Feminismus ohne Geschlechtervielfalt?

Die Referentin hat Tinou Ponzer vom Verein Intergeschlechtlicher Menschen Österreich, VIMÖ, eingeladen, zur aktuellen „Gender-Debatte“ zu schreiben – und darüber, warum es Schutzräume für alle braucht.

Seit Monaten gibt es wieder mal in Medien und Politik eine sogenannte „Gender-Debatte“. Auslöser der aktuellen Aufregung scheint der deutsche Gesetzes-Entwurf zur Selbstbestimmung und Gleichstellung trans-, intergeschlechtlicher und nicht-binärer (TIN) Menschen vom Juni 2022 zu sein1. VIMÖ, der Verein Intergeschlechtlicher Menschen Österreich, begrüßt diesen sehr, weil er endlich die riesigen Hürden für Personenstands- und Namensänderungen abbaut und die Änderung dieser Daten als das anerkennt, was sie sind: bürokratische Verwaltungsschritte ohne pathologisierende Zuschreibungen und mühsame Gutachtenverfahren. Der Entwurf kündigt auch Schadensersatz für Körperverletzungen und Zwangsscheidungen von intergeschlechtlichen und transgeschlechtlichen Menschen an – ein so wichtiger Punkt, den niemand in der Debatte der Erwähnung wert findet. Gleichzeitig scheinen diejenigen, die behaupten, Frauenschutzräume seien durch so ein Gesetz gefährdet, den Entwurf gar nicht gelesen zu haben – denn dieser Auszug bezieht sich genau auf diese Sorge: „Es wird weiterhin darauf geachtet werden, dass Schutzbereiche für vulnerable und von Gewalt betroffene Personen nicht missbräuchlich in Anspruch genommen werden. Gewalttätige Personen gleich welchen Geschlechts haben z. B. wie bisher keinen Zugang zu Frauenhäusern. Zugangsrechte zu Frauenhäusern richten sich weiterhin nach dem jeweiligen Satzungszweck der privatrechtlich organisierten Vereine.“

Wer sich mit Lebensrealitäten von TIN Menschen befasst, weiß, dass sie im Gegensatz zur cis-endogeschlechtlichen Bevölkerung mehr Ausgrenzung, Diskriminierung und Gewalt ausgesetzt sind. Es geht bei diesem Hinweis nicht um „wer hat es schlimmer“, sondern um Realitäten, die da sind. Es geht um patriarchale, geschlechtsspezifische Gewalt, welche mit Homofeindlichkeit und Frauenhass durchsetzt ist – eine leider geteilte Erfahrung mit cis Frauen und Lesben. FrauenLesben machen genauso die Erfahrung in gesellschaftliche Strukturen mit Gewalt „passen“ zu müssen, aufgrund dessen, dass sie sind, wer sie sind – oder was ihnen zugeschrieben wird. Jeder Mord einer cis oder trans Frau ist einer zuviel!

Vulnerablen Gruppen wie trans Frauen werden Schutzräume und richtige Unterbringungen verwehrt, aus der Angst heraus, dass ein Gewalttäter in diese mit geändertem Personenstand und Namen und „als Frau verkleidet“ eindringen würde. Nachdem dies so oft als Argument gebracht wird: Wer fragt eigentlich danach, ob die Frauen in Frauenhäusern z. B. das auch so empfinden, dass Selbstbestimmung für trans, inter und nicht-binäre Menschen gefährlich ist für sie, und welche Bedürfnisse sie haben? Wo sollen TIN Menschen untergebracht werden, wenn sie in „männlichen“ Bereichen mitunter körperlich angegriffen werden und in „weiblichen“ Bereichen aber nicht untergebracht werden dürfen? Warum lässt man sie nicht selbst entscheiden, was das Beste wäre?

Gewalt gegen Frauen passiert jetzt schon – wie kann man hier Frauen auseinanderdividieren und die einen schützen und die anderen nicht? Wieso beschäftigt man sich nicht mit den notwendigen umfassenden Konzepten? Die Frauenhauskoordinierung e. V. in Deutschland hat sich im September 2022 ganz klar inklusiv positioniert. Aus dem Statement: „Ob cis, trans*, inter* oder non-binär: Passender, bedarfsgerechter Gewaltschutz darf niemals dem Zufall überlassen werden.“2

Alleine von einer „Gender-Debatte“ zu sprechen verharmlost, was hier passiert – seit Monaten diskutieren cis Menschen über trans Menschen, insbesondere trans Frauen, aber auch trans Männer. Dabei wird auch die – immer noch nicht annähernd ideale – Gesundheitsversorgung und Zugänglichkeit dazu für trans Jugendliche massiv in Frage gestellt. Weder wissenschaftliche noch community-basierte Quellen oder Quellen aus dem psycho-sozialen Fachbereich werden geteilt, um Stimmung gegen Spezial-Kliniken zu machen und den Eindruck zu erwecken, dass Trans-Aktivismus manipulativ sei und selbstbestimmte medizinische Unterstützung junge Lesben dazu bringe, medizinisch zu transitionieren und so ihre körperliche und psychische Integrität verletzt werde. Studien dazu zeigen, dass der Großteil der Menschen eine De-Transition durchführt, nicht, weil sie draufgekommen sind, dass sie nicht trans sind, sondern aufgrund von sozialem, gesellschaftlichem, familiärem Druck und Diskriminierung, und weil es für sie einfacher ist, mit der Dysphorie zu leben, statt sich permanentem Hass und Ablehnung auszusetzen. Durch die Möglichkeit, eine Transition durchführen zu können, wurden viele Leben gerettet und erheblich verbessert, allein durch die Möglichkeit der richtigen Behandlungen und durch die wichtige soziale Anerkennung!

„Es gibt nur zwei biologische Geschlechter.“ Diese Aussage hören wir in letzter Zeit oft. Dabei wird nicht nur Transgeschlechtlichkeit als biologische Wahrheit verneint, sondern auch intergeschlechtliche Menschen werden wieder vollkommen unsichtbar gemacht. Der langwierige, harte und schmerzhafte Weg, den inter Menschen gegangen sind, um auf die massiven Menschenrechtsverletzungen aufmerksam zu machen, welche passieren, damit intergeschlechtliche Körper in die biologischen Normvorstellungen passen, und dafür zu kämpfen endlich in ihrem Geschlecht und ihrer Geschlechtsidentität anerkannt zu werden, wird einfach beiseite gewischt und erneut unsichtbar gemacht. Die UN, die Europäische Kommission, das Europäische Parlament und einige Länder haben uns nach Jahrzehnten des Widerstandes gehört und uns unsere Rechte anerkannt, wir werden uns nicht von einem rechts-radikalisierten Movement diese Anerkennungen wegnehmen lassen. Und dabei brauchen wir Unterstützung und Allianzen. Die Gesellschaft braucht umfassende, entpathologisierte Aufklärung zur Vielfalt von Geschlecht, körperlichen Merkmalen und Identitäten – und einen positiven Zugang dazu, keinen gewaltvollen.

„Der Begriff Frau soll ausgelöscht werden …“. Geschlechter-inkludierende Sprache zu verwenden, heißt möglichst viele sichtbar, benennbar zu machen. Niemand verlangt dabei, dass der Begriff Frau nicht mehr verwendet werden darf – nur, weil darauf verwiesen wird, dass mit anderen Begriffen mehr Menschen benannt werden und daher nicht ausschließlich von Frauen gesprochen werden soll, wenn es beispielsweise um körperliche Voraussetzungen geht. Trotzdem wird behauptet, dass der Begriff Frau gelöscht werden soll. Woher kommen diese Behauptungen? Steht Angst dahinter, Angst etwas zu verlieren? Geht es um Machtpositionen und Ressourcen, die cis-endogeschlechtliche Frauen für sich jahrzehntelang erkämpft haben? Gespräche auf Augenhöhe über solche Ängste wären hier ein guter Ansatz, anstatt medial Gruppen, Personen anzugreifen und ihnen potentiell gewalttätiges Verhalten zu unterstellen. Es sollte um ein gemeinsames Kämpfen gehen – gegen weiße, patriarchale Machtstrukturen, um mehr Raum, mehr Sichtbarkeit, mehr Ressourcen zu erlangen.

Was in Österreich entschieden wird, entscheiden nicht die Minderheiten. Wer hat eine Plattform? Wer wird in der breiten Öffentlichkeit gehört? Wer hat Machtposition? Wer kann (mit-)bestimmen, Gesetze beschließen? Welche TIN-feindlichen Diskussionen werden – vielleicht ungewollt – befeuert? Es gibt genug Stimmen in der Regierung und den Oppositionsparteien, die über Geschlechtervielfalt und unsere Realitäten nichts wissen oder sogar aktiv unsere Existenz in Frage stellen und Gleichstellung und Verbesserung der Lebenssituationen verhindern. Gerade wenn trans, nicht-binäre, inter Menschen im Parlament angegriffen oder lächerlich gemacht werden, braucht es klare Positionen und Unterstützung! Die Konsequenzen einer trans- und interfeindlichen Rhetorik und Politik haben real die Betroffenen jeden Tag zu tragen. Vielen Menschen geht es die letzten Monate aufgrund dieser öffentlichen Debatte nicht gut. Es ist psychisch belastend, wenn über unsere Körper und Identitäten, über unsere Leben so verständnislos geredet wird und mehr die Emotionen von anderen als Fakten darüber entscheiden, welche Möglichkeiten TIN Menschen erfahren werden oder nicht. Gerade wenn gemeinsame feministische Zusammenschlüsse und Ziele so dringlich sind. Achtsamkeit für unterschiedliche Erfahrungen müssen wir alle immer bewusst haben. Aber niemandem wird dadurch etwas weggenommen, wenn wir auch Menschenrechte erfahren! Solidarität heißt aktiv unterstützen, Aktivismus und Politik machen, die gerade marginalisierte Gruppen miteinbezieht, intersektional wirkt und Menschen nicht gegeneinander ausspielt. Solidarität heißt auch, dass Betroffene nicht alleine gelassen werden, wenn Diskussionen um ihre Rechte und ihre Existenz geführt werden. Alles, was wir wollen, ist selbstbestimmt und in Ruhe leben können – gleichberechtigt und so, wie wir sind!

Der Artikel basiert großteils auf einem Statement von VIMÖ:
vimoe.at/2022/10/17/vimoe-statement-geschlechtervielfalt

1 www.bmfsfj.de/resource/blob/199382/1e751a6b7f366eec396d146b3813eed2/20220630-selbstbestimmungsgesetz-eckpunkte-data.pdf

2 www.frauenhauskoordinierung.de/fileadmin/redakteure/Publikationen/Stellungnahmen/2022-09-08_FHK_PositionierungGewaltschutzTransInterNicht-Binaer.pdf

www.vimoe.at
www.varges.at

Das Schlafen und die prekäre Realität

Schlafen. Chillen. Herumlungern. Herumkauern. Umadumkugeln. Dösen. Faulenzen. Prokrastinieren. Vegetieren. Schmarotzen. Obezahren … Anlässlich der Aktion Nullstellung schreibt Galina Baeva – eine ursubjektive Annäherung an das Thema Schlafen als Protest.

NULLSTELLUNG
Während der covidbedingten Lockdowns kam das gesellschaftliche und kulturelle Leben zum Erliegen, gleichzeitig wurde die Rolle von Kunst und Kultur in der heutigen Gesellschaft neu diskutiert. Die prekären Beschäftigungsverhältnisse und unsicheren Bedingungen, in denen Künstler*innen und Kulturtätige arbeiten und leben, wurden in den Fokus gerückt.

Im Juni 2022 wurde im Rahmen der TKI open 22_liegen die Idee des Schlafes als Protest und Widerstand als Performance mit 20 Tiroler Kunst- und Kulturakteur*innen in Innsbruck durchgeführt. Die Dokumentation der Aktion bildet die Grundlage einer Ausstellung, die im Dezember 2022 im Innsbrucker Reich für die Insel stattfindet. Diese untersucht den Stellenwert künstlerischer und kultureller Praxis im Kontext einer leistungsorientierten Gesellschaft – ihre Ausgangspunkte, ihre Motivationen und ihre Sackgassen.

Initiatorinnen von Nullstellung sind die linz-basiert arbeitenden Künstlerinnen Katharina Brandl, Violeta Ivanova, Angelika Windegger, Karla Woess.

NULLSTELLUNG
Eröffnung: Fr 2. Dezember, 19:00 h
Ausstellung: 3.–14. Dezember 2022
Raum
Reich für die Insel, Innsbruck

Schlafen.
Liegende Menschen im öffentlichen Raum konnte mensch im Juni 2022 im Bereich des Tiroler Landesmuseums in Innsbruck beobachten. „Was machen die da?“, war sicher eine Frage, die bei Passant*innen auftauchte. Oft war die erste Reaktion sich zu fragen, ob es ihnen gut geht, ob sie ohnmächtig geworden sind. Vielleicht wurde es gleich als Aktion verstanden, vielleicht auch nicht. Bei denjenigen, die es als Aktion, als Performance wahrgenommen haben, wurden Fragen aufgeworfen, die sich im besten Fall selbst beantwortet haben. Bei manchen könnte es Lesarten verursacht haben, wie: „Eh klar! Da liegen sie wieder. Nichtstuer“. Doch sobald die verteilt auf dem Areal liegenden Menschen in ihrer Gesamtheit gesehen wurden, konnte das Rätsel entziffert werden.
Dass so ein simpler Akt wie das Schlafen – höchst intim, aber explizit und radikal in die Öffentlichkeit getragen – eine Spanne von Deutungen aufmacht, von „Nichtstuer“ bis hin zur Protestform, finde ich spannend. Wollten die Künstler*innen des Projektes Nullstellung – Katharina Brandl, Violeta Ivanova, Angelika Windegger, Karla Woess – dieses Spannungsfeld zwischen Protest und Nichtstuer bewusst öffnen? Haben sie die Verbindung zwischen Protest und Faulheit in Kauf genommen, wollten sie sogar explizit provozieren?

Der Akt des Schlafens – sei es performativer Akt oder bloße Notwendigkeit – ist ein essenzieller Teil von sozialen Bewegungen und Widerstandsmomenten. Seit eh und je. Schon in den Protesten gegen den Vietnamkrieg verwendeten die Protestierenden den Akt des Schlafens, um Raum einzunehmen, um ihrer Unerschütterlichkeit Ausdruck zu verleihen. Das Schlafen in der Öffentlichkeit, wie bei Occupy Wall Street in New York oder beim Refugees Protest in der Wiener Votivkirche, prägte sich in unseren Köpfen als Akt von Mut und Unerschrockenheit ein: Auch Protestierende müssen irgendwann real schlafen. Zwei menschliche Bedürfnisse, Schlafen und Essen beziehungsweise Nicht-Schlafen und Nicht-Essen, sind die ultimativen Formen des Protests für Menschen in Not. Ausgetragen in der Öffentlichkeit bekommen sie die besondere Bedeutung des zivilen Ungehorsams. Schlafen wird als Recht und nicht als Privileg deklariert.

Eine neue Note bekam das Schlafen mit der Black Lives Matter-Bewegung in den USA. Es wurde dort bewusst als Protestaktion eingesetzt und sollte auf das „Verschlafen“ und Ignorieren von Rassismus in der weißen amerikanischen Gesellschaft und Elite hinweisen. „To be asleep“ im Gegensatz zu „woke“ widerspiegelt das bewusste „Nicht-sehen-Wollen“ von Missständen, struktureller Gewalt und Polizeigewalt, der Schwarze und People of Color in den USA ausgeliefert sind. „To be woke“ bedeutet demgegenüber auf­gerüttelt zu sein und ist ein Akt des Augenöffnens gegenüber den Lebensrealitäten minorisierter Bevölkerungsgruppen, ein Akt, der eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit den eigenen Privilegien erfordert.

Damit zurück zur eingangs erwähnten Aktion in Innsbruck, zum Projekt Nullstellung: laut Beschreibung wollten die Teilnehmer*innen und Künstler*innen ein Zeichen gegen den beschleunigten Alltag setzten und das Schlafen als essenziellen Teil des Schaffensprozesses, des Denkens und des Künstler*innen-Seins postulieren: Das Pennen als Urform kreativer Prozesse und Praxis! Bei der Vorstellung der liegenden Menschen, in ihrer Gesamtheit, denke ich jedoch an ein Sich-Weigern, an ein Sich-Entziehen einer notorischen Dynamik eines Immer-Tuns und Immer-mehr-Tuns. An die Aktion denkend, taucht in meinem Kopf außerdem das Bild der leeren Straßen während der Lockdowns der letzten zwei Jahren auf und das plötzliche Erkennen, was und wieviel mir kulturelle Teilhabe und Teilnahme bedeutet. All das, was da nicht möglich war und wie ich es vermisste. Ich denke an die erzwungenen Schlaf-Orgien während der Lockdowns und die Sehnsucht einzuschlafen und dann aufzuwachen, wenn alles vorbei ist und die Welt wieder in Ordnung ist. Die Welt wieder in Ordnung … so was! Denkend an die Aktion, tauchen außerdem die Fragen auf: Was passiert, wenn die Kunst nicht mehr da ist? Was passiert, wenn es keine Künstler*innen mehr gibt? Was passiert, wenn ich mir Kunst nicht mehr leisten kann? Wer zahlt die Künstler*innen, wenn ich mir Kunst nicht mehr leisten kann? Wessen Aufgabe ist es, Rahmenbedingungen zu schaffen, damit ich mir Kunst leisten kann? Wessen Aufgabe ist es, Rahmenbedingungen zu schaffen, damit die Künstler*innen Kunst schaffen können?

Es gibt nur eine Antwort: Es ist die Aufgabe des Staates, die Rahmenbedingungen zu schaffen, damit die Künstler*innen Kunst machen und dafür gerecht entlohnt werden. Es ist seine Aufgabe, die Rahmenbedingungen bereitzustellen, auf dass ich mir Kunst leisten kann und gerecht für kulturelle Teilhabe und Teilnahme bezahlen kann. Der österreichische Staat anerkannte diese Aufgabe mit der Ratifizierung der UNESCO-Konvention über den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen von der UNESCO im Jahr 2006: § IV Rechte und Pflichten der Vertragsparteien1. Und mit dem Regierungsprogramm 2020-2024 hat sich Österreich verpflichtet, der Konvention Folge zu leisten.

Verschlafen oder how to stay asleep
Die IG Kultur Österreich startete die Kampagne Fair Pay vor 10 Jahren. Über jahrelang andauernde Kommunikation und auf Druck seitens der Interessensvertretungen aus dem Kultursektor, wurde der Punkt in das Regierungsprogramm 2020–2024 aufgenommen. Somit verpflichtete sich der Bund eine Fair-Pay-Strategie zu entwickeln und diese gemeinsam mit den Gebietskörperschaften zu verankern. So weit so gut. Der Bund war der erste, der Fair-Pay-Schemata als Vorgabe für Förderungsbewilligungen aufgenommen hat. Salzburg, Graz und Wien zogen nach. Tatsache ist aber, dass Kulturförderungen sich aus verschiedenen Fördertöpfen speisen und solange es keine einheitliche Regelung in Bezug auf Fair Pay im Kultursektor zwischen allen Fördergeber*innen gibt, ist es nicht möglich, tatsächlich und konsequent Fair Pay für Angestellte und Honorare für Künstle­r*innen zu zahlen. Eine vor kurzem veröffentlichte Blitzumfrage der IG Kultur Wien verdeutlicht das Problem: Die unterschiedlichen Förderrichtlinien und Handhabung im Versuch, Fair Pay umzusetzen, machen aus dem undurchdringlichen österreichischen Förderwesen einfach ein Balagan. Die Forderung nach einer Reform des Förderwesens und nach Vereinheitlichung der Richtlinien der Gebietskörperschaften ist seit langer Zeit ein Thema. Und seit langer Zeit wird das Thema verschlafen. Immerhin gibt es einen Fair-Pay-Reader des Kulturrats, der eine ideale Welt der Kunst imaginiert: mit 38,5 Wochenstunden Arbeit, Gehaltsschemata und Honorarsätze, die einen wirklich aus dem Schlaf reißen. Tatsache ist jedoch: nach 10 Jahren Lobby-Arbeit und etlichen Kampagnen schlafen wir immer noch und verschlafen den historischen Moment, endlich die Kulturarbeit als Arbeit anzuerkennen. Es hilft weder die Verpflichtung zur Konvention, noch das Regierungsprogramm, noch der Druck der Interessensvertretungen. The Artist is a Tramp! Der Akt des Schlafens in der Kulturpolitik Österreichs bedeutet ein systematisches Ignorieren der Lebensrealitäten Hunderter und Tausender von Künstler*innen, Veranstalter*innen, Kulturvermittler*innen etc., die von ihrer Kunst- und Kulturpraxis alleine nicht leben können und gezwungen sind, woanders für ihre Rechnungen Geld zu verdienen. Und damit nicht genug! Selten bekommen sie Honorar für die Teilnahme an einer Ausstellung und wenn doch, dann kommt das Angebot dafür, bezahlt zu werden, selten von größeren Institutionen. Diese bezahlen gerne mit sogenanntem symbolischen Kapital, von dem aber die Rechnungen zu Hause nicht gedeckt werden.

Ausschlafen
Ich will endlich ausschlafen. Ich will die Diskussionen zwischen Verwaltung und Politik, zwischen Kulturpolitik und wem sonst noch immer, ob das, was ich mache, Arbeit ist, verschlafen – und dann aufwachen, wenn diese endlosen Diskussionen nicht mehr nötig sind. Ich will meinen Kater, das Vorgaukeln einer Zukunft, die nur alleine von mir selber abhängig ist, ausschlafen. Ich will endlich nichts leisten müssen, damit ich mir Kunst leisten kann.

1 www.unesco.at/fileadmin/Redaktion/Publikationen/Publikations-Dokumente/2005er_UNESCO-Convention_German.pdf

www.kultureninbewegung.org
www.unesco.at/en/culture/diversity-of-cultural-expressions/cooperation-and-networking

Pampa

Im Oktober wurde Christina Krämer aka Tina Kult mit dem Marianne.von.Willemer-Preis für digitale Medien ausgezeichnet. Im Mittelpunkt der 30-minütigen Videoinstallation Pampa stehen „private Wohnräume und die hier kulminierenden soziokulturellen Herausforderungen in Zeiten der Pandemie“. Die Referentin bat die Wiener Medienkünstlerin zum Interview.

Videostill Pampa, Christina Krämer

Im Video zu „Pampa“ führt eine vertikale Kamerafahrt durch Mauern und zeigt in privaten Wohnungen mit weißen Laken bedeckte Menschen. Sie sitzen, liegen oder stehen „inmitten ihres eigenen Chaos“, die Bilder ziehen „beinahe geisterhaft“ vorbei, heißt es im Pressetext. Die Szenerien wirken andererseits auch stillstehend, teilweise hell. Das gefühlte Trümmerfeld entwickelt auch Schönheit und Sog. Die Kamerafahrt durchdringt die Mauern, scheint an ihren räumlichen Verbindungen collagenhaft und morphologisch brüchig. Alles etwas mehrdeutig. Und mittendrin Menschen, die wie nicht mehr gebrauchte Möbel abgedeckt wurden, damit sie nicht verstauben. Wie kam es zu dieser Inszenierung, konkret zu diesem Bild der zugedeckten Menschen?
Inspiriert wurde ich von Clarissa Pinkola Estés, die in ihrem Buch Women Who Run with the Wolves die Teiggärung mit dem eigenen Reflektionsprozess vergleicht. Man legt ein Tuch über eine Schüssel mit geknetetem Teig, damit das Brot aufgeht und man legt einen Schleier über sich, um eine Wirkung oder ein bestimmtes Gefühl zu verstärken. Für die Protagonist*innen der Arbeit ist die Verdeckung so ein Moment des In-sich-Kehrens. Das Außen verwandelt sich in eine Traumwelt und der Blick wendet sich nach innen. Die Verdeckung ist für mich aber auch der Versuch einer Formänderung, Sichtbar-und Bewusstmachung. Es schafft einen Möglichkeitsraum, um zu sehen und zu fühlen, was ohne diesen nicht möglich wäre.

Es heißt, „Pampa“ ist eine Videoinstallation zum Thema Isolation: „Mit Pampa thematisiert Christina Krämer die Ausbeutung von Körper und Geist in einer neoliberalen Leistungs-und Produktionsgesellschaft“. Ihr O-Ton: „Im Zentrum meiner Arbeit stehen das Gefühl der Isolation und Überforderung und das starke Bedürfnis nach Ruhe, das ich bei mir selbst und den Menschen um mich herum beobachtete“. Welche Strategien haben Sie entwickelt, mit diesen Gefühlen und Tatsachen umzugehen? Ist ein Ende der Fahnenstange in Sicht oder sind Sie pessimistisch? Wo unterscheidet sich der Kunstbetrieb, ein Umfeld der Medienkunst oder konkret auch Ihr persönliches Umfeld von einer allgemeinen Zeitdiagnose?
Prekäre Arbeitsbedingungen, Überarbeitung, Selbstausbeutung und auch die Fetischisierung von Leistung ziehen sich durch alle möglichen Berufsfelder, ebenso wie neurologische Erkrankungen wie Depressionen oder das Burn-out-Syndrom.
Einerseits beobachte ich, wie ein großes Bewusstsein für Selbstfürsorge wächst. Andererseits stelle ich auch fest, wie verschiedene Branchen mit unterschiedlichen Wellness-Produkten aus genau dieser Selbstfürsorge Kapital schlagen. Unsere Gesundheit ist ein Konsumgut, und unsere Erholung dient allein dem Zweck, am nächsten Tag wieder produktiv sein zu können. Ich gebe zu, dass ich in dieser Hinsicht pessimistisch bin.
Die beste Strategie, mit diesen Gefühlen und Tatsachen umzugehen, besteht für mich darin, so viel Zeit wie möglich mit Familie und Freund*innen zu verbringen. Manchmal ist es aber gerade wegen der Überforderung sehr schwierig für mich, diese Begegnungen zu schaffen.

Zur Herstellung des Videos: Die verschiedenen Räume und Orte wurden aus unterschiedlichen Perspektiven fotografiert und die zahlreichen einzelnen Bilder zu 3D-Scans transformiert. Die Jury spricht in ihrem Statement auch von einer visuell und auditiv abtastenden Montage von Ton- und Bild-Materialien. Können Sie einige Anmerkungen mehr zu den technischen und methodischen Tools und Prozessen umreißen?
Für Pampa besuchte ich Menschen in ihren eigenen Wohnräumen, deckte sie mit einem weißen Laken zu und digitalisierte diese Szenerie durch Photogrammetrie. Das bedeutet, ich erstellte mit meiner Kamera 80–150 Einzelbilder aus verschiedenen Perspektiven, um dann mit diesen Bildern und der Hilfe einer Software ein dreidimensionales Objekt dieses aufgenommenen Moments zu rekonstruieren. Die Raumobjekte inszenierte ich dann in einem virtuellen Raum und animierte eine langsame Kamerafahrt, die über diesen Räumen entlang schwebt.

Zur Medienkunst bzw. ihrem Selbstverständnis als Medienkünstlerin: Wo und wie verorten Sie sich in diesem recht differenziert gewordenen Feld? Ist das eine Frage, die relevant ist oder haben Sie einen eher pragmatischen Zugang? Oder auch anders gefragt – wo machen Sie ihre Referenzen, wenn Sie daran denken, was Sie als Medienkünstlerin beeinflusst? Ich meine, alleine diese verwendeten Materialien der Laken und des Zudeckens oder des Baumwolltuches, auf das Sie das Video projizieren, könnte man sehr viele Querverweise machen, die nicht aus der Medienkunst kommen.
Das ist richtig, und das sollte man auch tun. Während der Arbeit an Pampa habe ich auch viel recherchiert und die verschiedenen Bilder und Symbole sorgfältig geprüft und ausgewählt. Jede künstlerische Arbeit findet immer in einem Kontext statt, und es ist mir wichtig, mir dieses Kontextes bewusst zu sein. Ich arbeite medienkritisch. Der Inhalt meiner Arbeit steht immer an erster Stelle und das gewählte Medium ist das Rohmaterial, das den Inhalt trägt.
Ich werde stark vom Diskurs in meinem künstlerischen Umfeld beeinflusst, aber manchmal ist es auch ein Konzert, das ich sehe, oder ein Text, den ich lese, der mich dann auf eine andere Spur bringt.

Woran arbeiten Sie derzeit, was sind Ihre nächsten Vorhaben? Wie wichtig ist Ihnen das Arbeiten mit anderen?
Kollaboratives bzw. kollektives Arbeiten ist mir sehr wichtig. Für die Soundgestaltung von Pampa kollaborierte ich mit der Künstlerin Lale Rodgarkia-Dara. Ein großer Teil meiner künstlerischen Arbeit passiert auch in dem Kollektiv T(n)C, das ich vor einigen Jahren zusammen mit der Künstlerin und Designerin Agnes Varnai gründete. Im Moment arbeiten wir zusammen an einer Kurzfilmreihe, die sich mit dem Thema Arbeit und Faulheit auseinandersetzt.

Welche Art der Kommunikation bevorzugen Sie derzeit? Das Leben ist ja nach Corona nicht mehr so ganz vollständig und komplett zurückgekommen, nicht? Manche Menschen bleiben auch zurückgezogen bis gefühlt verschwunden. Können wir annehmen, dass Sie das auch so sehen, dass Menschen immer noch in einer Pampa von Post-Covid herumgeistern?
Ich würde sagen, dass sich mein soziales Leben in den letzten zwei Jahren saisonal verändert hat und damit auch meine bevorzugte Art der Kommunikation. Im Moment spielt Covid in meinem unmittelbaren Umfeld keine so große Rolle mehr wie noch vor einigen Monaten. Ich bin mir jedoch bewusst, dass andere Menschen eine ganz andere Lebenswirklichkeit erleben. Die Pandemie hat einen großen Einschnitt in unser Leben gemacht, der immer noch aktuell ist. Es gibt jedoch immer weniger Räume, um darüber zu sprechen oder das Erlebte zu teilen.

Christina Krämer aka Tina Kult, geboren 1991 in Kasachstan, lebt und arbeitet in Wien als Medienkünstlerin. Digitale Kunst an der Universität für angewandte Kunst Wien. Gastjahr in der Klasse für Experimentalfilm an der UdK Berlin. Mitbegründerin des Kollektivs T(n)C zusammen mit Agnes Varnai. Ihre Arbeiten beschäftigen sich mit soziokulturellen Morphologien und sozialen Strukturen und wurden unter anderem im Q21/Museumsquartier (2022), Kunstraum Niederösterreich (2018), bei Krinzinger Projekte (2017) in Wien oder Art+Text (2017) in Budapest gezeigt.
tinakult.com

Die Fragen für die Referentin hat Tanja Brandmayr gestellt, Künstlerin, Autorin und Mitherausgeberin der Referentin.

Wo sind die Medienkünstler*innenmütter?

Medienkünstler*innen, die sich mit dem Thema Mutterschaft beschäftigen: Welche künstlerischen Projekte und Arbeiten sind in den letzten Jahren zwischen Reproduktion, Technospekulation, Mutterschaften, Techno­feminismen und Posthumanismus entstanden? Inspiriert von der eigenen Erfahrung widmet sich Graziele Lautenschlaeger diesem Forschungsbereich, der keine einfachen Antworten liefert.

Die Autorin generierte mit KI Bilder aus Pollinations. Foto Creative Commons

Im Gegensatz zu einer beachtlichen Repräsentanz von Mutterfiguren in den bildenden Künsten ist die Schnittstelle zwischen Medienkunst, Mutterschaften und aktueller Technologie gering artikuliert. Dies scheint mit den Herausforderungen zu korrelieren, die mit der schwierigen Vereinbarkeit von Reproduktions- und künstlerischen Arbeiten einhergehen. Bezeichnenderweise sind diese zwei Arten Arbeit üblicherweise schlecht bezahlt, wenn überhaupt. Überdies sind sie häufig abgewertet und deshalb unsichtbar gemacht. Zu diesem Problemkomplex gehört nicht nur die unbezahlte emotionale Arbeit, sondern auch der Mangel an organisatorischen Strukturen auf privater und öffentlicher Ebene, die empathischer mit den Schwierigkeiten von Eltern­künstle­r*innen umgehen.

Im Medienkunstbereich wird die Gender gap zusätzlich durch die Tech gap verschärft. In Kontexten, in denen Frauen auf den ersten Blick weniger Hindernisse aus dem Weg räumen müssen, um mit Technologie zu experimentieren, z. B. USA und Europa, finden sich zwar Ver­tre­ter*innen, die sich mit der Verschränkung von Mutterschaft(en), Technofemi­nis­m(en) und Posthumanismus beschäftigen. Ein Beispiel ist die US-amerikanische experimentelle Künstlerin und Technologin Ani Liu: Zwischen dem 27. Mai und 30. Juli 2022 stellte die Künstlerin eine eindringliche Soloausstellung in der Galerie Cuchifritos in New York unter das Thema Ecologies of care, in der eine vielfältige Reihe von spekulativen Kunstwerken uns zu einer Reflektion von Unsichtbarkeit von Reproduktions- und Kinderpflegearbeit einlud. Von Datenvisualisierungen von Stillen und Windelwechseln zu KI-generierten genderbasierten Spielzeugen äußert Ani Liu eine feministische Denkweise, die aus einer aktuellen technologischen Basis entsteht. Sie übersetzt für die neue Generation immer noch relevante feministische Fragen mit zeitgenössischen Techniken, indem sie sozusagen einen Teil der berühmten Post-partum Dokumente (1973–1979) von Mary Kelly spiegelt. Ein einzelnes Erfolgsbeispiel bedeutet allerdings nicht, dass wir auf dem Weg sind, ein nachhaltiges Gleichgewicht zwischen künstlerischer Produktion und Kinderpflegearbeit zu finden.

Einer Philosophie der Umwandlung zufolge ist Mutterwerden eine Erfahrung, die uns in existentieller Weise betrifft, zusätzlich zu den zahlreichen mit diesem Prozess verbundenen Tabus, Kontroversen, Widersprüchen und Ambivalenzen. Alle können intensiv genug sein, um in Kunstwerken thematisiert zu werden. Aber wann, wie und warum? Eine punktuelle Recherche im Rahmen der bereits 2003 von Signe Theill kuratierten Ausstellung double bind Kunst Kinder Karriere im Künstlerhaus Bethanien in Berlin ergab, dass sich für über 73% der teilnehmende Künstler*innen ihre berufliche Situation nach dem Kind verändert habe, während nur 60% angaben, dass ihre Kinder ihre Kunstwerke auch inhaltlich beeinflussen. Theill warnt, dass die damals gesammelten Daten eine sehr kleine Stichprobe sind. Umgekehrt weist dies auch auf die schlechte Datenlage. Als Reaktion auf diesen Mangel an Daten und Informationen habe ich beschlossen, im Rahmen meiner Forschung eine Umfrage zum Thema Mutterschaft und Medienkunstproduktion zu starten. Wenn Sie Künstler*innen kennen, die an dieser Schnittstelle arbeiten, möchte ich Sie, die Leser*innen, gerne um Mithilfe bitten, indem Sie der Person den Link zu meinen Fragen weiterleiten: shorturl.at/gnuxY. Vielen Dank! 🙂

Die Frage, warum es so wenig Medienkünstler*innen gibt, die sich mit dem Thema Mutterschaft beschäftigen, verlangt aufgrund ihrer Komplexität mehrere vernünftige Abstraktionen. In meiner Forschung schlage ich vor, Mutter und Mutterschaft als Begriffe zu verabschieden und die ursprünglich mit diesen Begriffen verbundenen Tätigkeiten als „Operationen“ an ihre Stelle zu setzen. Mit Operation meine ich, dass Muttersein verschiedene Tätigkeiten bedeutet: Schwanger zu sein, Stillen/Ernähren zu können/müssen, sich mit Baby und/oder Kinderpflege (und der entsprechend vermehrten Hausarbeit) zu beschäftigen, und so weiter – und es ist egal, welche Entität dafür sorgt.

Wir wechseln damit zur posthumanen Perspektive und auch seiner Terminologie: Ein Wesen zu generieren und zu erziehen gehört zu den wichtigsten Tätigkeiten und Abläufen eines „Weltenergiezyklus“ – selbst, wenn man Menschen nur als Arbeitskräfte für die kapitalistische Maschine betrachten würde. Aber Posthumanismus bedeutet keinesfalls eine Vernachlässigung des Menschen, sondern ein respektvolles lebensbezogenes Paradigma, das auf symbiotische Verbindungen der Menschen mit anderen Arten und auch mit Maschinen zielt. Es kann ein Kompass an Möglichkeiten sein, gemeinsam eine gerechtere Welt zu gestalten, natürlich – was den Menschen betrifft – unter Wahrung der entsprechenden privaten und individuellen Freiheiten. Mit diesem Ansatz wäre es dann insgesamt sinnvoller, die Frage bezüglich den Operationen von Reproduktion und Pflegearbeit auf kollektiver Ebene zu behandeln. Das heißt, die Mutterrolle umfasst dabei zwar die zentralen biologischen, sozialen und kulturellen Herausforderungen, betrifft aber nicht nur idealisierte weiße, weibliche heterosexuelle Körper – sogar nicht nur Menschen.

Solche posthumanistischen Fragen behandeln – in der Kunst – natürlich nicht nur die oben genannten Kunstwerke von Ani Liu, sondern – neben anderen – auch das Projekt Hybrid family (2016) der Slowenischen Künstlerin Maja Smrekar, das Ökofeminismus, Beziehungen zwischen den Arten, Technologie und ideologische Strukturen in der Gesellschaft einbezieht. Das Projekt bezog sich auf die gleichzeitige existentielle und politische Instrumentalisierung des Körpers einer Frau und des Stillens. Während einer dreimonatigen Performance mit ihren Hunden stimulierte die Künstlerin ihre eigene Hypophyse durch systematisches Abpumpen, um das Hormon Prolaktin freizusetzen. Gleichzeitig ernährte sie sich reich an Galaktogenen, um die Laktation zu fördern, was als Nebeneffekt die Erhöhung des Oxytocin-Hormons stimuliert. Dadurch, dass die Künstlerin eine „(m)Other“ wurde, erlebte sie die von Donna Haraway geprägte „natureculture“ und erforscht die dekoloniale reproduktive Freiheit in einer Multispezies-Welt weiter. Zusätzlich führte Smrekar während der dreimonatigen Performance einen Dialog mit dem Co-Kurator des Projekts, Jens Hauser, in einem öffentlichen Blog. Die Beiträge stehen auf der Website der Künstlerin zur Verfügung.

Andere mögliche direkte thematische Verbindungen zwischen Reproduktion und Technologie umfassen häufig künstliche Gebärmütter, künstliche Plazenten, und andere gentechnologische Techniken, die schon seit Beginn des Interesses an und der Angst vor Reproduktionstechnologie Sci-Fi Geschichten inspiriert haben, zum Beispiel Brave New World (1932) von Aldous Huxley oder Blade Runner (1984)/ Do Androids dream of electric sheep? (1968). In jüngster Zeit ist die Serie The Handmaid’s Tale – Der Report der Magd, basierend auf dem dystopischen Roman der kanadischen Autorin Margaret Atwood, die populärste Referenz. Genau um solche dystopischen Welten zu vermeiden, plädiert Technofeminismus für eine Haltung, in der solche Technologien auch von nicht dominierenden Gruppen entwickelt werden können. Wird Ähnliches von Künstler*innen, die im Medienkunstbereich technologisch mit Themen wie Fertilisierung, Schwangerschaft, Geburt, Kinderernährung und -erziehung und so weiter arbeiten, erwartet?

In der Kunst wird beobachtet, dass die vielfältigen feministischen Strömungen sich überschneiden. In Bezug auf die Reproduktion und die daraus abgeleiteten Technologien stehen wir vielleicht an einem Scheideweg. Anstatt einer Versöhnung der verschiedenen feministischen Strömungen benötigen wir eine Neuerfindung der Universalität, die intersektionale Stimmen berücksichtigt und die uns vor allem erlaubt, kollektiv für Veränderungen einzutreten. In diesem Sinne verlasse ich euch mit der Einladung, im Februar den Workshop Where are the media artist mothers? im Nordico Stadtmuseum zu besuchen. Dort wollen wir gemeinsam den Weg von der Idee zum konkreten Vorschlag gehen.

 

Workshop
Where are the media artist mothers?
18. Februar, 14:00–17:00 h
Nordico Stadtmuseum,
im Rahmen der Ausstellung
What the fem*? Feministische Perspektive 1950 bis heute

Empfohlene Texte, die diesen Artikel inspiriert/unterstützt haben:

Caliban und die Hexe und Revolution at Point Zero: Hausarbeit, Reproduktion und feministischer Kampf, von Silvia Federici

How Not to Exclude Artist Mothers (and Other Parents), von Hettie Judahs Full surrogacy now, von Sophie Lewis

dea ex machina, hergestellt von Armen Avanessian und Hellen Hester

The Companion Species Manifesto: Dogs, People, and Significant Otherness und Staying with the Trouble: Making Kin in the Chthulucene, von Donna Jeanne Haraway.

Unscharfe Übergänge

Nonsense, Sprachspiel oder Abgrund des Absurden? Mit „Alice in Wonderland“ machte sich Charles Lutwidge Dogson, anderweitig bekannt als Lewis Caroll, einen Reim auf die moderne Mathematik. Seine Poesie ist chiffrierte Logik, meint Barbara Eder.

Botschaften vom Lakaien-Fisch an den Lakaien-Frosch, siehe auch: The Beautiful Soup*. Foto Wikimedia Commons

Soviel ist aus einem der berühmtesten Kinderbücher des 19. Jahrhunderts noch bekannt: Alles beginnt mit einem weißen Kaninchen, das kurz nach seinem Erscheinen in einem Erdloch verschwindet; ein Verwirrspiel mit den Grenzen zwischen Realität und Fiktion nimmt seinen Lauf: Hauptfigur Alice, die eben noch am Flussufer saß und träumte, folgt dem hektischen Hasen. Sie stürzt durch einen engen Schacht, hinein in einen Raum des Ungewissen. Ihr Fallen dauert eine halbe Ewigkeit und endet an einem Ort mit unscharfen Koordinaten. Im unterirdischen Korridor gibt es viele Türen und Alice findet den Schlüssel, der eine davon sperrt. Sie öffnet das winzige Tor und entdeckt einen zauberhaften Garten. Um ihn zu betreten, ist sie jedoch zu groß – bevor sie den Weg ins Freie findet, muss Alice erst schrumpfen.

An Interpretationen der surreal anmutenden Szenarien aus Lewis Carrolls 1865 erstmals erschienenem Buch „Alice in Wonderland“ mangelt es nicht. Mal wurde die Erzählung als Parabel auf den Erziehungsnotstand des 19. Jahrhunderts gedeutet, als Kritik an den Autoritätsfiguren im viktorianischen England und den hohlen Respektbekundungen, die man ihnen entgegenbrachte; fast ebenso oft wurden Alices’ Abenteuer als Geschichten über das Erwachsenwerden und die damit verbundenen Übergangsrituale interpretiert – konsequent aus Kinderperspektive erzählt, behauptet die Hauptfigur sich gegenüber den Bewohner:innen des Wunderlands, die Prinzipientreue und Obrigkeitshörigkeit über allfällige Zweifel an den absurden Gesetzmäßigkeiten ihrer Lebenswelt stellen; auf Alice wirkt die neue Umgebung denkbar skurril und sie hinterfragt sie bis auf ihre letztgültigen Prämissen hin. Die entrückte Welt der menschlichen Spielkarten und unbarmherzigen Königinnen wird zuletzt auch dann herbeizitiert, wenn psychoanalytische Lehren dem Gegenstand ihrer Untersuchung ein Gesicht geben wollen. Carolls Fiktionen firmieren dann als dankbare Kulissen für Entgleisungen aller Art – für den französischen Anti-Psychiater Gilles Deleuze wurden die paradoxen Konstellationen im Buch zu Denkbildern für mentale Zustände, in denen Menschen nicht länger Herren und Frauen im eigenen Haus zu sein scheinen.

Carolls zweibändige Alice-Erzählung ist nicht einfach nur ein unterhaltsames Kinderbuch oder eine Fibel über die Traumlogik des Unbewussten; Charles Lutwidge Dogson, der sie unter dem Namen Lewis Caroll veröffentlichte, hat eine bestimmte Art des Denkens darin so stark chiffriert, dass sie nur mehr über den Umweg der Fiktion zum Ausdruck kommen kann; bei genauem Hinsehen erweist sein Märchen sich als logische Lektion, verpackt in eine literarische Erzählung. Mehr als ein Vierteljahrhundert am Christ Church College in Oxford als Tutor für Mathematik tätig, organisierte Dogson nicht nur Wunderland-Exkursionen, er schrieb auch Lehrbücher über Mathematik, Geometrie und Logik; seine Einführungen in ausgewählte Fachgebiete waren von unkonventionellen Methoden begleitet. Für die Lehre nahm Dogson mitunter das gesamte Universitätsgebäude in Beschlag: Klassen und Unterklassen der Logik pflegte er in räumlicher Ausdehnung darzustellen – als geometrische Anordnungen, die Kafkas Türhüter-Gleichnis nahezu bieder erscheinen lassen. Zwecks Erklärung logischer Klassen und den Hierarchiebeziehungen zwischen diesen platzierte Dogson seine Schüler:innen vertikal im Raum. Während er selbst sich in der hintersten Ecke eines Zimmers im obersten Stockwerk befand, saßen Diener:innen an den Schwellen zu den einzelnen Etagen. Auf einen Unter-Diener folgte ein Unter-Unter-Diener und auf den Unter-Unter-Diener ein Unter-Unter-Unter-Diener; vom Garten des Gebäudes aus stellte ein:e Schüler:in eine Frage an letzteren und ihr Inhalt veränderte sich von Etage zu Etage; was am Ende übrig blieb, schien schier entstellt: „Lehrer: was ist drei mal vier? Diener: Was ist Bleiklavier? Unter-Diener: Wo ist mein Saphir? Unter-Unter-Diener: was ist dein Souvenir?“ Dogsons stille Post sorgte für diffuse Signale; plastischer als durch Treppen und Stufen kann man Logik-Klassen jedoch kaum erklären; die damit verknüpfte Vorstellung bleibt komisch genug, um sich im Gedächtnis festzusetzen.

Was sich in Carolls Wunderland ereignet, wirkt so widersprüchlich wie die stoische Logik eines Ereignisses: Als künftiges ist es immer schon vergangen, über das noch nicht und doch schon des Geschehens lässt sich stets mehr und weniger zugleich sagen. Die dazugehörigen Bestimmungsstücke folgen einer infiniten Reihe an Prämissen, die der Szenerie stets vorauseilen – so wie die Schildkröte, die Achill nie überholen kann. Dogson schlägt sich auf die Seite des Läufers und macht aus der antiken tortoise ein Tier namens „Taught-Us“ – mitsamt einer Interpretation, die weit über Zenons Paradoxon hinausgeht. Anders als von Aristoteles angenommen, sind Achills Bewegungen für ihn nicht bloß hypothetisch; vielmehr handele es sich dabei um logische Aussagen, die allesamt wahr sind und infolgedessen auch zu einer Konklusion führen müssen. Dogsons Schnellläufer ist jedoch kein Achilles, sondern ein „A-Kill-Ease“ – und damit einer, der mitten im Wettlauf zum „Leichttöter“ wurde.

Dogsons logische Objekte erschöpfen sich nicht in mathematischen Darstellungen, selbst zu Kuchen einer gut bestückten Bäckerei sind sie schon geworden. In „Das Spiel der Logik“ von 1896, das als Einführung für Kinder gedacht war, begnügt sich der Autor nicht mit abstrakten Formalia, er serviert stattdessen Torten auf Papier. Diesen können unterschiedliche Attribute zu- oder abgesprochen werden, was zu sinnwidrigen und zugleich höchst konzisen logischen Aussagen führt: „Eine Proposition, die aussagt, daß einige der Dinge, die ihrem Subjekt zugehören, so-oder-so sind, wird ,partikulär‘ genannt. Zum Beispiel ,Einige neue Kuchen sind nett‘, ,Einige neue Kuchen sind nicht-nett‘“. Die freundlichen und die unfreundlichen unter den Kuchen – im Sinn eines Attributs und seiner Negation – lassen sich auch im Raum der Geometrie repräsentieren: Um ein 2-dimensionales kartesisches Koordinatensystem zieht Dogson vier parallel zueinander verlaufende Linien und verwandelt es auf diese Weise in ein Viereck; es wird zu einem Spielfeld mit vier Feldern, seine Quadranten stehen für die Attribute „nett“ und „neu“ – mitsamt ihres Gegenteils. Ein roter Spielstein zeigt an, dass es in einem Feld einige Kuchen gibt, ein grauer weist auf ihre Absenz hin, die sich wiederum als andersfarbige Präsenz zeigt; erst später belegt Dogson die Felder mit Nullen oder Einsen – im Sinne von zahlenmäßigen Entsprechungen für wahr und falsch.

Dogsons Kuchen waren nicht immer nett. In ihrem Artikel „Algebra in Wonderland“, der im März 2010 in der New York Times erschien, zeigt sich die britische Mathematikerin Melanie Bayley gänzlich unbeeindruckt von Carolls Kulinarik. Alices’ Begegnung mit einer Raupe, die auf einem Pilz sitzt und eine Wasserpfeife raucht, wird für sie zum Ausdruck von Carolls Revolte gegen ein rein symbolisches System der Algebra. Ein solches hatte Augustus De Morgan zur Mitte des 19. Jahrhunderts vorgeschlagen; innerhalb desselben wäre es auch zulässig, die Quadratwurzel aus einer negativen Zahl zu ziehen – sofern dieses Verfahren ausreichend begründet ist und einer inhärenten Logik folgt. Von derart kühnen Vorhaben war Dogson überfordert – die Angst vor unkontrollierbaren Umwälzungen im Reich des reinen Formalismus führte zu jenen spontanen Größenveränderungen, denen Alice unentwegt unterworfen ist. Mit ihr wächst und schrumpft auch ihr Erfinder, der die rapiden Veränderungen seiner Zeit fürchtet. An einem einzigen Tag unterschiedliche Größen zu haben, wirkt nicht nur auf Alice befremdlich; mit Charles Lutwidge Dogson teilt sie auch die Furcht davor, demnächst aus der Zeit zu fallen.

Wenn ein Hutmacher, ein Hase und eine Haselmaus sich zum Tee treffen, stehen Rätselfragen im Raum; das t im Teehaus ist nicht nur das mathematische Symbol für Zeit, sondern auch eine Systemvariable im quelloffenen Betriebssystem Linux. „time_t“ meint auch dort keine Einladung zur Tee-Party, sondern eine unter C und C++ implementierte Integer-Variable. Als Antwort auf ihre Abfrage erhält man eine Nummer, die derzeit rund zehn Stellen umfasst. Sie beinhaltet die Anzahl der seit Beginn der Unix-Epoche am 1. Januar 1970 vergangenen Sekunden. Auch Alice hätte sich über eine Zeitenwende dieser Art gewundert – die im Teehaus diskutierten Rätsel hat Dogson mit den Mitteln der Poesie gerade noch zu fassen versucht.

Im Moment des Verschwindens kann eine Katze nicht geköpft werden; dennoch hält die Königin aus Carolls Wunderland bis zum bitteren Ende an diesem Vorhaben fest – im Grinsen der Cheshire Cat vermutet sie zuletzt noch ihre Präsenz. Mit unsichtbaren Raubtieren und weißen Hasen hat sich die Populärkultur in der Zwi­schen­zeit angefreundet – „Follow the White Rabbit“ ist eine Aufforderung, die sich auch am Bildschirm des „Matrix“-Helden Neo findet. Vielleicht hätte Lewis Caroll seine Logik-Lehre heute in Form eines derartigen Filmes umgesetzt; seine Sprachspiele haben den heiligen Ernst von Wittensteins logischen Untersuchungen jedoch schon im Buch hinter sich gelassen; dennoch kommen seine Botschaften nicht immer an – sie teilen das Schicksal eines Briefes, der in Kapitel 6 von „Alice in Won­derland“ von einem Lakaien-Fisch an einen Lakaien-Frosch weitergereicht wird. Im Moment der Übergabe verändert sich die Reihenfolge der Wörter. Die Dokumentation der Python-Library „Beautiful Soup“ rekurriert nicht ohne Grund auf die­ses Bild – damit lassen sich HTML- und XML-Dateien mühelos extrahieren; was am Ende davon übrigbleibt, ist kein reiner Nonsense – nur sinnloser Sprachsalat.

* Beautiful Soup ist eine Python-Bibliothek zum Auslesen von Daten aus HTML- und XML-Dateien. Es spart Programmierern in der Regel Stunden oder Tage an Arbeit. beautiful-soup-4.readthedocs.io/en/latest

Direkt adressierte Ab­gesänge an die Autorität

Formsubversive Pointen, eine 45-seitige Fußnote und ein Stimmungsverlauf, „als würde eindringlichst etwas gesagt werden, dessen Sinn aber nicht als Vorstellung verdeutlicht werden kann.“ Thomas Raab über Christian Steinbachers Texte anhand seines neuen Buchs Scheibenwischer mit Fransen.

Im Buch nicht abgedruckt: Die Zeichnungen des Künstlerfreundes Miel Delahaij. Bild und Scan Miel Delahaij

Den stärksten Eindruck entfalten Christian Steinbachers Prosa und Lyrik seit jeher in der Live-Performance. Einem schalkhaften Derwisch gleich deklamiert der Autor mit geschickt eingesetzten Akzenten und Pausen seine para- oder besser pata-logischen Texte so, als würde dem Publikum eine Autorität seine Urteilsbegründung verlesen. Verlegen und etwas eingeschüchtert muss es sich eingestehen, dass es zwar diese Autorität körperlich als Gefühl anerkennen muss, das Urteil hingegen nicht als kohärenter Gedanke fassbar wird. Man ahnt etwas. Doch was? Es handelt sich um ein reines, weil leeres Autoritätserlebnis mit zwischen hinein „rosinierten“, formsubversiven Pointen und Witzen.

Bereits an dieser Kurzfassung des Wirkmechanismus zeigt sich das Formvorgabe und Ironisierung kontrastierende Verfahren, das Steinbacher (*1960 in Ried) auf der Satz-, Absatz-, Kapitel- und Werkebene verfolgt. So beginnt auch ein – es sei gesagt: – wildes Buch wie der neue Scheibenwischer mit Fransen mit einem, Orientierungshoffnung erweckenden Inhaltsverzeichnis, dem wir freilich kaum Ordnung entnehmen.

Aber doch: „Für den Truthahn ein Turban“, der erste in vier Kapitel gegliederte Abschnitt, verspricht etwas wie eine Ouvertüre („Quartett, voraus“), auf die im längsten Abschnitt „Jahreszeiten in Schwarzweiß“ vier idiosynkratisch ausfransende Bildbeschreibungen von vier Zeichnungen des Künstlerfreundes Miel Delahaij folgen, die von einer 45-seitigen Fußnote (!) mit der elektronisch unterstützten Übersetzung eines Langgedichts Raymond Roussels unterbrochen werden. Die Bilder sind nicht gedruckt, man kann sie indes auf des Autors Homepage einsehen. Das Buch endet mit einer elfseitigen Sammlung vermutlich zu den Bildern assoziierten Textfragmenten. Titel: „Guckloch, spring!“, wobei man sich an Duchamp letztes Voyeurwerk Etant donnés (1946–66) erinnert fühlt.

Um einen Eindruck in die Steinbachersche Gehirnwerkstatt zu geben, zitiere ich eine Passage aus diesem Schlussstück, weil ich meine, dass der Autor hier einerseits jenes Material „parkte“, das sich nicht gut unter dem Titel „Bildbeschreibung“ in den Hauptteil des Buches einfügen ließ, dies andererseits aber deswegen, weil es typisch für seine spielerische Formmethode ist, die ich im Anschluss würdigen möchte:

„Was kennen wir denn groß aus der Ferne von einer Gegend, wo man gelbe Windjacken trägt! Eine Meerjungfer ist dann um nichts weniger blamabel winzig als das Wahrzeichen der Stadt Klagenfurt. Klitzekleine Kantate mit K gefällig? Kinkerlitzchen sind es, die die Ungeheuer aus Kärnten und die dänische Hauptstadt in einen kooperierenden Kontext bringen.“ (S. 234)

Auffallend ist, und das durchzieht alle Schriften Steinbachers, die ich kenne, der appellhafte, das Publikum scheinbar direkt ansprechende und damit auffordernde Gestus. Der offen rhetorische Duktus wird indes gebrochen, weil die beschriebenen Denkgegenstände nicht deutlich werden oder der Text bisweilen in Alliterationen oder Reime abschweift. Das erklärt wohl die genannte Wirkung bei der Live-Performance, die die Hörenden direkt adressiert, als würde ihnen eindringlichst etwas gesagt werden, dessen Sinn aber immer nur zipfelweise erhascht und nicht als Vorstellung verdeutlicht werden kann.

Der Autor spricht in diesem Sinn sehr interessant von den „kleinen Wörtern“ wie „aber“, „und“, „auch“, „denn“, „oder“ usw., die den Vorstellungsverlauf wie „Scharniere“ auch ohne Inhalt steuern. Wie in ein Gefäß könne in dieses Gerüst aus Scharnieren relativ vielfältig befüllt werden, ohne dass das Sinngefühl abreißt. Bereits der Aufklärer Karl Philipp Moritz im 18. Jahrhundert oder große amerikanische Psychologe und Lehrer der gewiss mit Steinbacher geistesverwandten Gertrude Stein, William James (1842– 1910) erkannte die Wichtigkeit dieser „nichtreferentiellen“ Worte, die gedankliche Operationen an Gegenständen, nicht jedoch Gegenstände selbst bezeichnen. Eine Parallele zur Musik drängt sich auf: Auch dort steuern harmonische Übergänge und/oder deren Variation oder Leerlassung den Stimmungsverlauf der Hörenden, bloß dass der fehlende klare „Inhalt“ dort unauffällig bleibt, weil der Stimmungsverlauf als (neben den strukturellen Merkmalen, die man aber nur mit entsprechendem musiktheoretischen Wissen erkennen kann) ein oder das Hauptmerkmal des „Inhalts“ akzeptiert ist.

„folgerichtigkeit, die den kontakt zur wirklichkeit verliert, erzielt bekanntlich eine starke poetische wirkung“, schrieb Oswald Wiener 1987 in dem Aufsatz „Wittgensteins Einfluß auf die Wiener Gruppe“. Wiewohl stark poetisiert, steht als Grundstruktur von Steinbachers Texten ein formales Argument, das aber bei aller Suggestivkraft witziger Weise nichts suggeriert. Ich denke, hierin liegt das Geheimnis dieser Poetik, wiewohl man spekulieren könnte, warum dem eigentlich so ist. Warum wirkt die Folgerichtigkeit, die solche Texte suggerieren, jedoch im Denken allenfalls einen vage zu erahnenden Gegenstand finden, ästhetisch so stark?

Eine Ursache ist gewiss der vom Autor über die Jahre immer weiter perfektionierte Wechsel der „Größendimension“ oft innerhalb eines einzigen Satzes. Im Vorstellungsverlauf „zoomt“ man freilich nicht wie mit dem Auge, sondern muss das Objektdetail neu aufbauen, was zur Folge hat, dass der Leser oder die Leserin den Faden nur halb verliert, weil er das Objekt als Prototyp ja noch hat. Auch umgekehrt „vom Kleinen zum Großen“ funktioniert der Effekt gleich. Dieser Fokuswechsel auf winzigste Details oder größte Allgemeinheiten wird bei dem im Scheibenwischer variierten Thema der Bildbeschreibung endgültig grotesk, da es wirkt, als würde man plötzlich und überraschend ein Fernrohr auf volle Vergrößerung und wieder zurückstellen.

Die Taktik, angewandt auf die zu je drei Segmenten senkrecht gedrittelten Zeichnungen Delahaijs, zeitigt überraschende Pointen, weil ja eben untypischerweise keine Vorstellungen, sondern Bilder beschrieben werden. Anders als bei Vorstellungen, die letztlich durch die aktuelle Orientierung – eben „das, was man schreiben will“ – zusammengehalten werden, wird der Text dadurch scheinbar paradox noch assoziativer: „Vier kleine Tupfer als die kleinste Ausgabe einer Tanzaufführung. Ballett wird das aber keines mit diesen Tierchen! Denn das möchten wir ihnen bestimmt nicht zugestehen hier, die zwar nicht wie manch andere Begleiter der heißen Jahreszeit [Anm.: das Bild heißt „Sommer I“] nur an Stechen und Zapfen und Beißen interessiert sind, aber doch an mangelhaften Duftnoten“ (S. 121).

Und so komme ich zum vertrackten Merkmal, das meiner Ansicht nach die Hauptursache der poetischen Wirksamkeit der Steinbacherschen Texte ist. Die auffordernde und an den Scharnierwörtern paralogisch bewegliche Argumentstruktur suggeriert eine Autorität des Autors, die dieser durch Abschweifungen, „Splittern“ (CS), offensichtlich nebensächlichen Assoziationen und lyrischen Mitteln permanent konterkariert. Der Politiker reimt gewöhnlich nicht, und der Dichter spricht gewöhnlich nicht mit autoritärem Argument. Dieser Konflikt zwischen antiautoritär-idiosynkratischer Form und autoritär-verallgemeinerndem Sprechgestus unterliegt dem gesamten Lese- oder Hörerlebnis und erzeugt eine Art Funkenflug durch Reibung, der mit gewöhnlichen poetologisch literaturhistorischen Mitteln schwer zu fassen ist. Geste reibt auf Inhalt; die Geste wird aber meist als werkimmanent ebenfalls dem Inhalt zugeschlagen. Wie ist das aber hier, wo was scheinbar gesagt werden will, aber man weiß nicht was. Jedenfalls spricht hier weder Dada noch Breton.

Wer spricht sonst? Ich kenne diese Art des „wilden“ Leseerlebnisses weder aus der Moderne, noch, wie gesagt, den klassischen Avantgarden. Auch an die Nachkriegsavantgarden ist der, für diese viel zu assoziative, den „schmutzigen“ Verlauf des realen Denkens mit all seiner Fahrig- und Unachtsamkeit nachzeichnende Stil nicht gut anzuschließen.

So finde ich Vorläufer der Steinbacherschen Schriften eher in älteren politischen Umbruchszeiten, besonders bei den wilden und um eine neue Form ringenden der späten Renaissance. Auch dort sprechen „leere Autoritäten“, die ihrem eigenen Wissen und ihren Ideologien nicht mehr vertrauen können, wiewohl sie deren Schlüssigkeit noch goutieren. Der auf Provokation ausgelegte Rabelais mit seiner, von Michail Bachtin so schön analysierten Groteske Gargantua und Pantagruel (1532/34) oder der auf die veraltende Moral spöttelnde Cervantes (Don Quijote, 1605) wären hier wohl die „rosinante“ Wahl des Literaturgeschichtlers.

Da ich ein solcher nicht bin, fühle ich mich eher zum wilden Dialog eines Béroalde de Verville im Der Weg zum Erfolge (1617) verwiesen. Auch dort sucht ein poeta doctus, dessen Wissensbegriff durch den Zeitenwandel fragwürdig geworden ist, ironisch nach einer Form, das alte Wissen neu zu fassen, um zu einem neuen Wissen mit alter Autorität zu gelangen. Dabei kommen bei Verville freilich die „großen Erzählungen“ der griechischen Philosophie unter Beschuss, wie sie später von Descartes oder Leibniz tatsächlich „dekonstruiert“ wurden.

So arbeitet auch Steinbacher an einer literarischen Form, die für die neue Zeit passen könnte, die durch demokratisierten Informationszugang bei gleichzeitigem Verfall des Spezialwissens, mit dem man diesen Zugang noch produktiv nützen könnte, und dem damit einhergehenden ADHS gekennzeichnet ist. Jetzt ist gekommen, was wir wollten: Es gibt keine Autoritäten mehr, und wenn sich dennoch jemand als eine betitelt, so wird er belächelt und schwups vergessen. Google bemisst nunmehr Qualität anhand Quantität. Das allerdings wollten wir nicht! Mit seinem Gestus steht Steinbacher damit jüngeren Dichtern wie Ann Cotten oder dem, ebenso die Ruinen der Kunst- und Philosophiegeschichte durchstöbernden Sänger und Dichter Clemens Denk (Der Zahnstocher ist auch nur ein Dreieck, 2022) nahe.

Christian Steinbacher
Scheibenwischer mit Fransen. Sichtvermerke
Czernin Verlag, Wien, 2022
Die Prosastücke der Textserie „Jahreszeiten in Schwarzweiß“ im Buch beruhen auf Zeichnungen aus der Mappe 31 urbane haikus. gedichte und zeichnungen (2019) von Miel Delahaij.

christiansteinbacher.at

Am Theater rütteln

Art Brutal: Das Musiktheater-Performancestück Hades 2.0 war im November im Phönix zu Gast. Christian Wellmann hat es sich angesehen – und den No-Name-Hero-Gott-der-Unterwelt Patrik Huber getroffen.

Hades = Unterwelt 2.0. Foto Roland von der Aist

„Motten um mein Hirn sitz ich vor Spiegeln und die Stille flüstert mir zu come as you are – come as you are blas ich zum Sturm“

Ein aus der Zeit gezerrter, archaischer Monolith baut sich auf der Phönix-Bühne auf, das Publikum zur anstrengenden Selbstreflexions-Reise drängend. Hades 2.0 ist kein konventioneller Theaterabend, viel mehr eine Oper Light, im reduzierten Ziegel-Bühnenbild. Performativ an den Abgründen kratzend, mental Entrücktes in eine trübe Nebelsuppe reingeschnitten. Eine zentrale Rolle darin nimmt die (oft repetitive) Sprache ein. Dazu in Musik gebettetes Wehklagen, Schreie, laute Laute, Flüsterbeton. Der Abstieg in Hubers Inferno ist düster, makaber, grotesk, aber poetisch. In anrüchige Experimentaltexte wie blutiges Fleisch gewickelt. Abstrakte Sprache, die Mystik in sich birgt. Ist es Ausdruck des Desasters, in dem wir leben? Gibt es gar Antworten auf diese „Stürmischen Zeiten“? Wohl eher ist es eine dringend benötigte Hirnspülung. Der König der Toten trifft den Teufel der Lebenden, im River Full Of Bones. Art Brutal.

Das aktuelle „Musiktheater-Performancestück“ des zwischen den Kunstdisziplinen am Stacheldraht tanzenden Linzer Künstlers Patrik Huber ist ein Fiebertraum, in dessen Zentrum ein in mehrere Wesen gesplitteter, namenloser (Anti-)Held steht, der zwischen Fiktion und Realität wie ein Flipperball der Mythologie in der Zwi­schenwelt herumgeschleudert wird. Soll er bleiben oder gehen? Zeus ist zuständig für die Oberwelt, Hades für die Unterwelt. „Es ist eine Figur, die sich den Göttern entziehen möchte, weder im Leben noch im Tod ist, im Styx dahintreibt und dort Zerwürfnisse und Erkenntnisse zwischen den Parallelitäten hat“, so Patrik Huber, der Hauptdarsteller, der auch die Texte geschrieben hat, im Gespräch mit der Referentin. Worauf sein Dahintreiben abzielt, bleibt nebulös. „Es sind abstrakte Texte. Die Sprache, die ich verwende, ist nicht unbedingt etwas Erklärendes. Was für mich generell interessant ist am Theater: Wenn es nicht unbedingt etwas vorkaut oder vorgibt, sondern wenn es auch um etwas Geheimnisvolles oder Mystisches geht.“ Seine Stücke passieren assoziativ, eine Idee führt zu einer anderen. „Ich mache auch viele improvisatorische Stücke, wo ich aus dem Blauen heraus rezitiere.“ Beim Hades-2.0-Stück hält sich Huber aber akribisch an seinen selbstverfassten Text: „Ich wollte wieder einmal einen geschriebenen Text haben, ihn sozusagen nicht loslösen, endlich wieder einmal ein fertiges Stück haben.“
Die Herausforderung ist, den Text straff umzusetzen und etwas zu schaffen, das mehr oder weniger überall gespielt werden kann. „Es sind verschiedene Figuren, die im Protagonisten vorkommen und natürlich geht es um etwas Psychotisches oder sich mehrfach Wiederholendes“, so der gelernte Grafiker und Reproduktionstechniker, der in unterschiedlichen Kunstgefilden autodidaktisch unterwegs ist. Es gibt weiters sich wiederholende Mantras, wie beispielsweise „Fleisch, totes Fleisch, rohes Fleisch“, die Selbstreflexion fürs Publikum sind. „Ich glaube, dass gerade diese rezitativen Stellen, die sich immer wieder wiederholen, dazu dienen, dass man in diese Schleife hineinkommt, da kann man abschalten. Man muss nicht immer nachdenken, wenn sich das wiederholt. Wenn man sich fallen lässt, dann entsteht irgendwann ein anderer Zugang oder Verständnis. Dieser Zustand des Typen, der dort schwimmt oder treibt, ist ja etwas Transzendentes. Aus dem Totenreich oder aus Einsichten ins Leben, aus dem heraus fügt sich das zusammen.“
Alles in einer intuitiven Erzählweise und Sprachwelt, durchtränkt von mehrdeutigen englischen Phrasen und 80er-Jahre-Songs. „Die Popmusik-Zitate kommen von der Thematik des Schreibens. Ein stakkatoartiger Fluss, das hat dann alles gut zusammengepasst. „Sweet Dreams ist ein surrealer Traum, mehr oder weniger, da passt der Refrain gut“, ergänzt er. „Oder wie bei Road To Nowhere der Talking Heads: Ich weiß nicht, wohin es geht.“
Dazu verwendet er Schlüsselsätze wie: „In Katzenmägen brütet sich die Zukunft aus“. „Das ist auch so ein kryptischer Satz, der sehr bildhaft, emotional ist und gleichzeitig sehr abstrakt. Es baut sich ein Textkonvolut auf. Wenn das schön dasteht, fällt es aber im nächsten Moment wieder durch eine Phrase zusammen oder es festigt sich, man weiß das nicht so genau“, so Huber zu Sätzen, die etwas auf die Spitze treiben und es verdichten. „Wenn die Sprache körperlich wird, das heißt, wenn man sich bewegt und die Sprache verzerrt, an ihr herumreißt, dann bekommt die Sprache einen Körper. Das durchbricht dann vielleicht auch die Wand zum Publikum, weil man sich nicht zurücklehnen kann und das Stück einfach anschauen kann, sondern gefordert wird. Ich glaube, ich brauche das Körperliche in der Sprache.“ Die ein Sog und nicht einfach zu durchblicken ist. Das Paradies offenbart Abgründiges.
Sein erstes selbst inszeniertes Theaterstück am Phönixtheater hieß Aida (Opus Trash nach Verdi) von 2004. Das Libretto wurde zurecht gekürzt und die Lieder von Aida durch Popsongs, wie Born To Be Alive, ersetzt. Beim Tanzhafenfestival 2018 war es hingegen ein größeres Format mit 20 Leuten, das sich für nur eine Aufführung als sehr aufwändig herausgestellt hat. Jetzt ist er zum bewährten Minimalformat zurückgekehrt.

Patrik Huber arbeitet viel mit Musik, weil das ein guter Träger ist, der für ihn einfach passt. Mit dem ebenso dauerumtriebigen Ottensheimer Musiker Gigi Gratt hat er bei Hades 2.0 den perfekten Komplizen an seiner Seite. Gigi schafft es, nur mit Gitarre, Trompete und Loops ein ganzes Orchester in das oft in rotes, blutiges Licht gehüllte Ziegelambiente zu malen: eine Musikwand, kontrastiert von ruhigen Momenten, dazu die oft stark verhallte Stimme des No-Name-Heros. Beschwörungen wiederholen sich drone-doomig und können im Raum fast ertastet werden.
Mit Gigi hat er bereits 2005 beim Bonesmashery Man, dem Knochenzertrümmerer, ebenso eine mythologische Figur, zusammengearbeitet. Gefangen im Blut der Seelen, die er getötet hat, sucht er verzweifelt nach einem Ausweg. Auch das ist eher (düsteres) Musiktheater – ETA Hofmann oder Nick Cave sind die Kinder der Nacht.
Hades 2.0 wurde durchgehend mit Musik geplant, als Stück mit einem Musikanten. Vorher wurden von Huber Musikmotive gefertigt und der Text dazugefügt. „Dann haben Gigi und ich das gemeinsam noch einmal aufgearbeitet. Er ist fixer Bestandteil, aber das Stück war vorher schon da.“ Im Dezember wird es nochmals im Bauhof in Ottensheim gespielt und auch weitere Aufführungen im deutschsprachigen Raum sind geplant.

Mit genreübergreifenden, interdisziplinären Projekten bedient Huber mehrere Kunstsparten und Unterhaltungsebenen. Ein Freigeist mit unsinnigem Humor, der Groteske verpflichtet, zwischen Performance, Schauspiel, Musik, Malerei, Installationen etc. Meistens hat seine Multi-Kunst eben einen musikalischen Aspekt, am Rande der Unvorhersehbarkeit. „Performances müssen eine gewisse Spannung in sich bergen. Ich mache das nicht nur des Publikums wegen, sondern mich interessiert es, dem nachzugehen. Mir taugt das, ein bisschen am Sprachbaum zu rütteln. Für mich sind Theatersachen nicht so „Theater-Theater“, sondern sie mischen sich in Richtung Performance. Ein Mittel, um Texte zusammen mit der Performance zu etwas Eigenem zu machen.“
Sein großformatig gemalter Zyklus Paradies – Garten der Verfänglichkeit „ist auch so ein Stoff, wo es darum geht: was ist Paradies? Paradies ist oft auch ein Garten der Verfänglichkeit. Paradies kann relativ schnell kippen. Was mich interessiert, ist die subversive Ebene und Sprache, die es überall gibt, auch in der Natur.“

Seine wohl bekannteste Kunstfigur, Georgie Gold, ist ein abgehalfterter Entertainer der 1970er-Jahre, der aberwitzige Schoten rund um seine berühmten WeggefährtInnen auftischt – und bald ein Comeback feiert. „Demnächst werde ich den GG wieder aus seiner Hüttn holen. GG ist eigentlich ein gewiefter Typ, der auch so surreale Geschichten erzählt. Er tut ja so, als ob er für viele Leute aus dem Showbusiness, wie Mick Jagger oder Brigitte Bardot, Retter oder Triebfeder war. Er selbst stellt sich aber nicht so dar, der ganze Rummel interessiert ihn nicht, er erzählt einfach die Geschichten und singt ein bisschen. Und nutzt das Understatement für Geschichten, die es so nicht gibt. Trotzdem steht er im Mittelpunkt – und bringt sich selbst in eine Position, in der er selbst der Star ist. Mick Jagger hat er etwa den Mund paniert, mit einem Hammer, weil er nie Satisfaction gehabt hat. Ein Surrealist auf höchstem Niveau. Man liebt ihn für seine Geschichten, die man ihm fast auch noch glaubt – das hat einmal jemand darüber passenderweise geschrieben.“

Mit Jens Vetter gibt es außerdem musikalische Auftritte als Vetter_Huber-Duo – Sound Art als eskalierender Industrial-Techno. Oder die Performance-Gruppe The Living Dead Clowns, in der Nachbarschaft der Tiger Lillies. Das Buch Poems For Anarchy (2018) ist ein lyrisch-prosaisch-experimentelles Textbuch mit Fotos und CD, wo die Texte mit Musik vertont werden. Er überlegt, es nochmals herauszubringen.

Ebenfalls im November fand die Produktion der Fabrikanten, Meeting Wittgenstein statt, zu dem Huber eine musikalische Sprachperformance beisteuerte: „Mit einer Zerpflückung der Sprache, weil beim Wittgenstein geht’s auch oft darum, dass er die Sprache sisyphusartig zerpflückt. Ich habe das einfach als Spiegel benutzt und sozusagen meinen Geist durch dieses Gitter gepresst.“
Seine Lebensgefährtin Crystn Hunt Akron hat dazu experimentelle Musik gemacht. Mit der Musikerin und Künstlerin hat er bereits etliche Projekte umgesetzt. So hat sie zum Beispiel die Kostüme für Hades beigesteuert, bei der Regie mitgearbeitet oder vor zwei Jahren in Rijeka beim Kulturhauptstadt-Projekt EBRIPHON aus Geräuschen eines Frachtschiffs eine Komposition gemacht.
Zum Abrunden des gargantuesken Huberschen Werks sei auf seinen eigenen Kanal auf dorf.tv hingewiesen, wo regelmäßig neue Arbeiten zu finden sind, so auch in Bälde Hades 2.0.

Hades 2.0
Bauhof Ottensheim
16. Dezember, KV KomA

vetterhuber.net
dorftv.at/channel/patrik-huber

Milena in Prag

Im Dezember sind noch zwei Stücke in der Tribüne Linz zu sehen: Vor dem Fenster liegt das Leben und Das ist das Leben. Die beiden Stücke handeln von Milena Jesenská: Zuerst in Wien spielend und in intensiver Beziehung zu Kafka, danach nach Prag zurückgekehrt und erfolgreiche Journalistin geworden, nach Ravensbrück deportiert, immer Widerstandskämpferin und moralisch Irrsinnige. Hier ein bearbeiteter Auszug aus einem Essay von Cornelia Metschitzer, von der auch die Stücke und Inszenierungen stammen.

In der Tribüne spielt das Leben von Milena Jesenská – alias Simone Neumayr mit Schauspielpartner Rudi Müllehner. Foto Reinhard Winkler

Ich gehe und verspreche mir keinen Sieg. Ich wüsste nicht, worüber ich siegen könnte. Mut wird belohnt und Mut wird bestraft. Alles ist zweischneidig, für alles muss man zahlen. Und an beiden Ufern wird man stets das Geschehene bereuen. Das alles weiß ich. Aber vor allem müssen wir uns über etwas anderes im Klaren sein: […] Wir müssen wissen, was wir gerade auf dem Stück Erde, auf dem wir leben, und an dem Platz, an dem wir arbeiten, tun werden. Milena Jesenská

Das Leben mit ihrem liebenden und strafenden Vater gestaltete sich von Beginn an schwierig, Milenas Freigeist und Widerspruchskraft wurden im Mädchengymnasium Minerva mitgeformt. Nach dem frühen Tod der Mutter, die sie fürsorglich pflegte, wurde Milena ein „Bürgerschreck“. Ein abgebrochenes Medizinstudium, sie warf sich in die Künstlerszene, wo sie unter anderem Papas Geld verteilte. Ganz Prag zerriss sich über Milena das Maul. Und sie ging mit ihrem ersten Mann nach Wien. Im ersten Stück Vor dem Fenster liegt die Welt haben wir Milena in ihren ganz jungen Jahren bis 1924 gezeigt, in ihrer intensiven Beziehung zum noch unbekannten Franz Kafka, im seelischen Überflug, und eine Ahnung davon gegeben, wie sie die menschenzugetane und impulsive Persönlichkeit wurde, die danach unerschrocken und mit großem Mitgefühl ihr Schreiben und Handeln in den Dienst der Gesellschaft stellte. Nun, im zweiten Stück, widmen wir uns Milenas zwei Lebensjahrzehnten zwischen 1924 und 1944: Das ist das Leben handelt von der Journalistin und Widerstandskämpferin Milena Jesenská, die 1896 als großbürgerliche Tochter in Prag geboren wurde, nun aus Wien wieder in ihre Geburtsstadt zurückkehrte und 1944 im KZ Ravensbrück starb.

Zum Inhalt des Stücks
Nach Kafkas Tod und ihrer Scheidung von Polak ist sie aus dem dumpfen Wien in ihre geliebte Geburtsstadt Prag zurückgekehrt. Diese erblüht gerade neu und ist nun das Zentrum der ersten tschechoslowakischen Republik nach 300 Jahren Habsburgerherrschaft. Eine große Aufbruchsstimmung hängt in der Luft. Und auch Milena versucht, sich von alten Mustern und Abhängigkeiten zu befreien und in dieser neuen Zeit neu zu leben beginnen.
Als Idealistin möchte sie auch mitbauen am Traum der europäischen Avantgarde, den technischen Fortschritt mit Humanität zu versöhnen und die Emanzipation der Frauen voranzutreiben. Schon als beliebte Modejournalistin der konservativen Tageszeitung Národní Listy richtet sie daher ihren Blick unter alle Oberflächen, wird aber fallengelassen, als sich empörte Leserbriefe häufen. Auch privat hat sich ihr unheimliches Glück bald verflüchtigt. Sie bekommt zwar mit Honza (eigentlich Jana) das Kind, das sie sich immer gewünscht hat, aber gleichzeitig erkrankt sie schwer und wird von Morphium abhängig. Jaromir Krejcar, ihr zweiter Ehemann, fühlt sich der familiären Situation nicht gewachsen und geht in die Sowjetunion, von wo er mit einer anderen Frau wieder zurückkommt.
Um in dieser großen privaten Krise Halt und Zugehörigkeit zu finden und dabei auch etwas Nützliches für die Welt zu tun, schließt sich Milena der Kommunistischen Partei ihres Landes an. Diese hat sich zwar auf den harten Moskauer Kurs eingeschwenkt, aber Milena glaubt weiter an die romantische Idee des Sozialismus und an sein großes Versprechen einer menschenwürdigen, gerechten Gesellschaft ohne Herrschaft und Ausbeutung. Aus Solidarität will sie sich nun verstärkt um die drängenden sozialen Anliegen der Arbeiterschaft kümmern, und in den Parteiblättern hat sie dazu die Gelegenheit. Dass sich ihr öffentliches Schreiben dabei immer mehr in ideologischen Phrasen verliert, nimmt Milena zunächst noch in Kauf. Als die Parteidisziplin aber von ihr verlangt, sich von ihrem neuen Lebensgefährten Evžen Klinger zu trennen, will sie sich nicht länger unterwerfen. Sie ohrfeigt ihren Chefredakteur und ist damit bei allen Parteiblättern untendurch. Bittere Armut und soziale Isolation zwingen sie daraufhin, Bettelbriefe an lose Bekannte zu schreiben, doch ihren reichen, aber strengen Vater möchte sie auch nicht um Hilfe bitten. 1937 wendet sich Milenas Leben dann unerwartet wieder zum Besseren. Nachdem 1933 mit Hitler das Unheil erneut über Europa hereingebrochen ist, wird sie von ihrem früheren journalistischen Weggefährten Ferdinand Peroutka in dessen renommiertes demokratisch-liberales Wochenblatt Prítomnost geholt. Dort bekommt sie Gelegenheit, ihr großes Talent in der politischen Analyse unter Beweis zu stellen. Als Reporterin reist Milena mehrmals in die brodelnden Sudetengebiete und berichtet über die tiefe Kluft zwischen den einzelnen Volksgruppen, das Schicksal deutscher Emigranten und Henleins Produktion von „Kindernazis“, die ihre Eltern bespitzeln. Dabei schafft sie es, die verängstigten Menschen zum Reden zu bringen, ohne ihre Erzählungen auszubeuten. Sie gewinnt neue Anerkennung bei ihrem Lesepublikum und wieder festen Boden unter den Füßen, auch wenn das ganze Schiff arg zu schwanken begonnen hat.
1938/39 nämlich haben zwei einschneidende Ereignisse die Tschechoslowakei in tiefste Verzweiflung gestürzt: das Münchner Abkommen, das die Abtretung der Sudetengebiete erzwingt sowie die sechs Monate später folgende Invasion von Nazi-Deutschland in die „Rest-Tschechei“. Die Stimmungsbilder, die Milena auf den Straßen und Plätzen auffängt, als die Westmächte ihr Land einem faulen Frieden in Europa opfern, sind bis heute ein unsagbar berührendes Dokument der Geschichte.
Und auch Milenas eigene Geschichte verstrickt sich mit dem Unheil ihrer Zeit immer mehr, denn ihr journalistisches und zivilgesellschaftliches Engagement wird für sie immer gefährlicher. Als sie es dem deutschen Zensor zu weit treibt, erhält sie Schreibverbot, geht in den Widerstand, verteilt weiterhin Hoffnung und Zuversicht an die Verzweifelten sowie illegale Zeitungen, an denen sie persönlich mitschreibt. Sie versteckt und verpflegt unzählige verfolgte Menschen in ihrer kleinen Wohnung und hilft den Flüchtenden, der „Mausefalle“ Prag zu entkommen. Gleichzeitig warnt sie davor, alle Deutschen als Feinde zu verteufeln.

Über Milena
Milena, die keine Moralistin war, sondern immer den ganzen Menschen in all seiner Widersprüchlichkeit sah, half bedingungslos allen, die ihre Hilfe brauchten. Über alle unterschiedlichen Ideologien oder persönliche Kränkungen hinweg. Extreme und dramatische Situationen hatten in ihr immer schon Kräfte aktiviert, mit denen sie sich selbst und andere Menschen retten konnte. Ihr Bemühen um eine gerechtere Welt, ihre Menschenliebe, ihren Lebensmut, ihren Wunsch nach sinnvoller Tätigkeit, das alles lebte sie tatsächlich bis zum letzten Augenblick. Ihre besondere Eigenschaft, gewisse äußere Regeln einfach nicht zu akzeptieren, wenn sie ihrem innersten Wesen widersprachen, wurde ihr in ihrer Jugend in der Psychiatrie als „moralischer Irrsinn“ ausgelegt. Diese Unerschrockenheit des Herzens hatte ihr später unter dem Fremdregime der Nazis eine Anklage wegen Hochverrats eingebracht, von der man sie zwar mangels Beweisen freisprach, nicht aber freiließ. Sie wurde in „Schutzhaft“ genommen, musste sich von ihrer Familie verabschieden und wurde schließlich deportiert. Alle Versuche, sie doch noch freizubekommen, scheiterten und Milena starb mit 47 Jahren nach einer Nierenoperation im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück. Aber noch an diesem schrecklichsten aller Orte konnte sie auf der Krankenstation, wo sie arbeitete, viel Gutes bewirken. Die Unerschrockenheit ihres Herzens blieb auch dort noch stärker als ihre Angst vor Bestrafung und Tod. Ein letztes Mal wuchs sie über sich hinaus und tat, was sie eben tun musste.

Acht Jahre nach Milenas Tod 1944, im Jahr 1952, gab Willy Haas Kafkas „Briefe an Milena“ heraus, eine literarische Sensation. Als innige Briefgefährtin des später weltberühmten Schriftstellers erlangte Milena damit zunächst in der Literaturwelt einige Bekanntheit. Ihr engagiertes und bewegtes Leben abseits von Kafka, den sie immer Frank nannte, findet aber bis heute nicht die Beachtung, die es verdient. Milena hatte Kafkas Briefe viele Jahre gehütet wie einen Schatz und sie dann Willy Haas persönlich übergeben, nachdem sie sich vor den Nazis nicht mehr sicher fühlen konnte. Ihre eigenen Briefe an Frank sind hingegen bis heute verschollen und so gibt die Beziehung von Milena und Kafka bis heute Rätsel auf. Der erste Teil unseres Bühnenzweiteilers über Milena „Vor dem Fenster liegt die Welt“ widmet sich intensiv der tiefen seelischen Beziehung der beiden und entwirft die These, wonach Kafka für Milena die Initialzündung dafür war, sich von seinen und ihren Ängsten und Sehnsüchten zu befreien und ein tätiges Leben in der Gemeinschaft zu riskieren.

Während Milena bei uns immer noch zu sehr in Kafkas Schatten steht, wurde sie in der Tschechoslowakei seit 1948 auch viele Jahre nach ihrem Tod noch zusätzlich totgeschwiegen, da sie eine Kritikerin der kommunistischen Einengung war. Erst 1966 brachte der Literaturwissenschaftler Eduard Goldstücker ihren Namen in ihrem Heimatland erneut ins Gespräch. Er begann, sie vom Stigma der Verräterin zu befreien und sie aus dem Schatten von Kafka zu lösen. Seither gibt es immer mehr – vor allem – Wissenschaftlerinnen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Milena Jesenskás bewegtes Leben zu recherchieren, es der Welt weiterzuerzählen und ihr kostbares publizistisches Werk zu sammeln und zu sichern.
Denn Milena hat der Nachwelt ein umfangreiches journalistisches und essayistisches Werk hinterlassen, das nicht nur ein wichtiges faktisches und atmosphärisches Zeitzeugnis der Zwischenkriegszeit darstellt, sondern auch Aufschlüsse über unsere heutige Zeit geben kann. Da Milena durch ihren schreibenden Beruf sehr in ihrer Zeit und den Geschehnissen verhaftet war, sich als wacher Geist und mitfühlender Mensch selbst nicht aus ihrem Schreiben herausnahm und deshalb auch viel persönliche Haltung in ihre Beobachtungen, Reflexionen und Analysen legte, geben ihre Texte auch sehr viel Aufschluss über sie selbst. Es war immer Milenas große Stärke, sich mit ihren Themen ganz zu identifizieren und damit erlangte sie diese große Glaubwürdigkeit, für die sie einerseits von vielen geschätzt wurde, mit der sie sich aber auch immer wieder angreifbar machte. Milena sprach unbequeme Wahrheiten aus, auch wenn man sie nicht wissen wollte. Sie zettelte konstruktive Dialoge an, welche die ideelle Kluft zwischen den Menschen überbrücken konnten. Es ging ihr um Wahrheit, die sie trotz allem suchte, auch wenn sie wusste, dass sie schwer zu finden war, und wenn, dann meist im Plural. Ihr politisches und gesellschaftspolitisches Schreiben war geprägt von einem aufklärerischen und emanzipatorischen Anspruch. Sie versuchte, hinter den wechselnden Erscheinungen, unter den schlagenden Wellen der Ereignisse, auch das sichtbar zu machen und zu propagieren, was stets unverhandelbar bleiben sollte: den Humanismus und die Menschenwürde.

Im Mut haben und Mut machen ließe sich also auch heute noch ganz viel von dieser Frau lernen bzw. kann Milena auch uns Heutigen noch etwas von ihrem Lebensmut abgeben. Darum habe ich viele O-Töne aus ausgewählten Quellen ihres privaten und öffentlichen Schreibens in unseren Stückzweiteiler hineinmontiert und manchmal erscheint es jetzt fast so, als würde Milena darin wie eine Zeitgenossin zu uns sprechen. Speziell auf dem Theater lassen sich mit den verdichtenden Mitteln der Kunst und mit Menschendarstellung solche innigen Momente nachempfinden. Theater kann auch einen umfassenden Eindruck von einem ganzen Menschenleben geben, es durch die Montage des gewählten Materials in seiner geschichtlichen Gewordenheit lebendig nachzeichnen. Deshalb ist Das Ist Das Leben wie bereits das Vorgängerstück Vor Dem Fenster Liegt Die Welt wieder mit allen Mitteln der Kunst, aber auch mit vielen Doku-Quellen gestaltet. Denn unsere Welt, unsere Zeit, wir alle brauchen mutige Stimmen mit Geist und Seele, die unvoreingenommen sind und uns in klaren, aufrichtigen Worten die Widersprüche und Zusammenhänge des Lebens nahebringen können, und das, ohne zu belehren, zu moralisieren oder zu missionieren. Und Milena Jesenská war so ein Mensch.

Milena in Prag wurde in dieser hier abgedruckten Fassung von der Redaktion der Referentin bearbeitet, vor allem im ersten und letzten Absatz.

Die vollständigen Essays von Cornelia Metschitzer: Milena in Wien, Milena in Prag tribuene-linz.at/medienseite

VOR DEM FENSTER LIEGT DIE WELT
Milena Jesenská in Wien
In Revolte und auf der Flucht vor ihrem Vater landet die frisch verheiratete Milena 1918 im hungernden Nachkriegs-Wien. Die Fürsorge, die sie von ihrem Mann nicht bekommt, holt sie sich vom damals noch fast unbekannten Franz Kafka, den sie als erste in eine andere Sprache übersetzt und mit dem sich eine innige Briefliebe entspinnt. Als sich die beiden daraufhin für viereinhalb glückliche Tage in Wien persönlich treffen, ist dies der Anfang vom Ende einer faszinierenden und rätselhaften Verbindung.

Letzter Termin: 9. Dezember, 19:30 h

DAS IST DAS LEBEN
Milena Jesenská in Prag
Mitte der 1920er-Jahre kehrt Milena von Wien wieder nach Prag zurück, wo sie in einer neuen Zeit wieder zu leben beginnt. Sie wird eine erfolgreiche Journalistin, heiratet ein zweites Mal und bekommt das ersehnte Kind. Doch unerwartet zerbricht ihr Glück und sie verliert alles, nur nicht ihre Tatkraft und ihren Lebensmut. Als mit den Nazis das Unglück auch über Europa wieder hereinbricht, verwandelt Milena ihr persönliches Leid in eine große innere Stärke und rettet mit der Unerschrockenheit ihres Herzens vielen Menschen das Leben.

Letzte Termine im Dezember: Mi, 07. Dezember, 19:30 h Sa, 17. Dezember, 19:30 h

Anmerkung: Die beiden Stücke sind so aufgebaut, dass sie getrennt und zusammen angesehen werden können.

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Damit der Faden nicht reißt …

Feministische Wegbereiterinnen werden von Autorinnen jüngerer Generationen portraitiert. Was sie zugleich verbindet und trennt: ihr Alter, ihre Blickwinkel, ihre Erfahrungen, ihr Feminismus. Über das Buch Kämpferinnen und seinen lebensgeschichtlich orientierten Zugang schreibt Tanja Brandmayr.

 

„Die Texte sind hochpolitisch, überraschend, nachdenklich und poetisch. Ihre Überzeugung: Es muss weitergehen!“ ist auf der Rückseite des Buches zu lesen und man möchte dem uneingeschränkt zustimmen. Was die Zugänge selbstverständlich eint, lässt sich auf den ersten Blick mit den auf den Buchdeckeln ersichtlichen Ansagen „Fight Patriarchy“ (vorne) und „Smash Sexism“ (hinten) zusammenfassen. Dies veranschaulicht die ebenso kräftige wie fragile Geschichte in einem Kampf, der weitergeführt werden muss. Und ein kleines Detail zur Gestaltung: Neben dem Buchtitel „Kämpferinnen“ und den drei Herausgeberinnen-Namen Birgit Buchinger, Renate Böhm und Ela Großmann, sind die zwölf interviewten Wegbereiterinnen und zehn portraitierenden Autorinnen der jüngeren Generation gemeinsam und ununterschieden am Buchdeckel genannt – was man, über das vermeintlich Trennende der Generationen und Feminismen wohl als Zeichen für die Notwendigkeit von immer wieder neu zu bildenden Kollektiven für die übergeordnete Sache lesen kann. In diesem Sinn wären das hier: Marlies Hesse, Helma Sick, Sissi Banos, Christina Thürmer-Rohr, Mira Turber, Frigga Haug, pimp ois, Erica Fischer, Katherina Braschel, Christina von Braun, Gabi Reinstadler, Susanne Feigl, Elisabeth Stiefel, Theresa Lechner, Maria Mies, Nicole Schaffer, Irene Stoehr, Katharina Krawagna-Pfeifer, Ute Remus, Maria-Amancay Jenny, Heide Göttner-Abendroth und Gudrun Seidenauer.

Bei den Kämpferinnen handelt es sich um zwölf Frauen und um lebensgeschichtlich orientierte Interviews/Gespräche, die zuerst vorwiegend von den Herausgeberinnen mit den feministischen Wegbereiterinnen geführt wurden. Diese kommen größtenteils aus dem deutschsprachigen Raum, aus unterschiedlichen aktivistischen, politischen, kulturellen, ökonomischen etc. Feldern und sind – als eine der wenigen wirklichen gemeinsamen Vorgaben – spätestens 1945 geboren. Dieses Material wurde, um die Texte zu verfassen, an Feministinnen der jüngeren Generation weitergegeben. Was wiederum zu einer Vergrößerung und Vermehrung von Beschäftigung führte, alles in allem zu einem fruchtbaren Prozess. Dazu ist seitens der Herausgeberinnen im O-Ton zu lesen: „Der ursprüngliche Plan für dieses Buch war, die Porträts selbst zu verfassen. Verschiedene Hürden auf diesem Weg mündeten schließlich in das Vorhaben, den Stab bereits im Tun weiterzureichen. So wurde aus einem Solo ein kollektiver Produktionsprozess, was unserem feministischen Bewusstsein umfänglich entspricht. Indem sich jetzt junge und jüngere Frauen mit diesen Geschichten auseinandersetzen, passiert ein Transferprozess. Um den Faden nicht reißen zu lassen.“

Dieser Transferprozess gelingt insofern auf besondere Weise, als dass die lebensgeschichtlich orientierte Auseinandersetzung sich neben dem feministischen Kampf auch immer auf ein Eintauchen in die fremde und eigene Biographie stützt („Bei diesen Überlegungen tauchte ich in meine eigene Biographie“). Dieses Eintauchen findet diejenigen Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede vor, die sich nicht nur durch andere Arbeitsfelder und Haltungen auszeichnen, sondern sich auf grundlegende Weise durch die Gesamtheit von Schicht, Hintergrund, Status, Milieu, Zeit, Zeitgeist unterscheidet und speist – was bis heute im Diskurs zu einer Erweiterung des feministischen Bewusstseins, als auch zumindest teilweise zu heftigen Kämpfen führt. Gerade in der Offenlegung dieser lebensgeschichtlichen Unterschiede lässt sich aber die Gesamtheit von höchst kollektiven, wie individuellen Vorgaben kennzeichnen, die die feministischen Leben zwischen Persönlichem, Privatem und Politischem prägen. Manche Frau wurde im Selbstverständnis der 1950er und ff-Jahre etwa rundum derartig runtergemacht, dass man schreien möchte. In einem anderen Text findet man wiederum die (zumindest, was die Schule betrifft) tröstliche Zeile: „Entgegen eines oft bemühten Klischees der 1950er Jahre ist das Klima an ihrer Schule eher liberal. So ist es selbstverständlich, dass alle Mädchen studieren, ihr eigenes Geld verdienen wollen und darin, sowie in ihren Anstrengungen, die klaustrophobischen Verhältnisse zu verlassen, von ihren Lehrer:innen unterstützt werden“. Also zumindest punktuell Unterstützung gegen die gesellschaftliche Enge, die Frauen systematisch von eigenständigen Entscheidungen fernzuhalten verstand. An diversen Stellen finden sich Verweise auf NS-Erfahrung, familiäre Verstrickungen und die autoritären gesellschaftlichen Strukturen gesamt.

Christina von Braun etwa, 1944 geborene Kulturtheoretikerin, Autorin und Filmemacherin, hat gegen diese Verstrickungen von vielen Seiten angearbeitet: Deren Portraitistin Mira Turba beschreibt zum Beispiel ihren Ansatz, sich zur eigenen Kultur in Distanz zu setzen, um im kulturellen Vergleich zu sehen, woraus die eigene Kultur besteht. Wichtige Faktoren in Brauns Verständnis sind die Psychoanalyse als größerer kultureller Schlüssel oder eine Natura als kulturelle Konstruktion („Man hält das für Natur“). Es geht im Text um Christina von Brauns Nähe zu Frankreich, die Liberation von 1968, die Sehnsucht nach dieser Situation („Denn bald ist von der revolutionären Situation des Vorjahres in der Stadt nur noch die veränderte Wahrnehmung von Hierarchien, Denkweisen, dem Verhältnis zwischen den Geschlechtern und eine fortdauernde latente Sehnsucht nach dieser Situation zu spüren“). Braun wird in Frankreich Zeugin einer frühen Aufarbeitung der französischen Kollaboration mit den Nazis. Ihr Streben nach Aufklärung, Wahrheit, die Thematisierung von Unterdrückung führt zu einem umfangreichen Werk von Büchern und Filmen, die sich auch mit historischen (NS-)Aufarbeitungen oder mit der Konstruktion von (Frauen-)Rollen auseinandersetzen, auch im eigenen familiären Zusammenhang (das Buch „Stille Post“, über: „die Botschaften und Erbschaften ihrer Familie, mit der Mutter als Mittlerin“). Sie benannte als biographischen Einschnitt ein „Erkennen des Nicht-Ich“ oder musste sich mit den Widersprüchen ihrer eigenen Rolle als Ehefrau beschäftigen. So hatte sie zwar das Privileg, Bücher und Filme machen zu können. Aber als sie, wie in Frankreich gängig, eine Kinderfrau engagierte, um arbeiten zu können, führte das in Deutschland zu heftigen Anfeindungen. Später wurde sie zu einer Quereinsteigerin im akademischen Betrieb, wo sie die Gender Studies mit aufbaute.

Selbstverständlich beleuchten einige Texte im Buch auf starkem feministischem Fundament die ökonomischen Zusammenhänge als Generalschlüssel für Unterdrückung, etwa die Analyse über die Alleinrelevanz des „ökonomischen Mannes“ und das Paradigma, auf dem die kapitalistische Maschine beruht: Diese ökonomische Perspektive findet sich unter anderem bei Elisabeth Stiefel (Text: Birgit Buchinger und Ela Großmann). Insgesamt belegen gut geschriebene Texte und zahlreiche Aha-Erlebnisse die allumfassende Tragweite von Ökonomie und Geschichte. Und das facettenreich: Mit ihrem Porträt über Irene Stoehr streift Autorin Maria-Amancay Jenny ein Phänomen, das heute in freier Wildbahn nicht mehr ganz so häufig anzutreffen ist, nämlich das der „Hausfrau“: An der Debatte „Lohn für Hausarbeit“ entsponnen sich in den 1970ern vehement ausgetragene Haltungskonflikte zwischen den feministischen Lagern. Und Irene Stoehr besticht in ihrem feministischen Ansatz durch Komplexität, Genauigkeit und einer gewissen Liebe zum gewitzten Widerspruch. „Gerade wir Feministinnen gingen doch davon aus, dass die Frauen ‚seit ewigen Zeiten‘ unterdrückt wurden und die meisten Frauen ‚schon immer‘ Hausfrauen gewesen seien. Stattdessen erfuhr man: Das ist ziemlich neu. Der private Haushalt und mit ihm die Hausfrauenrolle kamen erst mit der Industrialisierung (…)“. Dieser Zusammenhang zwischen Kapitalismus und unbezahlter Arbeit der Frauen im geschichtlich-ideologischen Kontext der Industrialisierung faszinierte Stoehr: Dementsprechend war nicht der Lohnarbeiter die wichtigste Säule im Kapitalismus, sondern die Hausfrau. („Das gefiel mir besonders, weil es eine marxistische Kritik am Marxismus war“). Selbstredend ist dies nur eine unter mehreren Thematiken bei Stoehr, die später unter anderem die Frauenzeitschrift UNTERSCHIEDE mit herausgegeben hatte. Besonders mit dem Untertitel sollte eine breite Leserinnenschaft angesprochen werden: „Auf diesen Untertitel waren wir ein bisschen stolz (…): ‚Für Lehrerinnen und Gelehrte, Mütter und Töchter, Gleich- und Weichenstellerinnen; Freundinnen, Tanten und Gouvernanten aller Art‘“. Und mit der großen Bedeutung, die dieses Projekt UNTERSCHIEDE für sie hatte, geht auch hier ein Sinn für denjenigen Widerspruch einher, in dem man selber lebt: „Die wenig spezialisierte gemeinsame Arbeit an der Herstellung und Gestaltung eines originellen ‚Produktes‘ gehört zu meinen besten Erfahrungen feministischer Berufsarbeit, was sie natürlich – weil unbezahlt und nebenbei – gar nicht war.“ An vielen Stellen im Buch gibt es neben theoretischen und zeitgeschichtlichen Raffinessen (z. B. bei Stoehr auch die Debatte um einen abzulehnenden „Staatsfeminismus“) auch Verweise auf Kontinuitäten in ein Jetzt, etwa wenn Stoehr auf die Weiterentwicklung des Themas der Hausarbeit und der damals so genannten „reproduktiven Arbeit“ in Richtung heutiger Care-Arbeit verweist. Oder wenn sich Elisabeth Stiefels Forderung nach „lebensdienlichem Wirtschaften“ und die von ihr heftig kritisierte „Dominanz der Produktion“ in heutiger Anwendung durchaus als Vollversagen des Kapitalismus in Richtung Umwelt und Ökologie lesen lässt.

Hier können nur wenige Aspekte von Kämpferinnen angesprochen werden. Insgesamt bedeutet ein Eintauchen in feministische Grundlagen und Biographien der heute mindestens 77-jährigen Feministinnen auch, diejenigen Komplexitäten und Widersprüche zu streifen, die sich in einem Leben schlichtweg zusammenmischen. Manches Mal konnten sie überwunden oder bewältigt werden, ein anderes Mal mussten sie auch nur ausgehalten werden – und das ist widerständig gemeint: „Der Kampf um die eigene Selbständigkeit, die Existenz ist für viele raumgreifend und belohnt sie oft erst in späten Jahren damit, endlich tun zu können, worauf sie sich immer schon vorbereitet haben“, so die Herausgeberinnen. Über Gedanken der Macherinnen des Buches gibt das Schlusskapitel „Schön und bitter“ Auskunft. Es beginnt mit der kritischen Reflexion des biografischen Selbstes sowie mit Vermerken, dass, sinngemäß zitiert, „keine der Portraitierten zuerst aus ihrem Leben erzählte“. Es zollt der gemeinsamen Sache, den Portraitierten und ihrem Lebensweg Anerkennung. Es bietet Einblicke in das Making-of des Buches und bündelt Eindrücke, die man während des Lesens selbst recht farbenreich gewinnen konnte: Etwa, dass es innerhalb der feministischen Strömungen und auch zwischen den Aktivistinnen schon immer große Unterstützung, aber auch Gefechte gab (wenig überraschend). Es stellt die feministischen Wellen punktuell in Relation, benennt Hauptlinien und bemerkt bei den Feministinnen der älteren Generation, beispielhaft genannt, stärkere Reibungsflächen mit den Müttern, oder auch die relative Absenz bei den Gesprächspartnerinnen hinsichtlich des Themas Sexualität, zweifelsohne Unterschiede zu einem heutigen Feminismus. Außerdem stellen die Herausgeberinnen neben der vorgestellten Vielheit die „selbstkritische Frage nach (fehlender) Diversität und Intersektionalität“. Dennoch formuliert das Buch Grundlagen, auf denen sich in viele Richtungen weiterargumentieren lässt. Es zeugt von beeindruckender Kraft und Klarheit, die sich in den Texttiteln und Zwischenüberschriften spiegelt („Die Würde und das Geld“, „Auf der Suche nach dem guten Leben“, „Kein Ort, nirgends“, „Nein“, …) Damit kommen wir zum Anfang und Klappentext zurück: Yes, indeed, hochpolitisch, überraschend, nachdenklich und poetisch. Absolut gelungen, auch im Sinne einer Leser:innenschaft, die ihrerseits in ihre eigene Biographie einzutauchen vermag. Und hinter all dem feministischen Kampf, der wegen diverser Umstände auch heute gerne ins Abgekämpfte driftet, was auch ok ist, strahlt Kämpferinnen Ruhe, Stärke und Selbstsicherheit aus.

 

Birgit Buchinger, Renate Böhm, Ela Großmann (Hg.)
Kämpferinnen
Mandelbaum Verlag, 2021

Eine Idee reist durch Zeit und Raum

Die Referentin bringt seit längerer Zeit eine Serie über frühe soziale Bewegungen und emanzipatorische Entwicklungen. Andreas Gautsch über den kommunistischen Anarchismus als Idee zwischen „dem Besten aus beiden Welten“ und einer „Horrorvorstellung zum Quadrat“.

Lucy Parson, eine afro-amerikanische Organizerin und Anarcho-Kommunistin, anno 1886. Foto Luis Gogler, Wikimedia Commons / Univeristy of Michigan Library

Für manche bedeutet kommunistischer Anarchismus das Beste aus beiden Welten. Für andere ist er eine Horrorvorstellung zum Quadrat. Objektiv betrachtet kommt diese Gesellschaftsvorstellung der aufklärerischen Trias von Freiheit, Gerechtigkeit/Solidarität und Gleichheit wohl am nächsten.

Eine Idee liegt in der Luft
Die Entstehungsgeschichte dieser Idee oder Konzeption geht zurück ins 19. Jahrhundert. Max Nettlau, der in dieser Serie bereits vorgestellte anarchistische Historiker und Chronist, berichtet, dass die Bezeichnung kommunistischer Anarchismus erstmals in einer Broschüre von François Dumartheray im Jahre 1876 auftauchte. Der Autor war in der Genfer Sektion L’Avenir aktiv und stand dem russischen Anarchisten Peter Kropotkin nahe, der sich in mehreren Schriften dieser neuen Anarchismuskonzeption widmete und heute als der bekannteste Vertreter bzw. Theoretiker dieser Richtung gilt. Zur Zeit der Entstehung war die anarchistische Bewegung aus der von Karl Marx, Friedrich Engels und anderen autoritären Sozialisten übernommenen Internationalen Arbeiterassoziation bereits ausgeschlossen. Sie hatte den Kampf gegen Vertreter des Zentralismus verloren. Der Sozialismus und die Verbesserung der sozialen Lage der Arbeiter:innen sollte ganz im Sinne sozialdemokratischer bzw. sozialistischer Parteien, die sich auf Wahlkämpfe und den Parlamentarismus konzentrierten, erreicht werden. Im Anarchismus setzte eine Neuorientierung ein. Bakunin, als wortmächtiger Propagandist des antiautoritären Flügels und Vertreter des kollektivistischen Anarchismus, hatte sich bereits zurückgezogen. Eine neue Generation war nun an der Reihe und mit ihr entstand nun eine Symbiose aus Kommunismus und Anarchismus.

Kommunismus und Anarchismus
Was bedeutet dies nun? Während im kollektivistischen Anarchismus Eigentum in einer kollektiven Form weiterbestehen konnte, wurde im kommunistischen Anarchismus jegliche Eigentumsform negiert. Statt Eigentümer:innen sollte es nur mehr Nutzer:innen geben. Die Verteilung der gesellschaftlich produzierten Güter erfolgt nicht nach Arbeitsleistung (Arbeitszeit), sondern nach den Bedürfnissen. Kommunismus bedeutet somit: Jeder nach seinen Bedürfnissen und Möglichkeiten. Für Kropotkin ist der kommunistische Anarchismus „ein Sprössling der zwei großen Gedankenbewegungen auf wirtschaftlichem und politischem Gebiet, die unser Jahrhundert und besonders seine zweite Hälfte charakterisieren. Gemeinsam mit allen Sozialisten vertreten die Anarchisten die Ansicht, daß das Privateigentum an Grund und Boden, am Kapital und an den Maschinen überlebt ist, daß es zum Verschwinden verurteilt ist und daß alle für die Produktion erforderlichen Mittel in den gemeinschaftlichen Besitz der Gesellschaft übergehen müssen und werden und von den Produzenten die Reichtümer gemeinschaftlich zu verwalten sind.“ Kommunismus bezieht sich also auf die Ebene der Ökonomie. Wie ist nun der zweite Teil des Begriffs, der Anarchismus zu verstehen? Für Kropotkin ist er das Ideal einer politischen Gesellschaftsorganisation, „wo die Funktionen der Regierung auf ein Minimum reduziert sind und das Individuum seine volle Freiheit der Initiative und der Handlung wiedergewinnt, um vermittels freier Gruppen und frei gebildeter Föderationen all die unendlich mannigfaltigen Bedürfnisse des menschlichen Wesens zu befriedigen.“ Es geht um eine Regierungsform ohne staatliches Herrschaftsprinzip.

Eine Idee unter Kritik
Die Frage, die sofort auftaucht, ist, kann das überhaupt funktionieren? Kropotkin dachte – ja! Sein Ausgangspunkt war menschliche Kooperation, die gegenseitige Hilfe und der gesellschaftliche Reichtum, nicht der Mangel. In den verschiedenen Abhandlungen verweist er auf die fördernde Wirkung von föderativer und dezentraler Produktion, von freier Assoziation, sowie darauf, dass aufgrund des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts die industrielle und landwirtschaftliche Produktion alle Menschen ausreichend versorgen könnte.
Nach Kropotkin wären bereits vor gut 150 Jahren die Voraussetzungen gegeben, mit einem Bruchteil an Arbeitsaufwand, alle Menschen zu versorgen. Das würde heute noch mehr zutreffen, jedoch mit Sicherheit wissen wir es nicht. Von Anbeginn gab es auch kritische Stimmen zu Kropotkin und seiner Vorstellung vom kommunistischen Anarchismus. Nettlau berichtet in seinem Geschichtskompendium über Anarchismus von der Kritik des spanischen Anarchisten Richardo Mella, der die „kommunistische Lösung“ für „simplistisch und den Verwicklungen des sozialen Lebens nicht entsprechend“ hielt, aber er glaubte auch, dass die Idee den Massen gefallen wird. Jedoch geben Ideen höchstens Tendenzen an und zeigen nicht, wie es Kropotkin ausformulierte, wie zukünftige anarchistische Gesellschaften Produktion und Distribution organisieren werden. Mella richtete sich gegen die „Unifizierung“ der Ideen und Vereinheitlichung der Methoden. Was auf jeden Fall notwendig ist, ist für ihn eindeutig: „die Gleichheit der Mittel zum Leben“. Während die neue Richtung in anarchistischen Kreisen in ganz Europa diskutiert und unter dem Proletariat und den Deklassierten agitiert wurde, ging die Idee auf Reisen.

Lucy Parson in Chicago
Wir verlassen Europa und setzen über den Atlantik. Im späten 19. Jahrhundert gibt es dort eine radikale und organisierte Arbeiter:innenbewegung, geprägt von den unterschiedlichsten Einwander:innengruppen, Religionen und Hautfarben, oft war sie anarchistisch. Eine ihrer Akteur:innen war Lucy Parson, eine afro-amerikanische Organizerin und Anarcho-Kommunistin. Sie schrieb Artikel, hielt Reden, organisierte Genoss:innen, setzte sich für den 8-Stunden-(Arbeits)Tag ein und war Mitbegründerin der berühmten syndikalistischen Gewerkschaft in der USA, den Industrial Workers of the World, kurz: Wobblis. Sie lebte die meiste Zeit ihres Lebens in Chicago, starb dort 1942 fast 90jährig. Die städtische Polizei hielt sie für „more dangerous than a thousand rioters“, selbst nach ihrem Tod muss das FBI noch voll Sorgen gewesen sein, vergriff es sich doch vorsorglich an ihrem gesamten Nachlass, der bis heute verschwunden ist. Im Jahr 1886 kam es, auch für Parson, zu einem folgenreichen Ereignis. Am 1. Mai protestierten streikende Arbeiter:innen, diese wurden von der Polizei angegriffen, ein Bombe explodierte in der Menge und es gab viele Dutzende Verletzte und Tote. Die Polizei verhaftete daraufhin sieben Männer, alle aktive Gewerkschafter und Anarchisten und verurteilte sie zu Tode, obwohl keine Verbindungen zum Bombenattentat nachgewiesen werden konnten. Einer davon war ihr Mann Albert Parson. Der 1. Mai gilt seitdem, in Erinnerung an Haymarket, als Kampftag der Arbeiter:innenklasse. Lucy Parson setzte sich ein Leben lang für die Rehabilitierung der Verurteilten ein. Im Oktober 1886 wurde sie zu den Aussichten des Anarchismus in den USA interviewt. Auf die Frage, wie der gesellschaftliche Wandel herbeigeführt werden kann, meinte sie, dass es eine revolutionäre Phase geben wird, in der der „letzte große Kampf der Massen gegen die Geldmächte“ stattfinden werde. „Geld und die Löhne, die sich jetzt im Besitz der Lohnklasse befinden, stellen das Nötigste zum Leben dar; nichts bleibt übrig, wenn die Rechnungen von einer Woche zur anderen bezahlt sind. Der Rest geht an die profitgierigen Klassen, und deshalb nennen wir das System Lohnsklaverei.“ Die Frage, ob sie friedlich verlaufen wird, beantwortet Parson: „Ich glaube nicht, denn die Geschichte zeigt, dass jeder Versuch, den Reichen und Mächtigen das zu entreißen, was sie haben, mit Gewalt gemacht wurde.“

Zabalaza in Johannesburg
Anders als beispielsweise Individualanarchist:innen sehen kommunistische Anarchist:innen eine höhere Notwendigkeit darin, sich politisch zu organisieren. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts gründeten sie sogenannte Plattformen. Bis heute werden diese immer wieder aufs Neue gegründet, sowohl auf nationaler als auch internationaler Ebene, um gemeinsam im Sinne des kommunistischen Anarchismus zu wirken. Eine aktuelle plattformistische Gruppe ist die südafrikanische Zabalaza Anarchist Communist Front, kurz ZACF. Sie bekennt sich zur Idee der aktiven Minderheit, was so viel bedeutet, dass es nicht ihr Ziel ist, eine anarchistische Massenbewegungen aufzubauen oder soziale Bewegungen in eine solche zu transformieren, sondern sich als anarchistische Gruppe an sozialen Bewegungen zu beteiligen. So unterstützte die ZACF das Anti-Privatisation Forum oder die Landlosenbewegung (Landless People’s Movement) in Südafrika. Als es 2008 vermehrt zu rassistischen Pogromen kam, bei denen mehr als 60 Menschen getötet wurden, wurde die Coalition Against Xenophobia (CAX) gegründet, bei der ZACF ebenfalls eine wichtige Rolle einnahm. Es geht also nicht nur um die Verbreitung der Idee, sondern um politisches Engagement in sozialen Bewegungen und Arbeitskämpfen. In ihren Berichten und Darstellungen schreibt ZACF, dass es sich um eine kleine Gruppe handelt und es schwierig ist, Menschen für die Idee zu gewinnen. Die anarchistische Tradition ist in Südafrika vergessen. Begonnen hatte sie einst in den 1880er Jahren, als englische Emigrant:innen die Idee mitbrachten, beeinflusst von Kropotkin und dem kommunistischen Anarchismus. Und so reist eine Idee durch Zeit und Raum.

Literatur:
Kropotkin, Peter: Der anarchistische Kommunismus. Seine Grundlagen und seine Prinzipien, Berlin, 1922
Nettlau, Max: Die erste Blütezeit der Anarchie 1886 – 1894. Geschichte der Anarchie. Band IV.
Rosenthal, Keith: Lucy Parson. „More Dangerous Than a Thousand Rioters“, joanofmark.blogspot.com/2011/09/lucy-parsons-more-dangerous-than.html?m=1#_edn61
An Interview with Lucy Parsons on the Prospects for Anarchism in America, Published in St. Louis Post-Dispatch, Oct. 21, 1886, pzacad.pitzer.edu/Anarchist_Archives////////bright/lparsons/LParsonsInterviewStL.pdf
zabalaza.net

Die Serie in der Referentin ist auf Anregung von Andreas Gautsch bzw. der Gruppe Anarchismusforschung entstanden, siehe auch: anarchismusforschung.org