ambiguität des Begriffes hinfällig ist. In der Mehrdeutigkeit liegt das Potential, denn schließlich wird mit den Katzenohren auch eindeutig auf die weniger vulgär konnotierte Bedeutung des Pussy-Begriffes angespielt.

Als weiteres Beispiel für künstlerischen Aktivismus zum Aufzeigen gesellschaftlicher Missstände sei an dieser Stelle der Cunt Quilt erwähnt, der sich ebenfalls mittels bildsprachlicher Bewaffnung gegen Trumps Misogynie auflehnt. Die New Yorker Künstlerin Coralina Rodriguez Meyer rief im Internet dazu auf, ihr getragene Unterwäsche zu zuschicken, um daraus den Cunt Quilt, in Stitch’n’Bitch-Sessions zu fertigen.(7) Die Künstlerin animiert zudem, ihre Adressat*innen dazu, die besonders dreckigen mit diversen Körperflüssigkeiten benetzten Exemplare einzureichen. Ihr Anliegen ist es, so lange getragene Wäsche zu sammeln und öffentlich im Cunt Quilt zu zeigen, bis es eine Präsidentin in den USA gibt.

Der Cunt Quilt steht somit in der Tradition abjektiver Kunstpraxen, wie sie vor allem in den 1970er Jahren im Kontext der zweiten Frauenbewegung von Künstlerinnen wie Ana Mendieta oder Cindy Sherman umgesetzt wurden. Abjektion leitet sich aus dem Französischen her und meint Niedrigkeit oder Verworfenheit. Die Abject Art arbeitet häufig mit Ekel erzeugenden Substanzen wie Kot, (Menstruations)Blut, diversen Körperflüssigkeiten und evoziert durch diese transgressiven Praktiken gesellschaftlich akzeptierter Erwartungshaltungen provokative Tabubrüche. Die genannten Kunstpraxen werden häufig mit Attributen wie „verstörend“ und „irritierend“ oder schlicht „ekelhaft“ versehen, können aber dennoch als witzig interpretiert werden. Auch der Cunt Quilt ist im Zuge des Locker Room Talks entstanden und wurde zu Demonstrationszwecken im öffentlichen Raum bei den Women’s Marches verwendet. So kann die Praxis als performatives „dreckige Wäsche waschen“ gelesen werden, um auf Sexismus und Misogynie mittels künstlerischem Handelns im öffentlichen Raum aufmerksam zu machen.

Die dargestellten künstlerischen Interventionen verstehen sich somit als Zusammenschluss aus verschiedenen diskursiven Strategien, die gemeinsam mit weiteren soziokulturellen oder auch legislativen Eingriffen in den gesellschaftlichen Ist-Zustand eine strukturelle Veränderung erzeugen möchten: Ein gleichberechtigtes Miteinander der Geschlechter, ohne biologische Determinierung, sexualisierte Gewalt oder Klassen- bzw. Ethniendiskriminierung. Die Forderung ist eigentlich gar nicht so utopisch.

 

1 Vgl. Force Upsetting Rape Culture oder The Antirape Movement in Barrie Levy: Women and Violence. Berkeley: Seal Press, 2008. S. 135–164.

2 www.theguardian.com/lifeandstyle/live/2017/ jan/21/womens-march-on-washington-and- other-anti-trump-protests-around-the-world-live-coverage (aufgerufen 28. 03. 2018)

3 www.nytimes.com/2016/10/08/us/donald-trump-tape-transcript.html (aufgerufen 28. 03. 2018)

4 Der 2017 mit drei bis vier Millionen Teilnehmenden der größte Protestaufmarsch in der US-Geschichte war.

5 www.iwf.org/blog/2805547/Distinctive-P- Hat-Deemed-Offensive-to-Transgender-Women (aufgerufen 28. 03. 2018)

6 Sigrid Schade; Silke Wenk: Studien zur visuellen Kultur. Einführung in ein transdisziplinäres Forschungsfeld. Bielefeld: Transcript, 2011.

7 www.dazeddigital.com/artsandculture/article/34401/1/carolina-meyer-wants-your-dirty-knickers-for-her-cunt-quilt (aufgerufen 28. 03. 18)

Popkulturelle Sextherapie im Abbruchklo

Die Coming-Of-Age-Serie „Sex Education“ dreht sich um das Sextberatungsprojekt „Clinic“, das an der Morendale High von der toughen Meave initiiert wird. Sarah Held hat sich die Serie angesehen und stellt hier einige Charaktere mit ihren toxischen bis vulnerablen Männlichkeitskrisen vor. Auch wir meinen: quite zeitgeisty.

Schauplatz der postmodernen Teenie-Sextherapie. Foto Netflix

Schauplatz der postmodernen Teenie-Sextherapie. Foto Netflix

In der von Maeve kurzerhand aus Geldnot initiierten „Clinic“ übernimmt der schüchterne Otis die Rolle des Sextherapeuten. Trotz seiner Jungfräulichkeit kann er aufgrund seiner Erziehung sowie des heimlichen Belauschens der Therapiesitzungen bei seiner Mutter Jean, renommierte Sex- und Paarpsychologin, in dieser Rolle agieren. Die hormonelle Achterbahn des adoleszenten Klientels der Moredale High wird von nun an im asbestverseuchten Abbruchklo der Schule therapiert.

Die Serie bietet eine große Auswahl divers angelegter Identifikationscharaktere, darüber hinaus auch eine Vielzahl interessanter Untersuchungsaspekte – eine thematische Fokussierung ist besonders schwer. Meine Wahl fällt auf die Thematisierung von toxischer Männlichkeit, personifiziert durch Adam Groff, Sohn des Schulleiters, ein Bully, der zwar mit einem immens großen Penis ausgestattet ist, aber unter einer psychosomatischen Dysfunktion leidet. – Adam kann nicht abspritzen. Kontrastierend hierzu ist er mit einem Repertoire vermeintlich typisch maskuliner Eigenschaften ausgestattet, denn er verkörpert die heilige Dreifaltigkeit idealisierter Maskulinität, bestehend aus stattlicher Größe inkl. körperlicher Stärke, Brutalität und wortkarger Verschlossenheit. Er entspricht somit Archetypen wie John Rambo, John Wayne oder John McClaine. Deshalb führe ich an dieser Stelle den Modellbegriff Testo-John als semiotische und somatische Schablone für hegemoniale Männlichkeit ein. Folgt man dem sozialen Script, das dieser Persona zugrunde liegt, ist es absolut nicht verwunderlich, dass Adam im Staffelfinale post-koital homophobe Züge aufweist. Denn während einer Arrestsitzung haben er, bisher als heterosexuell inszeniert, und sein bevorzugtes Objekt der Drangsalierung, Eric, Sex. Letzterer ist ein queerer Charakter, der seine Vorlieben für Crossdressing und Make-Up trotz sozialer Repression und Gewalt auslebt. Dessen Gesprächsversuche über die sexualisierten Handlungen werden von Adam strikt verboten und mit Gewaltdrohungen unterstrichen, falls Eric je mit anderen darüber sprechen sollte. Ironischerweise ist es Adam, der danach im Unterricht heimlich körperliche Nähe zu Eric sucht. Dieses Handlungsmuster deckt sich ebenfalls mit der Persona Testo-John, da echte Männer schlicht keine Worte, sondern nur Taten benötigen und vor allem schon gar nicht schwul bzw. bi sind.

In Adaption bester freudscher Manier suche ich die Ursache für Adams (Fehl)verhalten natürlich beim Vater. Schulleiter Groff gehört ebenfalls der Kategorie Testo-John an und sozialisiert Adam dementsprechend. Das Verhältnis von Sohn und Vater ist durch Strenge, Repression, Sanktionen, sozio-emotionalen Druck und Härte geprägt. Das lässt kaum Raum für liebevollen Umgang und positive Bestärkung. Die stereotype Emotionspalette erlaubt nur eine asymmetrische Gefühlsperformance, alle affektiven Regungen, die nicht dem aggressiven Spektrum angehören werden pauschal als feminin, wenn nicht gar direkt als schwul und damit schwächlich deklariert. Zeichen der Zuneigung zeigt Groff Sen. öffentlich gegenüber dem Schulsportstar Jackson und impliziert Adam somit unverkennbar die eigenen Defizite und zementiert das unterkühlte Vater-Sohn-Verhältnis. Dabei ist hervorzuheben, dass die positive Bestätigung weniger echter Sympathie zur Person Jackson, denn mehr von finanzieller Begabtenförderung motiviert wird. Das starre Unvermögen des Familienpatriarchen wird durch den emotionalen Sozialkitt der Mutter versuchsweise ausgeglichen. Gleichzeitig nutzt der Vater Groff die Vulnerabilität der Mutter als Druckmittel gegen Adam. Konservative (Familien)Politik der harten Hand wird als restriktives Modell inszeniert, das im Privaten (wie auch im Politischen) zum Scheitern verurteilt ist.

Vulnerable Maskulinität

Eric ist als gegensätzliche Figur zu Adam lesbar. Gerade das Verhältnis zwischen Eric und seinem Vater eignet sich als Kontrastfolie, obwohl der religiöse Vater einem ähnlichen sozialen Script wie Schulleiter Groff folgt, denn er ist vom Schwul-Sein seines Sohnes irritiert und leistet im ersten Teil der Staffel wenig Unterstützung. Nach einem tätlichen homophoben Übergriff auf Eric scheint dieser zwar für einige Zeit gebrochen und wählt einen gedeckten Kleidungsstil, findet aber durch schwule Rolemodels zu seiner schräg-schrullig-queeren Identitätsperformance zurück. Sein Vater macht ebenfalls einen Entwicklungsprozess durch und erkennt endlich seinen Sohn in all seinen Persönlichkeits-Facetten an. Weiters leistet er den nötigen väterlichen Support mit emotionaler Care-Arbeit. Die Serie zeichnet ihn somit als wandelbaren Charakter, der bereit ist, sich aufgrund sozialer Verhältnisse zu verändern.

Protagonist Otis ist auch kontrastierend zur Persona Testo-John angelegt. Bei ihm wird deutlich ein Identitätsmuster gezeichnet, das signalisiert, das auch durch die hyper-liberale und offene Erziehung der Mutter ebenfalls Defizite ausgebildet werden können. Die Sextherapeutin überfordert bzw. beeinträchtigt Otis mit ihrer direkten Art in seiner Entwicklung. Als Folgeerscheinung hat er Masturbations- und Sexprobleme. Zudem ist sie überwachend, beispielsweise, wenn sie Otis bei einem Partybesuch hinterherfährt. Die Situation wird von Adam treffend mit „I thought my parents were controlling!“ kommentiert.

Abschließend

Sex Education dient als Trojanisches Pferd für queer-feministische Anliegen. Die Serie zeigt Themenkomplexe von kriselnder Männlichkeit, das Aufheben von Klassenunterschieden, die Implementierung lesbischer Ehe als scheinbar normative Bilderbuchfamilie sowie die Inszenierung von tougher Weiblichkeit, außerdem markiert sie Queer-Sein als cool. Pointiert und selbstreferenziell wird das Thematisieren von Männlichkeit in der Krise in der letzten Folge als „quite zeitgeisty“ bezeichnet.

Neben der Darstellung verschiedener Tücken der Pubertät sind Personalitätsentwürfe, die Fehler machen und auch mal scheitern dürfen, omnipräsent. Das ist eine interessante Entwicklung, denn in den vergangenen Jahrzehnten wurden in der Popkultur tendenziell eher Teenie-Figuren gezeigt, die der Mainstream-Idee von Coolness entsprechen, man denke dabei insbesondere an diejenigen 80er-Jahre High-School-Filme, die coole Cliquen und Popular-sein als non plus ultra stilisierten. Etwas Ähnliches geschieht bei Sex Education auch, aber mit einer großen Portion ironischer Reflexion, wenn beispielsweise Aimee zwar als „most popular girl in school“ inszeniert wird, aber eigentlich unter ihren Cool-Kids-Freund*innen leidet und heimlich mit der von ihnen als asozial bezeichneten Maeve befreundet ist.

Abschließend ist für mich zu sagen, dass mir Sex Education in meiner Rolle als Kulturwissenschaftlerin, Genderforscherin sowie als profane Konsumentin einfach total viel Spaß macht; zumal auch diese Serie mit einem großartigen Soundtrack auffährt.

„Wir müssen furchtlos gegen den Strom schwimmen.“

Das kollektive Gedächtnis und ihre Gedächtnisverluste: Olga Misar war unerschütterlich in einer Vielzahl früher emanzipatorischer Bewegungen engagiert. Die 1876 in Wien in eine jüdische Textilhändlerfamilie geborene feministische Autorin, Rednerin und Organisatorin portraitiert Brigitte Rath.

Bild Nachlass Leopold Spitzegger, Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich, Universität Graz.

Bild Nachlass Leopold Spitzegger, Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich, Universität Graz.

Nur wenige Frauen dominieren den österreichischen Kanon der Ersten Frauenbewegung. Die bürgerliche Feministin, Philosophin und Multifunktionärin Rosa Mayreder und die sozialdemokratische Feministin und Abgeordnete zum Nationalrat Adelheid Popp gehören dazu. Dass diese Bewegung ein weitverzweigtes Netzwerk mit einer Vielzahl von – zum Teil heute unbekannten – Aktivistinnen unterschiedlicher politischer Herkunft war, bleibt dabei oft ausgeklammert. Eine dieser Aktivistinnen, die in ihrer Zeit sehr bekannt war und heute kaum mehr erinnert wird, ist Olga Misar. Sie war in unterschiedlichen emanzipatorischen Bewegungen engagiert, überschritt die Grenzen traditioneller Frauenpolitik und trat als aufmerksame politische Beobachterin und Kommentatorin in Erscheinung.

Die am 11. Dezember 1876 in Wien in die jüdische Textilhändlerfamilie Popper geborene Olga verbrachte ihre Jugend in England und heiratete 1899 – sie war inzwischen zum evangelischen Glauben übergetreten – den Mittelschulprofessor und Freimaurer Wladimir Misar, späteren Sekretär der Großloge Wien. Im Jahr 1900 bekam das Paar die Zwillinge Olga und Vera.

Love and Peace

Seit 1908 trat Olga Misar als Referentin zu diversen Themen in der bürgerlichen Frauenbewegung auf. Mitgliedschaften in unterschiedlichen bürgerlichen Frauenvereinen, wie dem Stimmrechtsverein oder dem Allgemeinen Österreichischen Frauenverein (AÖF), kennzeichneten ihr Engagement. Als Journalistin für den Österreichischen Bund für Mutterschutz von 1911 bis 1912 setzte sie sich für die Entdiskriminierung unehelicher Mütter ein, forderte eine Legalisierung von Abtreibung und die Einführung von staatlichen Unterstützungen bei Geburten. Politische Erkenntnisse und persönliche Erfahrungen – sie hatte eine länger andauernde Liebesbeziehung neben ihrer Ehe – führten dazu, dass sie 1919 die 60 Seiten umfassende Broschüre „Neuen Liebesidealen entgegen“ veröffentlichte. In dieser sexual-ethischen Schrift kritisierte sie die bürgerliche Ehe als einzige Form legitimer Sexualität, analysierte den Einfluss der Religion und sparte auch nicht mit Vorwürfen gegen die konservative Haltung der bürgerlichen Frauenbewegung.(1)

Im Weltkrieg war die Mehrzahl der Frauen patriotisch gesinnt und trat für soziale Unterstützung an der Heimatfront ein. Gemeinsam mit einer kleinen Gruppe von gleichgesinnten Frauen, die im genannten AÖF engagiert waren, entwickelte Misar ein friedenspolitisches Engagement. Dies bedeutete eine Überschreitung der traditionellen Frauenrolle bis hin zu einer Einmischung in die allgemeine Politik. Ihren Überlegungen lagen geschlechtsspezifische Zuschreibungen und Differenzierungen, z. B. Vorstellungen einer stärkeren Friedensliebe von Frauen, zugrunde. Gemeinsam mit der Journalistin und Feministin Leopoldine Kulka, mit der sie eine enge Freundschaft verband, nahm sie an der internationalen Frauenfriedenskonferenz in Den Haag im April 1915 teil. Bei diesem außergewöhnlichen Treffen von Frauen aus kriegführenden und neutralen Ländern wurden mögliche Friedenslösungen diskutiert und die Unabdingbarkeit des Frauenwahlrechts gefordert.

Mut gegen den patriotischen Mainstream aufzutreten bewies Olga Misar durch ihre Beteiligung an weiteren Friedensversammlungen während des 1. Weltkrieges, die ab 1917 vermehrt abgehalten wurden. – Wohl nach dem amerikanischen Vorbild der Women’s Peace Party – engagierte sie sich auch in der 1917 gegründeten Friedenspartei. Das Engagement in der ab 1919 als Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit (IFFF) bezeichneten Organisation behielt Misar – in unterschiedlicher Intensität – bis zu ihrem Tod im Oktober 1950 bei. Bei der 3. Internationalen Tagung der IFFF 1921 in Wien brachte sie das „Gelöbnis keinen Waffendienst zu leisten“ ein.(2) Dem Gelöbnis für den Kriegsdienst, das bei der Aufnahme in die Armee zu leisten war, stellte sie eine frühe Form des Slogans der Friedensbewegung der 1970er Jahre – „Stell dir vor es ist Krieg und keiner geht hin“ – entgegen. Ihre Hinwendung zum Antimilitarismus war stark von den Theorien des österreichischen Anarchisten Rudolf Großmann, (als Pseudonym Pierre Ramus) getragen, mit dem sie auch eine Freundschaft verband. Dieser Publizist, Redner und Aktivist war wesentlich im Bund herrschaftsloser Sozialisten engagiert und gab die Wochenzeitschrift Erkenntnis und Befreiung heraus. In dieser Zeitschrift publizierte Misar etwa über Gewaltlosigkeit oder gegen die Einführung eines Berufsheeres. Die begabte Rednerin reiste häufig in kleinere Orte, beispielsweise in der Steiermark, wo der Bund herrschaftsloser Sozialisten viele Mitglieder begeistern konnte, um dort über Antimilitarismus oder das Engagement von Frauen für den Frieden zu referieren.

Frauenwahlrecht

Als Frauen im Jahr 1919 bei den ersten Wahlen das aktive und passive Wahlrecht erhielten, kandidierte Olga Misar für eine der zahlreichen bürgerlichen Parteien, der Demokratischen Mittelstandspartei. Diese hatte der Multifunktionär, Schriftsteller und Abgeordnete zum Reichsrat Ernst Viktor Zenker im Oktober 1918 ins Leben gerufen. Auf ihrem Programm standen Frieden, die Einführung der Zivilehe, eine Ablehnung des Anschlusses an Deutschland und stattdessen die Forderung nach einem wirtschaftlichen Zusammenschluss mit Nord- und Südslawen. Mit dieser Forderung stand die Partei im Gegensatz zu fast allen anderen Parteien. Misar betrieb einen intensiven Wahlkampf und im Winter 1919 trat sie beinahe täglich bei Wahlveranstaltungen auf.

In welchem Ausmaß antifeministische Schmähungen in dieser Zeit auch bei Intellektuellen verbreitet waren, zeigt folgender Eintrag in der pazifistischen Wiener Wochenzeitschrift „Der Friede“. Der bekannte Journalist Anton Kuh schrieb am 25. Oktober 1918 in der Rubrik „Deutschösterreichisches“: „Man liest jetzt in der Zeitung viel von radikalen Versammlungen. Es sprechen unter anderen: ,Reichsratsabgeordneter Neumann, Bezirksvorsteher Blasel, Frau Professor Misar.‘ Kein Zweifel: Wien steht vor einer Rohövolution.“(3) Mit Rohö war die Reichsorganisation der Hausfrauen Österreichs gemeint, deren Vorsitzende Helene Granitsch für die Bürgerlich Demokratische Partei kandidierte. Ziel dieser misogynen Schmähung wurde jedoch Olga Misar, die keine Verbindung zur Rohö hatte. Die Bedeutung transnationalen Austauschs innerhalb der Frauenbewegung wird auch sichtbar als Misar zwei Jahre später, nach ihrem Misserfolg bei den Wahlen von 1919, für die schwedische feministische Zeitschrift Hertha. tidskrift för den svenska kvinnorörelsen (=Hertha: Zeitschrift für die schwedische Frauenbewegung) die Entwicklung der Repräsentanz von Frauen im parlamentarischen System beschrieb. Kritisch stellte sie fest, dass Parteien qualifizierte Frauen oft an unwählbarer Stelle hinter mittelmäßigen Männern reihten und nur die Sozialdemokratische Partei ernsthaft für die Rechte der Frauen eintrat. Bürgerliche Frauen seien von der wirtschaftlichen Not besonders betroffen und daher nicht in der Lage sich politisch zu engagieren.(4)

Ihr eigenes Engagement konzentrierte sich in den 1920er Jahren auf die Organisation des Bundes der Kriegsdienstgegner, für den sie unermüdlich Vorträge hielt, Demonstrationen organisierte, an Kongressen teilnahm, und eine Vielzahl von Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln veröffentlichte. Von 1923 bis zu seiner behördlichen Auflösung 1936 war sie als Sekretärin dieser Organisation tätig.

Wie schwierig es war, in einer Situation ständig steigender physischer Gewalt einen Diskurs über Frieden und Kriegsdienstgegnerschaft zu führen, lässt sich immer wieder feststellen. Bei einer Versammlung im Jahr 1926 äußerte sie über die Arbeit der Kriegsdienstgegner Folgendes: „Wir müssen furchtlos gegen den Strom schwimmen, uns nicht durch Schmähungen oder Hohn beirren lassen. Wer gegen den Strom zu schwimmen wagt ist eine Kraft und wirkt als solche; wer mit dem Strom schwimmt, wird von ihm mitgeführt und wirkt überhaupt nicht als selbstständige Kraft, wird vom Strom verschlungen.“(5)

1928 organisierte sie in Sonntagsberg bei Waidhofen an der Ybbs das 2. Internationale Treffen der War Resisters International, der transnational agierenden Dachorganisation der Kriegsdienstgegner, an dem über hundert Teinehmer aus aller Welt gezählt wurden.

In den folgenden Jahren beteiligte sie sich an Zusammenschlüssen der zersplitterten Friedensorganisationen. Für diesen Zusammenschluss lud sie im Oktober 1931 Mahatma Gandhi mit folgenden Worten nach Wien ein: „All of us would be happy and honoured if we could once in our lives see Gandhi, who is for us the personification of non-violence and who has practically realised our ideal.“(6) Den Brief adressierte sie an Gandhi, London. Dieser erreichte ihn auch; allerdings konnte er die Einladung nicht annehmen.

Exil in England

Im April 1939 flüchteten Olga und Wladimir Misar ins englische Exil nach Enfield, nördlich von London. Während des Krieges blieb ihr politisches Engagement beschränkt. 1946 äußerte sie sich noch in gewohnt optimistischer und kämpferischer Weise brieflich bei der Tagung der IFFF, dass es in der Zukunft neue Methoden des Friedensaktivismus brauche.(7)

Nach Olga Misars Tod im Jahr 1950 beschrieb die Vorsitzende der englischen Gruppe der Women’s International League for Peace and Freedom (WILPF), Barbara Duncan Harris, in ihrem Nachruf ebenfalls die optimistische Einstellung von Misar, die bei einem Meeting, in dem die Frage des fehlenden Nachwuchs problematisiert wurde, geäußert hätte:  „I am old, and I am poor, but I have gathered a few women together to interest them in the WILPF.”(8) Olga Misar war unerschütterlich in einer Vielzahl emanzipatorischer Bewegungen engagiert und sollte daher stärker im kollektiven Gedächtnis verankert sein!

 

 

1 Olga Misar, Neuen Liebesidealen entgegen, eingel. von Brigitte Rath, Reprint von 1919, Wien 2017.

2 Wiederabgedruckt in: Beatrix Müller-Kampel (Hg.), „Krieg ist Mord auf Kommando“ Bürgerliche und anarchistische Friedenskonzepte, Bertha von Suttner und Pierre Ramus, Nettersheim 2005, 247–249.

3 Der Friede, Bd. 2, Nr. 40, 25. 10. 1918, 315.

4 Olga Misar, Österrikiskorna och de politiska partierna. (Die Österreicherinnen und die politischen Parteien), in: Hertha. Tidskrift för den svenska kvinnorörelsen, 1, (1921), 8–10.

5 Bund der Kriegsdienstgegner Österreichs, in: Erkenntnis und Befreiung, 7/10 (1926), 2–3.

6 Brief von Olga Misar an Gandhi vom 22. Oktober 1931, Archiv des Sabarmati-Aschrams. Gandhi befand sich zur zweiten britisch-indischen Round-Table Konferenz von September bis Dezember 1931 in London.

7 Letter from Olga Misar, in: X. International Congress of the Women’s International League for Peace and Freedom, Luxembourg, Geneva 1946, 64–65.

8 In: Pax International, 16/5 (1950), 3.

Linz und der NS, wir und der NS

Erinnerungskultur in der ehemaligen Führerstadt Linz: Anlässlich abgesagter Stolpersteine und einem neuen Gedenkprojekt hält Wolfgang Schmutz ein Plädoyer für ein herausforderndes Erinnern.

Im Erinnern an den Nationalsozialismus sollte Konsens herrschen, so meint das historisch aufgeklärte, antifaschistisch gesinnte, verantwortungsbewusste Österreich, ich nenne sie einmal: die Wohlwollenden. Das sei doch selbstverständlich, in einem Land mehr als 70 Jahre danach, obwohl, ja, mit einer zäh erkämpften Anerkennung der Opfer und einem spät erfolgten und trüben Blick auf die Täterschaft. Aber mit öffentlichen Bekenntnissen der Staatsspitzen, die, zugegeben, in der Regel umfangreicher ausfielen, als die tatsächlichen Entschädigungen oder Förderungen von Gedenkstätten und Erinnerungsprojekten. Aber immerhin. Die Mission Anerkennung sollte, gibt man sich nur ein wenig bescheiden, erfüllt sein. Aber war es jemals angebracht, hier bescheiden zu sein?

Darüber rede und schreibe ich schon ein paar Jahre. Vielleicht zu offensiv, zu ungestüm, nicht einladend genug. Jedenfalls hat noch kaum jemand öffentlich darauf reagiert. Zustimmung ist, was ich im Halbschatten ernte, was zur Seite gesprochen wird, aber nicht geradewegs in die Mikrofone. Aber auf welche Resonanz sollte meine Kritik auch stoßen, wenn die Selbstzufriedenheit, zumindest etwas bewegt zu haben, stets einnehmender ist und sich auch besser mit dem Pathos des „Nie wieder!“ vereinbaren lässt? Ein Pathos ohne Erfolge wirkt schal, und niemand müht sich gerne umsonst ab. Das gilt auch für mich, den Kritiker. Gefalle ich mir zu sehr in meiner Rolle? Öffne ich oder schließe ich Zugänge? Gehe ich zu weit, weiter als man mir folgen möchte? Worauf ich abziele, ist ein Diskurs (widersprecht mir!), jedenfalls ein Prozess, in dem möglichst viele entdecken, wie sie ihren Zugang zu einer schwierigen Geschichte finden und den Ereignissen auf den Grund gehen können. Und was es heißt, dazu Stellung zu beziehen. Ich bin der mit dem Bildungspathos.

Geschichte als Flachware und die Utopie des Erinnerns

Es geht mir aber nicht um feststehende Lektionen, wie etwa: Töten ist schlecht! Antisemitismus ist schlecht! Rassismus ist schlecht! Dazu brauchen wir den Holocaust nicht, das ist kein Lernen im eigentlichen Sinn, und das verzerrt am Ende nur das historische Bild, wie es der Didaktiker und Kurator Paul Salmons präzise formuliert. Je voreingenommener wir in die Vergangenheit blicken, desto weniger sehen wir. Tun wir es mit einer zu spezifischen Agenda, moralisch, politisch, ideologisch, filtern wir die Widersprüche heraus. Was eigentlich geschehen ist, wird zugunsten einer wohlfeilen Lektion vereinfacht, wie es genau geschehen ist, muss dafür in den Hintergrund treten. Blicken wir etwa auf Opfer, Täter*innen, Bystander, Widerständige als abgezirkelte Gruppen, als feststehende und unveränderliche Rollen? Bad guys and girls against good ones? Es ist viel komplizierter, viel komplexer als uns lieb ist, als mir lieb sein kann. Je tiefer ich in die Geschichte schaue, je mehr ich mich mit den Akteuren, ihren Entscheidungen und Handlungen beschäftige, desto verwirrter werde ich, einerseits. Andererseits erkenne ich mich mehr und mehr wieder, entdecke meine Verwandtschaft, meine eigenen Kapazitäten als Mensch.

Ich rede hier nicht von Opferschaft. Zu dieser Gruppe kann ich niemanden zählen, der zu meinen Vorfahren gehört. Und das gilt für die Allermeisten. Außerdem entscheiden die Opfer nicht, Opfer zu werden, aber Täter zu sein, dazu kann sich jede*r entscheiden. Und Täter*innen brauchen Dritte, die Täter*innenschaft ermöglichen und Opferschaft zulassen. Diese Dritten sind in der Regel die Mehrheit. Eine Mehrheit, mit der wir uns historisch aber so gut wie gar nicht beschäftigen. Wenn, dann nur als naive, jubelnde, verführte oder geblendete Masse. Nie mit Individuen, die nachdenken, abwägen, sich entscheiden, sich im Sinne der eigenen Interessen verhalten und handeln. Wir setzen uns kaum mit den Beweggründen dieser Mehrheit auseinander, mit jener Position, die wir am wahrscheinlichsten innehaben würden, die unsere Vorfahren mehrheitlich innehatten. Stattdessen widmen wir uns immer wieder den Opfern, in Bildungskontexten wie im Gedenken, wir leiten die entscheidenden und drängendsten Fragen auf sie um, und diese damit von uns selbst weg. Wir benutzen die Opfer als Totem unserer mangelnden Verantwortung und nennen es würdiges Erinnern. Ist es das? Anerkennen wir damit wirklich ihre Opferschaft? Was laden wir ihnen damit zusätzlich auf? Niemand ist dafür gestorben, dass wir Töten für schlecht halten können. Diese Instrumentalisierung der Geschichte, die Verflachung der Ereignisse und ihrer Protagonisten macht unseren Blick auf den Nationalsozialismus zur rückwärtsgewandten Utopie: So wie wir mit ihr umgehen, wird die Vergangenheit nie gewesen sein.

Zeichen und Bezeichnetes

In der Ausgestaltung des Erinnerns hat sich diese Utopie, haben sich deren Formen längst festgesetzt. Heroische Monumente gehören zum festen Inventar von Gedenkstätten. Sie suggerieren, dass KZ-Häftlinge für die Freiheit von ganzen Nationen gestorben wären, sie erzählen von der Selbstvergewisserung europäischer Länder, jeweils Opfer gewesen zu sein und lenken das Scheinwerferlicht weg von Kollaboration und Duldung. Alles ist auf das Opfererinnern zugeschnitten. Das ist per se nicht falsch, denn mit dem Anerkennen der Opfer fing es an. Das Problem ist, damit hört es bis heute meistens auch auf. Wir haben keine Form entwickelt und generell kaum eine Sprache dafür, wie wir der Täterschaft und deren Unterstützung erinnern könnten. Es schwingt manchmal mit, aber explizit, geschweige denn zu einem Fokus wird es nicht.

Jüngere Formen des Gedenkens haben sich von der heroischen Formensprache verabschiedet, künstlerische Gestaltungen machen vielschichtige Perspektiven auf. Und doch fokussieren sie nach wie vor auf die Opferschaft. Auch die Stolpersteine tun das. Ihre Stärke besteht aber darin, jene Stellen zu markieren, an denen die Opfer ihren letzten frei gewählten Wohnsitz hatten. Sie liegen vor Häusern, im öffentlichen Raum, durchsetzen und markieren, was wir nicht a priori als geschichtlich relevante Umgebung betrachten würden. Die Stolpersteine verweisen darauf, dass es in einer Nachbarschaft seinen Anfang nahm, dass die Opfer aus der Mitte einer Gesellschaft rekrutiert wurden. Sie sind ein Türöffner zu dieser Dimension der Taten. Auch wenn sie nicht ansprechen, wie die Deportationen abliefen, aufgenommen und angenommen wurden. Aber auf dieses Ausbuchstabieren käme es an.

Worüber wir nicht stolpern sollten

Trotz dieser Einschränkungen: Ich habe die Petition für Stolpersteine in Linz unterschrieben. Weil es ein dezentrales Erinnern ist, das in die Gesellschaft hineinreicht, den öffentlichen Raum bespielt und dadurch die Erinnerung an den entscheidenden Ort bringt. Ich habe unterschrieben, weil die Gegenwehr des Linzer Bürgermeisters kaum nachvollziehbar war, er durchsichtig argumentierte und dies obendrein im Brustton einer proto-autokratischen Überzeugung vorgetragen hat. Aber um ihn soll es hier nicht gehen. Die Stadt, das ist nicht ihr Bürgermeister! Die Petition half jedenfalls, es gab ein Einsehen. Und nun, da ein Gedenkprojekt beschlossen ist, wird alles gut? Nein, denn wir befinden uns nach wie vor in der Logik einer Anerkennung von oben. Das vom Bürgermeister erwartete Einlenken ist ein von ihm kontrolliertes und limitiertes: Geladene Künstler (nach welchen Prämissen?) repräsentieren ebenso wenig wie er die Stadt, und eine Jury (wie ist deren Stimmrecht gewichtet?) ist noch kein Prozess. Doch der politische Gewinn, er wird von den Initiatoren der Petition bereits eingelöst. Leider.

Nehmen wir Anteilhabe ernst, steht die eigentliche Auseinandersetzung aber erst bevor. Dabei könnte man auf rezente Zeiten zurückgreifen, in denen die Potentiale eines herausfordernden Gedenkens sichtbar wurden. Temporäre Ausstellungen und Projekte im Kulturhauptstadtjahr 2009 waren nicht nur wohlgelitten, man sorgte sich auch um das Image der ehemaligen „Führerstadt“. Es gab Konfliktstoff. Heute jedoch ist die Fassade am Brückenkopf wiederhergestellt, die Spuren von „Unter uns“ haben sich verwischt, die Stencils von „In situ“ sind verblasst. Eine vergleichbare Stadt wie Nürnberg hat sich derweil längst auf den Weg gemacht, leistet sich ein Dokumentationszentrum, renoviert den Schauplatz Zeppelintribüne und spricht nach außen wie nach innen offensiv über dieses Erbe. Den Anfang nahm alles mit einer Handvoll Geschichtestudent*innen, die damit begannen, Gruppen über das ehemalige Reichsparteitagsgelände zu führen. Heute hat der Verein „Geschichte für Alle“ über 400 Mitglieder, und ehemalige Gründer*innen forschen und gestalten im städtischen Auftrag.

Stadt der Erinnerungsarbeit?

Der Vergleich macht sicher: Linz hat immer noch einen weiten Weg vor sich. Die wiederkehrende Aufzählung bisheriger Leistungen in Sachen „Aufarbeitung“, mit der sich die Stadt zu schmücken pflegt, wandert seit über zwei Jahrzehnten via copy-paste von einem Papier zum nächsten, mit nur geringfügigen Ergänzungen. Es ist höchste Zeit, für eine Entwicklung zu sorgen, die sich wirklich fortschreibt. Aufgrund des Mangels nun für etwas Dauerhaftes wie die Stolpersteine zu plädieren, ist verlockend. Hilfreicher ist es jedoch, eine andauernde Auseinandersetzung ins Auge zu fassen. Damit diese sich verändern, ergänzen, wandeln kann.

Es geht um einen Richtungswechsel, auch perspektivisch. Als Bürger*innen sollten wir nicht darauf warten, was von oben verordnet oder genehmigt wird. Relevanz entsteht, wenn man etwas an sich nimmt, etwas vertritt und sich dazu exponiert, sich mit anderen dazu austauscht und vereinbart. Eine Stadt mag gut oder weniger gut mit Zuschreibungen leben, Bürger*innen, die etwas auf ihre gesellschaftliche Rolle halten, sollten eigeninitiativ Profile und sinnstiftende Angebote entwickeln. Die mehr als 2360 Unterzeichnenden der Stolperstein-Petition, sie könnten einen ersten Schritt in diese Richtung machen, hin zu einer Stadt der Erinnerungsarbeit. Wenn es schon ein Etikett sein soll.

Zukunft denken

Der Audiowalk „über.morgen“ führt im April durch eine Stadt der Zukunft. theaternyx* arbeitet an Wirklichkeit, die das Morgen im Heute überschreibt. Theresa Luise Gindlstrasser hat Regisseurin Claudia Seigmann zum Gespräch getroffen.

Hier wurde Zukunft noch geprobt: 8 Minuten Audiowalk-Testlauf im Dezember vor dem Menschenrechtsbrunnen. Foto theaternyx

Hier wurde Zukunft noch geprobt: 8 Minuten Audiowalk-Testlauf im Dezember vor dem Menschenrechtsbrunnen. Foto theaternyx

„Schluss mit dem Patriarchat. Die gesamte Gesellschaft hat sich neu geordnet, musste sich neu ordnen, weil sich plötzlich niemand mehr in einem Abhängigkeitsverhältnis befunden hat. Damit musst du erstmal lernen umzugehen. Ein Wahnsinn! Zum Beispiel: Gender Pay Gap? Plötzlich null. Das war earthshaking“, zeigt sich eine Zeitwohlständerin zufrieden. Es ist das Jahr 2050. Mikro-Oasen und Indoor-Biotope laden während der heißen 37-Grad-Mittagsstunden zum Verschnaufen ein. Bedingungsloses Grundeinkommen für alle und technologische Entwicklungen gewährleisten die Voraussetzungen für das „Recht auf Nicht-Effizienz“. Willkommen in Linz! Willkommen bei „über.morgen“!

Ab 4. und bis zum 14. April bittet theaternyx* zum performativen Stadtspaziergang durch Linz. Der Audiowalk führt eine Reisegruppe von 25 Personen durch den öffentlichen Raum. Mit Kopfhörern ausgestattet, lauscht das Publikum der Erzählstimme, dem Sounddesign von Abby Lee Tee und Christian GC Ghahremanian, den Stimmen von Zeitzeug*innen, die aus dem Jahr 2050 zurückblicken, Entwicklungslinien aus unserer Gegenwart in die behauptete Zukunft zeichnen. Während die Reisegruppe von der Erzählstimme angeleitet durch Linz manövriert, wird die visuelle Gegenwart mit einer Audio-Zeitreise überschrieben. Startpunkt für die 80-minütigen „über.morgen“-Touren ist am OK-Platz.

Aus dem Anspruch heraus positive, ermächtigende Geschichten zu erzählen, arbeitet theaternyx* – seit Gründung im Jahr 2000 durch Claudia Seigmann und Markus Zett – vor allem an ortsspezifischen Stückentwicklungen. 2009 gab es für „siebenundzwanzig. eine geistergeschichte“ den Bühnenkunstpreis des Landes Oberösterreich. 2017 für „DREIHUNDERTFÜNFUNDSECHZIG+“ eine Nominierung für den Stella – Darstellender Kunst Preis für junges Publikum. Für die bei „über.morgen“ angestrebte Kombination aus Stadtspaziergang und Wirklichkeitsüberschreibung gibt es ein Vorgänger-Projekt: 2016 eröffnete Corinne Eckenstein ihre erste Spielzeit als künstlerische Leiterin am Dschungel Wien – Theaterhaus für junges Publikum mit der Produktion „Quartier 2030 – Die Stadt sind wir“. Seigmann konzipierte damals für das Areal des Museumsquartiers einen Performance-Parcours mit utopischem Ausblick. Die Welt im Jahre 2030 wurde als eine grünere vorgestellt. Als eine mit mehr Dachgärten, mehr Windmühlen und weniger Müll. Eigentlich gar keinem Müll. Denn, so erklärte es die Stadtführerin, jeder Abfalleimer sei an das zentrale Mikrotransportsystem angeschlossen, das die weggeworfenen Objekte an die Hersteller zurück und also zum Recyceln freigibt. Das Publikum wurde in Gruppen von Station zu Station geleitet, insgesamt sechzehn Performende sorgten für die Darstellung dieser Vision einer besseren Zukunft. Es gab eine Brücke der Wünsche, an der die Visionen geäußert werden konnten, eine Terrasse, von der herab auf sich fröhlich drehende Menschen geblickt werden konnte und einen Flur, an dem Gedanken über das bedingungslose Grundeinkommen gebracht wurden.

Für „Quartier 2030 – Die Stadt sind wir“ wurde eine fertige, funktionierende Gesellschaft der Zukunft gezeichnet ohne auf dystopische, totalitäre Implikationen zu verweisen. Fürs aktuelle Projekt, das den Schritt vom Morgen (2030) ins Übermorgen (2050) wagt, spielen mehr oder minder dystopische Assoziationen aber durchaus eine Rolle. Die Zeitzeug*innen verhandeln den Wandel, den Bruch, das Katastrophenmanagement, die Ideen, jedenfalls die Veränderungen, die von einer Gesellschaft 2019 zu einer Gesellschaft 2050 geführt haben. Die Verweise ins Heute sind mannigfaltig: Da geht es um Ressourcenknappheit, um Arbeitsplätze und darum, wie die Gesellschaft der Zukunft zu Entschleunigung und Nachhaltigkeit gefunden hat. „Technologie kann uns frei spielen für ein anderes Miteinander“, so Seigmann. Ob die Zeit langsamer laufen soll? „Unbedingt!“.

Die Anbindung der heutigen Erlebniswelt ans utopische 2050 – auch durch Herausarbeitung der Differenzen die zwischen der visuellen Gegenwart und der Audio-Zukunft bestehen – legt den Fokus auf den Weg dorthin, „es wird ihn brauchen, den Weg“, sagt Seigmann. Die Zukunft 2050 soll nicht als bloße Utopie gedacht (Utopie als altgriechisch für Nicht-Ort), sondern das Denken von Zukunft generell als prinzipiell möglich herausgestellt werden. Nicht Zauberei wird die Klimakatastrophe verhindern, nicht irgendein Nicht-Ort wird als fertiges Paradies bereit stehen, sondern Ideen und Handlungen sind nötig. „So wie es ist, so kann es nicht bleiben“. Damit zielt theaternyx* in Richtung individuelle und gesellschaftliche Selbstermächtigung und sieht „über.morgen“ als emanzipatorisches Unterfangen. Dass die Zukunft 2050 dabei nur über das Hören zugänglich ist, öffnet die Augen für die Differenzen, für die Handlungsmöglichkeiten heute. Das Aktivieren der Phantasie, der Vorstellungskraft ist für theaternyx* ein großes Anliegen. Das Gehen in der Gruppe, bei gleichzeitiger Vereinzelung bzw. Sensibilisierung für Körper im Raum durch das Tragen von Kopfhörern unterstreicht diesen Ansatz. Wenn „Quartier 2030 – Die Stadt sind wir“ eine Vision von Zukunft vor allem einmal vorgestellt hat, dann macht „über.morgen“ eine Zukunft erlebbar.

„Ich meine, alle wesentlichen Entwicklungen in Bezug auf Nachhaltigkeit sind ja ewig in die falsche Richtung gelaufen. Nicht nur bei uns. In den 2010er Jahren gab es dann endlich immer mehr Versuche über Gesellschaftssysteme nachzudenken, die sensibel mit den bestehenden Ressourcen umgehen. Obwohl ich auch sagen muss, dass sich der Glaube an das heilbringende Wirtschaftswachstum noch sehr lange gehalten hat. Es ist ja nicht so leicht eine Religionsgemeinschaft von ihrem kollektiven Irrglauben zu überzeugen.“

Das neue Leitungsteam am NTGent um den Theatermacher Milo Rau hat sich im Mai 2018 ein Manifest gegeben. Dessen erster Punkt lautet: „Es geht nicht mehr nur darum, die Welt darzustellen. Es geht darum, sie zu verändern. Nicht die Darstellung des Realen ist das Ziel, sondern dass die Darstellung selbst real wird“. Was es in diesem Kontext bedeutet, die Welt als eine schon veränderte darzustellen? „Wir stellen die Welt als eine veränderbare dar, wir sagen, dass sie sich verändert und sprechen eine Einladung zur positiven Veränderung aus“, erklärt Seigmann, „es ist komplex“. Für „über.morgen“ haben Claudia Seigmann und Markus Zett zum wiederholten Male mit der Autorin und Dramaturgin Claudia Tondl zusammengearbeitet. „Es gab viel zu tüfteln“, so zum Beispiel in Bezug auf den Straßenverkehr, „die Erzählstimme muss ja auch auf rote Ampeln reagieren können“. Und wie geht das? „Das verraten wir nicht“. Der Audiowalk wird auch Teil des internationalen Symposions „Superstadt!“ der Kunstuniversität Linz im Mai 2019 sein. Vielleicht lüftet sich ja dann das Geheimnis der roten Ampeln.

 

Premiere: 04. April, 17:00 Uhr
Weitere 10 Spieltermine: 05. – 14. April
Start- und Endpunkt: OK Offenes Kulturhaus, OK-Platz 1
Der Audiowalk führt zirka 80 Minuten zu Fuß durch die Stadt.
Kartenvorverkauf: Moviemento & OK Kassa. Infos: 0732/784090.
Mehr Infos: theaternyx.at

Mehr über den Audiowalk im Rahmen des Kunstuni-Symposions „Superstadt!“ im Mai: theaternyx.at

Konsequenzen, Schwimmen, Fliegen

YAAAS! bei Crossing Europe: Innerhalb der neuen Jugendschiene wurde von Gleichaltrigen ein Spielfilmprogramm von sechs Filmen mitprogrammiert. Drei davon hat sich die von der Referentin beauftragte Schülerin Valerie Straßmayr im Vorfeld angesehen – und gibt einen Vorgeschmack auf ein Programm zwischen Roadtrip und Coming of Age, und auf mögliche Diskussionsthemen.

Všechno Bude – Winter Flies (CZ/SI/PL/SK 2018) Foto: Cercamon Films

Všechno Bude – Winter Flies (CZ/SI/PL/SK 2018) Foto: Cercamon Films

Posledice / Consequences.

Es wird Konsequenzen geben! Glaub nicht, dass du so davonkommst! – Aber welche Konsequenzen kann es für jemanden geben, der nichts zu verlieren hat? Posledice ist ein slowenisch-österreichisches Jugenddrama von Darko Štante, was zugleich auch sein Langfilmdebüt ist. Der Film porträtiert das Leben des 18-jährigen Andrej (Matej Zemljic), der, nachdem er vermehrt straffällig auffiel, zu einem Aufenthalt in einem Heim für kriminelle Jugendliche verurteilt wurde. Dort soll er resozialisiert und für die Arbeitswelt vorbereitet werden. Doch sobald er ankam, merkt er, dass hier eine ganz andere Hierarchie herrscht, in der er, zumindest derzeit, ganz unten ist. Die Alphas Žele (Timon Šturbej) und Niko machen sich einen Spaß daraus, Andrej zu mobben. Die Betreuer sind hilflos und überfordert. Das wird Konsequenzen geben! Ich werde sonst die Polizei rufen müssen! – Schon sind sie am Ende ihres Vokabulars. Nichts und niemand kann die Jugendlichen stoppen. Im Heim lernt Andrej seinen Zimmergenossen Luka kennen, dieser bestreitet den Alltag, indem er ein Mitläufer ist und sich nicht gegen Želes Clique wehrt. Andrej möchte mehr, er will Teil der Gruppe werden. Nun darf er die Jungs am Wochenende, der Freizeit, auf Partys begleiten. Sie nehmen gemeinsam Kokain und andere Drogen. Sie stehlen Autos und schlagen Leute zusammen, es kommt sogar zu einer Messerstecherei. Andrej verfängt sich immer mehr in dem Netz aus Lügen und Gewalt, aus dem er nicht mehr aussteigen kann. Seine Position in der Gruppe festigt sich vor allem, nachdem ein Neuer ins Heim kommt. Mitar wird das nächste Opfer, das an seinen Platz verwiesen wird. Zwischen Žele und Andrej kommt es zu einer sexuellen Annäherung. Sie tanzen gemeinsam und küssen sich, am Ende schlafen sie miteinander in einem Hotel. Žele lebt seine Homosexualität nicht offen. Er hat eine Freundin, Svetlana, die aber von seinen Neigungen weiß. Der verliebte Andrej macht nun alles für Žele. Auch von Luka treibt er Geld ein, er ist korrupt und kalt. Dadurch verliert er seinen einzigen, wirklichen Freund. Als er 300 Euro von einem „Zigeunerjungen“ eintreiben soll, öffnen sich Andrejs Augen. Žele hat ihn die ganze Zeit nur benutzt, um seine Drecksarbeit zu erledigen. Als Andrej vor Žele Gesicht zeigt, merkt er, wie hinterlistig und unfair gespielt wird. Aus dem Teufelskreis gibt es kein Entkommen, am nächsten Morgen soll er erfahren, wie es einem Aussteiger geht. Posledice ist ein emotionaler Film, der die Fragilität der Männlichkeit porträtiert. Regisseur Darko Štante beschreibt die noch sehr verbreitete Homophobie im slawischen Raum. Gleichzeitig spricht er die Probleme in solchen Heimen, wie jenes, in dem Andrej lebt, an. Obwohl viele Versuche gemacht werden, um die Jungen zu resozialisieren, machen sie was sie wollen, jegliche Autorität ist wirkungslos. Auch wenn die Teenager fast wie in einem Gefängnis wohnen, sind sie doch so frei wie noch nie. Ihr Leben ist exzessiv, die einzigen Grenzen sind die ihrer eigenen Hierarchie.

Schwimmen.

Es gibt kaum eine Zeit, in der sich so viel verändert, in der so viel neu ist, in der jeder Tag eine neue Weltanschauung bedeuten kann. Schwimmen ist ein deutscher Coming-of-Age-Spielfilm von Luzie Loose, der eine ehrliche und objektive Perspektive auf das Teenagerdasein bietet. Der Beginn der Handlung könnte einem schon bekannt vorkommen. Eine introvertierte Außenseiterin, die gerade die Trennung ihrer Eltern miterlebt, wird von ihren MitschülerInnen gemobbt. Elisa (Stephanie Amarell) hat Kreislaufprobleme und bricht im Schwimmbad zusammen. Ihre SchulkollegInnen nutzen den Moment, um mit ihrem reglosen Körper zu posieren und Fotos zu machen. Diese verbreiten sich binnen des nächsten Tages an der ganzen Schule. Allein ist sie machtlos gegen diese Attacken, doch Anthea (Lisa Vicari) kommt ihr zur Hilfe. Gemeinsam wollen sie sich rächen und arbeiten eine Liste mit Elisas Peinigern ab. Ganz im Zeichen der Gegenwart nutzen sie die Technik und filmen ihre Aktionen. Anthea unterstützt Elisa, doch bringt sie in eine Situation der Abhängigkeit. Das unschuldige Mädchen wird selbst zur Täterin. Die Charakterzüge der zwei Freundinnen unterscheiden sich stark. Während Anthea immer auf sich achtet und egoistische Charakterzüge aufweist, meldet sich bei Elisa das Gewissen. Elisa fürchtet sich davor, wieder einsam zu sein. In jedem Streitpunkt springt sie für ihre beste Freundin ein. Dabei muss sie oft ihre eigenen Ideale verraten. Nach einiger Zeit eskaliert das Spiel der beiden Mädchen, indem sie mittlerweile Videos zur Erpressung nutzen, und Elisa erkennt das wahre Gesicht von Anthea. Die Regisseurin porträtiert diese komplizierte Lebensphase, ohne jedoch zu werten. Die vielen Aspekte, die einen in diesem Lebensabschnitt beschäftigen, werden nüchtern und ehrlich beleuchtet. Liebe, Drogen, Partys und der soziale Druck, der auf den Schultern lastet. Auf Fehler wir nicht mit dem Finger gezeigt und der Film wirkt nicht belehrend. Neben den dramatischen und schweren Momenten werden auch die schönen, von Leichtigkeit erfüllten Augenblicke beleuchtet. Diese Momente, in denen die Kinder alle Probleme vergessen können und sich von der digitalen Welt abschotten. Elisa wächst an ihren Herausforderungen im Film vom Kind zur Teenagerin heran. Sie lernt aufzustehen und für ihre Meinung den Kopf hinzuhalten. Der Film überzeugt auch mit viel Abwechslung im Schnitt zwischen Realität und Handykamera, die ihn umso lebensnaher erscheinen lassen.

Všechno Bude – Winter Flies.

Es gibt nichts Stärkeres als den Bund der Freundschaft. Všechno Bude ist ein Coming-of-Age-Spielfilm von Olmo Omerzu auf Tschechisch. Im Film werden die zwei Teenager Heduš (Jan František Uher) und Mára (Tomáš Mrvík) auf ihrem Roadtrip mit einem gestohlenen Auto durch ganz Tschechien begleitet. Die zwei Freunde könnten nicht unterschiedlicher sein. Heduš ist tollpatschig, naiv und noch sehr kindlich. Der etwas ältere Mára wirkt cool, rational und kalt. Mára prahlt immer wieder mit seinen Frauengeschichten und die zwei gabeln eine junge Frau, Bára, auf der Straße auf. Beide Jungs stellen sich vor, mit ihr schlafen zu werden. Bára wird dabei nicht wirklich als Mensch, sondern als Objekt wahrgenommen. Heikle Themen wie Sexismus, Homophobie und Transphobie, die es noch immer zu überwinden gilt, werden angesprochen. Der Film switcht zwischen den Szenen auf der Straße zu einer Polizeibefragung von Mára. Dabei spielt er mit dem extremen Kontrast der Freiheit und der Gefangenschaft. Während der Befragung kommen wiederholt Aufnahmen einer Fliege vor. Zuerst ist ihr Zustand völlig intakt. Im Verlauf des Gesprächs wird sie immer mitgenommener, wie Mára. Durch die Tricks der Polizistin gibt er immer mehr von sich preis. Letztendlich liegt die Fliege im Aschenbecher, bedeckt von Zigarettenstummeln, aber sie kann sich befreien. Am Ende führen die beiden Parallel-Geschichten wieder zusammen. Všechno Bude beschreibt die Vielseitigkeit der Freundschaft, die Ups und Downs. Die Geschichte zeigt, wie wichtig es ist, zu vertrauen und wie schön es ist, aufeinander zählen zu können. Durch ihre unterschiedlichen Charakterzüge läuft zwar nicht immer alles harmonisch zwischen den Freunden ab, doch sie wachsen durch sich und den anderen über ihren Horizont heraus und finden doch immer wieder zusammen. Am Ende wissen sie, dass dieser Trip noch lange nicht vorbei ist.

Resümee.

In allen drei Filmen spielt Freundschaft eine wichtige Rolle. Posledice und Schwimmen zeigen, wie leicht man in diesem Alter in Abhängigkeit geraten kann. Das Handeln der Personen wird vom Gruppenzwang beeinflusst. Ist man einmal Teil, wird es schwer, sich aus diesem Netz zu befreien. In diesen zwei Filmen sind soziale Medien sehr zentral. Fotos und Videos sind Mittel zur Erpressung – relevant und realitätsnahe.

Všechno Bude porträtiert eine ganz andere Welt, in der Medien eine weniger große Rolle spielen. Die Freundschaft der Hauptcharaktere ist offen und herzig. Heduš und Mára vertrauen einander und können auf den jeweils anderen auch in herausfordernden Situationen zählen.

Das Thema Drogen ist häufig aufgetreten. Es wird sehr objektiv behandelt, aber nicht verherrlicht. Die Geschichten drehen sich nicht um Abhängigkeit, sie porträtieren einfach, dass Drogen für viele Jugendliche eine gelegentliche Realitätsflucht bedeuten. Die Figuren wirken aufgeklärt und verantwortungsbewusst, wie es heute auch die meisten Teenager sind. Auch hier ist Všechno Bude eine Ausnahme, weil Drogen keine Rolle spielen.

Die Coming-of-Age-Filme der neuen Crossing Europe-Schiene Yaaas! sind interessante Aufnahmen, die das Heranwachsen an schweren Aufgaben Jugendlicher repräsentieren. Die Filme sind sehr spannend im Stil und abwechslungsreich. Nicht alle Geschichten hören mit einem Happy End auf, wie im echten Leben. Doch aus den emotionalen Herausforderungen wachsen die Charaktere und werden ein Stück erwachsener.

Coming of Politics

Beim diesjährigen Filmfestival Crossing Europe laufen zwischen 25. und 30. April drei ausgewählte Dokumentarfilme über Frauen in der Politik. In Sachen Filmbesprechung hat die Referentin im Vorfeld drei Expertinnen in Sachen Politik gewinnen können: Karin Hörzing hat sich „I Had A Dream“ angesehen. „We Did What Had To Be Done“ wurde von Doris Lang-Mayrhofer gesichtet. Und „Sylvana, Demon Or Diva“ bespricht Eva Schobesberger.

I HAD A DREAM / AVEVO UN SOGNO. Zwei Männer flankieren den 2018 erschienenen Film von Claudia Tosi: Silvio Berlusconi, der 2008 zum vierten Mal italienischer Ministerpräsident wurde, und Donald Trump, der ein knappes Jahrzehnt später als amerikanischer Präsident vereidigt wurde. Für Manuela, eine Abgeordnete des italienischen Parlaments, und Daniela, eine Lokalpolitikerin, ist dieser dergestalt männlich markierte Zeitraum der Inbegriff für den politischen Regress. Seit Jahren kämpfen die beiden für mehr Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern, für bessere Gesetze zum Schutz vor häuslicher Gewalt gegen Frauen und für ein diverseres Gesamtbild politischer Verantwortungsträger.

Was ist Politik? Was macht Politik aus? Gibt es im beruflichen Leben von Politikerinnen, egal in welcher Stadt, in welchem Land sie arbeiten, Parallelen?
Darauf kann ich nur mit einem klaren Ja antworten, wenn ich den – in 84 min. Filmlänge – geschilderten Einsatz, die Erfahrungen, Erwartungen, Enttäuschungen aber auch Erfolge von Manuela und Daniela Revue passieren lasse.
„I had a dream“ ist kein Film, der keine Fragen aufwirft. „I had a dream“ besticht nicht durch spektakuläre Bilder oder Action, nein, mich hat er fasziniert, weil es sehr subtil gelungen ist, sich in die Welt dieser beiden Politikerinnen hineinziehen zu lassen. Und ich denke, das passiert nicht nur mir, weil ich diese Welt gut kenne, sondern vor allem dadurch, weil es so ungeschnörkelt authentisch ist.
Politikerinnen aus aller Welt setzen sich seit vielen Jahren mit den gleichen Themen wie Manuela und Daniela auseinander: mit dem Einsatz für mehr Gleichberechtigung, mit dem Schutz vor häuslicher Gewalt für Frauen, mit dem Anspruch, dass mehr Frauen auch die Politik gestalten.
„I had a dream“ berührt – er berührt in den Aussagen, den stillen Momenten, den motivierenden Protestmärschen, den Alltagsgeschehnissen.
Er macht wütend, wenn Politikerinnen auf Missachtung treffen (wer hat schon gerne ein schlafendes männliches Publikum 🙂 ), wenn harte Fakten wie beim Thema häusliche Gewalt verniedlicht werden und wenn man merkt, wie populistische Politik gegen die Menschen, von den Menschen, den Wählerinnen und Wählern unterstützt wird.
Und dieser Film lässt einen auch nicht los, weil auch die persönlichen Schicksale, die Zweifel, die Ratlosigkeit, die Diskussionsbeiträge und die humorvollen Momente von Manuela und Daniela so eindringlich – sprachlich und bildlich – eingefangen wurden. Zum Schluss bleibt die Frage offen, welchen Stellenwert der politische Einsatz von Daniela und Manuela hat. Wird es jemanden geben, der den Kampf weiterführt und das Staffelholz übernimmt!? Ich denke, ja – Bella Ciao!

Karin Hörzing (SPÖ) ist Vizebürgermeisterin der Stadt Linz. Ihre Ressorts sind Soziales und Sport.

 

WE DID WHAT HAD TO BE DONE. Die beiden Regisseurinnen Friederike Berat und Ulrike Ertl im O-Ton über ihre Dokumentation von 2018: Dieser Film basiert auf 15 Interviews mit nordirischen Frauen, die wir im Zeitraum von 2009 bis 2017 geführt und zusammengestellt haben. Sie erlebten den Konflikt als Befreiung aus den Rollen, die ihre Gemeinschaften für sie vorgesehen hatten. Eine Befreiung, die sich im Laufe des Friedensprozesses Schritt für Schritt wieder zu ihrer Ausgangssituation zurückentwickelte. Ihre Namen sind – anders als die Namen ihrer männlichen Mitstreiter und Genossen – nicht im öffentlichen Narrativ des Konflikts zu finden. Diese Dokumentation möchte ihre Geschichte erzählen.

Der Film zeigt für mich auch Parallelen zur heutigen Zeit auf. Wenn in Amerika über einen Mauerbau diskutiert wird, oder in Europa ein Brexit bevorsteht, kann man das durchaus mit dem Irland-Konflikt in diesem Film vergleichen, wo es um die Spaltung in einen südlichen und einen nördlichen Teil des Landes ging.
Was allerdings nicht geschichtlich festgeschrieben wurde, ist, wie diese nordirischen Frauen damit umgingen, bzw. was das für sie persönlich bedeutete. Dies war jedoch Thema der Interviews, die in diesem Dokumentations-Film mit diesen Frauen geführt wurden.
Die Erinnerungen an die Probleme sind unterschiedlich und formen dadurch eine dynamische Wahrnehmung dieser Zeit. Die Frauen erzählen von der politischen Prägung, die sie schon in der Kindheit formte, sie beurteilen den Stellenwert der Frauen im Konflikt unterschiedlich, sie fassen Trauer, Trauma und die Auswirkungen von (häuslicher) Gewalt in Worte.
Sie beschreiben ein Umfeld, in dem Frauen die Initiative ergreifen, oder sich dafür aussprechen, jungen Menschen eine Zukunfts-Perspektive zu eröffnen.
Der Film „We did what had to be done“ kann aus meiner Sicht dazu anregen, sich Gedanken darüber zu machen, dass Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und Achtung der Menschenrechte keine Selbstverständlichkeit sind, und dass wir uns alle immer wieder bewusst machen sollten, dass gerade in unserer Europäischen Union diese Werte ein klares und starkes Bekenntnis sind.

Doris Lang-Mayerhofer (ÖVP) ist Stadträtin der Stadt Linz. Ihre Ressorts sind Kultur, Tourismus und Kreativwirtschaft.

 

SYLVANA, DEMON OR DIVA. In Ihrer 2018 releasten Dokumentation hat Regisseurin Ingeborg Jansen eine niederländische Politikerin begleitet: Als die ehemalige TV-Persönlichkeit Sylvana Simons die politische Arena in den Niederlanden betritt, ist sie als „woman of colour“ mit vielen Anfeindungen konfrontiert. Gemeinsam mit ihrer Partei BIJ1 stellt sie sich den Herausforderungen des Wahlkampfs.

Dieser Film begleitet Sylvana Simons auf ihren drei Monaten vor der Wahl zum Amsterdamer Gemeinderat, wo sie als Spitzenkandidatin für eine linke Bewegung um den Einzug kämpft. Er zeigt die Politikerin im Straßenwahlkampf, bei Parteiveranstaltungen, bei zahlreichen Gesprächen und liefert auch zum Teil sehr persönliche Einblicke bis ins chaotische Zentrum ihres Kleiderschranks, wohin sie sich immer wieder zurückzieht. Den Einstieg bilden Szenen aus einer Fernsehdiskussion, die mich sofort zornig machen. Alter weißer Mann versucht mit „lustigen“, rassistischen Bemerkungen gegenüber seiner jungen schwarzen Mitdiskutantin beim Publikum zu punkten. So bin ich ab der ersten Minute im Filmgeschehen gefangen und beginne nahezu sofort mich mit Sylvana Simons zu identifizieren und bin mit ihr. Ich fühle die Kraft, die im Kampf für positive Veränderungen entsteht, genauso wie die Energie, die sie braucht um persönliche Beleidigungen zu parieren. Ich bin schockiert, womit Sylvana Simons zurechtkommen muss. Persönliche Beleidigungen, kränkende Anwürfe oder primitive Sexismen kennt vermutlich jede Frau, in irgendeiner Form. Aber diese unglaublichen, hassgeladenen Rassismen! Ich spüre die Zornesröte in meinem Gesicht und bewundere die Souveränität mit der diese starke Frau das alles bewältigt. Das macht mich dann auch sehr dankbar für das positive Feedback, das Silvana Simons von Mitstreiterinnen oder irgendwelchen Menschen auf der Straße erhält. Mitten im Film treffe ich dann auf einen guten Bekannten. Ich bedauere gerade wieder, dass ich kein Niederländisch spreche, weil mir die Konzentration auf die Untertitel viel von dieser schönen und kräftigen Bildsprache nimmt, die den Film prägt. Und da taucht er auf: Der Erklärbär. Ein großer weißer Mann steht mit einer Bierflasche in der Hand da und erklärt. Er erklärt Sylvana Simons, dass er im Ergebnis eh bei ihr ist, sagt ihr aber, dass sie anders argumentieren soll und dass sie Begriffe die sie verwendet, lieber nicht gebrauchen soll, weil sie zu negativ beladen sind. Auf Sylvana Simons Einschub, dass man Rassismus wohl kaum bekämpfen kann, wenn man ihn nicht als solchen benennt, wirft er ihr schließlich vor, dass sie ihm zu viel erklärt.
Der Erklärbär ist nicht unser einziger gemeinsamer Bekannter. Ich finde mich insgesamt in vielen Elementen dieses Films wieder. Vermutlich liegt das aber gar nicht so sehr am Politikerin-Sein, sondern daran, dass Frauen in unserer Welt eben oft mit sehr ähnlichen Dingen zu kämpfen haben. Sylvana Simons bekommt im Laufe des Wahlkampfes viele mehr oder weniger brauchbare Ratschläge. Einen davon find ich richtig gut und zwar für jede von uns: „Hör auf, so kritisch mit dir selbst zu sein!“

Eva Schobesberger (GRÜNE) ist Stadträtin der Stadt Linz. Ihre Ressorts sind Frauen, Umwelt, Naturschutz und Bildung.

REVOLUTION! Die Forderung nach dem Unmöglichen.

Das Lentos Kunstmuseum, das Nordico Stadtmuseum und die Landesgalerie Linz zeigen derzeit eine häuserübergreifende Schau zu unterschiedlichen Teilaspekten der künstlerischen und kulturellen Avantgarde der 68er-Bewegung. Elisabeth Lacher orientiert und wendet sich dann den räumlichen und gesellschaftlichen Utopien eines erweiterten Verständnisses von Architektur zu.

Missing Link, Gorillas greifen ein, 1971 Collage, Typografie, Fotoausschnitte auf Papier, 27,2 x 27,3 cm. MAK – Österreichisches Museum für angewandte Kunst / Gegenwartskunst © Missing Link

Missing Link, Gorillas greifen ein, 1971 Collage, Typografie, Fotoausschnitte auf Papier, 27,2 x 27,3 cm. MAK – Österreichisches Museum für angewandte Kunst / Gegenwartskunst © Missing Link

Zu den Ausstellungen erschien auch das Buch 68, herausgegeben von den KuratorInnen Johannes Porsch, Hedwig Saxenhuber und Georg Schöllhammer. Wer um 1968 in Erscheinung trat, inwiefern die AkteurInnen der Wirklichkeit den Schluss erklärten und welche Rolle Linz hierbei gespielt hat, wird in den Ausstellungen wie in der Publikation ausführlich, informativ und anregend aufbereitet.

Im Lentos werden künstlerische Positionen der lokalen Szenen aus Linz und Oberösterreich mit KünstlerInnen aus den Nachbarregionen in Beziehung gestellt, um die Ausbrüche, Aufbrüche und Umbrüche im Kontext der Stahlstadt Linz zu zeigen, etwa die Gruppe rund um den Schriftsteller und Herausgeber Heimrad Bäcker. Die Arbeiten von Josef Bauer, Gerhard Knogler und Fritz Lichtenauer verweisen auf eine künstlerische Praxis, die zwischen bildender Kunst und dem bildnerischen Aspekt von Text angesiedelt ist. Hervorzuheben sind diesbezüglich auch die ausgestellten Verknüpfungen der Linzer Gruppe mit KünstlerInnen aus der CSSR, wie Bela Kolárová und Jirì Valoch. Johann Jascha rekonstruiert für die Ausstellung im Lentos erstmals seit 40 Jahren die Arbeit Schöner Wohnen, die in Zusammenarbeit mit der Gruppe Salz der Erde entstanden ist. Der Künstler sammelte im Zeitraum 1969 bis 1975 die Überreste seines Lebens in getrockneter Form in seinem damaligen Atelier. Bei der Ausstellungseröffnung war Jascha mit einer seiner Schreiaktionen zu erleben.

Das Nordico vertieft die gesellschaftlichen Veränderungen in den 1970er-Jahren in den unterschiedlichen Bereichen wie der Frauen-, Friedens- und Umweltbewegung. Zahlreiche Bild-, Text- und Tondokumente entwerfen ein vielschichtiges Bild jener Jahre in Linz. Sie gewähren zudem Einblicke in verschiedene Gruppen und Räume der Linzer Linken, der Kunst und der Musik – wie die Galerie Maerz, die Berger Mami, die Stadtwerkstatt, das Café Landgraf, die Galerie Hofkabinett und ihre ProtagonistInnen erzählen.

Das Hauptaugenmerk der in der Landesgalerie Linz gezeigten Schau „Schluss mit der Wirklichkeit! Avantgarde, Architektur, Revolution, 1968.“ liegt vor allem auf experimenteller Architektur und der urbanen Revolte rund um 1968. Die ausgestellten Skizzen, Bilder und Dokumente bilden einen Einblick in die urbanen Wurzeln der 68-Bewegung. Bedeutend für die Resonanz ästhetischer Konzepte und politischer Aktion sind Kontext und Metapher des urbanen Raums: das massenmedial Imaginäre der Metropole, die Produktions-, Distributions-, Konsum- und Kommunikationsmaschine Stadt, die Lebens- und Verhaltensweisen codierende Urbanität, der flüchtige Alltag der Straße. Die architektonischen Projekte der 1960er und frühen 1970er platzieren sich im Maßstab und Modus von Objekt, körperbezogener Apparatur, objekthafter Minimalumwelt bis hin zur Megastruktur und interventionistischem Handlungsfeld bzw. performativer Infrastruktur. Das alles äußerte sich modernistisch-formbezogen, affirmativ-subversiv, aktionistisch-eruptiv, rituell-forschend im vielschichtigen Gewebe der Stadt.

Den architekturbezogenen Praxen und Theorien der urbanen Revolte der 68er-Bewegung mit ihrer Politisierung öffentlicher Räume, deren Aneignung, der Definition selbstbestimmter Lebensformen und der damit einhergehenden Auslotung unterschiedlicher Wohnformen wird in Retrospektiven zu künstlerischen Perspektiven der 68er Jahre oft zu wenig Beachtung geschenkt. Zu Unrecht, denn gerade aus dieser Zeit des Um- und Aufbruchs entstanden wichtige Theorien zu öffentlichem Raum, die nach wie vor richtungsweisend in der Auseinandersetzung mit Stadt, Urbanität und Kunst im öffentlichen Raum sind.

In welchem Verhältnis die Projekte der experimentellen Architektur zu Ideologiekritik, den Programmen und Forderungen der Student/innenprotest- und Bürger/innenrechtsbewegung von 1968 stehen, ob und wie ästhetische und politische Bewusstseins- und Repräsentationskritik sich zueinander verhalten, ist die offene Frage, in der sich die Ausstellungen „Wer war 1968?“ und „Schluss mit der Wirklichkeit! Avantgarde, Architektur, Revolution, 1968.“ reflektieren und in einen Dialog treten.

„Kunst ist eine in Form gebrachte Forderung nach Unmöglichem“, hat der französische Schriftsteller Albert Camus geschrieben. Kaum einem Zeitabschnitt entsprechen diese Worte so ausdrücklich wie den Jahren um 1968. Es waren Jahre der Utopie, der ästhetischen Experimente und der Grenzüberschreitungen. Zum ersten Mal gingen KünstlerInnen in den öffentlichen Raum, gingen auf die Straße und erklärten diese zur Galerie, zu einem Ort, an dem Kunst unmittelbar eingreifen und verändern kann, mit einem völlig anderen Publikum als in den Ausstellungshäusern oder den künstlerischen Zirkeln.

In den 68ern und danach begann auch von Seiten experimenteller Architekten und Architektinnen ein Fragen nach öffentlichem Raum, nach dessen Gestaltung und Nutzung wie dessen Politisierung. Der damalige Status Quo von Kunst am Bau als „Dekor“, welcher den fertigen Bauobjekten quasi aufgepfropft wird, wurde in rebellischen Gesten und einer avantgardistischen Kunstpraxis unterwandert. All dies führte, wenn auch die in den Raum gebrachten Forderungen nach Revolution und Utopie wohl als Forderung nach dem Unmöglichen eingeordnet werden müssen, dennoch zu weitläufigen Veränderungen im Verständnis von Kunst am Bau und einer beginnenden Kunst im öffentlichen Raum.

Die Ausstellung in der Landesgalerie mit Projekten von Zünd Up/Salz der Erde, Missing Link, Haus-Rucker-Co, Angela Hareiter und Valie Export zeigt die räumlichen und gesellschaftlichen Utopien eines erweiterten Verständnisses von Architektur, Stadt und öffentlichem Raum in all den fragilen Ideen, Entwürfen und Konzepten darüber. Sie führt die BesucherInnen nicht nur in die Denkweisen der avantgardistischen Architektur mit dem Schrei nach Revolution zurück, sondern lässt sie auch reflektieren und nachdenken über die (traurige) Unmöglichkeit von Revolution.

Die weibliche Seite der Avantgarde
Beim Gang durch die Ausstellung fällt auf, dass sehr wenige Positionen von Architektinnen gezeigt werden, der damalige Mangel an Frauen in der Architektur liegt dem wohl zugrunde. Lange Zeit war die Architektur Männern vorbehalten; noch im zwanzigsten Jahrhundert wurden Frauen an vielen Universitäten für Architektur nicht oder nur in bestimmten Bereichen der dekorativen Ausstattung zugelassen. Als ob die letzten beiden Silben der Berufsbezeichnung Architekt„innen“ ihnen auch gleich den Ort ihrer Kompetenzen zuweisen würden: Die Hülle bauten Männer, und allenfalls das, was „innen“ ist und für die Öffentlichkeit nicht sichtbar, wurde dem „Geschmack“ der Frauen überlassen. Auch Avantgarde-Schulen wie das Bauhaus entkamen dieser Rollenzuweisung kaum. Doch das ist eine andere Geschichte. Die sorgfältig in die Ausstellung eingebauten Projekte von Valie Export und Angela Hareiter, die auch Mitbegründerin von Missing Link ist, lassen dann ein kurzes feministisches Aufatmen zu.

Auf die generelle weibliche Unterbesetzung in den 68er Jahren verweisen Zeitdokumente im Nordico und das Kapitel „Sexuelle Revolution“ im Buch zu den Ausstellungen. Die Texte von Margit Knipp, Edith Friedl, Gabriele Müller und Barbara Seyerl beschreiben sehr lebendig und persönlich die Situation der Frauen in der Linzer Männerdomäne jener Zeit.
Besonders hervor sticht die Beschreibung Edith Friedls einer Diskussion am Küchentisch in ihrer Studenten-WG am Linzer Froschberg und lässt mich beim Lesen unwillkürlich schmunzeln. Sie schreibt über fünf angehende Soziologen, die angeregt über Wilhelm Reich und den klitoralen Orgasmus diskutierten. Als einzige Frau in der Diskussion stellte die Autorin eine Frage in die Runde und erhielt von einem männlichen Diskussionsteilnehmer den Hinweis „Pssst, das verstehst du nicht, das erklär ich dir später“. Genial, nicht wahr?

Viele Frauen erinnern sich an die „supergescheiten“ und intellektuell reflektierten 68er-Jungs als Chauvinisten, Sexisten oder schlichtweg als linke Machos. Es galt, ihnen die weibliche Stirn zu bieten. Und das taten die Linzerinnen dann auch. Es war die Gründerzeit von Frauengruppen, dem Autonomen Frauenzentrum – das bis heute besteht, von alternativen Kindergärten und der Etablierung „wilder Frauen“ und Feministinnen in der Linzer Öffentlichkeit. Hingewiesen sei hier auch auf die Tampon-Aktion während der Wahl zur Miss Oberösterreich 1978 im Linzer Vereinshaus, die Edith Friedl beschreibt. Drei AkteurInnen – sie selbst, ein gewisser Thomas und eine Karin sprengten den sexistischen Zirkus und die Fleischbeschau, indem sie Damenspenden verteilten: sie bewarfen die Juroren mit rot eingefärbten Tampons.

Da ich selbst in den frühen 80er Jahren geboren wurde, passierte dies alles lange vor meiner eigenen Auseinandersetzung mit Kunst, Gesellschaft und Feminismus. Dennoch würde ich für mich die Zeit der 68er bis Ende 70er Jahre als persönlich wegweisend beschreiben. Zumal ich in einer kleinen, oberösterreichischen Marktgemeinde aufwuchs, in der patriarchalische Gesellschaftsstrukturen auch in den 80er und 90er Jahren fest verankert waren. Ich erinnere mich, das Wort Feministin oder Revoluzzerin doch öfter als einmal gehört zu haben: als verächtliches Schimpfwort für sinnlos aufbegehrende oder gar „perverse“ Frauen. Später dann, in der Oberstufe des Gymnasiums mitten im Hausruckviertel mit dem Wiener Aktionismus, feministischer Literatur, Kunst und Politik konfrontiert zu sein, glich einer jugendlichen Erleuchtung: Plötzlich hatte Kunst etwas mit mir und meinem Leben zu tun. Das erste Mal Fotos von Valie Exports Tapp- und Tastkino zu sehen, auch wenn die Aktion da schon vor 30 Jahren passierte, war eindrücklich und intuitiv verständlich. Und ließ mich dann weiter über Kunst und Avantgarde forschen: und das war in meinem damaligen, ländlichen Umfeld doch sehr selten. Selbst meine Freundinnen und Freunde waren schwer von meiner Begeisterung und der Bedeutung von Kunst und Literatur zu überzeugen. Aber auch das ist eine andere Geschichte.
Um in die Dynamik dieser Zeit einzutauchen, sich zu erinnern und vertiefendes Wissen anzueignen, besonders auch im Bezug zu Linz in den 68er und 70er Jahren, seien die Ausstellungen und das dazu erschienene Buch 68 jedenfalls jedem und jeder wärmstens empfohlen.

 

WER WAR 1968? Kunst, Architektur, Gesellschaft
LENTOS Kunstmuseum Linz, noch bis 13. Jänner 2019

www.lentos.at

NORDICO Stadtmuseum Linz, noch bis 24. Februar 2019
www.nordico.at

SCHLUSS MIT DER WIRKLICHKEIT! Avantgarde, Architektur, Revolution, 1968.
Landesgalerie Linz, noch bis 20. Jänner 2019

www.landesmuseum.at

Die Publikation „Wer war 1968? Kunst, Architektur, Gesellschaft“ ist im Verlag Anton Pustet erschienen, mit Texten von Johannes Porsch, Hedwig Saxenhuber und Georg Schöllhammer, Essays von Helmut Draxler, Thomas Eder, Peter Huemer, Gabriele Kaiser, Christa Kamleithner, Helmut Lethen, Klaus Ronneberger und Greta Skau sowie mit mehr als 100 Textbeiträgen in deutscher Sprache.
464 Seiten, Preis: € 29,–