Ins Organische gehen oder: die Lust am 90°-Absprung

Die Künstlerin Betty Wimmer taucht ins Material ein, versteht Performance als räumliches Gedicht und hat über die Jahre ein verzweigtes, wiederkehrendes und sich transformierendes Bezugssystem in ihren Arbeiten geschaffen. Sie hat heuer eine Installation gezeigt, die in der ersten Version bereits 1998 entstanden ist. Tanja Brandmayr hat die Arbeit gesehen und Betty Wimmer im Atelier besucht.

5 trees, die Arbeit, die Betty Wimmer im Mai 2018 anlässlich ihrer Aufnahme in die Künstlervereinigung Maerz neu installiert hat, entstand bereits 20 Jahre zuvor und war ursprünglich mit After Christmas betitelt. 1998, noch während des Studiums der Bildhauerei, „in einer ungemein produktiven und experimentellen Phase“, wie sie im Atelier stehend sagt, begann Wimmer zum Thema „Holz und Werkzeug“ zu arbeiten. Dies führte kurzerhand zum Aussteigen aus der herkömmlichen Form von Bearbeitung. Ein Kreieren und Schnitzen etwa wurde zu einer Hinwendung zum Material – und zu einer prozesshaften Abarbeitung der Fragestellung, ab wann der Baum zum Holz wird, sozusagen in der Frage organisch vom Baum in Richtung Holz gehend.
Vorgefundene Bäume wurden, ganz in Manier eines experimentell-künstlerischen Zugangs, auf ihre Materialeigenschaften geprüft, wurden entnadelt, beschnitten, angesägt, geklappt, gedreht, gewendet und verhackt. Danach wurden diese Phasen als sichtbar gewordene Prozesse miteinander und zueinander gestellt. Zu Material- und Bearbeitungsthemen wie Holzkern und Hackstock wurden Perspektivenwechsel und diverse Baum-Formalisierungen arrangiert. Und heute wie damals sprechen verkehrt gehängte, zu groß geratene oder geknickt inszenierte Bäume ambivalente Gefühle vom Bruder Baum bis zur Holzwirtschaft und zur ausgebeuteten Umwelt an. Einem beschnittenen, fast nackten, in den Raum gestellten Stamm wird das Stereotyp eines Tannenbaumes, wie ihn Kinder zeichnen, zu Füßen gelegt – gleichzeitig verspielt wie nur mehr Schatten seiner selbst. Der verkehrt gehängte Baum biegt sich unerklärlich, als ob wochenlang Wind durch den Raum geblasen wäre. Ein Baum entfaltet dramatische Wildheit im ausgebreiteten Geäst. Besonders in der 2018er-Version werden über die Ausstellungsdauer von mehreren Wochen Prozesse der Vertrocknung und Abnadelung sichtbar. Und trotz der offensichtlich großen Ähnlichkeit der beiden Versionen meine ich 2018 insgesamt eine Verschiebung zu „mehr Organischem“ zu erkennen, während ich in der Galerie Maerz noch den Bezug auf das im 98er-Titel referenzierte Weihnachten finde, als versteckte blaue Christbaumkugel in den Zweigen.

Zurück ins Atelier. Es scheint typisch für Betty Wimmer zu sein, Materialthemen wieder aufzugreifen, sie anderswo vorzufinden, verschiedene Strategien anzugehen, Dinge mitunter auch sprichwörtlich zu nehmen. Hinsichtlich Holz bedeutete das etwa, dass in den späten 90ern das sprichwörtliche „Brett vor dem Kopf“ zu einem ganzen Brettsystem vor dem Kopf wurde – als vernageltes Labyrinth aus in Kopfhöhe angebrachten Brettern. In der Serie Durchbruch wurden Türen mit verschiedenen Werkzeugen durchstoßen, um sie in einer anderen Arbeit, Nach dem Durchbruch, wieder zu einer undurchdringbaren Gesamttüre zusammenzuzimmern. Sozusagen im tischlerischen Zeitsprung kommen ab 2009 Holzhäuschen dazu, die ebenfalls in Kopfhöhe aufgehängt werden. Die mittlerweile mehrfach verwendeten und bespielten Sound-Häuschen stammen ursprünglich aus dem Projekt Die Homebase des kranken Hasen (Kunstraum Goethestrasse, 2009) und hatten den Titel Hütteldorf: Mit dem eigenen Kopf in die Häuschen hineingeschlüpft, hörte man Menschen von ihren Spleens berichten. Und an diesem Punkt eröffnet Betty Wimmer weitere Verzweigungen in ihrer Werksgeschichte, wie etwa Sitzgelegenheiten, die sie für diese Ausstellung gemacht hatte, und die als mit Gras bezogene Minimulden später ins Europäische Parlament wanderten (innerhalb des Projekts Hörstadt). Zwischenzeitlich entwickelte Betty Wimmer auch, motiviert durch die Idee, „zur Ruhe zu kommen“, andere Sitzgelegenheiten, die in Berliner Galerien bis zum Steirischen Herbst aufgestellt wurden, etwa als rot-samtene palettes deluxe (2010). Und, um auf die Häuschen aus Hütteldorf zurückzukommen: Diese wurden 2014 in der Urban Farm in Leonding als houses neu gehängt und mit einer Akustik von Fallgeräuschen versehen. Genauer gesagt stammten die Sounds von fallenden Lebensmitteln wie Mehl, Salz, Reis aus einer ebenfalls längeren Auseinandersetzung, die auch bis in die früheren Jahre der Ausbildung zurückreichten: Aus dem Thema „Fluss“ hat Betty Wimmer weitreichend von Blutzirkulation bis kommerziellem Warenfluss assoziiert, um dann ihre – durchaus zu größerer Weitreiche geratenen – Fallbilder zu entwickeln, wo etwa Mehl, Salz, Reis, Trockenpüree oder auch Mohn in derartiger Weise verschüttet wurden, dass sie gleichsam auf sehr eindrückliche Weise zu performativen Bildern wurden, quasi zu Wasserfällen unterschiedlicher Texturen (Fallbilder, 1999). Beinahe selbstverständlich führten diese Materialien später zu anderen performativen und visuellen Arbeiten.

Während ich nun im Atelier auf ein Bild einer Mehlperformance in den Straßen Berlins blicke, erzählt Betty Wimmer von ihrem sinnlichen Interesse am Prozess; von einem „Lustaspekt und neugierigem Hedonismus“ in ihrer Kunst, der sie „in kindlicher Verspieltheit, in forscherischem Umgang nicht nur mit Material arbeiten, sondern ins Material hineingehen“ lässt. Im Falle der eben angesprochenen Mehlperformance beschreibt das in poetischer Weise ein Eingehülltsein in organische Partikel. Mitten in Berlin befindet sich die Künstlerin sozusagen in einer Mehlwolke aus Weizen. Insofern versteht sich eine Definition von Performance „als räumliches Gedicht“, wie Betty Wimmer ihren Zugang zur Performance beschreibt, in bildhafter Leichtigkeit fast von selbst. Ebenso scheint dies für eine Klebestreifenarbeit zu gelten, Textur meiner Haut (2000), wo Betty Wimmer sich zuerst mit Farbe bedeckt hatte, um danach Tape-Abzüge ihrer Haut zu machen, die sie auf Glas anbringt. Der Ansatz aus räumlichem Gedicht und der Körperlichkeit eines „ins Material Hineinkriechens“, bedeutet allerdings nicht nur sphärische Leichtigkeit, sondern auch offensivere Konfrontation mit dem Material, O-Ton: „Ich mach gern so viel Sauerei, wie geht, ich arbeite zum Beispiel nicht nur mit Mehl, sondern knete meine Haare hinein, verschwende zu diesem Zeitpunkt keinen Gedanken danach, wie es weitergeht, ob etwa das Mehl dann in der Dusche zu Teig wird, und so weiter“.

Zwei Arbeiten mehr, im assoziativen Zickzack-Kurs durch die Schaffensphasen: Das Eintauchen in Körperlichkeit, Materialien und Texturen zeigt sich auch in frühen Ölbildern (1997). Hier hat sich Betty Wimmer als Ganzes in Olivenöl getaucht, um sich anschließend auf der Leinwand abzudrucken. Durchaus lässt sich hier eine Referenz auf Yves Kleins blaue Performances ziehen, allerdings organisch transformiert, transparent und von sexuell aufgeladener Zartheit. Und, um an dieser Stelle wieder in ganz andere, äußere Atmosphären zu wechseln: Wir nehmen in der Schiliftgondel Heart of Gold Platz, womit wir an dieser Stelle wieder zu den Sitzgelegenheiten zurückkehren. Die dreisitzige Gondel Heart of Gold wurde ab 2010 an unterschiedlichen Plätzen in Linz positioniert, ermöglichte verschiedene Blicke auf die Stadt, etwa vom Schigebiet des Linzer Schlossbergs, je nach erlebter Wetterlage auch mal mit verlaufenden Regentropfen auf der Plexiglaskuppel vor Augen. Später wanderte Heart of Gold auch im Vorgarten des Kulturvereins Kapu, mit dem Betty Wimmer unter anderem Projekte wie die WIR-AG (2005) verwirklicht hat. Diese für zeitgenössische KünstlerInnen ja durchwegs zum künstlerischen Selbstverständnis gehörende Positionierung zu sozialen Themen, aber vor allem auch ihr vielgestaltiges kulturpolitisches Engagement in der weniger institutionalisierten Szene, haben ihr über die Jahre wohl auch eine Bezeichnung als Aktivistin eingebracht.

So im Atelier stehend, inmitten von Fotos, Bildern und Relikten von vielen Arbeiten aus über 20 Jahren Kunstschaffen, bin ich beeindruckt von einem, ich möchte sagen, Auseinanderdriften der gewählten Mittel bei gleichzeitiger konsequenter inhaltlicher Weiterführung und Transformation der künstlerischen Themen. Aussagekräftig ist auch die Vielzahl an Zusammenarbeiten mit KollegInnen und Institutionen; ebenfalls ein Humor, der vielen Arbeiten innewohnt. Beziehungsweise: Ist das nun Humor oder sozial paradox, wenn im Gang eines Berliner Leerstands (Moabit, 2000 und 2001) eine Anlaufbahn für einen Weitsprung markiert wurde, und kurz vor dem Absprungpunkt der Gang eine 90-Grad-Ecke aufweist? Ist das einfach nur lustig oder deutet das auf eine Lebenssportlichkeit, die quasi schon unmögliche Leistungswendungen, das heißt: Leistungskurven bis Leistungsecken, inkludiert?

Wie die geneigte Leserin, der geneigte Leser vielleicht schon bemerkt hat: Die lediglich beispielhaften Aufzählungen sind nicht ansatzweise vollständig, und verfolgen zudem eher nachgeordnet die chronologisch geordnete Information. Sie kultivieren geradezu Betty Wimmers Arbeitsansatz der thematischen Verzweigungen und einer Art gegensätzlicher Verwandtschaft. In diesem Sinne zwei abschließende Arbeitsreferenzen, die nun doch etwas der Chronologie der neueren und kommenden Arbeiten geschuldet sind: Eine der letzten performativen Arbeiten, Light, hat Betty Wimmer im Herbst 2017 gezeigt. Eine Lichtschlange in einen weißen Overall gestopft, ließ die Künstlerin zur erleuchteten Skulptur werden (Flat1, Wien). Und im kommenden Jahr wird es ein installiertes Bett im botanischen Garten in Linz geben – eine vergrabene Liegestelle mit „Gras in Augenhöhe“, wie Betty Wimmer meint. Und wie kann es anders sein – mit Referenzen auf ein früheres Projekt, in diesem Fall dürfte das mit Pflanzen aus der Berliner Zeit zu tun haben. Aber warten wir ab.

Alles in allem, nach einigen sich vielleicht auch textlich widerspiegelnden 90°-Wendungen: Besonders hervorstechend finde ich ein Element, das sich in einer Fähigkeit zu äußern scheint, Themensetzungen auf höchst eigene Weise auszulegen und weiterzuführen; ein Talent, auch innerhalb von Gruppen oder KünstlerInnenverbänden gemeinsame Vorhaben nicht nur nahe am Thema abzuarbeiten – sondern in künstlerischer Eigenständigkeit eine Navigation über die hochassoziativen Meere zu finden, die die eigene sowie die gemeinsame Arbeit anreichert und permanent weiterführt. Oft verwässert ja die Teilnahme vieler Köchinnen den Brei, Betty Wimmer scheint er aber erst zu Hochform aufgehen zu lassen. Für mich bleibt nun – im gedanklichen Geflecht dieser vielen Arbeiten und weitläufigen inhaltlichen Verzweigungen stehend – der Wunsch nach einer größeren Präsentation dieser Arbeiten und Zusammenhänge.

 

Betty Wimmer, geboren 1973 in Bad Ischl. HTBLA Hallstatt (Bildhauerei), Kunststudium (Bildhauerei, Raumstrategien, Multimedia) an der Linzer Universität für künstlerische und industrielle Gestaltung (bei Renate Herter) und an der Hochschule der Künste Berlin (bei Rebecca Horn). Künstlerin, Performerin, Aktivistin. Die ausgebildete Bildhauerin arbeitet seit Jahren an Raum- und Designstrategien, die meist in Installationen oder Performances münden. Ausstellungen und Performances in Linz, Wien, Frankfurt, Berlin, Toulouse, Budapest, Brüssel, Basel, Köln, …

Betty Wimmer lebt und arbeitet in Linz.

bettywimmer.net

Elke Punkt Fleisch

Die Bildende Künstlerin, Bildhauerin und Keramikerin Elke Punkt Fleisch kommt auch ohne verbale Wegweiser des Denkens aus. Das ist rar, impliziert Talent und eine außerordentliche Peilnadel zur Kunst – meint Andrea Lehmann.

Die Tendenz, dass bildende KünstlerInnen im Stillen arbeiten und dass es wichtig ist, sich als InteressierteR persönlich an der Kunstentdeckung zu beteiligen, ist seit jeher so. Doch durch Passivitätsschübe von Kunstinteressierten ist es schwieriger geworden. Für KünstlerInnen der sichtbar haptischen Gedankenfreimachungen ist es kaum möglich, ohne Kunstvermittlungspilze/ Aufbereitungshäuser an den Menschen zu kommen. Und für die Leut ist es schwieriger, durch die Membran der Aufbereitung zu schlüpfen, um sich ein Leben mit der Kunst anzueignen. Über die Medien werden Lebensläufe erschlichen, Fotos und dokumentarische Kunst-Kunsttexte konstruiert, aber das Leben mit der Kunst an sich macht das nicht aus. Und einige fordern diese Entwicklung durch ihre Arbeitsweise geradezu heraus. Dazu gehört Elke Punkt Fleisch.

1980 in Grieskirchen geboren, begibt sie sich sehr jung aus dem unvorbelastet-ländlichen in ein künstlerisch-städtisches Umfeld. Für die sensible Sucherin begann ein Befreiungsweg. Hierbei sollte der Linzer Bildhauer und Maler Erich Ruprecht die ersten Kunstversuche der damals erst 16-Jährigen unterstützen. Es stehen am Anfang mehrere Optionen zur Debatte. Elke Fleischs Peilnadel ist auf Malerei, Bildhauerei – und auf noch Unbekanntes gestellt. Das noch Unbekannte wurde später dann zum Ankommen im Bachelorstudium Keramik von 2003–2008 an der Kunstuni Linz. Dies führte dazu, ihre grundlegende Tendenz zur Dreidimensionalität auszuleben und förderte ihre Fähigkeit, im verwendeten Material mehrere Dimensionen sichtbar und erlebbar zu machen. Wie ihre Körperabformungen, die bis heute – wunderbar reduziert – abstrakter Bestandteil der künstlerischen Entwicklung sind. Ich entdeckte die ersten Handabformungen, betitelt mit Reigen 2005/06. Hier stellte sich mein Bezug zu Fleischs bildhauerisch-keramischen Arbeiten ein. Die zwölf Kleinskulpturen beherbergten die Möglichkeit von Berührung – in keramische Formen gebunden. Aber die Konzeption der Arbeit erschloss sich mir erst in Kombination von gebrannter Keramik mit einem Reigen, der tatsächlich performt wurde.

Im Masterstudium der Plastischen Konzeption belegte sie, aus Interesse am Handwerklichen – sowie an den postkommunistischen Gesellschaften – 2009 ein Semester Bildhauerei und Malerei an der Kunstakademie in Krakau. Fleisch entwickelte die Skulpturenserie Working Class Heroes, über die Martina Gelsinger, Kunsthistorikerin, schreibt: „(…) An Stelle des Materials als Trägerin von Repräsentation, stellt sie Werkstoffe (…)“ Erst auf den zweiten Blick provokant, weil mit geschlossenen Augen gar nicht heroisch: Auf Bauziegel gestellte breite Männerfiguren, in Keramikweiß mit Maurerwerkzeugen in Händen und in Schlaftextilien gehüllt. Sickert da der Eindruck von Schlafenden ins Arbeitsbewusstsein? Auch die Vorgängerarbeit, Allzweckreinigerinnen, von 2007–10 entstanden, gehören zum sozialkritischen, figuralen Ansatz von Elke Punkt Fleisch. Hier waren putzende, kopftuchtragende Frauen zu sehen, aus weißer Keramik. Die in mehr als zehn Ausstellungen, z. B. in Bornholm in Dänemark, ausgestellten Arbeiten wurden noch 2016 als Aushängeschild angefragt. Eine Wahnsinns-Karriere für kopftuchtragende Frauen! Zu dieser Art der figürlichen Auffassung könnte auch der Gurkerlflieger zählen, wäre da nicht der Aspekt der surreal-zerteilten Ästhetik. Die als kinetisches Objekt bezeichnete, mit Motor bewegliche Skulptur, ist in erster Linie aus Ton gefertigt und bezieht sich auf Erntearbeit und Arbeitsmigration. Metall, Holz, Gummihandschuhe und Textil verstärken die Schwerfälligkeit der inneren Diskrepanz unserer (Ver)Sklaverei, die die Künstlerin selbst durch das Abformen der über 1000 Gurkerl, die den Boden der Skulptur bilden, am eigenen Leib erspürt haben musste.

Eine verstärkte Zuwendung zur sinnlichen Erarbeitung wird bei Elke Punkt Fleisch 2012 ersichtlich, so etwa in Ghosts. Es ist die Eigenschaft der Keramik und deren Form, die maßgeblich scheint. Auch in Das Maß ist voll, eine keramische Performance, wo ungebrannte Tongefäße mit Wasser gefüllt, ihrer Vergänglichkeit hingegeben werden. In der interaktiven Installation H2OHHH! zeigt sie 2015 ungebrannte Rosenkugeln aus Ton, von Weidenzäunchen umschlossen, auf Teichwannen gesetzt. Diese „Keramikgärtchen“ durften mit Wassersprühflaschen von BesucherInnen „zerflossen“ werden. Die sinnliche Essenz dieser zerflossenen Erkenntnisse brannte Fleisch zu grünlich-oliv glasierter Haltbarkeit. Dies wurde dann zu Rosenkugelobjekten in I Never Promised You A Rose Garden. „Ungebrannter Ton hat mehr sinnliche Substanz. Gebrannter Ton wirkt irgendwie … leerer; zumindest ändert sich was“, sagt Elke Punkt Fleisch im Gespräch. 2014 kehrt Elke Punkt Fleisch markant in die abstrakte Qualität der frühen Handabformungen zurück. Sie erweitert Körperabdrucke von Yogastellungen, in den Auffangbecken 1 und 2. Mit körperlicher Präsenz und Anstrengung wird die amorphe Form umgesetzt. Nichts ist dem Zufall überlassen. Ein vergleichbar intensiver Ansatz dann auch ein Jahr später in den Stillereien – hier setzt sich die Eigentümlichkeit von Körperlichkeit fort. Diese Keramiken, einerseits Berührungskörper des Stillens zwischen Kind und Mutter, sind andererseits Berührungsorte, eingebettet im rosa Textilpolster, als Entsprechung umhüllender und undefinierter ambivalenter Gefühle.

Für den Tag des offenen Ateliers im Oktober entwickelt Elke Fleisch gerade Pullover-, Hemdärmel- und Kragengefäße unter dem Titel Fleischhäppchen. Diese sind angedockt an die vorhergehende Skulpturenserie Von der Stange. Genauso zeigt sie bei dieser Gelegenheit die neuere Serie Hoch sollen sie leben, kleine weiße Remakes von Geburtstags- und Jubiläums-Figuren der Landbevölkerung. Hier praktiziert Fleisch meiner Meinung nach reinigenden Voodoo. Ein anderes neues, von Linz Export gefördertes Projekt, wird Fleisch als Projektleiterin verfolgen, mit den KünstlerkollegInnen Terri Frühling, Wolfang Fuchs, Barbara Klammer und Hanja Niederhammer: In Kemenesmagasi fühlen sie in Ungarn dem Phänomen der österreichischen „Aussteigerpensionist_innen“ nach, im Galerieraum Raumschiff wird präsentiert. Zuletzt greift Elke Punkt Fleisch im Gespräch – mit ihr anzusehender, verschmitzt wirkender Freude – ihre „Körperabformungen“ wieder auf – unerwarteter Weise mit einer Arbeit über Stifter, die sie erwähnt – den Schädel. Er wird im Herbst in der Stiftervilla Kirchschlag gezeigt.

Mit Gespür für ihre Kunst emanzipierte sie sich von Konventionen. Ihre Peilnadel scheint sich im Herzen der Linzer Kunstszene angesiedelt zu haben. Und ihre Art künstlerischer Argumentation mäandert von Figuralem-Sozialkritischem zu abstrakter Verinnerlichung und wieder zurück. Ich würde behaupten, ein Markenzeichen, wo es unbedingt notwendig ist, sich von Eigenheit und der Atmosphäre vor Ort zu überzeugen.
Elke Punkt Fleisch schafft es, bildhauerische Konzepte, Ton und dessen langfristige Prozesse mit performativen Elementen zu verbinden, also das Keramisch-Skulpturale auf die gegenwärtige, schnelle Welt zu transferieren. So schrieb Cecile Dujardin von der Angewandten Kunst in Wien: „Elke Punkt Fleisch’s work cannot be reduced to a particular style. The artist moves light heartedly back and forth between realism and abstraction (…)“

 

„Schädel“, Gemeinschaftsausstellung
Eröffnung: 15. 9. 2018
Stiftervilla Kirchschlag
Kirchschlag 38, 4202 Kirchschlag bei Linz

Tage des offenen Ateliers
20. und 21. 10. 2018
Öffnungszeiten: 14:00–18:00 Uhr
gemeinsam mit Monika Migl Frühling, Terri Frühling, Wolfgang Fuchs, Elke Punkt Fleisch Atelier Migl Frühling
Im Tal 3, 4040 Linz

„Kemenesmagasi“
Gemeinschaftsausstellung
Eröffnung: 26. 10. 2018
Raumschiff
Pfarrplatz 18, 4020 Linz

Aufmerksamen LeserInnen wird nicht entgangen sein, dass Elke Punkt Fleisch gemeinsam mit Terri Frühling „Die kleine Referentin“ in diesem Heft gestaltet.
www.elkepunktfleisch.at

Mehr als hundert Einzelfälle …

Sie sehen Flüchtlinge als Menschenmaterial, drohen politischen Gegnern mit Zwangsarbeit auf dem „Kartoffelacker“ und empfinden die Bezeichnung Nazi als Ehre. Silvana Steinbacher stellt im Interview mit Willi Mernyi eine Broschüre des Mauthausen Komitees vor. Aufgelistet sind darin rechtsradikale, öffentlich geäußerte Attacken, die eines verbindet: Sie stammen ausschließlich von FPÖ-Politikern.

Eine Art Heimathirte. Foto Die Referentin

Eine Art Heimathirte. Foto Die Referentin

68 rechtsextreme Fälle innerhalb von mehr als vier Jahren ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Unter dem Titel „Lauter Einzelfälle? – Die FPÖ und der Rechtsradikalismus“ hat das Mauthausen Komitee über viereinhalb Jahre Schmähungen, Untergriffe und Drohungen von FPÖ-Politikern quer durch die Hierarchien dokumentiert – bis zum Oktober 2017. Zwei Monate später wurde die FPÖ Regierungspartner. Jetzt hat das Mauthausen Komitee die „Einzelfälle“, die seitens der FPÖ immer als solche deklariert wurden und werden, aktualisiert. Die Attacken wurden allerdings weder seltener noch gedämpfter, stellt Willi Mernyi, Vorsitzender des Mauthausen Komitees fest. 14 neue Fälle zeigen antisemitische Bezüge, 15 nationalsozialistische oder neonazistische, 19 sind verbale Angriffe auf Flüchtlinge und Minderheiten. Bedrohlich mutet auch die Tatsache an, dass acht der aufgelisteten verbalen Angriffe von Mitgliedern der Parteispitze stammen, vier weitere von engen Mitarbeitern einiger FPÖ-Minister.
Mernyi: Das hat die Auswirkung, dass genauso, wie Sie es in dieser Dokumentation vorfinden, auch die österreichische Regierung agiert. Das sind Spitzenpolitiker und nicht der siebte Zwerg von hinten oder der stellvertretende Gemeinderat in einem kleinen Dorf. Das ist natürlich bedrohlich. Der Vizeparteichef von Wien, der Herr Gudenus hat gesagt, wenn wir an der Macht sind, kommt der Knüppel aus dem Sack. Diese Sprache muss man sich erst einmal vorstellen: der Knüppel aus dem Sack. Doch das gehört bei dieser Partei dazu. Das Androhen von Gewalt ist Teil der FPÖ.

Herr Mernyi, bei dieser Dokumentation fällt auf, dass sich die Verbalttacken und Unwahrheiten vor allem an jene richten, die sich nicht oder kaum wehren können, also an Schwache, Minderheiten, Migrantinnen und Migranten. Wie sind Sie bei dieser Dokumentation vorgegangen?
Die Dokumentation ist eine Sammlung von bekannten, nachvollziehbaren Einzelfällen. Diese Fälle haben wir nicht aufgedeckt, sondern nur dokumentiert. Jeden Fall, den wir erfasst haben, hat die FPÖ gekannt, jeder Fall ist in den Medien gestanden.

Innerhalb der rassistischen Untergriffe wurden neben Beschimpfungen der Flüchtlinge auch antisemitische Attacken dokumentiert, wie jene des FPÖ-Nationalratsabgeordneten Johannes Hübner, der sich öffentlich in antisemitischer Weise über Hans Kelsen, den Architekten der österreichischen Bundesverfassung geäußert hat. Vor einigen Monaten hat Bundeskanzler Sebastian Kurz die Internationale Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem besucht, aber zu den antisemitischen Aussagen von einzelnen Mitgliedern seines Koalitionspartners schweigt die ÖVP. Wie sehen Sie deren Haltung?
Ich bemerke das große Schweigen, es wird ausgewichen, ich finde aber Politik sollte nicht von Sonntagsreden, sondern von Montagshandlungen bestimmt sein. Es hilft niemandem, mit einem betroffenen Gesicht durch die Gedenkstätte Yad Vashem zu gehen und im eigenen Land zu antisemitischen Vorfällen zu schweigen, so würde ich den Unterschied zwischen der Sonntagsrede und der Montagshandlung sehen.
Doch der Hauptfeind der FPÖ sind nicht die Juden, sondern die Moslems und somit versuchen sie sich mehrheitlich im Kampf gegen die Moslems mit den Jüdinnen und Juden zu verbrüdern. Ein FPÖ-Funktionär hat es einmal in einer Diskussion mit mir so ausgedrückt: Ein normaler Jugendlicher hat ja mit einem Juden keinen Kontakt, aber mit einem Türken schon, also müssen wir dieses Feindbild bedienen. Das ist doch eh klar.

Wieso folgen keine Sanktionen?
Wenn man diese Menschen in die Regierung holt, ist man auch gezwungen, dazu zu schweigen. Würde die ÖVP die Attacken der FPÖ vehement und lautstark verurteilen, wäre die logische und berechtigte Frage: Warum haben sie dann eine Regierung mit denen gebildet?

Man könnte den Eindruck gewinnen, die FPÖ spekuliere mit der Vergesslichkeit ihrer Wählerinnen und Wähler. Als Beispiel möchte ich Udo Landbauer nennen, der vor einem Comeback in die Regierung stehen soll. (Anm.: ehemaliger Spitzenkandidat der FPÖ Niederösterreich. Infolge der NS-Liederbuchaffäre der Burschenschaft Germania legte er im Februar 2018 alle politischen Funktionen zurück.)
Ich glaube man spekuliert mit der Vergesslichkeit und dem typisch österreichischen „Schau ma mal, wird ja nicht so arg gewesen sein“. Beim Herrn Landbauer wurden Grenzen überschritten und ich lasse mich nicht gerne für dumm verkaufen. Mir ist ein aufrechter Rechter wie der Herr Mölzer lieber, der sagt, was er sich denkt, aber was ich überhaupt nicht leiden kann, ist, wenn mir jemand weismachen will: Wir haben ein Liederbuch, aber wir haben daraus nie gesungen. Jeder weiß, dass nach dem dritten Bier bei den Burschenschaften gesungen wird. Die haben ein Liederbuch gehabt, das war in Verwendung, aber gesungen haben sie nie. Also bitte, das kann ich nicht leiden, wenn jemand glaubt, die Leute sind blöd.

Sehen Sie derzeit Symptome einer Unterhöhlung der Demokratie?
Ich sehe Symptome einer Abstumpfung. Wissen Sie, wenn versucht wird, das Wort Gutmensch zum Schimpfwort umzufunktionieren, verstehe ich die Welt nicht mehr. Meine Eltern waren einfache Arbeiter. Sie haben immer versucht mich so zu erziehen, dass ich ein guter Mensch werde, dass ich grüße, in der Straßenbahn aufstehe, höflich bin. Das Ziel meiner Eltern bestand darin, dass ich ein guter Mensch bin. Dazu gehört auch, dass man anderen hilft, wenn sie es brauchen. Dafür bin ich meinen Eltern auch dankbar. Heute ist Gutmensch teils ein Schimpfwort.

Viele Anhänger der rechten Parteien fühlen sich von der intellektuellen Linken nicht ernstgenommen, sogar gedemütigt, da sich die Linken auf kein Gespräch auf Augenhöhe mit ihnen einließen, so ein oft gehörter Vorwurf. Wie sollte Ihrer Meinung nach ein Diskurs aussehen, und ist er überhaupt möglich? Diese Kritik verstehe ich und ich finde es auch vollkommen falsch, die Diskussion über die FPÖ mit Präpotenz zu führen. Wenn jemand einem FPÖ-Anhänger auf sein Posting genüsslich zurückschreibt, dass er einen Rechtschreibfehler gemacht hat, dann schreib ich dem zurück: Lass das sein! Wirf ihm doch nicht vor, dass er möglicherweise Hilfsarbeiter ist, nicht die entsprechende Bildung hatte. Was ist denn das für ein idiotischer Vorwurf von einem Linken? Mit Präpotenz kommt sicher kein Diskurs zustande.

Und es schafft weitere Aggressionen zwischen den Lagern.
Ja absolut. Ich war bei einer Diskussion, wo ein Politiker gesagt hat, ihr müsst doch sehen, was Europa für Vorteile bringt, er nannte unter anderem das Erasmus-Programm. Die Menschen, die aber dort im Publikum gesessen sind, haben nicht gewusst, was ein EU-Projekt, geschweige denn ein Erasmus-Programm ist, und schon gar nicht könnten es ihre Kinder jemals in Anspruch nehmen. Wie kommt denn das bei diesen Leuten an, die bei diesen Projekten nie eine Chance haben werden, aber wissen, dass sie das mit ihren Steuern alles finanzieren?

Die Infragestellung der seriösen Berichterstattung einiger Medien seitens der FPÖ ist nicht neu; neu hingegen ist die Drohung, die Kunst in ihrer Freiheit einzuschränken. Ich möchte an den Vorfall erinnern, der sich im Sommer ereignet hat, als die FPÖ Schwechat den dortigen Nestroyspielen drohte, sie würden deren Subventionen nicht mehr zustimmen, falls der Regisseur nicht bereit wäre, einige Zusatzstrophen, die der FPÖ missfielen, zu streichen. Empfinden Sie diese Vorgangsweise, die an Metternich erinnert, als ein bedenkliches Signal?
Ich bin mir nicht sicher. Die Anzeichen waren ja schon immer da. Der Herr Gudenus hat gesagt: „Knüppel aus dem Sack“, der Herr Hofer meinte: „Man wird sich noch wundern, was alles möglich ist.“ Ich verstehe nicht, warum wir uns jetzt wundern, sie haben es uns ja vorher angekündigt: Wenn du nicht für uns bist, bist du gegen uns. So lautet das Mantra einer Führerpartei.
Also, wenn die Künstler meinen, sie kämen ungeschoren davon, dann werden sie sich irren. Es ist ja die typische Haltung dieser Partei: Wir sind an der Macht und zeigen es ihnen. Du schreibst nicht so, wie ich will, du spielst nicht so, wie ich will, also bist du weg. Das alles ist einer Demokratie unwürdig.

 

Die Dokumentation „Einzelfälle und Serientäter“ – Die FPÖ und der Rechtsradikalismus“ ist unter www.mkoe.at/rechtsextremismus/broschuere-einzelfaelle-und-serientaeter zu finden.
An der Erstellung der Dokumentation war auch das Antifa-Netzwerk beteiligt.

Andere Seilschaften

Der Autor Erich Hackl fügt mit seinem neuen Buch „Am Seil“ der Zeitgeschichte ein weiteres historisches Detail hinzu und veröffentlicht damit eine biografische Notiz und Überlebensgeschichte im Nationalsozialismus. Der Chronist Hackl offenbart mittels Oral-History den rätselhaften Charakter eines Ex-Berliners und Neo-Wieners: Wer war Reinhold Duschka? Pamela Neuwirth hat das Buch gelesen.

Denkt man an eine Seilschaft, so sieht man heute möglicherweise zuerst die Verbindung zwischen Menschen, die sich unterstützen, um Privilegien oder Ziele durchzusetzen. So liest sich das auch im Duden, allerdings unter Pkt. 2. In erster Linie gibt das Lexikon unter Seilschaft die knappe Definition an: Gruppe von Bergsteigerinnen u. Bergsteiger, die bei einer Bergtour durch ein Seil verbunden ist. So konträr die beiden symbolischen wie konkreten Auslegungen von Seilschaft sind, – hier die augenscheinlichen Vorteile einer Gruppe von Personen die sich begünstigen, dort die augenscheinliche Abhängigkeit innerhalb der alpinistischen Seilschaft, – nur durch die herausfordernden Tugenden, die mit letzterer verbunden sind, ja von ihr tatsächlich abhängen, hat sich jedenfalls das ungewisse Schicksal von Reinhold Duschka, Regina Steinig und ihrer Tochter Lucia Heilmann zum Positiven wenden können. Diesem Bild von Seilschaft ging Erich Hackl nach. Der oberösterreichische Autor ist ja mittlerweile bekannt dafür „die Geschichte aufzuarbeiten“ – unvergessen seine minutiöse, im chronistischen Stil verfasste, aber ebenso behutsame Beschreibung der von den Nazis ermordeten Widerstandskämpferin Gisela Tschofenig und wie es dazu kam, dass heute nur eine kleine Sackgasse in Ebelsberg bei Linz ihren Namen trägt –, so erzählt er mit seinem jetzt im schweizerischen Diogenes Verlag erschienen Buch „Am Seil“, wie zwei Leben im faschistischen Terror-Regime des SS-Staates dank der Haltung eines deutschen Alpinisten und Kunst-Schmiedes in Wien verschont blieben. Der Untertitel von „Am Seil“ lautet im Übrigen: Eine Heldengeschichte. Das ist interessant, weil ein Falsch und Richtig darin liegt: So prekär sich immer beim Helden ein Pathos gestalten mag – in der Historie, wie auch der historischen Perspektive –, der Biografie des stillen Reinhold Duschka wird das sicher gerecht – als Zuschreibung. Ein ausdrucksvolles und feierliches Heldentum fehlte Reinhold Duschka (1900–1993) selbst jedoch vollkommen.

Erinnern mit Lucia
Langsam, nach und nach, entblättert sich in dem Buch „Am Seil“ eine Geschichte. Es ist, als würde man als Leser den vielen Gesprächen zwischen dem Autor Erich Hackl und der Zeitzeugin Lucia Heilmann beiwohnen. Das gemeinsame Nachsehen im Erinnern, Fragmente und konkrete Orte, Zeitpunkte und Anlässe zu einem Faden zusammenziehen. Ein sanftes Kreuzverhör, wo Antworten mit Beweisen abgeglichen werden, wo Fragen es schaffen, den verschütteten Erinnerungen nachzuspüren und sie in die historisch gesicherten Ereignisse zu setzen. „Am Seil“ veranschaulicht die Oral History und zeigt vor allem im ersten Teil des Buches, wie diese funktioniert. Das erscheint dann während des Lesens wie ein weitläufiger Schlüsselmoment, was ein Oxymoron ist, doch erlaubt Hackls Erzählweise, dem Zeitzeugengespräch und gleichzeitig einer Geschichte mit den handelnden Personen beizuwohnen. Die Protagonisten von „Am Seil“ sind nicht, wie in der Literatur, Personen, wo durch Autorenschaft die Gestaltung der Persona stattfindet und nachvollziehbar wird, warum die Person in der Geschichte fühlt, wie sie fühlt. Zu Beginn der Hackl’schen Chronik bleiben die Personen erst einmal seltsam fremd, wie Schablonen, die Leser müssen sich vorantasten, jede Information, jedes weitere Zeit-Weg-Diagramm, bildet zunächst nur Fragmente einer Person, die in Verbindung mit anderen steht. In dieser Weitläufigkeit ergeben sich Schlüsselmomente, die die Stärke und Beweiskraft der Oral History verdeutlicht. „Ich habe einfach zu sprechen aufgehört“, erinnert sich die mittlerweile pensionierte Ärztin Lucia Heilmann und hat diesen traumatischen Befund als Kind erst indirekt durch eine beiläufige Aussage ihrer Mutter zu verstehen gewusst, als diese bei Kriegsende einmal überrascht feststellt: „Du sprichst ja wieder!“ Die langen Momente, die sich bei jedem, der sich erinnert, als sein persönliches Gefühl für die erlebte Zeit offenbart; so auch bei Lucia: im Gefühl der Isolation. Die langen Tage im Versteck in der Kunstwerkstatt, wo das Kind de facto über Monate und Jahre mit dem Metallfeilen und anderen kleinen Handarbeiten beschäftigt sein wird und dabei nichts Geringeres erlernt als das „Wiener Kunsthandwerk“ von Josef Hoffmann, welches auch Reinhold Duschka in Wien erlernt hatte. Seine Kunst-Werkstatt im 6. Wiener Gemeindebezirk sollte ihr erster Zufluchtsort vor den Nazis werden. Lucias Mutter Regina Steinig war Chemikerin und bewegte sich in Kreisen, die auch Duschka kannte. Vage sind Lucias Erinnerungen an ihre gute Freundin Erna Dankner. Erna und ihre Eltern werden von den sogenannten Sammelwohnungen abgeholt, um deportiert zu werden. Während des Transportes fällt das kleine Mädchen von dem offenen Lastwagen der SS und wird überfahren. Der Autor Erich Hackl sorgt sich eben um diese bruchstückhaften Erinnerungen und gleicht sie mit gesicherten Informationen ab. Die kleine Erna Dankner starb nicht bei dem, vielleicht aus Erzählungen rekonstruierten Unfall in der Berggasse, sondern wurde im Jahr darauf mit ihren Eltern Moshe und Cipore mit dem zweiunddreißigsten Transport österreichischer Juden, der am 17. Juli 1942 vom Wiener Aspanghof abging, in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert.
Wie das Überleben von Regina und Lucia durch Reinhold Duschka zu einer Möglichkeit wurde, wird aus den Kindheitserinnerungen von Lucia deutlich, und zeigt sich durch Methode und Selbstdisziplin des Alpinisten und Kunstschmiedes. Auch der Enkelsohn von Reinhold Duschka erwähnt in diesem Zusammenhang den Begriff vom intelligenten Widerstand. Dem willkürlichen Terror der SS etwas entgegenzusetzen und nicht in Panik oder Apathie zu verfallen, wie das nachvollziehbar von Viktor Frankl und Eugen Kogon beschrieben worden war, ist eine außerordentliche mentale Leistung. Denn, die beiden Jüdinnen Regina und Lucia in den Jahren 1942 bis 1945 im 5. Stock eines Hauses in der Mollardgasse und anderenorts vor denunzierenden Nachbarn über die Jahre verstecken zu können, verlangt etwas Anderes und gelang schließlich durch Methode, Verlässlichkeit und Vertrauen. Woher Reinhold Duschka Essensmarken für zwei weitere Personen herbeischaffte – unbekannt. Warum Duschka irgendwann während des Krieges beschlossen hat, nicht mehr in seine Wohnung zurückzukehren und stattdessen mit beiden im Werkstatt-Versteck zubleiben – unbekannt. Wie er zu den Büchern für Lucia kam – unbekannt. Duschkas Vorgehen hatte sogar aus Perspektive des kleinen Mädchens und in der späteren Erinnerung der Ärztin Lucia eine Methodik, die an ein Regelwerk erinnert. Es geht niemals etwas Klaustrophobisches von ihm aus, kein Aktionismus, keine Kühnheit, kein Heroismus liegt in seinem Handeln. Er spricht nicht viel, wird niemals ungeduldig. Für ein Kind war das stille Arbeiten in der Werkstatt aber auch ein Gefängnis. An ein paar Ausgänge mit Reinhold könne sie sich erinnern, erwähnt Lucia Heilmann. Ein „Ausgang“ entspricht dem temporären Austritt aus einem Gefängnis; so auch mitten in Wien, weil es außerordentlich riskant war auf der Straße angehalten und erfasst zu werden, somit waren die Ausflüge an den Stadtrand sehr selten. Die Arbeit im Stillen war schwierig, zugleich aber eine Lösung, die Situation dauerhaft zu ertragen. Das zeitgeschichtlich generell Interessante, so auch am Nationalsozialismus und in der Perspektive auf Holocaust und den Widerstand, ist: Niemand wusste damals, dass der Krieg 1945 zu Ende sein würde. Am Anfang der Versteckzeit, als Reinhold Duschka nach seinem Tagwerk in der Werkstatt noch in seine eigene Wohnung zurückkehrte, ging er an den Wochenenden zum Bergsteigen, weiß Lucia. Dem Leser wird spätestens dann die klaustrophobische Situation im Versteck deutlich.

Wer war Reinhold Duschka?
„Wer weiß, wie man selbst reagiert hätte?“ ist ein geflügeltes Wort im Hinblick auf die nationalsozialistische Vergangenheitsbewältigung. In der Sozialphilosophie wird die häufige Reaktion von Menschen auf eine Gefahr als blinde Unbarmherzigkeit des Überlebenswillens beschrieben und bezeichnet einen instinktgeleiteten Egoismus, der in gefahrvoller Situation blind in eigener Sache agiert. Dank der Tugenden eines Bergsteigers sah Reinhold Duschkas Enkel den Großvater wie geschaffen für den intelligenten Widerstand: Selbstdisziplin, Einzelgängertum, Menschenkenntnis und Verschwiegenheit. Als einmal ein befreundeter Bergsteiger und Gestapo-Unterläufer sehr viel später nach dem Krieg erzählen wird, dass eine anonyme Anzeige die beiden „Fremdarbeiterinnen“ in Duschkas Werkstatt verraten sollte, verlieren die Bergkameraden nicht viele Worte über das Ereignis.
In dem halb pazifistisch und halb kommunistischen Freundeskreis, von dem sich der Kunstschmied Reinhold Duschka und die Chemikerin Regina Steinig vor dem Krieg kannten, wurde über die letzten Tage der Menschheit und die russische Revolution, den Expressionismus, das rote Wien, gesunde Ernährung, den gläsernen Menschen und die freie Liebe diskutiert. Der Vegetarier Duschka könnte vordergründig als tiefes Wasser beschrieben werden, das im Laufe der Erzählung aber einem komplexen wie rätselhaften Charakter weicht. Seine Courage gegen das Terror-Regime erstand aus seinem großen Freiheitswillen. Die gleiche Freiheit war es aber auch, die ihn nur bedingt zum Familienmenschen prädestinierte, und seine Bindungsangst in der Liebe verkomplizierte sein Leben. Später wird Lucia Heilmann die Geschichte ihrer Rettung an die Gedenkstätte Yad Vashem übermitteln. Auch dem weltweiten Aufruf, der mit Steven Spielbergs Film „Schindlers Liste“ einhergeht, Holocaust-Opfer sollen ihre Geschichte der Shoa-Foundation erzählen, wird sie folgen. In Die Letzten Zeugen, einem vom Burgtheater 2013 realisierten Theaterstück, gab Lucia Heilmann Reinhold Duschka erneute eine Stimme; einem der selbst wohl kein Wort darüber verloren hätte.

 

Erich Hackl, Am Seil. Eine Heldengeschichte.
Diogenes, Zürich
13. September 2018, 19:30 h
Stifterhaus

Buchpräsentation und Lesung mit dem Autor

 

Am Seil. Eine Heldengeschichte.
Verlagstext zum Buch: „Wie es dazu kam, dass der stille, wortkarge Kunsthandwerker Reinhold Duschka in der Zeit des Naziterrors in Wien zwei Menschenleben rettete. Wie es ihm gelang, die Jüdin Regina Steinig und ihre Tochter Lucia vier Jahre lang in seiner Werkstatt zu verstecken. Wie sie zu dritt, an ein unsichtbares Seil gebunden, mit Glück und dank gegenseitigem Vertrauen überlebten. Was nachher geschah. Und warum uns diese Geschichte so nahegeht. Diese Erzählung gäbe es nicht ohne das Versprechen, das Lucia Heilman sich selbst gegeben hat: den passionierten Bergsteiger Reinhold Duschka (1900–1993) zu würdigen, der sie und ihre Mutter vor der Deportation in ein nazideutsches Vernichtungslager bewahrt hat. Auf Lucias Erinnerungen gestützt, spannt Erich Hackl einen weiten Bogen von einer Zeit, „in der Männer noch beste Freunde und Frauen beste Freundinnen hatten“, über die dramatischen, zugleich eintönigen Jahre im Versteck bis in die unmittelbare Gegenwart. In Hackls genauer, vor Leidenschaft leuchtender Sprache werden nicht nur Retter und Gerettete lebendig – sie zwingt uns auch, die Aktualität dieser Geschichte zur Kenntnis zu nehmen in einem Europa, in dem mehr denn je Zivilcourage gefragt ist.“

Erich Hackl, geboren am 26. Mai 1954 in Steyr, OÖ. Nach dem Studium der Germanistik und Hispanistik ist er seit 1983 freier Schriftsteller und Übersetzer sowie Herausgeber von Werken unbekannter oder an den Rand gedrängter AutorInnen. In seinem literarischen wie publizistischen Schaffen geht es Hackl darum, Fäden zu knüpfen zwischen denen, die sich mit heutigem Unrecht nicht abfinden, und jenen, die sich schon früher empört haben und damit nicht allein bleiben wollten. Seinen Erzählungen, die in 25 Sprachen übersetzt wurden, liegen authentische Fälle zugrunde. Zahlreiche Preise und Auszeichnungen, u. a.: Kulturpreis des Landes OÖ. für Literatur, 1994; Großer Kulturpreis des Landes OÖ., 2013; Menschenrechtspreis des Landes OÖ., 2017.

Wasser, gewaschen?

Fruchtbare Fragen, gesellschaftliche Diskrepanzen oder die mehrdeutige Kunst, die zwischen Ästhetisierung und Realpolitik verrieben wird? Robert Stähr hat sich den diesjährigen Höhenrausch „Das andere Ufer“ angesehen. Und stellt einige Projekte in den größeren Kontext zu den Themen Wasser, Meer oder Ufer, die in Zeiten wie diesen ihre Unschuld verloren haben.

Zu Beginn des Rundwegs eine Barriere: Um den Ausstellungsparcours zu betreten, gilt es, eine Konstruktion aus Absperrbrettern von Ovidiu Anton zu überwinden, mit Hilfe welcher der rumänisch-österreichische Künstler laut Begleitheft gesellschaftliche Vereinbarungen in Frage stellt. Welche, verrät der in bestem Kunsterklärungslatein gehaltene Text nicht. Wie viele weitere ästhetische und didaktische Ansätze der diesjährigen Ausgabe der seit 2009 (fast) jährlich stattfindenden „Höhenrausch“-Ausstellung verbleiben Werk und „Beipacktext“ im Vagen und Ungefähren. Das mag beabsichtigt sein, um Raum für … eigene Gedanken und Vorstellungen der Besucher/innen zu schaffen; und der klassischen Funktion solcher Texte entsprechen, eine Spur zu legen und gleichzeitig für Betrachter/innen genug offen zu lassen. Aber es mag auch einer allgemeinen Ausweichbewegung geschuldet sein, die dem Trend folgt, Räume öffentlicher und damit politischer Debatte enger werden oder überhaupt verschwinden zu lassen.
Der Besucher/in bietet sich ein Rundgang durch verschiedene Räume von OK und Kulturquartier, über die Dachböden der Ursulinenkirche und den mittlerweile zum Stadtbild von Linz zählenden hölzernen Turm auf dem Dach des Offenen Kulturhauses bis zur Außenstelle Mariendom, den eine qualitative und künstlerisch große Bandbreite von Exponaten zum (gewollt oder ungewollt mehrdeutigen?) Thema „Das andere Ufer“ säumt: eine vordergründig schöne Ausstellung mit Erlebnischarakter über das Element Wasser, die dafür konzipiert ist, über den engen Kreis von Insidern hinaus Publikumsschichten anzusprechen, die sonst nur peripher mit zeitgenössischer Kunst in Berührung kommen. Das ist – so sei hier vorab betont – für eine Institution wie das „OÖ Kulturquartier“ ein berechtigtes und erwartbares Anliegen. Ich bin bei meinem Rundgang Familien begegnet, deren Kinder vor allem an begeh- und betastbare Arbeiten „andocken“ konnten und daran ihre Freude und Anregung hatten. Alexander Ponomarevs hölzern-monumentales „Flying Ship“, so etwas wie das Flaggschiff dieses „Höhenrauschs“, sowie die Soundinstallation mit Videoergänzung der deutschen Künstlerin Tamara Grcic, mit welcher sie die Fließbewegung eines Flusses in ein akustisches Zusammenspiel von Stimmen zu übersetzen (Begleitheft) sucht, seien in ihrer Unmittelbarkeit als positive Beispiele genannt. Der gemeinsame Nenner der überwiegenden Anzahl der gezeigten Positionen liegt aber vor allem in ihrer Mehrdeutigkeit, oft auch Unverbindlichkeit. Daran ändert auch die Gliederung der Ausstellung in verschiedene thematische Bereiche („Vom Nutzen des Wassers“, „Vom Schrecken des Wassers“, „Lebensraum Wasser“, …) nichts. Die symbolische Aufladung von Trivialitäten zu „Wasser“ und deren in den mitgelieferten „Erklärungen“ erfolgte didaktische Verbrämung soll die Besucher/innen vielleicht nicht überfordern; sie vielleicht sogar zum sicheren Hafen des Verstehens geleiten; ob das nicht eher eine Unterschätzung interessierter Menschen von Kurator/innenseite bedeutet, sei dahingestellt. Und ob nicht ein thematisch deutlicher benannter Bereich wichtig gewesen wäre, der den Umstand benennt, dass Meer und Wasser ihre Unschuld verloren haben, sei ebenfalls dahingestellt – das jedenfalls ist die Konnotation, die sich in diesen Tagen von selbst einstellt.
Insgesamt gibt es einiges zu problematisieren: den unfreiwilligen Zynismus, der dem Gesamttitel der Schau sowie einzelnen Bereichstiteln (s. o.!) angesichts von Meeren als nur unter Lebensgefahr überwindbarer Barrieren für Migrantinnen und Migranten innewohnt; die Ästhetisierung dieser Thematik im Rahmen einer Kunstausstellung; schließlich die offensichtliche Empathielosigkeit politischer Entscheidungsträger, welche genau dies nicht nur nicht stören dürfte, sondern die künstlerische Ausdrucksformen vor allem dann schätzen, wenn sie ihnen – diskursiv, performativ, aktionistisch – nicht in die Quere kommen.

Drei Arbeiten soll diese kritische Perspektive überprüfen: Die aus Japan stammende Künstlerin Chiharu Shiota, die mit eine „Vorläuferarbeit“ bei der vorletzten Biennale in Venedig vertreten war, bespielt unter dem Titel „Uncertain Journey“ den großen Saal des OK mit einer raumgreifenden Installation aus einem Geflecht roter Wollfäden, welches sie mit im Raum verteilten Metallbooten verbunden hat. Einerseits eine eindrucksvolle Arbeit. Andererseits: Jeder dieser Fäden kann als ein Aspekt des Lebenswegs eines Menschen verstanden werden. So trägt jedes der Metallboote eine Fülle von individuellen Personen, stets verflochten mit anderen. Jedoch hat diese „Reise ins Ungewisse“ kein Ende … (Text: Begleitheft) So what? Tappe ich in die Falle plumper Aktualitätsbezogenheit, wenn (sicher nicht nur) ich mich weigere, den sich aufdrängenden politischen Kontext auszublenden? Auch wenn Shiota universelle Begriffe wie Identität und Erinnerung, Tod und Leben, und die Existenz in Abwesenheit (!) (Text: Begleitheft) bearbeitet? Oder spricht die blutrote Farbe in der Arbeit Bände, und die Abwesenheit der eindeutigen Termini beschreibt vielmehr den gegenwärtigen Zustand gesellschaftlicher und politischer Ignoranz? Von der Dreikanal-Videoinstallation des Südafrikaners Mohau Modisakeng wiederum wird im Begleittext behauptet, sie sei eine Meditation über den Zerfall afrikanischer Identität durch die Sklaverei. Die mit Symbolik überfrachtete Arbeit pendelt zwischen verschiedenen metaphorischen Ebenen von Wasser (u. a.: Leben spendend und Tod bringend) (Text: Begleitheft). Hat der Künstler kein Problem damit, den aktuellen politischen Kontext durch stark stilisierte Bilder/Szenen zu evozieren und gleichzeitig ins verblasen Allgemeingültige aufzulösen? Der Titel verweist aber auch darauf, dass wir alle Passagiere auf Reisen sind und jede Reise einen Anfang und ein Ende hat. (Text: Begleitheft) Bleibt an dieser Stelle die Frage, ob dem Betrachter, der Betrachterin das Fertigschreiben der Kontexte selbst zugemutet werden kann.
Ärger, Amüsement oder beides in … fruchtbarer Ambivalenz? Das erzählerische Potential von Bildern zu erforschen (Begleitheft), stellt sicher nicht nur für die Australierin Tracey Moffatt eine kontinuierliche Aufgabe dar. Ob diese genuin literarische Aufgabe angesichts der konkreten Narration: Ein übervoll besetztes Flüchtlingsboot ist in Seenot geraten und droht zu kentern (Begleitheft) in ihrer Videoinstallation mit dem Titel „Vigil“ darin bestehen sollte, einschlägiges Bildmaterial mit Sequenzen aus Hollywoodfilmen zu kombinieren, die drei Schauspieler/innen mit vor Schreck geweiteten Augen durch ein Fenster starren lassen, und zwar – so die verbindende Erzählung – auf eben dieses mit Geflüchteten besetzte Boot (!), muss die Künstlerin vor sich selbst verantworten. Ob hier aufrüttelnder Zynismus, der „gesellschaftliche Spiegel“, beabsichtigte oder unbeabsichtigte Komik, gar eine Metaebene des Humors am Werk ist, vermag ich, eingestandenermaßen, nicht zu entscheiden. Große Skepsis halte ich für angebracht.

Pädagogisch-didaktische Attitüde, sich am „Allgemeingültigen“ orientierende Symbolik, metaphorische Aufgeladenheit; ein Ausstellungsparcours mit Erlebnischarakter; bloßes Streifen einer nicht ausblendbaren, hochpolitischen Thematik: All das charakterisiert diese von der Intention ihrer Gestalter/innen zwar irgendwie interessante, aber doch – nicht nur irgendwie – einen schalen Nachgeschmack hinterlassende „Höhenrausch“-Ausstellung. Wir leben in einer Zeit, in der mit dem künstlichen Hochschaukeln (auch so eine Metapher …) einer Bedrohungsproblematik durch flüchtende Menschen, die eine inhumane Abschottung vor deren „Ansturm“ rechtfertigen soll, politisch „große Scheine“ gewechselt werden. Fragen zum Verhältnis von Ästhetik, Erkenntnisgewinn und Politik können wahrscheinlich nie endgültig beantwortet, müssen eben deshalb immer aufs Neue gestellt werden. Sicherlich ist es gerade das breit angelegte, kulturellen Repräsentationszwecken folgende Ausstellungskonzept, dass das Benennen von Kontroversen gesellschaftspolitischer Natur bei der Auswahl der künstlerischen Positionen gescheut hat. Vielleicht wäre die konkretere Benennung der „Flüchtlingsproblematik“ an sich schon eine Provokation für Politiker, die dieses Thema am liebsten völlig aussparen würden und eine Kunst der Behübschung wünschen. Das steht zu befürchten. Es geht rund.

Als gäbe es kein Morgen

Tagsüber arbeiten sie als Redakteure oder Wissenschaftlerinnen, alle in prekären Anstellungs-Verhältnissen, in ihrer Freizeit verlieren sie sich in Drogen, Fetisch, Partys und Sex. Dass die Geschichte in Berlin angesiedelt ist, ist natürlich kein Zufall: Ines Schütz über die broken people in Marianne Jungmaiers Buch „Sonnenkönige“.

Sonnemkönig Buchcover

„Das Buch ist für mich ein Experiment“, sagt Marianne Jungmaier über ihren zweiten Roman „Sonnenkönige“. „Ich habe einen anderen Stil probiert und andere Themen, die nicht einfach sind.“ Im Grunde ist jedes ihrer Bücher ein solches Experiment, ihre beiden Bände mit Kurzprosa „Die Farbe des Herbstholzes“ (2012) und „Sommernomaden“ (2016) genauso wie ihr Lyrikband „harlots im Herzen“ (2014) und die Romane „Tortenprotokoll“ (2015) und eben „Sonnenkönige“ (2018). „Mir war es ein Anliegen“, so Jungmaier weiter, „wie ich das bei allen meinen Büchern mache, dass ich eine Lebenssituation nachzeichne, die ich interessant gefunden habe, als ich sie beobachtet habe.“

In „Tortenprotokoll“ war das die Lebenssituation einer Familie, die ein sogenanntes bodenständiges Leben auf dem Land führt, die tut, was sich gehört, aber nicht miteinander reden kann. Der Roman steigt ein mit einem Verlust, mit dem Tod der Großmutter. Friederike, die gleichnamige Enkelin, macht sich auf den Weg aus der Großstadt Berlin ins elterliche Dorf, um mit ihrem Freund aus Kindertagen in Erinnerungen zu kramen, dabei stoßen die beiden auf ein Bild der Großmutter, das ihnen völlig neu ist. Während sich alle Familienmitglieder an die nie ausgesprochene, aber gelebte Maxime der Großmutter „nie zu viel streicheln, nie zu viel lieben“ zu halten scheinen, „sich mit Schlagobers den Mund stopfen, Konflikte mit Buttercreme zuschmieren, Torten und Strudel zu essen, um nicht reden zu müssen“, finden sich ausgerechnet im abgegriffenen Rezeptbuch der Großmutter, von der Familie ehrfurchtsvoll „Tortenprotokoll“ genannt, zärtliche Liebesbriefe eines Mannes, der nicht der Großvater gewesen sein kann und zeugen von einem Leben, das die Großmutter verborgen vor allen gelebt hat.

Davon, dass ein Leben, das man vor und mit anderen führt, nicht unbedingt das eigentliche sein muss, erzählt auch der Roman „Sonnenkönige“, so unterschiedlich er stilistisch, perspektivisch und thematisch auch ist. Inhaltlich dockt das Buch an die unter dem Titel „Sommernomaden“ erschienenen Stories an, die vom Reisen erzählen, von der Lust an der Freiheit, am Unterwegssein und daran, einander (oder auch sich selbst) zu begegnen und wieder zu verlieren. „Sonnenkönige“ erzählt aus der Sicht Aidans ebenfalls von einer Art Unterwegs-Sein, von einem Leben im Flow. Marianne Jungmaier bezeichnet ihre Hauptfigur als drifter, „er hat nicht wirklich Halt in seinem Leben. Er hat einen Job, der nicht sicher ist, eine Beziehung, die nicht sicher ist und eine Wohnung, die nicht sicher ist.“ Alles Rahmenbedingungen für ein Leben von Menschen um die Dreißig, wie die Autorin sie oft beobachten konnte. „Es sind Charaktere, denen ich auch in meiner Generation, in der Jetzt-Zeit oft begegne: sich nicht einlassen wollen, alles ist käuflich, alles ist vergänglich, unverbindliche Beziehungen – das ist heute Normalzustand geworden und das wollte ich auch zeigen“.

Aidan und Hannah sind ein Paar, die Freundinnen Sam und Cherry auch. Miteinander haben sie eine Art Familie kreiert, ihr Lebensmittelpunkt ist eine WG in Berlin. Tagsüber arbeiten sie als Redakteure oder Wissenschaftlerinnen, alle in prekären Anstellungs-Verhältnissen, in ihrer Freizeit verlieren sie sich in Drogen, Fetisch, Partys und Sex. Dass die Geschichte in Berlin angesiedelt ist, ist natürlich kein Zufall: Es gehe in ihrem Buch um „broken people, die alle auf der Scholle Berlin gelandet sind“, so Jungmaier, und „in Berlin ist das relativ aufgelegt. Wenn man dort lebt und ausgeht, oder auch wenn man sich mit Sexualität auseinandersetzt, kommt man schnell in Berührung mit dieser Szene.“ Themen, mit denen sich Jungmaier in diesem Roman auseinandersetzt und „die nicht einfach sind“, sind Sexualität und Gender, eine Lebenssituation, die sie interessant gefunden hat, als sie sie beobachtet hat, ist das Paralleluniversum einer Subkultur in Berlin. „Die Hauptcharakterinnen(!), Sam und Cherry, führen eine BDSM Beziehung. Für mich war das wichtig, dass in meinem Buch eben Frauen mit einer starken Sexualität, die sie selbst gewählt haben, vorkommen, und dass ich zwei Frauen, die zusammen sind, darstelle. Für mich ist das in den Medien noch zu wenig vertreten: dass Frauen eine selbstbestimmte, selbstgewählte Sexualität ausleben.“ So sehr die Beziehung dieser beiden Frauen auf den ersten Blick von dem abweicht, was gemeinhin als klassische Paarbeziehung bezeichnet wird, so sehr ähnelt sie ihr in ihrem Prinzip: nämlich dass zwei Menschen aufeinander bezogen sind. Das ist ein Ausnahmefall im Meer von offenen Beziehungen, wie sie im Roman beschrieben werden. „Es war aber auch ein Berliner Problem“, heißt es hier. „Jeder hier war polyamourös, aber kaum jemand meinte es so. Die meisten wollten sich einfach nicht festlegen“.

Aidans Beziehung mit Hannah geht, trotz aller Offenheit, in die Brüche. Zum einen deshalb, weil er eine Festanstellung bekommt, wie sie sich auch Hannah erhofft, und er ihr, obwohl sie qualifizierter ist, damit im Verlagshaus vorgezogen wird. Zum anderen, weil er bei einer Party Bill kennenlernt, in den er sich sofort verliebt. Gemeinsam mit ihm will er seinen Traum, den er bis dahin im „Hobbykeller“ verfolgt und vor seinen Mitbewohnerinnen geheim gehalten hat, verwirklichen: Er will einen Drachen aus Eschenholz bauen, ihn zum Favilla-Festival nach Nevada bringen und ihn dort verbrennen. Im zweiten Teil des Buches, übertitelt mit „San Francisco – Favilla“, wird die Suche nach Rausch und Ekstase, nach dem Verlust von sich selbst auf die Spitze getrieben, gespiegelt in der Surrealität einer Festival-Stadt (angelehnt an „Burning Man“), einer mehrere Tage dauernden riesigen Party, zu der Leute aus aller Welt in die Wüste kommen. „Es ist total abgefahren“, so Hannah im Roman. „Du gehst verloren. Im Festival, aber auch dir selbst. Und trotzdem ist es ein Nachhause-Kommen. In deine Community, zu deinen Leuten. Und du kannst einfach du selbst sein“.

Mit „Sonnenkönige“ hat Marianne Jungmaier ein Buch über Menschen geschrieben, die an der Oberfläche leben, die sich treiben lassen. Genau das wollte sie auch. Ihre „Figuren leben in einer Hybris, in ihrer eigenen Blase, in ihrem eigenen Sein, ihrem ‚Wir sind die Größten in unserer Welt‘. Sie leben, als gäbe es kein Morgen; es gibt nie den Gedanken ‚Was macht das mit mir, was ich gerade tue?‘“

Dass eine solche Entscheidung für eine Welt ohne Tiefe nicht von ungefähr kommt, wenn im eigenen Leben von der Herkunftsfamilie angefangen nichts, aber auch wirklich gar nichts fix ist, schwingt im Roman immer mit. „Wer sich einlässt auf Aidans Welt“, so Barbara Krennmayr im Oö. Kulturbericht, „findet ein umsichtiges, urteilsfreies Portrait einer Generation von gut ausgebildeten, urbanen Zwanzig- bis Dreißigjährigen, die sich nicht festlegen will, aber auch nicht so recht glücklich wird damit.“ Dass man in den Untiefen eines solchen Lebens doch auch immer wieder Halt finden kann, bei einem anderen Menschen oder vielleicht sogar in sich selbst, grenzt, wie das temporäre, schrille und bunte Festival in der Wüste, fast an ein Wunder: „Sonnenkönige ist eine Kampfansage gegen Mieselsucht, Melancholie und allgemeine Angstzustände unserer Zeit“, schreibt Wolfgang Huber-Lang für die APA, „ein irritierendes Buch, das in seinem unbedingten Beharren auf den realisierbaren Gegenentwurf erstaunlich ist. Eskapismus könnte man das nennen. Oder: schöne Utopie.“

Aircheck Not To Disappear

Eine Sendereihe, die das Verschwinden von Frauen in den Raum stellt, läuft aktuell noch auf Radio Fro und Dorf TV. Sandra Hochholzer reflektiert nach vier gelaufenen Sendungen und eröffnet mit einer Ansage.

 

Lass mich jetzt mal mit meinem Selbstbewusstsein deine Kompetenz in Frage stellen.

Im Studio: Gabriele, Kepplinger, Julia Pühringer und Jelena Pantic-Panic. Foto Daniela Banglmayr

Im Studio: Gabriele, Kepplinger, Julia Pühringer und Jelena Pantic-Panic. Foto Daniela Banglmayr

Eben mit diesem provokanten Satz hat Jelena Pantic-Panic (Leiterin des Kulturressorts beim Magazin biber) eine Situation auf den Punkt gebracht, die nicht nur für den Bereich des Journalismus die Geschlechterrivalität in der Berufswelt gut darstellt. „Männer beanspruchen Deutungshoheit“, setzt sie ihre Aussage fort. Sie war zu Gast im Studio von Radio Fro und eingeladen, mit weiteren Gästen über das Verschwinden von Frauen aus ihrem Karriereweg, sprich von unterbrochenen oder abgebrochenen Karrierewegen, zu diskutieren – mit Fokus in dieser Sendung auf die Situation von Journalistinnen und unter dem Titel „Warum die Blattlinie Männersache bleibt und vom Verschwinden der Frauen in den Medien“. Eine von fünf Sendungen, die ihren Blick jeweils auf unterschiedliche Sparten werfen, um herauszufinden, wo denn sinnvoll an den gesellschaftspolitischen Schrauben gedreht werden müsse. Denn gesetzlich hat sich seit dem ersten Frauenvolksbegehren (1998) einiges getan. Ungleichheiten wurden gesetzlich beseitigt. Bleibt die Frage: Das Gesetz hindert und behindert Frauen also nicht mehr?

Durchschnittlich bekommt eine Frau in Österreich 1,4 Kinder, bei Journalistinnen sind es nur 0,5. Ausschlaggebend sind hier bestimmt nicht nur begrenzte Öffnungszeiten im Kindergarten, sondern es wird sehr stark auf die karrierefördernde Netzwerkarbeit verwiesen, die im Journalismus, aber ebenso in der Wissenschaft oder auch im Kunstbetrieb einen hohen Stellenwert einnimmt und die oft für Mütter nur bedingt alltagstauglich ist. Abends noch schnell auf ein Bier mitgehen, ist für Frauen mit Kindern viel unrealistischer als für Männer. Die Teilnahme an Abendveranstaltungen lässt sich viel mühsamer organisieren und auch nicht ständig. Selbst sehr engagierte Väter gestalten ihre Praxis einfach anders als Frauen. Männer planen die Zeit für sich selbst viel selbstverständlicher in ihren Alltag ein. Da wird, was auch immer, abseits von Anwesenheitspflichten nicht einfach zugunsten der Familie regelmäßig abgesagt oder überhaupt darauf verzichtet. So ist und bleibt die Kinderbetreuung ein wichtiges Thema, das hauptsächlich bei der sorgenden Mutter bleibt. Diese wird dem männlichen Machtstreben als Gegenpol gegenübergestellt. Ein Bild, das übrigens weit aus der Geschichte stammt, bringt die Historikerin Kathrin Quatember ein.

Die sorgende Mutter ist vor allem im Kopf der sorgenden Mutter und damit gesellschaftlich extrem verankert. Das ist kein Spaziergang, sowas zu verändern, zumal konservative Geschlechterbilder wieder auf dem Vormarsch sind und die Geschlechterordnung politisch wieder neu umkämpft ist. Der Umbau der Wohlfahrtsstaaten betrifft oft gerade Frauen sehr stark. Die Frauenförderung wird dem Wettbewerb der besten Köpfe, also der sogenannten Excellence, untergeordnet. Stattdessen sollte Arbeit neu bewertet und neu verteilt werden. Julia Schuster, Soziologin vom Institut für Genderstudies in Linz, fordert in diesem Zusammenhang Mut, um über neue Modelle nachzudenken. Die politische Situation in Europa lässt die Gleichstellung momentan nicht weiterblühen.

Aber ich möchte die Diskussion gar nicht nur auf Kinder beschränken und nochmals zur Aussage von Jelena Pantic-Panic zurückkommen. „Lass mich jetzt mal mit meinem Selbstbewusstsein deine Kompetenz in Frage stellen“. Sie spricht damit ganz dezidiert die Praxis in vielen Medienhäusern an und meint damit die immer noch sehr oft anzutreffende und leider viel zu selten offene Missachtung findende überhebliche Haltung von männlichen gegenüber weiblichen Kolleg*innen. Auch unterstreicht sie die Vorbildfunktion von Medienhäusern und die damit verbundene Verantwortung.

Dazu ein kleiner Ausflug. Ich lese momentan das Buch „Kultur der Digitalität“ von Felix Stalder. Darin arbeitet er einleitend die Rahmenbedingungen heraus, die die Wege in die Digitalität gestalten und macht dabei auch interessante Analysen der Vergangenheit: „Schaut man sich heute Fernsehdiskussionen aus den fünfziger und sechziger Jahren an, fällt einem nicht nur auf, wie genüsslich im Studio geraucht wurde, sondern auch, wie homogen das Teilnehmerspektrum war. Meist sprachen weiße, heteronorm agierende Männer miteinander, die wichtige institutionelle Positionen in den Zentren des Westens innehatten. Vor allem sie waren legitimiert in der Öffentlichkeit aufzutreten, ihre Meinung zu artikulieren und diese von anderen als relevant, anerkannt und als diskutiert zu sehen. Sie führten die wichtigen Debatten ihrer Zeit.“

Ist es heute anders? Wenn ich Ö1 höre, kann ich bestätigen, dass weiße, gut ausgebildete, erfolgreiche, vermutlich besserverdienende Frauen auch Interviews dazu geben, wie die Welt am besten funktioniert und wie vor allem sie selbst immer alles richtiggemacht haben und sich insofern auch selbst als rundfunkwürdig betrachten. Im Zusammenhang mit Stalders Geschichts-Exkurs ein sichtbarer Fortschritt. Für die gesellschaftliche Gegenwart aber eine Entwicklung, die noch viel Platz für Entfaltung lässt.

Diese soeben bemängelte Entfaltung glückt den Freien Medien durchaus besser, der Weitblick im Umgang mit den vielen unterschiedlichen Akteur*innen ist hier vermutlich einfach weniger beladen von Alt-Hergebrachtem und es entstehen dabei, meiner Ansicht nach, lebensnähere/authentischere Produktionen. Oder wie es Felix Stalder nennt: „Die Erweiterung der sozialen Basis der Kultur“.

Und so ist es auch 2018 noch immer bemerkenswert, wenn eine Moderatorin und ihre ausschließlich weiblichen Gäste im Studio vor laufender Kamera und live im Radio eine Stunde lang ihre Sicht der Dinge darlegen.

Es ging vier Mal eine Stunde lang auch um Männer, sogar um Kinder, um Kultur, um Politik, um Wissenschaft, um Medien und um die Fragen, warum und wohin sie denn verschwinden, die Frauen, die auf der Uni noch vorn dabei waren und dann ein paar Jahre später ihre Karriere auf Sparflamme gestalten und die erste Reihe meiden? Ein gut abgestecktes Spektrum relevanter Aspekte und Entwicklungen, die die Situation gut vergegenwärtigen und auch bezüglich einem hoffentlich bald eingeleiteten Frauenvolksbegehren die Forderungen sichtbar und hörbar machten.

NOT TO DISAPPEAR! – eine pure Übertreibung?
Daniela Banglmayr hat sich vorgenommen, fünf Sendungen (auf Radio Fro & Dorf TV, unterstützt von der Gesellschaft für Kulturpolitik) zu gestalten. Sie stellt tatsächlich das Verschwinden der Frauen in den Raum. Aber ist das so, ist das vielleicht doch pure Übertreibung? Nun, Übertreibung ist ja in vielen Bereichen eine notwendige Strategie, um überhaupt ein Ohr zu bekommen. Und so viel kann ich festhalten – die Notwendigkeit, weiter über die Rolle der Frauen in der Gesellschaft öffentlich zu reflektieren ist mehr als gegeben und die Notwendigkeit, Strategien auszubaldowern und sichtbar und hörbar zu machen, wann immer es die Möglichkeit dazu gibt, ebenfalls!

Die nächste und diesbezüglich vorläufig letzte Gelegenheit Daniela Banglmayr und ihren Gästen live beim Baldowern zuzuhören und zuzusehen gibt’s am 21. September 2018 um 17 Uhr auf Radio Fro 105,0 MHz und in der Folge auf Dorf TV zum Nachsehen. Sandra C. Hochholzer arbeitet weltumspannend für weltumspannend arbeiten und Radio Fro und entwickelt und leitet Bildungs- und Medienprojekte.

 

Alle Sendungen zum Nachhören: cba.fro.at und www.fro.at
Alle Sendungen zum Nachsehen: www.dorftv.at
Suchwort: not to disappear

Feminismus zum Anziehen?

Der Feminismus und sein immanentes Befreiungspotetial in Popkultur und Fashion: Riot-Grrrl, Radical Chic, Attitude und die größere soziale Gerechtigkeit – Sarah Held zeigt Beispiele, Widersprüche und Emanzipationspotentiale auf.

Neue Produktionstechniken generieren alternative Körperbilder: Der Studiengang Fashion & Technology der Kunstuniversität Linz. Bild „Happy Horder“ by Mirela Ionica, Studentin Fashion & Technology

Neue Produktionstechniken generieren alternative Körperbilder: Der Studiengang Fashion & Technology der Kunstuniversität Linz. Bild „Happy Horder“ by Mirela Ionica, Studentin Fashion & Technology

Nicht nur in der Mode feiern die 90er Jahre mit der aktuellen Retrowelle eine regelrechte Renaissance, auch innerhalb der Popkultur zeigen sich diverse Phänomene aus den 90ern, allen voran das Revival des Girl-Power-Slogans. Dieser steht für eine vermarktbare feministische Attitüde, die vorwiegend mit der etwas platten Phrase der Spice Girls assoziiert wurde bzw. wird. Ähnlich wie diverse andere massenkompatible Erscheinungen hat auch der popfeministische Spice Girls-Girl-Power-Slogan einen aktivistischen und/oder subversiven Background. Vor dem Bubble-Up zur nahezu inhaltsleeren Oberflächenrhetorik des Pop-Mainstreams der 90er Jahre positionierte sich die punkinduzierte Riot-Grrrl-Bewegung mit emanzipatorischen Slogans wie Revolution Girl Style Now. Diese dienten zur Identitätsbildung und -verortung sowie dezidiert zum aufrührerischen Verhalten, aber vor allem zur Bandenbildung innerhalb einer feministischen Sisterhood. Als genderorientiertes Punk-Subgenre weist die Riot-Grrrl-Bewegung einerseits ästhetische Verwandtschaft zum Punk auf, bildete aber eine eigene Bildsprache heraus, die heute innerhalb der Riot-Grrrl-Retrowelle reproduziert und erweitert wird. (1) Welche Beispiele zeigen sich in der aktuellen Popkultur für die Vermarktung feministischer Slogans bzw. deren Verwendung als Tool zur Identitätsbildung? Es werden vestimentäre Praxen skizziert und die Schnittstelle feministischer Intentionen im Modekontext aufgezeigt.

Nicht nur in sozialen Netzwerken und szeneorientierten Kontexten sind feministische Mode und ein sogenannter Riot-Grrrl-Style sichtbar. Der Onlineshop Feminist Apparel hat sein Sortiment komplett auf Radical Chic ausgelegt, so kann sich dort von Kopf bis Fuß mit feministischem Merchandise eingedeckt werden, glitzernde Accessoires inklusive. Es werden Nischen geöffnet und kleine Untergrund-Designlabels, beispielsweise Indyanna (2) gegründet, die ihre Kollektionen mit aufrührerisch klingenden Titeln wie riots start everywhere benennen und sich in den Kleidungsstil von Riot-Grrrl-Bands wie Bikini Kill, Bratmobile oder Le Tigre verorten.

Was früher als subkulturelle Do-it-yourself-Mode der Riot-Grrrl-Bewegung entstand, wurde mittlerweile über Indie-Labels bis hin zu globalen Modeketten kommerzialisiert. Den endgültigen Schritt weg von der Szene markiert das T-Shirt mit dem Druck der Lexikon-Definition des Substantivs „Feminism“ des schwedischen Modehauses H&M aus dem Jahr 2015.

Die Verwendung von feministischen Symboliken und Bildsprachen unter kapitalistischen Interessen großer globaler Marken ist kritisch zu betrachten und auch hier muss wie bei verschiedenen aktuellen feministischen Erscheinungen in der Produktvermarktung das Framing mitgedacht werden: Wer agiert, wie wird agiert, was sind die Rahmenbedingungen und unter welchen Prämissen werden welche Absichten verfolgt? Im Beispiel der H&M-Kampagne handelt es sich weniger um eine ideell orientierte Massenverbreitung von feministisch-emanzipatorischen Inhalten denn um eine kapitalistische Verwertungslogik. Feminismus wird hier zur zentralen Marketingstrategie hipper Labels reduziert und als solche vermarktet. Aktivistisch bleibt es eher an der Oberfläche, wenn Jacken mit glitzernden Riot-Schriftzügen verziert werden, wie beispielsweise beim Start-Up Indyanna aus Berlin. Bildsprachlich wird hingegen modische Selbstdarstellung mit feministisch-subversiven Inhalten assoziiert. Ein weiteres Beispiel für die Verwendung von feministischer Bildsprache und -ästhetik ist Karl Lagerfelds Inszenierung im Rahmen der Ready-to-wear-Modenschau 2014. Der Catwalk sollte den Eindruck einer Frauenrechtsdemonstration erzeugen. Dabei liefen die Models mit Demo-Transparenten über den Laufsteg und forderten allerdings statt Gleichberechtigung ihr Recht auf Luxusmode von Chanel ein. Feministisches Potential versteckt sich hier nicht, denn die Darstellung beschränkt sich auf eine inhaltslose Repräsentation, die weder das subversive noch das feministische Moment der referenzierten Ästhetik reproduziert, besonders im Hinblick auf die körperfeindlichen Zitate des Designers. (3)

Popkultur und Mode wird häufig vorgeworfen, feministische Maxime als Marketingstrategie zu verwenden. Das geschieht zum Beispiel bei der Pop-Sängerin und Aktivistin Beyoncé Knowles, deren feministisches Engagement und öffentliche Selbstbezeichnung als Feministin in radikal-feministischen Kreisen kritisch diskutiert werden. (4) An dieser Stelle muss eingeworfen werden, dass eine Ikone wie Beyoncé größeren Einfluss auf ein breites, zumeist junges Publikum hat als die einschlägigen Diskussionen der Genderforschung und radikal-aktivistischer Gruppierungen. Allerdings erweisen sich jüngst publizierte Tatsachen bezüglich der Produktionsbedingungen von Beyoncés Modelabels Ivy Park als problematisch. Das Label nutzt zur Produktion der Designs Kollaborationen mit Fast-Fashion-Derivaten wie TopShop und lässt in Sweatshops in Sri Lanka produzieren. (5) Hierbei zeichnen sich die üblichen Problematiken kapitalistischer Konsumkultur ab. Das Beispiel der Sängerin Beyoncé wird allerdings im Diskurs auf einer anderen Ebene verhandelt, denn durch ihre feministische Einschreibung und ihren Black-Movement-Aktivismus in den USA werden solche Skandale medial besonders gern verwertet. Es ist allerdings auch eine berechtige Entrüstung.

Richten wir – im Zusammenhang mit den Produktionsbedingungen – den Fokus auf die mexikanischen Sweatshops (Maquiladores) von Ciudad Juárez, um zu zeigen, dass mit Modepraxen auch Handlungsmacht geschaffen werden kann. Die Grenzregion ist bzgl. der Femicides seit den 1990er Jahren immer wieder im Gespräch, weil dort seitdem mehrere hundert bzw. tausend Frauen getötet wurden und verschwunden sind. Es besteht ein direkter Zusammenhang zwischen Femicides und Maquiladores, da dort Frauen in der Mehrzahl arbeiten und häufig auf dem Weg zur Arbeit verschwinden. (6) Neben verschiedenen künstlerischen Auseinandersetzungen (z. B. Desconocida Unknown Ukjet) oder Menschenrechtskampagnen (z. B. FEMAP) ist die Modemanufaktur NI EN MORE ein Versuch, die Situation für Frauen in Juárez zu verbessern. Dabei handelt es sich um ein junges Modelabel, das 2018 Marktreife erlangen möchte. Sie propagieren Ziele wie beispielsweise ein nachhaltiges Geschäftsmodell von, mit und für Frauen aus Juárez. Das Label erzeugt dabei Mode vor Ort, mit allen Produktionsschritten von Design bis Textilherstellung. Das beinhaltet nicht nur einen de-globalisierten Herstellungsprozess der Kleidung, sondern auch eine soziale, gar aktivistische Intention. Denn die Initiator*innen versuchen mit ihrer Strategie, sexualisierte Gewalt gegenüber Frauen sichtbar zu machen und alternative Arbeitsmöglichkeiten für Frauen in Juárez zu schaffen. (7) Die sozioökonomischen Bestrebungen des Modelabels zeigen deutlich eine ethisch-moralische Komponente von Modeherstellung im Kontext von feministischen Aktivismus. Schließlich ist die Branche dafür bekannt, sehr häufig unter ethisch fragwürdigen Bedingungen zu produzieren. Das betrifft Designware genauso wie massengefertigte Normkleidung der großen Modehäuser. Natürlich gibt es hier Ausnahmen, die bewusst auf den LOHA-Trend setzen und fair herstellen lassen.

Hinsichtlich einer anderen, technologisch orientierten Entwicklung: Seit einigen Semestern kann man an der Linzer Kunstuniversität den Studiengang Fashion & Technology studieren. Der Studiengang scheint ein Experimentalfeld zu sein und setzt auf Technik. Bei einem Besuch der Werkstätten und einer Führung durch die Räumlichkeiten in der Tabakfabrik wird deutlich: hier soll ein neuer Wind wehen. Ich spüre einen Hauch von Aufbruchsstimmung dort, wo Mode mit Technologie kombiniert wird und damit neue Wege begangen werden sollen. Bei so viel wahrgenommenem Aufschwung ist auch eine feministische Note deutlich spürbar. Gerade in Bezug auf Körpernormierungen und Körperpolitiken scheint sich in Linz etwas zu tun. Möglicherweise gelingt es im lokalen Experimentalraum, die mächtigen körperfeindlichen Diskurse an der Schnittstelle von Mode und Technologie mit Innovationen möglicherweise zu schwächen. (8)

Zum Abschluss möchte ich zur poppigen Feminismusvariante zurückkehren und betonen, dass im Sinne eines Spread-the-word die aktuellen Entwicklungen durchaus förderlich für die Verbreitung feministischer Intentionen sind, um Nachwuchs für die Sisterhood zu gewinnen. Zudem verhilft die Popvariante Feminismen zu einem Imagewechsel: sich buchstäblich in neuem Kleid zu zeigen. Kurzum, es trägt dazu bei, die Attraktivität einer feministischen Selbstbezeichnung zu erhöhen, denn es gilt in bestimmten Kreisen als schick, Feminist*in zu sein. Zudem wird möglicherweise einen Einstieg bereitet, sich auch tiefergehend mit der Materie zu beschäftigen und nicht nur feministisch motivierte Bildsprachen auf Textilien zu tragen.

 

1 www.missy-magazine.de/2016/05/30/riot-grrrl-chic
2 www.indyanna.squarespace.com
3 www.pop-zeitschrift.de/2014/10/12/mode-oktobervon-sabina-muriale12-10-2014
4 www.theeuropean-magazine.com/julia-korbik–3/9500-feminism-as-a-trend
5 www.huffingtonpost.com/michael-shank/how-beyonces-ivy-park-lab_b_10143234.html?guccounter=1
6 Tipp: Lourdes Porillos Dokumentation Señorita Extravida – Missing Young Women
7 Weiterlesen auf www.nienmore.com/home
8 www.ufg.at/Fashion-Technology.11325.0.html

Anarchie in Kuba

„Freiheit ohne Gleichheit ist ein Dschungel, Gleichheit ohne Freiheit ein Gefängnis“, so eine anarchistische Grundaussage, die wohl besonders in Kuba Wirkung entfaltet. Eva Schörkhuber und Andreas Pavlic haben auf ihrer Reise nach Kuba die Gruppe Taller Libertario Alfredo López besucht. Erkenntnis 1: Auch Anarchist_innen betreiben Crowdfunding. Erkenntnis 2: Besonders mit ihrem Engagement für Bildung und Autonomie erinnert die Gruppe an einen frühen Anarchismus, der auf der ganzen Welt gegen das Elend der Arbeiter_innen auftrat und die ersten sozialen Errungenschaften ermöglichte.

Es ist ein warmer Tag im Januar. Ein strahlend blauer Himmel spannt sich über Havanna. Wir machen uns auf den Weg, gehen die prächtige Steintreppe hinauf, die zum Haupteingang der Universität führt. Wir halten inne, sehen uns um. Von keiner der Personen, die hier sitzen, nehmen wir an, dass sie unsere Kontaktperson ist. Eine Gruppe in Militäruniformen geht an uns vorbei, zwei Männer und zwei Frauen. Am Ende der Treppe wartet ein Auto, sie steigen ein. In diesem Moment biegt ein Mann in gelbem T-Shirt um die Ecke und steigt die Treppen hoch. Kein Zweifel, das ist Mario. Wir begrüßen uns herzlich. Dann nimmt das Gespräch seinen Lauf, wir unterhalten uns über die anarchistische Gruppe, deren Mitglied Mario ist, über die Geschichte des Anarchismus auf Kuba und auch darüber, dass Marios Tochter, die in die erste Klasse geht, Fidel Castro für ihren Großvater hält: Im Fernsehen sei eine Archiv-Aufnahme von einer der Reden Castros ausgestrahlt worden und seine Tochter habe gerufen: „Schau Papa, das ist Opa!“ Er habe nicht sofort verstanden, aber dann habe seine Tochter erzählt, dass in der Schule stets von Fidel Castro als dem großen Vater Kubas die Rede gewesen sei. Einiger Zeit habe es bedurft, um seiner Tochter klar zu machen, dass Castro nicht ihr richtiger Opa sei. Wir lachen, alle drei, dann wird Mario ernst: „Ein Schulsystem, das vorwiegend Staatspropaganda vermittelt, ist untragbar.“ Schließlich fragen wir ihn, ob es wirklich Zufall gewesen sei, dass die Militärgruppe verschwunden und er aufgetaucht sei. Mario winkt ab. Zurzeit sei es nicht so gefährlich, „wir können in Ruhe arbeiten – momentan.“

„We do not feel shame to be anarchists“
Und zu tun gibt es genug. Über eine Crowdfundig-Kampagne haben wir von der anarchistischen Gruppe erfahren. Taller Libertario Alfredo López (Libertärer Workshop Alfredo López) hat einen internationalen Spendenaufruf gestartet, um Geld für die Errichtung eines Sozialen Zentrums in Havanna zu sammeln. „Unser Aktivismus ist nicht so, wie ihr es euch vielleicht vorstellt und wie es in Europa oder in den USA gehandhabt wird“, erzählt Mario, „wir wollen uns nicht als die Bad Guys in schwarzer Kleidung präsentieren.“ Es gehe nicht darum, in direkte Konfrontation mit dem Staat zu gehen, da würde die Repression sofort zuschlagen. Wesentlich für die Gruppe sei es, Kontakt zu den Menschen aufzubauen und zu zeigen, dass es in ihrer Hand liegt, die Wirklichkeit zu transformieren.

Hervorgegangen ist Taller Libertario Alfredo López (TLAL) aus dem Netzwerk Observatorio Critico. Von 2003 an wurden seitens des kubanischen Kulturministeriums jährlich Treffen initiiert, bei denen Künstler_innen, Wissenschafter_innen und Aktivist_innen über die gegenwärtige Situation im Land diskutierten. Die Themen waren Bildung, Umweltverschmutzung, Gender. Jahr für Jahr wurden kritischere Positionen eingenommen. Die Leute hatten das Gefühl, frei sprechen zu können, obwohl die Organisation unter der Kontrolle des Kulturministeriums stand. 2010 stellte es die Koordination ein, die Mitglieder des Netzwerkes mussten nun allein weiterzumachen. Am 1. Mai 2010 fand das erste Treffen des TLAL statt. „Wir haben beschlossen, uns als Anarchist_innen zu organisieren – we do not feel shame to be anarchists.“ Von da an wurden regelmäßig Präsentationen und Diskussionen organisiert, Infomaterialien zusammengestellt, die Zeitschrift Tierra Nueva herausgegeben und an der Realisierung eines Sozialen Zentrums in Havanna gearbeitet.

„… das ist die Idee von Autonomie“
Das nächste Treffen mit Mario findet eine Woche später statt. Gemeinsam machen wir uns auf den Weg zu dem Haus, in dem das Soziale Zentrum entstehen soll. Wir durchqueren die Höfe der Universität und steigen in einen Bus. 45 Minuten lang fahren wir weg vom Zentrum hinauf in die Hügel von Havanna. Lawton heißt das Barrio, das von ehemaligen Zuckerbaronen gegründet und im typischen Kolonialstil errichtet wurde. Wir sehen Häuser mit vorgelagerten kleinen Terrassen, einige in kräftigen Farben gestrichen, viele jedoch grau und ramponiert. Im Bus treffen wir zufällig Isbel, der ebenfalls bei TLAL aktiv ist. Zu viert steigen wir die Straße hinunter, Isbel erzählt, dass die Crowdfunding-Kampagne rasch erfolgreich gewesen sei, dass sie das Haus mittlerweile gekauft hätten und sich darauf freuten, das Zentrum zu eröffnen: „Allerdings steht uns noch viel Arbeit bevor, wir müssen das Haus einrichten und Kontakte zur Nachbar_innenschaft knüpfen. Wir wollen soziales Vertrauen aufbauen, das es für eine Gemeinschaft braucht, das ist die Idee von Autonomie.“ Wichtig sei es, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen und nicht darauf zu warten, dass der Staat alles für eine_n erledige. „Das tut er sowieso nicht“, Mario grinst und zeigt auf die überbordenden Mülltonnen am Straßeneck, „das könnte mit vereinten Kräften ganz schnell beseitig werden.“ „Und hier zum Beispiel ließe sich wunderbar Gemüse anbauen“, meint Isbel und deutet auf die Grünfläche zwischen den Treppen, auf denen wir das schmale Gässchen hinabsteigen. Vor dem Haus warten David und Antonio auf uns und schließen das Gartentor auf. Ein schmaler Gang führt zur Tür ins Erdgeschoss, eine Betontreppe auf die Terrasse, über die eine_r ins Obergeschoss gelangt. Wir steigen hinauf. „Hier soll ein Versammlungsort sein und hier drinnen – “, Mario öffnet die Tür, „wollen wir eine Bibliothek einrichten.“ Bevor wir eintreten und uns auf den Boden der zukünftigen Bibliothek setzen, zeigt David auf eines der angrenzenden Häuser: „Dort drinnen befindet sich das CDR (Comité de la Defensa de la Revolución, das Komitee zur Verteidigung der Revolution), das ist schräg, dass wir direkt neben diesen Überwachungsorganen unser Zentrum eröffnen.“ „Ja“, seufzt Isbel, „der Anarchismus hat es auf Kuba nie leicht gehabt …“

Von Alfredo López bis zur Kubanischen Revolution
Wie in den meisten Ländern des amerikanischen Kontinents existierte um die Jahrhundertwende eine Arbeiter_innenbewegung, die stark von anarchistischen und syndikalistischen Ideen geprägt war. Der Fokus lag nicht auf Parteiwesen und Wahlen, sondern auf Aufklärung, Bildungs- und Erziehungswesen und vor allem auf der gewerkschaftlichen Organisation in den Betrieben. So auch in Kuba. Dort kam es 1924 zur Gründung der „Federación de Grupos Anarquistas de Cuba“, ihr wichtigstes Organ war die Zeitung Tierra!, die bis in die späten 30er Jahre erschien und Vorbild für die aktuelle Tierra Nueva ist. Im gleichen Jahr wurde auch die „Confederación Nacional Obrera de Cuba“ (CNOC) gegründet, eine Arbeiter_innenföderation, die 128 Organisationen mit insgesamt 200.000 Menschen vereinigte. Sie forderte den Acht-Stunden-Tag und lehnte den Parlamentarismus ab. Generalsekretär der CNOC wurde der Schriftsetzer und Anarchist Alfredo López. Wegen wirtschaftlicher Not und hoher Arbeitslosigkeit kam es immer wieder zu Streiks und Protesten, der seit 1925 amtierende Präsident General Machado reagierte mit verstärkter Repression gegen die organisierte Arbeiter_innenschaft. Korruption und die koloniale Abhängigkeit gegenüber der USA verstärkten das soziale Elend. Im Herbst 1926 verschwand Alfredo López. Zuvor hatte er einen Regierungsposten abgelehnt, um unabhängig im Kampf für Arbeiter_innenrechte zu bleiben. Die Überreste seiner Leiche wurden erst nach dem Sturz Machados 1933 gefunden. Kaum hatte sich die Bevölkerung den einen Diktator vom Hals geschafft, kam der nächste – Sergeant Fulgenico Batista: ein Armeeangehöriger aus der zweiten Reihe, der zunächst das Kommando im Militär übernahm, bis er sich 1940 mit Hilfe der Kommunistischen Partei an die Macht wählen ließ. 1944 wurde er abgewählt, acht Jahre später kam er mit Hilfe der USA wieder an die Macht. In den 50er Jahren wuchs mit dem charismatischen Studenten Fidel Castro sein gefährlichster Gegenspieler heran. Vieles, was sich in dieser Zeit ereignete, wurde zur Legende: Der gescheiterte Angriff auf die Moncada-Kaserne am 26. Juli 1953 (deswegen M-26 bzw. Bewegung 26. Juli); Fidels Verhaftung und seine Verteidigungsrede, in der er den Satz „Die Geschichte wird mich freisprechen“ formulierte; sein Exil in Mexiko und das Zusammentreffen mit Che Guevara; die gewagte Überfahrt mit der Yacht „Granma“; die katastrophale Landung, bei der die Batista-Armee einen Großteil der Gueriller@s tötete; die Flucht in die Wälder der „Sierra Maestra“; der Beginn des Guerillakampfes bis zu dem triumphalen Einzug in Havanna Ende 1959.

Kaum bekannt ist, dass die revolutionäre Bewegung 26. Juli (M-26-7) zwar von Fidel Castro ins Leben gerufen, aber von verschiedenen Fraktionen unterstützt und getragen wurde. Darunter waren katholische Organisationen, liberal-demokratische, sozialrevolutionäre und auch anarchistische. Geeint wurden sie in der Ablehnung der Batista-Diktatur und dem Programm, das neben einer Landreform, eine Sozialreform und eine liberale Verfassung vorsah. Die Revolution selbst wurde anfangs von vielen als Befreiung gesehen. Castro verkündete noch im April 1959: „Wenn auch nur eine Zeitung verboten wird, wird sich bald keine Zeitung mehr sicher fühlen – und wenn auch nur ein einziger Mensch wegen seiner politischen Ideen verfolgt wird, wird sich niemand mehr sicher fühlen.“ Doch die Zeit für Widersprüche und Kritik war bald vorbei. Der Einfluss der Kommunistischen Partei wurde zusehends stärker. Einige hochrangige Gueriller@s, wie auch die anarchistischen Gruppen zahlten für ihre Ablehnung und die Bekämpfung des neuen Regimes einen hohen Preis. Viele wurden inhaftiert, gefoltert und ermordet. Wer konnte, ging ins Exil.

„Auch von unseren Genoss_innen haben viele das Land verlassen“, meint Mario. „Sie wollen andere Länder kennen lernen und sich woanders ein Leben aufbauen.“ Isbel fügt hinzu: „Schon das alltägliche Leben hier ist schwierig. Aber wir wollen die aktuellen Veränderungen hier von einer antikapitalistischen Perspektive aus kritisieren. Wir machen weiter.“ Am 05. Mai 2018, acht Jahre nach der Gründung der TLAL, wurde das Soziale Zentrum in Havanna eröffnet.

 

Hinweis auf die 2-teilige Fernseh-Dokumentation: Kein Gott, kein Herr! Eine kleine Geschichte der Anarchie Textauszug der Doku: „Vom Aufstand der Pariser Kommune 1871 bis zur Gründung der ersten großen Gewerkschaften, von der Entstehung libertärer Milieus mit alternativen Lebensentwürfen bis hin zur Einrichtung freier Schulen: Die anarchistische Bewegung hat die ersten Revolutionen angestoßen und gehört zu den entscheidenden Triebkräften großer sozialer Errungenschaften. Trotz dieser positiven Aspekte, hat der Anarchismus zweifelsohne seine Schattenseiten: Viele seiner Anhänger rechtfertigen den Einsatz von Waffen und Gewalt. Die zweiteilige Dokumentation beleuchtet von Frankreich über Japan bis nach Chicago und Buenos Aires die Ursprünge dieser politischen Philosophie und porträtiert die geistigen Väter der anarchistischen Bewegung wie etwa Pierre-Joseph Proudhon oder Michail Bakunin.“

EAR meets EYE (AUG um OHR)

Alltag und Musik gehen bei Werner Puntigam Hand in Hand. Gleiches gilt für das Zusammenwirken des Visuellen und des Akustischen. Über den Linzer Posaunisten und multidisziplinären Künstler, sowie die Kunst der Improvisation schreibt Georg Wilbertz.

Werner Puntigam und Rabito Arimoto. Foto Werner Puntigam

Werner Puntigam und Rabito Arimoto. Foto Werner Puntigam

Der Alltag ist Improvisation und auch in wohlgeordneten Gesellschaften wie der unsrigen sind wir tagtäglich aufgefordert oder gezwungen Unvorhergesehenes durch improvisiertes Handeln zu bewältigen. Manche erfüllt der Zwang zur Improvisation mit Unsicherheit und Angst, andere fühlen sich darin erst wohl und nutzen die quasi unbegrenzten Potentiale, die das Improvisieren für das „Erlebnis“ Alltag bereithält. Zu letzteren gehört der in der Steiermark geborene und seit 1983 in Linz lebende Posaunist, Fotograf und multidisziplinärer Künstler Werner Puntigam, der bewusst Risikobereitschaft und Improvisation zu zentralen Faktoren seiner musikalisch-künstlerischen Arbeit macht. Ein Text über ihn ist zwangsläufig ein Text über die Kunst der (musikalischen) Improvisation.

Alltag und Musik gehen bei Puntigam Hand in Hand. Gleiches gilt für das Zusammenwirken des Visuellen und des Akustischen. Darin mag begründet sein, dass er sich seit über zwei Jahrzehnten in entfernte, fremde Kulturen begibt, um vor Ort musikalisch-künstlerische Projekte zu entwickeln. Seit 1997 ist dies vor allem der afrikanische Kontinent, der in unserer klischeehaften Vorstellung ein einziger Hort täglichen, existenziellen Improvisierens ist. Spricht man mit Werner Puntigam über seine Erfahrungen hinsichtlich der Organisation und Durchführung von Projekten in Afrika, scheint sich das Klischee zumindest teilweise zu bestätigen. Beginnend mit einer Japantournee im Jahr 2013 verlagert sich sein Interesse und Fokus aktuell mehr und mehr in den asiatischen Raum.

Die Aufenthalte an neuen Orten verbindet Puntigam mit einem intensiven Kennenlernen des Alltags und der Menschen, die diesen leben. Hierfür lässt er sich nach Möglichkeit Zeit und interpretiert seine Sicht auf das Neue vor allem in fotografischen Arbeiten, die idealerweise alltägliche Situationen wiedergeben. Die Auseinandersetzung mit der jeweiligen sozialen und kulturellen Realität beeinflusst die künstlerische Arbeit an den jeweiligen Orten maßgeblich.

Viele Konzerte und Projekte entstehen hierbei spontan. MusikerInnen und KünstlerInnen tauchen manchmal unmittelbar vor dem Konzert auf, man lernt sich kennen und steht kurz danach gemeinsam auf der Bühne. Dass dies nicht immer zu überzeugenden Ergebnissen führt, versteht sich von selbst. Jedoch gehört es für Puntigam zum grundsätzlichen Wesen seiner Arbeit, das Risiko des Unbekannten und der mit ihm verbundenen ganz eigenen Dynamik einzugehen. Auch der manchmal sich ereignende „freie Fall“ spiegelt letztlich lebensnahe Realitäten wieder und muss in Kauf genommen werden, wenn es gilt durch Offenheit, Neugier und Spieltrieb gänzlich Neues zu entdecken.

Von besonderer Bedeutung sind die konkreten Räume, ihre ästhetischen und akustischen Qualitäten. Vieles von dem, das schließlich zur Aufführung gelangt, wird direkt entwickelt in der Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Raum. Dabei reicht die Spanne von spürbarer Konfrontation bis zu dem, was – nicht in einem beschönigenden, besänftigenden Sinn – als Harmonie bezeichnet werden kann.

Werner Puntigam besitzt einen sehr persönlichen Begriff von musikalischer Qualität. Für ihn geht es nicht um das technisch perfekte, rasant exponierte Ineinandergreifen akademisch angeeigneter Phrasen (bitte: nichts gegen die Phrase!), die sich durch ihre spieltechnische Brillanz zu einem musikalischen Ganzen fügen. Für ihn ist stattdessen das Musikalische eng mit seiner Vorstellung von Improvisation verbunden. Qualitätvolles Musizieren entsteht im Moment des Aufeinanderhörens, des bewussten, oft intuitiven Reagierens auf den anderen oder die Situation. Für ein derartiges Verständnis des musikalischen Interagierens stellt der Faktor der Zeit und des sich Zeitlassens ein wesentliches Element dar. Es ist eine Binsenweisheit, dass auch und vor allem die nicht gespielten Töne und die Pausen zwischen den Klängen die Wirkung und Spannung eines musikalischen Geschehens ausmachen. Paraphrasiert man den Ausnahme-Pianisten Keith Jarrett, so entsteht durch das Timing die Komplexität des Einfachen. Werner Puntigam besitzt diesbezüglich einen – durchaus wörtlich zu verstehenden – langen Atem. Musiziert man mit ihm, muss man spannungsvolle Momente des klanglichen Horror vacui aushalten können.

Das Ergebnis ist ein vor allem durch extreme Transparenz geprägtes klanglich-musikalisches Geschehen, das im besten Sinne des Wortes als Kammermusik bezeichnet werden kann. Jedes Detail bekommt Raum, wird wahrnehmbar und trägt bewusst zum Ganzen bei. Kein Wunder also, dass diese Musik sich den technischen Möglichkeiten der Verstärkung weitgehend entzieht und Räume braucht, die ihre Charakteristika für die ZuhörerInnen möglichst unmittelbar hörbar machen. Dichte und Intensität entstehen nicht durch Notenkaskaden, sondern durch die Erfahrbarkeit des einzelnen Tons, des herausgearbeiteten Geräuschs. Puntigams kammermusikalische Improvisationen grenzen sich damit bewusst ab vom landläufig verwendeten Begriff des Freejazz, der sehr häufig intendiert, durch das dichte, oft rasende Zusammenfügen und Überlagern individueller, fast autistisch agierender instrumentaler Stimmen einen expressiven, ja explodierenden Gesamtklang zu schaffen. Natürlich kennt auch Puntigams Musik Momente der tempomäßigen Verdichtung, der gesteigerten Expression und größtmöglichen dynamischen Breite und natürlich ist auch er nicht dagegen gewappnet, die Zuhörenden virtuos zu „überwältigen“. Doch bleiben auch diese Phasen Teil eines interaktiven Geschehens, das im Idealfall einer gesteuerten oder sich ergebenden Dramaturgie folgt.

Erleb- und hörbar ist die Musik Werner Puntigams in einer Vielzahl von musikalischen Projekten, Besetzungen und CDs. Zum Kennenlernen eigenen sich die umfangreichen Konzertdokumentationen auf Dorf-TV, YouTube und seiner Homepage, die er, wie auch alle übrigen grafischen Arbeiten selbst gestaltet. Ab Herbst 2018 wird Werner Puntigam wieder verstärkt in Linz und Oberösterreich in verschiedenen Konstellationen zu hören sein. Verwiesen sei u. a. auf die Konzertreihe des Linzer Vereins Musik im Raum (MIR), die ab Oktober stattfinden wird.

Eine besondere Qualität zeigt Puntigams Zusammenarbeit mit dem japanischen Trompeter und Bassklarinettisten Rabito Arimoto. Sie ist dokumentiert auf der 2017 erschienenen CD „kokyu“ („atmend“; erschienen bei ATS-Records). Zu hören ist auf ihr in Reinform Werner Puntigams Auffassung freier kammermusikalischer Improvisation. Nach ihrem Gastspiel beim hochkarätig besetzten JAZZ ART SENGAWA Festival in Tokio Mitte September wird Arimoto im November mit Unterstützung von LinzIMpORT in Österreich sein und eine Reihe von Konzerten vorwiegend in Linz und Oberösterreich mit Werner Puntigam spielen. Überhaupt ist es dem Posaunisten generell sehr wichtig, zukünftig seine Aktivitäten in Kooperation mit aufgeschlossenen heimischen Veranstaltern und Festivals auch hierzulande wieder zu verstärken.

 

www.ear-x-eye.info (inkl. Videos und aktuelle Live-Termine)
www.musikimraum.at

jazzartsengawa.com/en_2018

15. Sep. 2018: Auftritt beim JAZZ ART SENGAWA Festival in Tokio mit den japanischen Musikern Rabito Arimoto (tp, bcl) und Makigami Koichi (voc, poetry)

17.–30. Sep. 2018: Artist Residency in Singapur inkl. Realisierung einer audiovisuellen Installation und Performances in Kooperation mit der Künstlerin Sharyl Lam (SIN)

14. Nov. 2018: Vierteiliges Hauptkonzert der THE SOUND OF ODEM Duo-Tour mit Rabito Arimoto (J) und Gastkünstler_innen in der Rudigierhalle des Linzer Mariendoms
(9.00 h, 13.00 h, 17.00 h, 21.00 h)

Die aktuelle CD von Werner Puntigam mit Rabito Arimoto heißt „kokyu [breathing]“.

Werner Puntigam betreibt einen Channel auf Dorf TV.