The Metal Underground Resistance

Bands, Party und der Heavy Metal Spirit: Valerie Straßmayr hat Domenik Riedl und Bastian Moser getroffen. Die beiden veranstalten Metalkonzerte in Linz sowie dieses Jahr zum ersten Mal das Festival „Steel City Sorcery“ von 7.–8. September in der Kapu. Die ungekürzte Version über die Linzer Community, die Festivalorganisation und den Underground ist online zu finden.

1,2,3 ... Ranger. Foto Stell City Sorcery

1,2,3 … Ranger. Foto Stell City Sorcery

Meine erste Frage wäre, wer alles Steel City Sorcery macht? Seid das ihr zwei oder sind noch mehr Leute beteiligt?
D: Da ist auf jeden Fall noch Jannis dabei, der die Artworks und Designs macht und ich zähle auch unseren näheren Freundeskreis ein bisschen dazu.
B: Es ist eine Community, ohne die wir das ganze eigentlich nicht gestartet hätten, weil wir gesagt haben, dass ein Team da sein muss.

Warum habt ihr Steel City Sorcery ins Leben gerufen? Oder es als Veranstaltungsreihe gemacht?
B: Weil wir gesagt haben, mit einem Konzert ist es sicher nicht getan. Wenn man einen Fixpunkt schafft, bekommt man mehr Angebote und kann umso bessere Bands holen. Es ist ziemlich schnell ein Selbstläufer geworden. Damit haben wir gar nicht gerechnet.

Also war es schon ein Ziel von euch, dass ihr bekanntere Bands bekommt, nicht nur Underground?
D: Naja, es ist eh noch hübsch Underground, finde ich.
B: Sagen wir einmal Underground’s Finest, doch international, aber wo man sagt, die Bands haben zu Recht schon einen kleinen Ruf, sind aber noch weit weg vom Mainstream.
D: Ich finde ja das Ganze ist etwas an die Live Evil-Schiene aus London angelehnt. Die waren eigentlich die ersten, die sowas begonnen haben. Demnach sind in anderen Städten auch solche Sachen entstanden. Darum glaub ich, dass wir unbewusst auch so ein Ableger sind.
B: Da kannst du über Branding diskutieren. Wir machen ja auch Death und Blackmetal Bands, aber das muss auch immer diesen schönen Gossencharme vom Heavy Metal haben. Es muss halt zusammenpassen. Das ist die Königsdisziplin.

Wie seid ihr eigentlich zu dem Namen Steel City Sorcery gekommen? Steel City lässt sich ja noch recht leicht herleiten …
B: Weil es zauberhaft ist und supergeil klingt!
D: Ich weiß gar nicht, wie lange wir überlegt haben. Das ging, glaub ich, relativ schnell. Irgendwem ist das einfach so mal rausgerutscht.
B: Steel City Sorcery … Das kannst du betrunken auch sagen.

Die Steel City-Konzerte sind eigentlich immer in der Kapu. Seid ihr von der Kapu? Oder wie kam es dazu?
D: Hauptsächlich sind sie aus dem Grund da, weil ich hier sowieso arbeite. Das gehört zu meinen Booking-Tätigkeiten dazu. Es war irgendwie logisch, dass wir das da machen. Wieso soll ich mir eine andere Location suchen, wenn man das hier einbetten kann? Bis jetzt haben wir einmal ein Konzert in einem Linzer Keller veranstaltet. Ich find es auch okay, mal woanders Sachen zu machen. Die Homebase ist aber hier.

Meine nächste Frage hat sich ja schon zum Teil geklärt, da ihr vor Steel City Sorcery schon Veranstaltungen organisiert habt.
D: Ich mache das jetzt schon seit sieben Jahren.
B: Du hast im MuKuKu angefangen. Das total auf DIY basiert war.
D: Da haben wir in der Gemeinde Kremsmünster, einem wenn überhaupt 5.000-Seelendorf, in einem Haus im ersten Stock, einfach die ärgsten Bands eingeladen. Jahrelang. Das war richtig geil.

Tut sich dort heute noch etwas?
D: Da ist jetzt das Tumult drinnen. Die machen auch noch Konzerte, aber nicht so viele.
B: Damals ist die Dorfcommunity einfach noch größer gewesen. Von denen sind viele weggezogen in Richtung Wien.
D: Du machst ja auch schon seit circa zwei Jahren Konzerte. Die Zeit vergeht schnell.
B: Vorher hab ich Adem von Death Over Eferding beim Booking geholfen. Was auch schon in die Schiene geschlagen ist. Da gibt es eine Tradition in diesem Nest!

Wie unterscheidet sich die Organisation von einem Konzert und einem Festival? Ihr macht ja jetzt zum ersten Mal das Steel City Sorcery Festival.
D: Es ist auf jeden Fall die Größenordnung. Ein Hauptproblem ist, dass ich die ganzen Bands nicht im Haus schlafen lassen kann. Das ist Mal das erste, ich muss Hotels suchen. Es kommen Acts, die man vielleicht einfliegen lässt. Sonst kommen immer tourende Bands mit ihrem Bus.
B: Wir haben immer selbst gekocht. Das geht sich nicht mehr aus. Der Anspruch ist auch ein anderer. Wir überlegen uns natürlich, wie unser Festival wirklich herausstechen kann. Wir wollen auch möglichst faire Preise machen. Es ist einfach cool, keinen abzuzocken, vor allem für etwas, das eine Herzensangelegenheit ist.

Die zwei Tage kosten 40 €. Das ist bei diesem Lineup auf jeden Fall fair.
D: Das Rahmenprogramm ist uns sehr wichtig. Wir wollen draußen etwas Lustiges machen. Schnaps mit Gurkerl etc.
B: Dazu wollen wir aber noch nicht zu viel verraten.
D: Bei einem Fest mit so vielen Bands darf man die Organisation nicht unterschätzen. Der Zeitplan muss viel tighter eingehalten werden. Wenn bei sechs Bands jede eine halbe Stunde Verspätung hat, spielen die letzten um drei in der Früh, und das interessiert auch wirklich keinen mehr. Es ist mir ein persönliches Anliegen, dass das halbwegs passt. Ich will ja auch genug Zeit für die Afterparty haben!

Wie kam es bei euch dazu, dass ihr überhaupt Metal hört?
D: Da wird es bei mir peinlich. Mit 15/16 Pagan Metal. Das Heidenfest im Posthof war ganz groß. Da warst du doch auch dort!
B: Du hast gar nicht gesagt, dass es für mich auch peinlich wird! Da kannten wir uns aber noch nicht.
D: Das waren so meine Anfänge. Dann ist es recht schnell Black Metal geworden und jetzt immer mehr Heavy Metal.
B: Back to the roots! Bei mir war es auch klassisch. In der Schule nimmt jemand eine Metallica-CD mit. Geil! Dann kommst du drauf, dass der Papa viele Schallplatten hat. Dann ist das aber irgendwie zu fad und man will härter und böser sein … und dann ist man trotzdem irgendwie beim Pagan Metal gelandet.
D: Das ist die eine Abbiegung, die du falsch gegangen bist!
B: Man sieht halt, dass es damals zwei Mal im Jahr im Posthof Konzerte in der Richtung gab. Natürlich geht da jeder hin. Das war uns schon zu wenig, was in Linz passiert ist. Grundsätzlich hat es hier immer Leute gegeben, denen das gefällt. Warum sollte man da Konzerte aussterben lassen, wenn das das Wichtigste ist. Sich treffen, sich unterhalten und den Metal ausleben.

Wie motiviert findet ihr die Linzer Metalszene?
B: Bei den Leuten, die da sind, denk ich mir: Ihr habt euch die Bands angehört, ihr freut euch, dass sie spielen und steht nicht nur im Eck. Das freut mich besonders.

Ihr seid ja auch noch nicht so alt, aber merkt ihr einen Unterschied zur Community von damals und heute. Sind heute noch die gleichen Leute dabei?
D: Ich finde es immer so schön, wenn Leute von „früher“ zu den Shows kommen und es ihnen gefällt.
B: Das ist cool, aber eher die Ausnahmen. Die kommen vermutlich, wenn sie sich denken, jetzt waren wir schon echt lange nicht mehr unterwegs. Ich weiß es aber nicht. Man kennt sie zu wenig.

Habt ihr Wünsche für die Zukunft hier in Linz?
D: Ich würd gerne ein Open-Air-Fest machen.
B: Das wär schon ein kleiner Teenie-Traum.
D: Aber das ist noch weit weg. Nächstes Jahr sicher noch nicht. In zwei Jahren wahrscheinlich auch noch nicht. Aber das wollen wir.
B: Schön wäre es auf jeden Fall, wenn wir jedes Jahr ein Festival in dieser Größenordnung machen können. Da dürfen wir total zufrieden sein.

Die Linzer Punkszene war schon immer größer als die Metalszene. Bei euch spielen ja keine Punkbands. Wollt ihr euch klar vom Punk abgrenzen und eine reine Metalkonzertreihe sein?
D: Eigentlich will ich das gar nicht.
B: Ich auch nicht. Ich bin ein großer Punkfan. Wir fragen auch schon seit Jahren bei Indian Nightmare an, die eine perfekte Mischung zwischen Metal und Punk sind.
D: Bis jetzt hat sich das noch nicht ergeben. Am Festival spielen aber Vole aus Tschechien. Das ist lupenreiner Punk. Spiker sind mit ihrem Straßenrock auch eher punkig.
B: Ja, ziemlich Deutschpunk. Wir wollten das von Anfang an auch mischen.
D: Auf jeden Fall nicht abgrenzen. Das ist das Schlechteste, das man machen kann.

Was war für euch persönlich das beste Konzert, das ihr gemacht habt?
D: Sagen wir es auf drei gleichzeitig? Mich würd es interessieren, ob wir das gleiche sagen. 1 … 2 … 3 …
D, B: Ranger!
B: Für mich war das die offizielle Geburtsstunde. Das war ja ein Experiment. Die haben 500 € gekostet. Es war ein totales Zittern. Und dann war die Hütte voll. Es war die geilste Party!

Hattet ihr schon negative Erfahrungen mit Bands, die hier gespielt haben?
D: Nein, eigentlich gar nicht. Das sind meistens nette Leute.
B: Die sind sehr dankbar.
D: Ja, es hat nie wirklich was gegeben. Wir kümmern uns auch gut um die Leute.

Fragen bei euch Bands aus Eigeninitiative an, oder liegt das mehr an euch?
B: Mittlerweile müssen wir viel mehr ablehnen, als wir wollen, weil das Programm in der Kapu relativ dicht ist oder weil die Anfragen zu knapp sind.

Hat bei euch schon jemand angefragt, den ihr nicht spielen lassen wollt?
B: Ja schon, aber mehr, weil es uns nicht reingepasst hat.

Also habt ihr da schon Kriterien, dass ihr Bands nicht spielen lasst, weil sie zu kontrovers sind oder einfach von der Musik nicht passen.
D: Beides. Bei manchen Bands check ich das schon ab, wenn ich mir denke, die klingen vielleicht ein bisschen edgy. Man muss eine klare Linie ziehen. Das ist ganz wichtig.
B: Auch aus Respekt vor den Werten der Kapu und welche Leute dann kommen würden. In aller Klarheit willst du hier keine Nazis haben und keine Leute, die andere einfach abfucken. Es gibt eben gewisse Bands, die so kontrovers oder auch einfach nur deppert sind.

Welche Bands wollt ihr einmal unbedingt herholen?
B: Aura Noir.
D: Daran arbeiten wir schon seit über einem Jahr. Die Tour wurde immer wieder verschoben. Ich will Aura Noir auf jeden Fall einmal hier haben. Gewaltbereit will ich auch noch machen. Das ist aber noch nicht so weit.
B: Leipziger HC Punk, wie er uns eben richtig gefällt! Old school, ehrlich, Mittelfinger, g’schissen. Geil.
D: Mindestens zwei Mittelfinger!

Gibt es abschließend noch etwas, das ihr sagen wollt? Was vielleicht noch offengeblieben ist?
D: Danke an die Leute, die immer kommen und die das zaht, was wir machen.
B: Das ist das wichtigste. Und auch das Community-Ding, das wir vorher angesprochen haben. Das ist ganz wichtig. Aber auch, dass uns die Leute daran erinnern, wenn etwas deppert laufen sollte. Wir sind auf jeden Fall offen für Feedback.

Harald „Huckey“ Renner (30. 09. 1966–01. 05. 2018)

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Ein Großer ist von uns gegangen.

Wir sind unfassbar traurig. Unser Freund, Bandkollege, Weggefährte und Familienmitglied Huckey ist tot. Vor fast genau einem Jahr sah sich Huckey mit einer Krebsdiagnose konfrontiert. Seither gab es viel Leid, aber auch immer wieder Hoffnung. Gestern Abend ist er im Alter von 51 Jahren in Linz verstorben.

Huckey war einer größeren Öffentlichkeit in erster Linie als Musiker bekannt. Dabei hat er etwas geschafft, was nur den wenigsten in einem einzigen Leben gelingt. Er hat gleich zweimal in Österreich Musikgeschichte geschrieben und Musikkultur wesentlich mitgestaltet.

In den 80ern gehörte er als Schlagzeuger Bands wie Target Of Demand, 7 Sioux und Schwester an, die im Stil von Hardcore Punk eine Ära und Musikszene in Linz (und darüber hinaus) prägten.

In diese Zeit fällt auch die Gründung des Kulturverein Kapu. Huckey war gestaltendes und treibendes Mitglied der KAPU und bis zuletzt im Haus tätig.

Schlagzeug spielte er auch anfangs bei Shy und die letzten Jahre bei der Linzer Elektronikband Merker TV.

Seine tiefsten Spuren in der österreichischen und deutschsprachigen Musiklandschaft hat er aber sicherlich als Mitglied und Rapper bei Texta hinterlassen, gegründet 1993, die 25 Jahre lang die HipHop Kultur in Österreich mitinitiiert und geprägt haben. Seine „komische“ Stimme (Zitat aus „Lebe in den Tag“ 1997), seine Bühnenpräsenz und seine hochlyrischen und philosophischenTexte machten ihn zum nahbaren Rapstar ohne Allüren, aber mit umso mehr Attitude, der auch den nächsten Generationen immer ein offenes Ohr geliehen hat. Huckey hat insgesamt sieben Studioalben mit Texta, mehrere Kollaboalben mit den TTR Allstars und Blumentopf, Musik für zwei Theaterstücke, ein Livealbum und unzählige weitere Releases mehr eingespielt. Sein Motto war „forward ever, backward never“, sein Interesse an Kultur, egal ob Musik, Film, Kunst oder Performance war ungebrochen, das Sammeln von Musik, Magazinen, Filmen, Büchern sein Lebenselixier.

Huckey war ein wichtiger Baustein der Linzer Musik- und Kulturszene, der eine große Lücke in der Stahlstadt hinterlassen wird.

Ebenfalls trauern wird die Fanszene von Blau Weiß Linz, zu der er seit den SK VOEST Tagen zählte.

Huckey war mit ganzem Herzen Antifaschist und Zeit seines Lebens ein politischer Mensch.

Der 1. Mai war ein wichtiger Tag für ihn. Dass dieses Datum nun gleichzeitig sein Sterbetag ist, möge vielen seiner Freunde ein wenig Trost spenden.

Huckey war liebender und geliebter Ehemann von Nicole Renner.

Kapu-Aussendung vom 2. Mai 2018

Bodies of Work

Katharina Gruzei ist in den kommenden Monaten im Lentos mit der Fotoserie „Bodies of Work“ zu sehen. Industrie, Arbeit und Produktion in der Linzer Schiffswerft, Nebel und Wolken als atmosphärische Gegenspieler: Georg Wilbertz hat die Werke im ästhetischen wie kulturhistorischen Kontext betrachtet.

Eine verschmutzte Arbeiterhand ruht auf Papieren. Locker, entspannt umschließt sie einen ankergeschmückten Schlüsselbund. Beim zweiten Hinsehen wird deutlich, dass diese Hand keine „normalen“ Proportionen besitzt. Belastung und Anstrengung haben sie über die Zeit breit und schwer werden lassen. Das Porträt der verformten Hand symbolisiert unspektakulär die massive körperliche Anstrengung, die auf der letzten, Stahlschiffe produzierenden Donauwerft Österreichs am Linzer Winterhafen geleistet wird. Katharina Gruzei hat 2016 für rund zwei Monate in der Werft ohne größere Beschränkungen für das enzyklopädische Fotoprojekt „ÖsterreichBilder“ (www.oesterreich-bilder.at) fotografieren dürfen. Entstanden ist mit „Bodies of Work“ ein motivisch komplexer Bildzyklus, der unterschiedliche ästhetische Zugänge nutzt, um den industriellen Kosmos der Werft zu erfassen und bildnerisch zu deuten. Der Zyklus stellt ein weiteres Projekt zu einem der künstlerischen Schwerpunkte Katharina Gruzeis dar: der Repräsentation von Arbeitswelten, ihren zeitbedingten Veränderungen und innewohnenden, häufig unsichtbaren Kräften, Mustern und Charakteristika. Rund 40 Bilder von „Bodies of Work“ werden im Lentos gezeigt.

 

Die Notwendigkeit eines zweiten, genauen Hinsehens ist dabei typisch für die künstlerische Methode, mit der sich Gruzei ihrem Bildthema widmet. Die Linzer Werft ist ein Ort schwerer, körperlich belastender, industrieller Arbeit. Verbunden mit der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts und ihrer Fortschreibung in der Moderne bis zur Krise der Industrieproduktion im Zuge der Globalisierung war die parallellaufende Entwicklung von Bildmustern und bildästhetischen Positionen, die sich sowohl in der bildenden Kunst wie auch und vor allem in der Fotografie mit den neuen Themen Werk und Industrie auseinandersetzten. Die Energien, Kräfte und Dimensionen, die mit der Industrieproduktion einen neuen Maßstab erhielten, übten auf Künstler und Fotografen aufgrund ihrer Dynamik und Dramatik eine große Faszination aus. Stand der menschliche Körper in der vorindustriellen Zeit in einem nachvollziehbaren, an seiner Physis orientierten Verhältnis zur handwerklichen und manufakturellen Produktion, so verschiebt sich dies mit der Industrialisierung radikal. Werkstück, Energie, Produktion, Maschine und der menschliche Körper treten in neue Größenverhältnisse zueinander. Die eklatante Diminuierung des Körpers im Vergleich zu Maschine und Produktion wird als dramatisch wahrgenommen und in ihrer ganzen Dramatik bildlich repräsentiert. Zustände wie der „Kampf“ mit der Maschine und dem Werk, der körperlichen Anstrengung, der Verschmutzung und letztendlich der aus der Arbeit resultierenden Erschöpfung führen zu neuen Bildmustern (Ikonographien). Nicht selten entstehen Bilder, die diese neuen Realitäten mythisch oder heroisch überhöhen. Selbst in Bildmomenten der Erschöpfung liegt meist ein Pathos, das auf die geleistete Arbeit zurückverweist.

 

Von alldem ist in „Bodies of Work“ bei oberflächlicher Betrachtung nichts zu finden. Katharina Gruzeis Fotografien zeigen eine undramatische, ruhige (beruhigte?), industrielle Arbeitswelt. Die Bildsprache ist neutral und setzt nicht auf Affektwirkung. Besonders deutlich wird dies bei den Aufnahmen einzelner Arbeiter. Sie zeigen Männer in entspannter Haltung, deren Gesichter, soweit erkennbar, fast entrückte, besinnliche Züge aufweisen. Momente der Beunruhigung oder der latenten Gefährdung des Körpers werden eher unterschwellig wirksam. So, wenn sich die Arbeiter in die Werkstücke begeben, von ihnen fast „verschluckt“ werden oder wenn sie mit der schieren Größe und Masse des Metalls konfrontiert sind. Die scheinbare Ruhe, die in den porträtierten wie auch tätigen Körpern liegt, führt zu einer fast abstrakt wirkenden, über den Moment hinaus verweisenden Darstellung. Auch dies ein Kennzeichen von „Bodies of Work“. Dies wird deutlich, betrachtet man den „Schauplatz“ Werft. Auch wenn dies ein starker, prägnanter und von vielen Details geprägter Raum ist, so wird er durch die spezifische Ästhetik der Fotografien Gruzeis auf eine vom konkreten Ort losgelöste Ebene gehoben. Der Zyklus verbindet beides: die Präsenz und Wirkung der Werft wie auch die bildnerische Repräsentanz grundlegender Prinzipien oder Muster, die mit dem Begriff Arbeit verbunden sind. All diese Charakteristika ermöglichen dem Betrachtenden eine unaufgeregte, fast distanzierte Annäherung an die Bilder, deren Bildsprache keine unmittelbaren, eindeutigen Affekte auslöst. Stattdessen laden sie ein zu einer genauen, gewissenhaften Beobachtung, die möglichst viele, nicht determinierte Assoziationsfelder öffnen möchte.

 

Zu den grundlegenden Prinzipien, die in Gruzeis Bildern formuliert werden, gehört die zwitterhafte Position, die die Arbeiter zwischen dem Werk (Schiff) und den Maschinen einnehmen. Sie erscheinen angesichts der Größe und der harten Materialität klein, fragil und verletzlich. Geschützt durch ihre Arbeitskleidung wirken sie wie Cyborgs oder Astronauten, deren Körper ohne Schutz nicht den Anforderungen der zu leistenden Arbeit gewachsen wären. So gerüstet begeben sie sich an und in die Werkstücke, verschwinden in oder verschmelzen mit ihnen. Erst in den wenigen Porträtaufnahmen finden sie ohne Pathos zu ihrer individuellen Identität zurück.

 

Mit „Bodies of Work“ widmet sich Katharina Gruzei ohne nostalgisch-verklärenden Blick der mehr und mehr im Verschwinden begriffenen Welt der Industriearbeit, die in diesem Werkzyklus ausschließlich von Männern repräsentiert wird. Galt es am Beginn der Industrialisierung Energien, Kräfte und Dramatik der Industriearbeit darzustellen, so trägt die ruhige Ästhetik der Fotografien Gruzeis dazu bei, unmittelbar zu realisieren, dass sich diese Form der Arbeit mehr und mehr aus unserem Bewusstsein schleicht. Es ist der kontrollierte Blick auf letzte, teilweise fast exotisch wirkende „Reste“ einer – zumindest dem Diskurs nach – aussterbenden Kultur. Doch auch hinsichtlich dieses Aspekts entzieht sich der Zyklus einer eindeutigen Positionsbestimmung: Werkshalle und Atmosphäre wirken einerseits anachronistisch, andererseits erinnert der kieloben gelegte Schiffsrumpf an ein zukunftsträchtiges Raumschiff, das nach erfolgter Fertigstellung die Weiten ferner Welten „erobert“.

 

Würde zur „Erinnerungsarbeit“ im oben beschriebenen Sinne der bloß dokumentarische Blick durch die Kamera genügen, verdeutlicht Gruzei durch die unterschiedlichen ästhetischen Modi, die in „Bodies of Work“ realisiert wurden, dass ihre Arbeit eben nicht als einfache Dokumentation zu verstehen ist. Die Bildkomposition, die gezeigten Lichtwirkungen und die Inszenierung des Raums gehen über das rein Dokumentarische hinaus. Neben Aufnahmen, die gegebene Situationen sachlich schildern, treten Bilder, die aufgrund der fremdartigen Farbigkeit und der besonderen Lichtwirkung (Schweißer) einer erheblichen, fast schon mystischen Verfremdung unterzogen sind. Weiterhin nicht-dokumentarisch sind abstrahierend aufgenommene Werkstücke, die sich durch die gewählte Perspektive in ornamentale Strukturen zu verwandeln scheinen. Besonders weit vom Dokumentarischen entfernen sich die Nebelbilder. Der Nebel führt zu einer atmosphärischen Verdichtung, die einerseits Details verunklärt, andererseits andere ästhetische Wertigkeiten hervorhebt und ihrer Wirkung steigert. Der Nebel lässt Spezifika des konkreten Ortes verschwinden und spielt an auf ikonographische Muster der Landschaftsmalerei der Romantik. Ein vergleichbarer Rückbezug kann für die „Wolkenbilder“ Gruzeis konstatiert werden. Sie entstehen auf den Wasserflächen des Hafenbeckens, in denen sich Himmel und Wolken spiegeln. Öltropfen und Verunreinigungen erinnern zugleich an die Funktion des Ortes wie an kosmische Wolken. Die „Wolkenbilder“ entrücken den Bildzyklus am weitesten von der durch Arbeit und Produktion bestimmten Atmosphäre der Werft.

 

Ebenso entrückt wirkt der Ort in jenen Aufnahmen, die entstanden, als die Arbeit ruhte. In ihnen verlieren sich die letzten Spuren des Tagwerks. Abends und an den Wochenenden herrschte eine völlig andere Atmosphäre. Die Klänge der Arbeit wichen der Stille und den nun dominierenden Naturlauten, das Licht veränderte sich. Der Bezug zur Donau und zur umgebenden Landschaft erfuhr eine Wandlung: das Werftgelände wurde zum faszinierenden, fast beschaulichen Biotop mit Bibern und Hasen.

 

Die Auseinandersetzung mit Arbeit ist ein leitendes Thema für die Künstlerin Katharina Gruzei. In der Serie Bodies of Work befasst sie sich mit der Linzer Schiffswerft (ÖSWAG). Gruzei begleitete über einen Zeitraum von zwei Monaten mit ihrer Kamera den Bau eines großen Fährschiffs. Die Künstlerin fotografierte auch außerhalb der Betriebszeiten in der Werft. Wenn sich die Dunkelheit über das Firmenareal legte und der Lärm der Maschinen verhallte, zeigten sich die Motive in einem anderen Licht.

Katharina Gruzei, geboren 1983 in Klagenfurt, studierte an der Universität für künstlerische und industrielle Gestaltung Linz, an der University of California, Santa Barbara und an der Universität der Künste, Berlin.

 

Katharina Gruzei, Bodies of Work
Kunstmuseum Lentos
ERÖFFNUNG: Do, 14. Juni, 19 Uhr, Eintritt frei
Ausstellungsdauer: 15. Juni bis 19. August 2018
lentos.at

Working Class Rage

Wohlgeordnet um den Tag der Arbeit lanciert, schlugen Sleaford Mods gleich zweimal in der Stadt ein. Pamela Neuwirth hat die Zwei-Mann-Formation aus Nottz im Posthof gesehen, sich die Dokumentation „Bunch of Kunst“ angeschaut und gibt auch sonst diverse Einblicke in die Rage.

Working Class Understatement. Foto Simon Parfrement

Working Class Understatement. Foto Simon Parfrement

Unteriridisch.

Unteriridisch.

Ratlosigkeit allerorts. Finanzkapitalismus und Geldroboter agieren als eigenständige Systeme, die Sozialdemokratie hatte angeblich nie eine Vision, um dem Neoliberalismus Etwas entgegenzustellen und JournalistInnen lassen sich zu der Annahme hinreißen, von Seiten der Intellektuellen sei zu den aktuellen Herausforderungen und Problemen im Weltgefüge Nichts zu hören. In der Philosophie beschäftigt man sich mit der „Acceleration“ und erzählt sich irrationalerweise Heilung durch eine rasante Zerstörung herbei. In dieser allgemeinen Richtungslosigkeit schreibt mittlerweile sogar auch das bildungsbürgerliche Feuilleton über die Band aus Nottingham und leitet aus den Interpretationen manche Erklärung für den Zeitgeist ab, wenn beispielsweise Die Zeit den Sleaford Mods zuschreibt, das „politische Geschehen in Echtzeit“ zu begleiten. Von der „wütenden Stimme des Prekariats“ ist im Spiegel die Rede. Sleaford Mods sind „Britains angriest band“, heißt es im Guardian.

England ist sicher speziell. Zwischen dem Größenwahn des British Empires, das auf Kolonialismus aufbaut, und einer Arbeitertradition, deren inhumane Härten von der Geschichtsschreibung die relativ neutrale Bezeichnung „Manchester-Kapitalismus“ erhalten hat, woran sich Marx und Engels abarbeiteten, irgendwo zwischen diesen geschichtlich aufgebauten Widersprüchen und Missverständnissen reagiert sich heute die Post-Punk, Electro-Punk, Minimalist und/oder Rap-Punk Band Sleaford Mods ab. Sleaford Mods sind radikal, obwohl auf der Bühne eigentlich nicht viel Ungewöhnliches passiert. Es werden nicht, wie bei KLF im Jahr 1994 große Geldmengen verbrannt. Sleaford Mods sehen nicht rot, es ist kein Affekt, kein blindes Wüten. Es ist eher kalte Wut in Verbindung mit Understatement, was sich auf der Bühne ausbreitet und das man ernst nehmen kann. Die Wut verteilt sich im Speichelsprühregen (mit Mineralwasser), perfekt im Scheinwerfer ausgeleuchtet weit übers Mikrofon hinaus. Jason wirkt trotz des ganzen Tour- und Konzert-Aufwandes beinahe sortiert. Der Sound vermittelt Kompromisslosigkeit, die aus dem Minimalismus entsteht.

 

Mit Dante im Schlachthaus

Retrospektiv betrachtet, können die Aussagen und Geschichten von Sänger Jason Williamson und Musiker Andrew Fearn in Interviews oder der Dokumentation „Bunch of Kunst“ auch verklärt werden. Die Dokumentation der Musikredakteurin und Regisseurin Christine Franz ist ebenfalls gerade im Moviemento in Linz gelaufen. Und damals, wie es Williamson gerne erzählt: „I had no money. I’d just have enough for a Mars bar, most days, and a can of Special Brew. And I wrote a song called Teacher Faces Porn Charges, about going to the shop in my pyjamas, to buy the Mars bar and the can“, damals war kein Ende der Situation in Sicht, stattdessen der Arbeitsalltag in der Hühnerfabrik. Neonlicht, zerteiltes Tier, Unterbezahlung. Mit Mitte Dreißig, so alt war Williamson bis er 2006 in Sachen Bandformation sein Heureka hatte, bedeutet eine dementsprechende Lebenssituation sicherlich Leidensdruck. Hier reicht die angespielte Verklärung hinein, die sich retrospektiv, ja beinahe klassisch aus Armut und dem Willen zum Ausdruck (Kunst) leicht hochstilisieren lässt. Aber eben nur im Rückblick funktionieren solche Erzählungen. Und verstellen den Blick. In der harten Realität des Existenzkampfes in Echtzeit ist nichts gesichert und erst später und nur selten kann eine triste Geschichte der Ausbeutung vom sogenannten Erfolg abgelöst bzw. dieser dazu erzählt werden, von JournalistInnen zum Beispiel: Williamson arbeitete in der Fabrik, zieht eine Analogie zwischen Schlachthaus und Dante, schreibt sich überhaupt den ganzen Frust runter und trifft dann zufällig den Musiker Andrew Fearn, ein „moody Smiths fan, who shocked his dad by becoming a vegetarian when he was 15“, wie The Guardian schreibt. Seit 2007 und bis heute sind bei A52, Deadly Beefburger Records, Harbinger Sound und Rough Trade insgesamt neun Alben der Sleaford Mods entstanden. Und bloß für kurze Zeit war Tied Up in Nottz / The Fear of Anarchy (Little Teddy Recordings, 2014) nur den lokalen Homies in Nottingham bekannt, bis es 2014 auf Youtube Klick machte und die Sleaford Mods Geschichte schnell viral wurde.

 

Unterirdisches England

Wer von unten kommt, bleibt am Boden. Das Talent zum Text – oder ist es Unbestechlichkeit? – hat sich mittlerweile über die Musik hinaus auch in anderen Textsorten manifestiert. Nachdem 2014 die Lyrics-Sammlung Grammar Wanker bei Bracket Press erschienen ist, wurde erst letzten Winter eine Kurzgeschichten-Sammlung Slaps From Paradise von Jason Williamson bei Amphetamine Sulphate veröffentlicht. Neben der aktuellen Dokumentation Bunch Of Kunst werden also mit dem 40seitigen Büchlein weitere Einblicke in das Vor-dem-Brexit-ist-nach-dem-Brexit-England möglich. Die inhaltliche Tendenz der Kurzgeschichten im Buch ist aber dezidiert weniger politisch, sondern dreht ab in Richtung sexuelle Obsessionen der englischen Unterschicht, wobei beim Leser freilich die Rolle des Voyeurs liegt, das klingt ein wenig nach Charles Bukowski. Insgesamt kann sich der Eindruck einstellen, dass es bei Sleaford Mods nun „literarischer“ wird und der bittere Sarkasmus zum grotesken Humor gebraut wird. Bier, ja. Wut, ja. Aber alles mit etwas mehr Finesse. Eine Entwicklung, für die man auch vor der Bühne ein Gefühl bekommt. Und während man im Konzert noch überlegt, ob es nicht doch ganz prima gewesen wäre, mit Sleaford Mods auf Augenhöhe den Konzertabend zu verbringen, in intimerer Clubatmosphäre als im Posthof, merkt man, dass die Umstehenden, der 60- wie die 20jährige KonzertbesucherIn neben einem, die Texte kennen und empfindet Solidarität.

 

Lamp Light Boogie. Re-press, re-press /

Bus cunt. Move then, mate. Move for fucks sake! /

The machine goes bleep. Ticketless. Sheep /

Baa baa crack sheep. Have you any rock? /

EDL twat. Tommy used to work on the dock. Union went all white. He fuckin’ loved it /

Take it down, there. Take it down, there. Camouflage. Humpty Dumpty. Crusades /

Blood on the hands of working class rage!

 

Von Christine Franz, der Bunch-Of-Kunst-Regisseurin hört man, die Auftritte von Sleaford Mods in England gehörten zu den besten, die sie bislang erlebt hätte und die Leute wären dort ziemlich abgegangen – aber es hätte wirklich nie eine aggressive Stimmung gegeben. Das hatte eher diese „Einer für alle, alle für einen“-Atmosphäre … da gab es gestandene Arbeiter, die schon seit Jahren auf keinem Konzert mehr waren. Und Sleaford Mods hantieren ziemlich hartnäckig an der bewährten Oben-Unten-Dichotomie und reißen in Skizzen an, was das im Alltag heißt. Es war ja auch ein fataler, wie weitverbreiteter Irrtum anzunehmen, der Klassenkampf wäre zu Ende.

Wer noch tiefer in das Sleaford Mods- nahe Milieu eintauchen will, kann das mit dem Film UK18 tun. UK18 verdichtet sich als Doku-Fiktion über Neoliberalismus, Neofaschismus und totaler Überwachung zu einer Science-Fiction-Dystopie, die momentan nur im Internet zu finden ist und in der auch Jason Williamson eine Rolle hat: Watch out for „The Soldier“!

 

Sleaford Mods – Tied Up in Nottz
www.youtube.com/watch?v=CFFWF1DnZKM

Medientheorien ins Spiel bringen

„Mythos von Theuth“ ist ein vom Künstlerinnenkollektiv Qujochö entwickeltes Brett- und Gesellschaftsspiel, das Medientheorien von der Antike bis zur Gegenwart ins Auge fasst. Wahrnehmung, Sprache und Technik – über einen weit gefassten Medienbegriff und das how to play berichtet Aloisia Moser.

Das Spiel im Detail. Foto Qujochö

Das Spiel im Detail. Foto Qujochö

Mythos von Theuth ist ein Brett- und Gesellschaftsspiel für Künstlerinnen, Philosophinnen und Göttinnen (1), das an der Schnittstelle zwischen Kunst und Wissenschaft eine Untersuchung medientheoretischer Ideen von Platon, Lessing und Nietzsche über Benjamin und McLuhan bis hin zu Laura Mulvey, Sadie Plant und Donna Haraway bietet. So preisen die Erfinderinnen (2) das Spiel auf der Website ihres Künstlerinnenkollektivs Qujochö an und bringen die Medientheorien von der Antike bis zur Gegenwart in Spiel. Inspiration war Dieter Merschs Buch Medientheorien zur Einführung (3) aus dem Jahr 2006. Mersch (4) verortet darin drei Ursprungstheorien für Medien: Theorien der Wahrnehmung, der Sprache und der Technik. Den Anfang des Buches widmet Mersch dem Ursprung aller Medien, den er im Denken des Zwischen ansiedelt. Medien gibt es also nur, weil es das Andere gibt, das sich dem Zugriff erst einmal verweigert, und wofür es „eines Drittes bedarf, eine Vermittlung, eine Symbolisierung, Übertragung oder Kommunizierung“ (S. 9). Medien treten also „dazwischen“ ohne je der einen oder der anderen Seite anzugehören. Es ist also nie ganz klar, was ein Medium ist, etwas Materiales, etwas mit physischen Eigenschaften, eine Technologie, oder eine soziale Funktion?

 

Der gegenwärtige Medien-Begriff kommt erst mit dem Problem der Massenmedien auf und reicht doch tief in die Geschichte der Philosophie hinein. Die Wahrnehmungsseite oder Ästhetik sprach vom Medium als dem Stoff „in dem“ die Anschauung geschieht. Um 1800, als man sich der Sprache als Medium des Denkens bewusst wurde, war es die Sprache selbst, die als Darstellungsmedium in den Mittelpunkt rückte. Von da an ging es um Repräsentation durch Sprache und nicht mehr um das Medium als Material. Der dritte Schritt war dann jener von der Sprache als Medium der Repräsentation zum Medialen als Funktion oder Operation selbst, also der Schritt in die Technik.

 

Ganz am Anfang steht allerdings der Mythos von Theuth, ein Mythos von der Erfindung der Schrift durch den ägyptischen Gott Theuth, den Platon in seinem Dialog Phaidros (5) beschrieben hat. Es wird oft gesagt, Platon wäre ein Kritiker des geschriebenen Wortes – da es vergesslich mache und im gesprochenen Wort oder Dialog Falschheiten leichter zu klären seien. Aber Platon charakterisiert die Schrift im Phaidros als pharmakon, als Arzneimittel, das je nach Dosis heilend oder giftig sein kann.

 

Unser Spiel spielt mit allen Medien und zeigt spielerisch ihre heilenden oder vergiftenden Kräfte. Der Spielplan ist ein Grundriss der Stadt Theuth, im Maßstab 1:10.000, der ein wenig aussieht wie ein Sternenhimmel. Die käufliche Ausgabe (6) ist in eine Diakassette verpackt und inkludiert Würfel, Stationenchips, Spielfiguren, Bleistifte, Augenbinde, Legosteine, Lüsterklemmen (diese dienen als Halter für die kleinen Medienkärtchen), Schmierzettel und einen Spielplan mit allen dazugehörigen Kärtchen.

 

Als ich das Spiel an einem kalten Januarabend in der Qujochö-Zentrale zum ersten Mal gespielt habe, war der Spielplan bereits vorbereitet und alle Kärtchen aufgelegt. Es ist kein Spiel, das einem sofort einleuchtet, aber man bekommt schnell ins Gefühl, worum es geht. Jede Spielerin zieht eine Karte mit einem Auftrag, den sie erfüllen muss. Um dies zu tun, braucht sie Medien. Etwa der Auftrag in „A New Star is Born“ ist es, eine Nebenrolle in einem französischen Avantgardefilm zu spielen. Dafür werden verschieden Medien gebraucht, ein Fotoapparat, eine Videokamera, ein Mikrophon, ein Laptop, aber auch Schallplatten, ein Fernseher und Bücher. Für den Auftrag „Bestseller“ etwa braucht man dafür gleich sieben Stück, und ein Handy, eine App zum Scannen, Laptop, Fotoapparat, aber auch Bleistift und Notizbuch.

 

Beim Würfeln rechnet man sich aus, in welche Stadtrichtung man auf dem Plan gehen will und zu welchem Feld mit korrespondierendem Stationendepot, um die Medien einzusammeln, die man braucht, um den Auftrag zu erfüllen. Es gibt ein Theater, eine Akademie, ein Stadion etc., die mit hexagonalen Spielfeldern überlegt sind. Darauf finden sich, per Zufall aufgebaut, die Stationendepots. Sie sind je eigene Spiele im Spiel und tragen Namen wie Phaidros’ Ostomachon oder Alles ist Lüge und Täuschung, letzteres eine Anspielung auf Nietzsches berühmten Aufsatz: „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne.“ (7) Auf diesem Feld muss man die Aufgabe erfüllen, einen Satz zu formulieren, der wissenschaftlichen oder popkulturellen Inhalt hat, aber bei dem Logik und Sinn – scheinbar – keine Rolle spielen. Die anderen müssen raten, auf welchen wissenschaftlichen Zusammenhang und welche Pop-Referenz sich der Satz bezieht. Hier hilft es, die Mitspielerinnen gut zu kennen. Die nächste Station, zu der wir uns würfeln, heißt Das sichtbare Foto. Eine der Spielerinnen macht eine Fotographie, etwa vom Nebenraum. Dann nennt die erste Mitspielerin einen beliebigen, darauf abgebildeten Gegenstand. Die nächste Spielerin hat dann zwanzig Sekunden Zeit, auf dem Foto einen beliebigen anderen Gegenstand auszumachen, der den gleichen Anfangsbuchstaben hat wie der letzte Buchstabe des zuvor genannten Gegenstandes und so weiter. Wer zuerst in zwanzig Sekunden keinen Gegenstand nennen kann, hat verloren. Bei der Medienentnahme geht diese Person leer aus.

 

Eine weitere Station, die bei uns gewürfelt wurde, warf uns in ein Spiel, das Die Aura von Youtube hieß. Hier wird die klassische Pantomime nicht dafür verwendet, jemanden oder etwas – sondern ein Youtube-Video nachzuahmen, das per Zufall (nämlich irgendein genanntes Wort ist der Youtube-Suchbegriff und die Zahl, die ein anderer nennt, ist das x-te Video) gewählt wird. Die Mitspielerinnen müssen in sechzig Sekunden raten, was gespielt wird. Wird es richtig erraten, signalisiert das der Schauspieler mit dem Ausruf „Aura!“ und die Ratende bekommt ein Bonbon. Das Wort Aura bezieht sich auf Walter Benjamins Begriff der Aura des Kunstwerkes, das im technologischen Zeitalter verloren gegangen sein soll. Es werden Medienkärtchen wie Bonbons ausgeteilt.

 

Noch eine der Spielstationen möchte ich beschreiben, weil sie so viel Spaß gemacht hat, nämlich Ich sehe eine heiße Massage – eine Version des Blinde-Kuh-Spiels vermischt mit der McLuhan’schen Dichotomie der „heißen“ und „kalten“ Medien. Während einer Mitspielerin die Augen verbunden werden, sucht man ein Medium aus, das diese suchen muss. Unser Medium war ein Besen, der in der Ecke stand. Laut McLuhan (8) ist er als Verlängerung des Körpers ein Medium. Die massierenden Handbewegungen, mit denen die Spielerin tastet und sucht, sollen helfen, in drei Versuchen zu erraten, was das Medium ist. Sie darf, wenn sie richtig geraten hat, dem gefundenen Medium – dem Besen – eine halbminütige sanfte Massage geben, durch die sie sich, wenn gelungen, ein zusätzliches Medienkärtchen erwerben kann. „Das Medium ist die Botschaft“ – „The medium ist the message“ – der berühmte Ausspruch hieß ursprünglich „The Medium is the massage“. Und laut McLuhan werden wir durch das Medium gründlich durchmassiert.

 

Es gibt noch ein weiteres Spiel im Spiel, bei dem man die Spielerfinderinnen als letzte Hilfe anrufen kann, um eine Frage gestellt zu bekommen. Manchmal, geben diese zu, erhalten sie nun mitten in der Nacht Anrufe, etwa aus Tokyo, wo eine Gruppe von Spielerinnen eine Frage braucht. Recht spät, wenn auch nicht mitten in der Nacht, hatte dann eine von uns alle Medienkärtchen eingesammelt und ihren Auftrag erfolgreich abgeschlossen, womit das Spiel zu Ende ging. Aber auch mich hielt das Spiel über Medientheorien noch länger gefangen – ein paar Tage später fand ich in meiner Tasche einen Brief, bereits frankiert, den ich laut Spielregeln nur noch in den Briefkasten werfen musste. Die Spielerin des Spiels Do Cyborgs dream of Domination hätte auch einen einfachen Facebook-Post oder eine E-Mail wählen können, aber sie entschied sich für das Medium des persönlichen Briefes. Wie damit Donna Haraways „Cyborg Manifest“ in der virtuellen Welt verwirklicht werden soll, müssen Sie beim Spielen selbst herausfinden.

 

„Medien vermitteln, ohne selbst unmittelbar zu sein,“ wiederholt Mersch am Ende seiner Einführung in die Medientheorien und fügt hinzu, dass dies ein Paradoxon ist. Paradoxa kann man aber durch stringentes Denken nicht lösen, und deshalb begegnet man ihnen vorzugsweise in der Domäne der Kunst. Die künstlerische Praxis zum Beispiel gebraucht Apparate oder Technik gegen ihre zielgerichteten Verwendungsweisen und versucht damit, sie zu überlisten. Mersch sagt mit Flusser, „Freiheit ist, gegen den Apparat zu spielen.“ (9) Und er endet sein Buch damit zu sagen, dass „die Kunst vielleicht der Medientheorie mehr zu zeigen hat, als umgekehrt die Medientheorie der Kunst zu sagen hätte“ (S. 228). Dieser Unterschied zwischen dem Sagen und Zeigen ist relevant, gerade weil Medien dazwischentreten, weil es Anderes gibt, das vermittelt werden muss. Dabei ist nie klar, was die Medien sind – und in diesem Sinn können sie nicht gesagt werden. Die Kunst aber kann zeigen, was Medien sind, indem sie sie spielerisch und gegen den Strich verwendet. Die Erfinderinnen des Spiels, Davide Bevilacqua, Eva Maria Dreisiebner, Stefan Eibelwimmer und Thomas Philipp, Künstlerinnen von Qujochö verfolgen dieses Ziel erfolgreich.

 

1 Während die Spielemacherinnern in ihrer Spielanleitung zwischen weiblicher und männlicher Form abwechseln, verwende ich konsequent die weiblichen Formen und meine die Männer jeweils mit, wie das über Jahrtausende auch umgekehrt gut funktioniert hat.

2 Davide Bevilacqua, Eva Maria Dreisiebner, Stefan Eibelwimmer und Thomas Philipp

3 Mersch, D. Medientheorien zur Einführung. Hamburg, Junius 2006.

4 Mersch ist promovierter Philosoph, derzeit Leiter des Instituts für Theorie und Professor für Ästhetik an der Hochschule der Künste in Zürich, hatte aber von 2004–2013 den Lehrstuhl für Europäische Medienwissenschaften am Institut für Künste und Medien an der Universität Potsdam inne.

5 Platon, Phaidros. 274e1-275b2.

6 Es ist einfach zu einem Spiel zu kommen, man kann die Standardversion namens „Platon“ wählen, die in ausgewählten Linzer Museumsshops und Buchhandlungen wie AEC, Lentos, Buchhandlung Alex, Fürstelberger oder bei Sisi-Top erhältlich ist. Die zweite Version heißt „Theuth“ und ist in höherer Qualität, mit zusätzlichem Spielmaterial auf 100 Stück limitiert und von Qujochö signiert. Die dritte Möglichkeit ist eine durch und durch demokratische DIY-Version: Alle pdf-Vorlagen stehen online unter folgendem Link zur Verfügung. Man kann das Spiel in etwa 6–7 Stunden selbst zusammenbauen.
qujochoe.org/myth-of-theuth-templates

7 Nietzsche, F. „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn.“ Kritische Studienausgabe. Colli, G. Colli und Montinari, M. (Hrsg), Bd. 1, München, 1999 (2. Aufl.). 8 McLuhan, M, Fiore, Q. Das Medium ist die Massage (transl. M. Baltes und R. Höltschl) Klett-Cotta, 2016 (4. Aufl.).

9 Flusser, W. Für eine Philosophie der Fotographie, Göttingen, 1999 (9. Aufl.) PhF:, S. 68, 73.

 

Präsentationen – Mythos von Theuth

Mythos von Theuth wurde bereits mehrfach präsentiert, etwa 2017 bei der Ars Electronica, im Depot in Wien, außerdem 2018 im Rahmen von Digital Spring in Salzburg und bei anderen Gelegenheiten. In näherer Zukunft bei:

Bains Numériques 2018: Digital Factory #2, Enghien-les-Bains/Paris (FR), 14.–17. Juni 2018

medien.kunst.tirol, Stellwerk Innsbruck (AT), 29. Juni 2018

Speculum Artium – New Media Culture Festival (tbc), Trbovlje (SI), 13.–15. September 2018

York Mediale 2018, York (UK), 27. September – 6. Oktober 2018

Mehr:
qujochoe.org/myth-of-theuth
qujochoe.org/myth-of-theuth-get-the-game

The Drake Equation

Radioteleskope, aber sonst weder Mobilfunk noch TV- und Radiosendungen: Seit den 50er Jahren wird in der National Radio Quiet Zone im US-Bundesstaat West Virginia nach Spuren außerirdischen Lebens geforscht. Paul Kranzler und Andrew Phelps haben sich in die Zone begeben, in der neben Wissenschaftler auch Siedler, Bärenjäger und vermehrt Elektrosensible anzutreffen sind. Entstanden ist der Fotoband „The Drake Equation“, den sich Lisa Spalt angesehen hat.

1932 entdeckte Karl Guthe Jansky, dass die Milchstraße Radiowellen emittiert. Die Telefongesellschaft Bell hatte ihn beauftragt, Störsignalen im Kurzwellenband nachzugehen. Als Jansky seine Ergebnisse 1933 veröffentlichte, interessierte das niemanden. Erst Ende der 30er-Jahre beschäftigte sich ein Amateurastronom wieder damit. Er baute die erste Parabolantenne, die Signale aus dem All empfing. Diese war dann auch bereits der Prototyp für die heutigen Radioteleskope. Eins der wichtigsten dieser Gattung, das Green Bank Telescope, befindet sich in der National Radio Quiet Zone, einem rund 34.000 km2 großen Gebiet in West Virginia. Damit hier kein Geburtstagsgruß aus dem All verpasst wird, wird penibelst darauf geachtet, dass irdische Signale den Empfang nicht stören. Durch eine, bereits in den 50er-Jahren eingerichtete Einschränkung der Rundfunkstationen in dem Gebiet ist der Funkempfang für Radioteleskope optimal. Im Umkreis von 20 Meilen um das Teleskop herum gibt es keinen Mobilfunkempfang. Aktiv wird in der Gegend nach schlecht abgeschirmten elektrischen Anlagen gesucht. Denn hier sollen sie empfangen werden: die Signale von Außerirdischen, die sich in den Tiefen des Alls danach sehnen, endlich einmal einen Marshmellow zu essen.

Nun: Jorge Luis Borges entwickelt in einer seiner Erzählungen den Gedanken, dass, wenn man sich vorstelle, es gebe an einer bestimmten Stelle vergrabene Gegenstände, diese auch irgendwann gefunden werden. 1961 stellte Astrophysiker Frank Drake eine Formel auf, welche die Bedingungen der Existenz von Außerirdischen beschreibt. Vielleicht kann sie sie eines Tages auch hervorzaubern? Darauf hoffen jedenfalls die WissenschafterInnen, die in der National Radio Quiet Zone agieren.

Sehr eigentümliche Eindrücke aus diesem eigentümlichen Gebiet der Erde haben die Fotografen Paul Kranzler (Österreich) und Andrew Phelps (Österreich/USA) in ihrem Buch „The Drake Equation“ versammelt. Es wirkt wie eine Bildgeschichte über Grenzen alle Art.

Zuerst die Menschen: Grenzgänger. Balancieren auf der Kante einer Betonplatte oder werden in derart intimen Nahaufnahmen gezeigt, dass die Grenzüberschreitung der Kamera in eine andere Wirklichkeit zu führen scheint.

Aber auch technische Apparaturen führen in eine andere Welt. Wirken wie Großküchen von Alien-Nationen, die allerdings bereits so lange hier leben, dass die Geräte heimelig anmutende Gebrauchsspuren zeigen. Kurz verhüllt Nebel ein Mobile Home – oder vielleicht bilden gerade die Abgase eines Raumschiffs diesen Schleier, der auf das unsichtbare Außerhalb des Bildes verweist. Stoßen Alien-Raumschiffe Abgase aus? Wir befinden uns an einem Ort, an dem man mit Hunden kommuniziert und die Grenze zwischen Menschenplanet und Tierplanet spürt, die man nie zu überschreiten vermag. Die Messe findet hinter den genarbten Scheiben einer Kirche statt. Wer weiß, wer hier in welcher Weise mit welcher außerirdischen Macht kommuniziert? Ist Gott ein Alien? War Michael Jackson der Messias? The National Radio Quiet Zone ist eine Ausklappung in eine Parallelzeit, die bereits verlassen und gleichzeitig von unverständlichen Lebewesen bewohnt wirkt. Ein Junge läuft durch den Wald. Er ist nicht allein, irgendein Wesen folgt ihm, lugt durch die Büsche. Jemand macht Aufnahmen, die bei mir, in Österreich, auf eine konsternierte Rezipientin treffen. Der Blick fällt auf ein zerstörtes Haus, wie angenagt oder mit scharfen Krallen zerrissen. Ich meine das Beweisfoto eines Vorfalls vor mir zu haben, der vielleicht nie stattgefunden hat, aber eben doch dokumentiert ist. Da klappen Welten in andere um. Die Standstills scheinen zu einem bereits existierenden oder vielleicht schon wieder verschollenen Film zu gehören, dessen Sprache ich nicht verstehe. Eine Frau – eine Figur – sitzt da. Sie sieht mit seltsam unzentriertem Blick in die Kamera, sieht Dinge, die keine Linse fassen kann, dieser Blick, der Unfassbares festhält, ist seltsam festgezurrt. Die Frau weiß, dass ihr Körper im Bild immer Gast sein wird, dass das Bild Dreidimensionales fesseln muss, um es festzuhalten, um es nicht entwischen zu lassen. Ihren Kaffee trinkt sie aus einem Plastikbecher, der wahrscheinlich länger existiert als die für ihr Menschenleben anderswo konzipierten Gläser. Ich fühle mich beim Sehen der Bilder unausgeschlafen, aber überwach. Diese National Radio Quiet Zone ist von meiner Welt in etwa so weit entfernt wie die DDR und andere Staaten, die in der Vergangenheit liegen und damit in einen parallelen Raum geraten sind. Da gibt es einen jungen Menschen mit blitzblauen Haaren, grünen Augen und einem wissenden Lächeln. Während das androgyne Wesen lacht, bröckelt auf einer anderen Seite des Buchs eine über dem Holz liegende, bemalte Schicht weg, ein Stückchen Zeitungspapier, vergilbt, sieht darunter heraus. Wann starben hier die Dinosaurier, die Menschen aus? Werfe ich, indem ich die Seiten des Buches betrachte, einen Blick in die Vergangenheit oder eher in die Zukunft meiner Gegenwart? Beides sind Bereiche, die ich nicht besuchen werde können. Ein paar Bäume wirken verwischt, als seien sie nur gemalt. Ein Mann sitzt in seinem Sessel. Wie bei einer Barbie-und-Ken-Figur zeigen sowohl seine Gürtelschnalle als auch ein Badge auf seinem Hemd seinen Namen in zwei verschiedenen Schriftzügen. Hier hat jemand verschiedene Logos für ein und dieselbe Puppe entworfen. „Ach, es war so groß und gewölbt“, scheint eine Frau zur anderen zu sagen und sich zu amüsieren. Ich habe Angst, sie könnte die knisternde Stille der umstehenden Anlagen stören. Ihre Stimme ist aber weggeblendet. Der vielleicht zu der Szene mit den zwei Frauen gehörende Plan zeigt Faraday’sche Käfige in Iglu-Form, die vor Radiowellen schützen sollen, geplant für eine Gesellschaft, die sich in der National Radio Quiet Zone vor den elektromagnetischen Emissionen der sonst allgegenwärtigen Handy-Masten, W-Lans, Radiostationen versteckt. Diese MigrantInnen aus einer ihrer Meinung nach verseuchten Welt leiden an Elektrosensibilität oder vielleicht auch nur an einer irrationalen Angst vor elektromagnetischer Strahlung. Untersuchungen der WHO scheinen zu beweisen, dass sie Emissionen nicht erspüren können und die auftretenden Symptome vom verkehrtem Placebo-, also Nocebo-Effekt herrühren. Sie wissen schon: Wenn wir von den Nachbarn hören, dass die Kinder sich in der Schule Läuse eingefangen haben, kratzen wir uns auch gleich am Kopf. Ähnlich plagen Kopfschmerzen und Schlafstörungen Elektrosensible wahrscheinlich nur, weil sie sich vor den Emissionen fürchteten. Doch was nützt die Erkenntnis? Wie schon das Thomas-Theorem besagt: Wenn ich mir etwas einbilde und danach handle, sind die Effekte dieser Handlung so, als wäre das Erfundene Wirklichkeit. Den Sensiblen bleibt nichts anderes übrig, als hier in die National Radio Quiet Zone zu ziehen. Hier treffen sie auf BärenjägerInnen und Ahornsirup-Sammelnde, aber auch auf WissenschafterInnen, AstronomInnen aus aller Welt, die die spezielle Forschungssituation nutzen.

Kranzler und Phelps haben diese ganz besondere Welt, an der man wie an einer streng begrenzten Versuchsanordnung sehen kann, dass Zusammenleben immer auf der Basis menschlicher Fiktionen passiert, die nicht unbedingt kongruent sind, nicht etwa einfach festgehalten, sondern erzählt. Sie erzählen, wie das die Fotografie so macht, mit Löchern im Film. Die von Momentanaufnahmen dünn besiedelte Landschaft ihrer Erzählung lässt viel Raum und Ruhe für das Bauen eigener Luftschlösser. Ich kann – oder muss mir – beim Betrachten meine eigene National Radio Quiet Zone erzeugen. Jeder Bildrand ist eine Grenze, hinter der mein Deuten, mein erzählendes Verbinden der Bilder beginnt. Was macht das möglich? Zum einen ist es für mich das bereits beschriebene Fotografieren von Grenzen. Zum anderen aber erzeugt ein einfaches Element des Erzählens diese Anregung zum Weiterspinnen: Eine Gruppe der in der Zone lebenden Menschen besteht aus den Jägern und Ahornsirupsammlern, deren Familien oft schon seit Jahrhunderten hier leben. Alard von Kittlitz beschreibt sie im Begleittext zum Buch mit den Worten, sie wirkten, als seien sie gerade einem Faulkner-Roman entsprungen. Und tatsächlich scheint sich zu bewahrheiten, was einmal jemand – war es Roger Caillois? – als wichtigstes Charakteristikum des Phantastischen beschrieben hat: dass es nämlich nur dann seine Wirkung entfalten kann, wenn es in Alltägliches, Gewohntes eingewoben ist, in diesem Fall vielleicht beinahe in Klischiertes. Die Bilder dieses Buches erinnern an Stills US-amerikanischer Filme, die dem Unheimlichen ihren Tribut zollen. Gleichzeitig könnten die Szenen durchaus von einem Modellbauer gefertigt und dann so aufgenommen worden sein, dass man sie für Aufnahmen von Lebenden hält. Beim Recherchieren stellten sich jedenfalls bei mir Zweifel ein: Gibt es diese National Radio Quiet Zone wirklich? Allzu phantastisch kommt mir das Setting vor. Beim Durchforsten der Historie der entsprechenden deutschsprachigen Wikipedia-Einträge entdecke ich, dass sie jeweils erst im Jahr 2013 beginnt.

 

Paul Kranzler, Andrew Phelps: The Drake Equation
Das Buch ist bei Fountain Books erschienen. Erstausgabe 2018, limitierte Auflage von 1000 Stück, 120 Seiten, € 45.–
fountainbooks.de

Im Herbst ist in der Landesgalerie die Ausstellung „The Drake Equation“ von Paul Kranzler und Andrew Phelps zu sehen.

Paul Kranzler, Andrew Phelps: THE DRAKE EQUATION
Im Jahr 2015 verbrachten die Fotografen Paul Kranzler (A) und Andrew Phelps (A/USA) viele Wochen in der National Radio Quiet Zone, in der Umgebung der kleinen Stadt Green Bank und des Green Bank Observatory, um diese einzigartige Gemeinschaft von Forschern, Elektrosensiblen und einheimischen Familien zu dokumentieren.
Das daraus entstandene Buch THE DRAKE EQUATION zeigt eine naturbelassene Landschaft, durchsetzt von grotesk anmutenden, riesigen Teleskopen. Und es zeigt Menschen, in deren Körpern und Haltungen sich das Leben im Green Bank spiegelt.
„Ich denke, dass es bei der fotografischen Arbeit, die Sie jetzt in Ihren Händen halten, um viele Dinge geht, um Zeit und Wissenschaft und Technik und Natur, für mich jedoch ist es im Wesentlichen eine Arbeit über Amerika“, schreibt der Journalist Alard von Kittlitz in seinem begleitenden Text.
In Green Bank wurde 1961 auch die titelgebende Drake-Gleichung auf einer Konferenz erstmalig vorgestellt. Die vom Astro-Physiker Frank Drake entwickelte Formel dient zur Abschätzung der Anzahl der technischen, intelligenten Zivilisationen in unserer Galaxie, der Milchstraße. Es handelt sich bei der Gleichung um ein Produkt, von dem die meisten Faktoren unbekannt sind.

Wo es Schmutz gibt, gibt es ein System

Die Ausstellung Clean Cube. Zur Kritik der reinen Vernunft zeigt im Juni in der ehemaligen Waschstraße der Kulturtankstelle Arbeiten über Sauberkeit und Schmutz. Victoria Windtner, die die Ausstellung textlich begleitet, beleuchtet beispielhaft – und montiert einen Text, der über die Ausstellung hinaus seine eigene Thematik im Diskurs über Reinheit, Ökonomie und den unsichtbaren Dreck forciert. Ergebnis dessen sind Gedankensprünge zwischen Kunst und Sauenwaschung.

Rosa Haut, spritzendes Wasser und abgespülter Kot. Das war meine erste bildhafte Assoziation, als ich die Worte „Ästhetiken der Reinigung“ las. Es war während den Vorbereitungen zur Ausstellung Clean Cube. Zur Kritik der reinen Vernunft. Die Ausstellung ist in der Kulturtankstelle zu sehen, nimmt die Location der ehemaligen Waschstraße beim Wort und thematisiert tradierte Vorstellungen von Reinheit, Sauberkeit und Schmutz sowie deren kulturelle, politische und religiöse Dimensionen.

 

Die Waschstraße, ein gefliester Ort, in dem automatisierte Prozesse ablaufen, um Schmutz von Autos abzuwaschen, spülte meine eigenen Gedanken fast automatisch in den gleichen Kontext, aus dem die eingangs beschriebene Assoziation – der rosa Haut, des spritzenden Wassers und des abgespülten Kotes – stammt. Es handelt sich um eine Fotografie zum Artikel „Einmal waschen bitte“, in der Fachzeitung „Die Landwirtschaft“, der Landwirtschaftskammer Niederösterreich. Zu sehen ist ein Schwein umgeben von Gitterstäben und eine weiße, männliche Person, die einen Wasserstrahl auf das rosa Lebewesen richtet, um den Dreck von seinem Körper abzuspritzen.

 

Die Ausstellung Clean Cube zeigt eine Video-Sound-Installation, die mich an das beschriebene Bild erinnert. Der Wasserstrahl und das Abwaschen finden sich in zwei parallel abgespielten Videos von Carina Nimmervoll wieder. Links wäscht die Künstlerin Temperafarbe von ihren Füßen ab und reibt ihre Zehen und Fußflächen immer energischer aneinander, um die Farbe zu entfernen. Das Wasser verfärbt sich rot und die Farbe setzt sich an der weißen Badewanne ab. Rechts ergießt sich ein Wasserstrahl über ihre Füße. Füße, Farbe, Sichtbarmachung, Entfernung – Die Künstlerin erklärt mir, dass es unter anderem auch darum geht, dass uns die oft wenig beachteten Füße die Möglichkeit geben uns aus Situationen zu entfernen.

 

Diese positive Idee mit befreiender Wirkung bringt mich zurück zum Schwein unter dem Wasserstrahl. Die äußerlichen Bedingungen in der Landwirtschaft sind allerdings allesamt nicht darauf ausgelegt, dass sich dieses Schwein aus der bestehenden Situation entfernen kann. Obwohl es vier Füße hat. Das Schwein auf dem eingangs beschriebenen Bild in der Landwirtschaftszeitung ist ein Mutterschwein, also Protagonistin im landwirtschaftlichen Schweinereproduktionssystem. Die dargestellte Szene zeigt eine Praktik im Sinne des Hygienemanagements der Tierproduktion: die Sauenwaschung. Dabei wird schwangeren Schweinen der Kot, Urin und Staub von ihren Körpern abgewaschen. Dies geschieht kurz bevor sie vom Wartestall, wo sie sich ab der künstlichen Befruchtung durch Menschenhand befinden, in den Abferkelstall gebracht werden, wo die Geburt ihrer Ferkel stattfindet. Die Waschung ist ein einzigartiger und dem Mama Schwein vorbehaltener Moment. Zu keinem anderen Zeitpunkt werden innerhalb des Produktionsprozesses lebendige Schweine gewaschen, obwohl an ihren Körpern andauernd Kot, Urin und Staub kleben. Der Schmutz in Form von Fäkalien ist fixer Bestandteil der landwirtschaftlich-industriellen Struktur. Eine Tatsache, die mich zum Werk Berührung von Angelika Windegger führt.

 

Das in der Kulturtankstelle unscheinbar wirkende Waschsetting mit der Handlungsanweisung „Vor dem Eintreten Händewaschen“. Die Kulisse der Holzkonstruktion erzeugt ein Täuschungsmanöver. Ein Blick in die Rauminstallation löst Irritation aus und Windegger macht die Manipulation sogleich sichtbar. Sie zeigt, dass sich das zum Händewaschen angebotene Wasser in einem zirkulären Kreislauf befindet. Jede*r wäscht sich mit demselben Wasser die Hände. Dadurch kommt es zur indirekten Berührung. So werden Steuerungsmechanismen, Reinheitsansprüche und Berührungsängste angesprochen sowie gesellschaftliche Prägungen und kulturelle Codes.

 

Eröffnet wird dabei auch die Frage, was Schmutz denn überhaupt ist und wie Schweine eigentlich so Schmutz geworden sind, dass die Bezeichnung ihrer Art und ihrer Nachkommen sogar als Schimpfwörter verwendet werden. Die Grundsteine für die Konstruktion des „schmutzigen Schweins“ wurden in den monotheistischen Religionen gelegt. Kunsthistoriker und -wissenschafter Roger Fayet erklärt in „Reinigung. Vom Abfall der Moderne zum Kompost der Nachmoderne“ (2003), dass die expliziten Ursachen für Reinheit und Unreinheit von Tieren* in der Bibel im „Prinzip der eindeutigen Zugehörigkeit zu einer bestimmten Tierkategorie“ (Fayet, 53) liegen. War keine eindeutige Zuordnung des Tieres* möglich, galt es als unrein. Die schmutzigen Vorurteile, die der Mensch gegenüber dem Schwein hegt, sind auf sein eigenes Schmutzverständnis und Ordnungssystem zurückzuführen. Der Mensch verletzt aber häufig selbst die festgelegten Kategoriengrenzen, beispielsweise wenn es um die Grenze von Außen und Innen und deren Durchbrechung geht. „Was die Menschen verunreinigt, sind Körperausscheidungen, Hautaussatz, Geschwüre, genitale und menstruale Ausflüsse, sowie der Vorgang der Geburt“, schreibt die Sozialanthropologin Mary Douglas, in „Reinheit und Gefährdung“ (1988). Douglas beschreibt den Schmutz selbst als etwas Relatives, „etwas, das fehl am Platz ist“ und hält fest: „Wo es Schmutz gibt, gibt es ein System“. (Douglas, 52f)

 

Im System der Schweineproduktion können die allgegenwärtigen Fäkalien als ambivalenter Code verstanden werden. Aufgrund des Haltungssystems werden Schweine zudem, was die Vorurteile über sie schon lange sagen, schmutzig. Ethologische Untersuchungen haben allerdings gezeigt, dass Schweine, wenn es ihre Umgebung erlaubt, oder sie nicht in Gefangenschaft leben, Liege- und Kotplätze trennen. Es entspricht also nicht dem schweinlichen Wesen, über dem eigenen Kot zu leben, wie es ihnen die aktuelle landwirtschaftliche Produktionspraxis mittels Vollspaltenböden abverlangt und ihnen verunmöglicht schweinliche Bedürfnisse nach Sauberkeit auszuleben.

 

Dieser Gedanke führt mich zurück in die Ausstellung Clean Cube und zum Werk Untitled – How would you like to get rid of it? von Bernadette Laimbauer. Es ist ein Angebot zur sinnlich-interaktiven Begegnung im Ausstellungsraum. Ein Würfel aus Seife bildet das Gegenüber der One-to-One-Performance zwischen Mensch und Riesenseife. Das ästhetische Objekt transformiert sich durch den Kontakt mit Wasser und menschlichen Körpern. „Die Seife nimmt den Schmutz mit, der Schmutz verschwindet und dabei auch die Seife selbst“, erklärt Laimbauer und gibt eine klare Handlungsanweisung – „Bitte berühren!“. Das Material wird zur Performerin, so benannt bei Quasikunst im Rahmen des Kunst- und Technologiefestivals Stadtwerkstatt 48×3 2017, bei Tanja Brandmayrs Eisberg – The Entity – 48 Hours Meltdown. Der Eisblock als Performer ist längst verschwunden, weil geschmolzen, doch in meiner Phantasie findet zwischen Riesenseife und Eisblock eine performative Verschmelzung statt und es läuten die Hochzeitsglocken.

 

Jegliche Romantik verfliegt, wenn ich überlege, dass auch Mama Schwein als materielle Performerin gedacht werden kann. Ist sie doch rechtlich nicht mehr als Sache und Eigentum eines Menschen in einem milliardenschweren Industriezweig. Dazu kommt, dass diesem Industriezweig viel daran liegt, die eigenen Produktionsbedingungen unsichtbar zu machen. Immer häufiger tritt dabei die Politik auf und stellt die Weichen zur rechtlichen Legitimierung der Unsichtbarmachung. Es handelt sich dabei um Rechtstexte, die in den Vereinigten Staaten von Amerika bereits einen eigenen Namen bekommen haben – Agriculture Gags (Ag-Gags). Der amerikanische Autor und Journalist Mark Bittmann prägte den Begriff, es handelt sich dabei um „Rechtstexte, die das Aufdecken von Missständen in der Agrarindustrie bestrafen sollen“ (derstandard.at 2015). In Ober- und Niederösterreich gibt es bereits derartige Rechtstexte, #Betretungsverbot, #Feldschutzgesetz und Vergleichbares in der bundesweiten Schweinegesundheitsverordnung (SchwG-VO). An einer Erweiterung wird auf Bundesebene aktuell gearbeitet. Im Programm der schwarz-blauen Bundesregierung ist die Rede von Schutz „gegen das illegale Eindringen in Stallungen“ und „Beweisverwertungsverbot“. Das könnte bedeuten, dass beispielsweise Bilder, die in Stallungen gemacht wurden, nicht vor Gericht verwendet werden dürfen, sondern vernichtet werden müssen, weil sie illegal entstanden sind. Die Unsichtbarmachung der Produktionsbedingungen und möglicher Missstände erreicht eine neue Dimension. Dabei bietet Österreich zum Schutz von Eigentum ausreichend Möglichkeiten, trotzdem soll landwirtschaftliches Eigentum besonderen Schutz erhalten. Das Argument „Sie wollen doch auch nicht, dass jeder* in ihr Wohnzimmer reinschaut“, wird in diesem Kontext oft strapaziert. Bei Produktionshallen und Tierstallungen handelt es sich jedoch faktisch nicht um Wohnzimmer von Bauernfamilien und damit nicht um Räumlichkeiten, in denen die Privatsphäre unter besonderem Schutz steht.

 

Ein Vernichtungsgebot von Bildmaterial erinnert ein bisschen an Bilderverbot und Bilderstreit. Andrey Ustinov überführt in ICONOCLASH. Footage zu einem nicht-realisierten Videoprojekt das Thema Bilderstreit in den Kontext einer modernen multikulturellen Großstadt. Er zeigt einen Mann beim sachgemäßen Zerstören von Werbebildern. Herr C. arbeitet als Plakatkleber in Köln und ihn stören so manche Botschaften und Bildmotive auf den Plakaten, die er aufkleben muss. Für ihn ist das Herunterreißen der Plakate eine politisch subversive Geste, es gehört aber ebenso wie das Aufbringen der Plakate zu seiner Arbeit. Wird ein Plakat heruntergerissen, das saubere, glücklich wirkende Schweine auf einer grünen Wiese zeigt, schließt sich der Kreis zu Mama Schwein. Sie wird niemals in ihrem Leben eine grüne Wiese betreten, aber die Erinnerung an sie ist in einen Text geflossen, der assoziativ Bilder und Diskurse aus dem Ausstellungskontext aufnimmt und anhand zeitgenössischer Kunst den Blick auf das zeitgenössische System der Schweineproduktion eröffnet. In der Ausstellung selbst ist keine Sauenwaschung zu sehen.

 

Über Schweine zu schreiben ist vermutlich nicht besonders schick. Selbst kritischen Zeitgenoss*innen ist die Erwähnung dieser Lebewesen unbequem, wenn es außerhalb von Speisekarten geschieht und die üblichen sprachlichen Verhüllungen, wie Stelze, Schnitzel, Schinken und Speck durch die Benennung der lebendigen Wesen selbst entblößt werden. Doch Unbequemlichkeiten zugunsten erweiterter Sichtweisen nehme ich gerne in Kauf. Versprochen.

 

Das Wort Tier wird im Text mit einem * versehen, um auf die soziokulturelle Konstruktion des Begriffs zu verweisen.

 

Clean Cube. Zur Kritik der reinen Vernunft
8.–22. Juni 2018, tägl. 16.00–20.00 h

kulturtankstelle
Dametzstrasse 14
4020 Linz

Opening am 7. Juni 2018 um 18.00 h mit einer Performance von Bernadette Laimbauer

Für zwei Wochen wird die kulturtankstelle, das neue Coop-Lab des OÖ Kulturquartiers und der Kunstuniversität Linz, zum Clean Cube oder besser: zu einem Ort der Auseinandersetzung mit den Ökonomien der Reinheit in Kunst, Politik, Religion und Gesellschaft. Ausgangspunkt der Ausstellung im Linzer City Parkhaus war das Dispositiv der ehemaligen Waschstraße – eine von automatisierten Prozessen begleitete Passage im urbanen Raum.

16 Künstler*innen befragen die Grenzen der Sauberkeit und die Reinheitsideale der Moderne. Sie spielen mit der Kontamination, untersuchen Mechanismen des Ein- und Ausschlusses, urbane Wasserkreisläufe, politische Aufräumrhetorik und den Schmutz des White Cube.

Künstlerische Positionen:
Santiago Alvarez, Maria Dirneder, Johannes Fiebich, Eveline Handlbauer, Julie Sophie Kratzmeier, Twana Kushnau, Bernadette Laimbauer, Matthias Lindtner, Domas Schwarz, Atena Neuhuber, Carina Nimmervoll, Jens Pecho, Marlene Penz, Andrey Ustinov, Nico Joana Weber, Angelika Windegger

Redaktion: Lisa Maria Schmidt, Stefanie Schiefermair, Victoria Windtner Kuratorische
Leitung: Anne von der Heiden und Jasmin Mersmann

Begleitprogramm
12. Juni, 18.00 h VORTRAG Roger Fayet (Zürich): Abfall, Ordnung und Immersion bei Song Dong und Christoph Büchel

22. Juni, 10.00–20.00 h WORKSHOP

Programm und weitere Infos unter www.kulturtankstelle.at

Schönheit der Gegensätze

Kamasi Washington beim Inntöne-Jazzfestival im Mai: Christian Wellmann war vor Ort und befindet, dass Festival und Musiker dem Genre kreatives Oberwasser geben und den Jazz zurück ins öffentliche Bewusstsein blasen.

„Don’t tolerate people, celebrate them.“ Kamasi Washington. Foto Inntöne Festival

„Don’t tolerate people, celebrate them.“ Kamasi Washington. Foto Inntöne Festival

Paul Zauners Bauernhof fungierte beim 33. (!) Inntöne-Jazzfestival abermals als Bühne von und zur Welt. Dass die Verpflichtung Kamasi Washingtons im Umfeld der Konzerte von München und Wien gelang, ist eigentlich ein Wunder, der wohl „kleinste“ Stopp seiner Welttournee, in den Suburbs von Diersbach im Innviertel. Respekt! Alles fühlt sich dort irgendwie „echt“, „ungekünstelt“ an, nah & direkt, einfach, Bio ohne Fake. Ein an seine Grenzen gebrachter Veranstaltungsort, die akustisch (mit)swingende Holzscheune bildete den Rahmen einer mystischen Nacht für die Geschichtsbücher, dieses Intime schaffte es, den Reiz seines Auftritts nochmals zu überhöhen.

 

Zauner selbst ist Jazzmusiker, Produzent, Biobauer und Erfinder des Inntöne-Festivals, als Posaunist fliegt er regelmäßig gen USA, um mit Musikern zu spielen. Philosophie des Festivals ist es, „Stars“ genauso familiär zu erleben, wie die noch weniger bekannten Insidertipps. Der Sauwald wurde nun an drei Tagen zu Pfingsten um eine gediegene Mischung aus europäischen und amerikanischen, erdigen und avantgardistischen Tönen bereichert.

Schon die Anreise stimmt bestens ein: Hinter einem mit „Jazz“ beschrifteten Orientierungs-Pfeiler luchst ein Fasan hinter einem Bienenstock hervor, puh, fast einen Marder mit dem Auto „gerissen“… In der Nachbarschaft ein hinreißendes, poetisches Schild, das „Eier, Schnaps & Likör“ anpreist, statt alles zusammen. Eh, Land, eben. Ringsherum, um Andorf, dröhnen in den Ortschaften die Pfingst-, Zelt-, Feuerwehrfeste, oder künden von Themen-Sommerparties, nach der Fasson der Zeit. Beim Inntöne gibt es – erst recht! – auch ein Zelt im Innenhof, das zum Mitfeiern der Nachbarschaft einlädt, wenn da nicht dieses Gejazze wäre, stört aber niemanden, am Biertisch kummandleitzsoam.

 

Saxofonist, Komponist, Produzent und Bandleader Kamasi Washington gibt dem viel geschmähten Genre Jazz kreatives Oberwasser und bläst ihn zurück in das öffentliche Bewusstsein. Jazz jenseits seiner konventionellen Grenzen. Indem Washington alle Ansichten überschreitet, was Jazz zu sein hat, ist er drauf und dran, ihn wieder zur Musik zur Zeit zu machen. Diese Hoffnung vermittelt er zumindest. Das gelingt ihm ähnlich, wie dies Kendrick Lamar für Hip-Hop praktiziert, auf dessen Geniestreich To Pimp A Butterfly er maßgeblich beteiligt war.

Musik, die wie eine Trotzreaktion auf den Zeitgeist wirkt, mit einer Klangsprache, die auch in Richtung Hip-Hop, Klassik, Soul, R&B oder Elektronik offen ist, und die schon jetzt als Meilenstein in der Musikgeschichte gefeiert wird. Metaphysischer, afrofuturistischer Cosmic Jazz. Seine 2015 erschienene Sound-Odyssee The Epic, eine dreistündige Demonstration in Sachen spirituellem Jazz, machte ihn zum Fackelträger seiner Generation für fortschrittliche und improvisierte Musik. Jüngeres Publikum begann sich wieder für modernen Jazz zu interessieren, ihn in Popmusik-Kreisen zu verbreiten. Der Hauch von Coltrane, Pharoah Sanders oder John Gilmore (Sun Ra) beseelt sein Saxspiel, unter anderem, oder auch Busta Rhymes, dessen Verse er wiederzugeben versucht (normalerweise versuchen Rapper Bläser nachzuahmen), aber er macht sein eigenes Ding, auf jeden Fall. „Ich identifiziere mich zuallererst als Musiker, es geht nicht darum, dass ich ein Jazz-Musiker bin. Ich bin ein Musiker, aber Jazz ist die Musik, die mich inspiriert hat, Musiker zu werden“, so Washington in einem Interview mit Wax Poetics.

 

Letztes Jahr schuf er mit Harmony of Difference eine Multimedia-Installation (und ein gleichnamiges Mini-Album) zur angesehenen Biennale im Whitney Museum of American Art in New York. Seine riesige Fangemeinde wächst kontinuierlich, stellvertretend dafür werden seine Shows bei weltweit bedeutenden Festivals mehr, wie Glastonbury, Primavera oder dem kalifornischen Pop-Festival Coachella, wo er vor kurzem mit erweiterter Streicher-Band vor Beyoncé auftrat. New York, Tokio, Diersbach.

 

Da fliegt mir doch das Scheunendach weg. Das Warten aufs Konzert, wegen Umbaus und Soundcheck, dauerte dann fast länger als der eigentliche Auftritt, was sich im Nachhinein als optimaler Spannungsbogen herausstellen sollte. Förmlich ausgehungert schlang das Publikum dann zu später Stunde den kollektiven Soundpudding in einem Stück runter. Faszinierend an dieser Band ist die kaum in Worte zu fassende Energie, die sie in den Raum stellte. Eine geballte Ladung, ihr Handwerk am Limit ausführende MusikerInnen: zwei super-tighte Schlagzeuger, spacy Keyboards, eine Prise P-Funk versprühend, zweiter Bläser, ein Kontrabassist, der sich mit Effekten in alles Mögliche morphen kann, eine Sängerin als harmonische Grazie oder Kontrapunkt, dazu Washingtons Vater, Rickey Washington, und, ach ja, fast vergessen … Kamasi. Jeder für sich, wenn er nur solo gespielt hätte, wäre schon unglaublich gewesen. MusikerInnen, die schon seit ihrer Kindheit zusammenspielen, das fühlt sich wie „Posses“ im Hip-Hop an. Die Hälfte in Shades, alt und jung, eine „höllisch“ eingespielte Truppe – alle waren sie schon auf oben beschriebenem, wegweisenden To Pimp A Butterfly-Album vertreten. Wie bei allen großartigen Bands ist der „Frontmann“ nicht der „Star“, das ist die Band – wie im Fußball, die Mannschaft entscheidet zusammen ein Spiel. Von sanften Passagen hin zu hartem und schnellem Fusion-Sound, Schlagzeug-Solos der anderen Art, Soul- oder Elektronik-Sprengsel eingeflochten, plötzlich afrikanische oder brasilianische Rhythmen, Groove Is In Da Hut. Der Sound ist niemals retro, ist total im Jetzt, weiß um Geschichte, Einflüsse, und präsentiert sich, so wie sich die Welt darstellt, in all ihrer Komplexität und Schönheit. „Die Schönheit der Gegensätze und das Geschenk der Vielfalt“, wie Washington während des Auftritts dazu anmerkte. „It’s not to tolerate, but to celebrate people.“ Einheit durch Vielfalt, der Geist von Sun Ra schwebt im Raum. Auch merkt er an, dass er schon an allen möglichen Plätzen war und gespielt hat, aber, sich umblickend: „Das ist wirklich eine sehr coole Scheune!“ In philosophischen Gefilden fischt der letzte Track der prachtvollen EP Harmony of Difference, der auch am Live-Menüplan steht, in dem sich Washington mit Variationen von Motiven spielt und sie alle in diesem Lied (Truth) vereint. Jeder spielt seine eigene Melodie, das ergibt ein überwältigendes (Hör)Bild. „I’m a heavy daydreamer – but yes, now, I’m here“, setzte er diesem epischen Song voran.

 

Ein weiteres Highlight ist der Jazz/Soul/Funk-Groover Abraham aus der Feder des Bassisten Miles Mosley – oder das wütende Fists of Fury vom neuen Album, das irgendwie, oder auch nicht, wie ein Rocksong anklingt, komplex zwar, aber eingängig funkey, wenn man sich darauf einlässt. Ein politisch aufgeladener Song der New Civil Rights Era, Soundtrack zur Unzeit. Schon bei Malcom’s Theme (von The Epic) griff er die Thematik auf, doch hier bekommt das eine fast aggressive Bedeutung. Der Text rückt von der (immer wiederkehrenden) Harmonie im Rest seines Sets ab, er versucht gar nicht, die Wut, die in den USA gerade vorherrscht, zu verbergen. Akzente überschlugen sich, Bläser ließen die Fäuste in die Höhe schnellen, dabei zum Mittanzen einladend, bis Sängerin Patrice Quinn sang, schlussendlich brüllte: „Unsere Zeit als Opfer ist vorbei. Wir werden nicht länger Gerechtigkeit verlangen. Wir werden Rache nehmen.“ Ein Hit des Jahres, zweifelsohne, perfekt gesetzt, als letzter Song eines Abends, der noch lange nachhallen wird: danach keine Zugabe, die Message soll bleiben. Tja, eigentlich war es nur der letzte Song für die, die gingen – weil die Band noch anschließend bis zum ersten Hahnenschrei in einem zweiten Raum des Bauernhofes eine Jam Session für die Verbleibenden abballerte.

 

Sein im Juni erscheinendes, zweites Album Heaven & Earth, wovon zwei Stücke live präsentiert wurden, und das Kamasi Washington knapp über einem See schwebend am Cover zeigt, gilt als eines der am sehnsüchtigst erwarteten von 2018, bereits vorab als Platte des Jahres gehandelt. Sein Twitter-Statement dazu: „Die ‚Earth‘-Seite repräsentiert die Welt, wie ich sie von außen sehe, die Welt, dessen Teil ich bin. Die ‚Heaven‘-Seite repräsentiert die Welt, wie ich sie nach innen sehe, die Welt, die Teil von mir ist.“ Gelebte Realität einerseits, seine eigene Realität schaffen anderseits. Da passt es auch perfekt, dass Heaven & Earth auf dem hippen Young Turks-Label erscheint, das sonst eher Poppiges/Gehyptes wie The Xxs, FKA Twigs rausbringt. Das zeigt auch, dass Jazz nicht mehr nur für deine Großeltern ist, sondern eben auch im Pop angekommen ist. Jazz anno 2018, keinen Trends nachhechelnd, aber sie setzend. Vielleicht eine der toughesten Livebands des Planeten, live noch um einen Tick mitreißender als auf den sowieso schon grandiosen Platten. Das Schönste zum Schluss – das alles ist wohl erst der Beginn.

 

www.inntoene.com
www.kamasiwashington.com

Abweichende Schreibweisen in diesem Text sind beabsichtigt.

3 Tage X

Das Klangfestival Gallneukirchen besticht seit zehn Jahren mit experimenteller Musik, mitreißender Verve und einladender Atmosphäre. Von 24. bis 26. August findet die Jubiläumsausgabe statt. Stephan Roiss sprach mit zwei der OrganisatorInnen, Tanja Fuchs und Thomas Auer, und gibt eine Vorschau auf die musikalische Programmierung von X.

Schöpfen musikalisch aus dem Horror: Okabre. Foto ARGEkultur/Walter Lienbacher

Schöpfen musikalisch aus dem Horror: Okabre. Foto ARGEkultur/Walter Lienbacher

„Wenn dir langweilig ist, wirst du kreativ“, sagt Thomas Auer, dem als 15jähriger in Gallneukirchen offenkundig langweilig war. Er und ein paar AltersgenossInnen beschlossen in ihrem beschaulichen Heimatstädtchen eine Location nach Vorbild der Linzer Kapu ins Leben zu rufen. Zwar scheiterte das Projekt kurz vor seiner Umsetzung an plötzlich einsetzendem Beamtenbammel. Doch die junge Gruppe hatte sich geformt, erste Erfahrungen gesammelt und Blut geleckt. Einige Jahre später reichte man bei der Stadtgemeinde das Konzept des Klangfestivals ein, erhielt finanzielle Unterstützung, gründete einen Verein und war nun nicht mehr aufzuhalten.
Das allererste Festival (2008) war als Open Air geplant, wurde aber vom Wetter zunächst verhindert. In der Folge wurde nicht nur der Termin verschoben, sondern auch gleich der Veranstaltungsort: weg von einem Parkplatz im Ortskern, hin zu einem Bauernhof in idyllischer Lage. Das Warschenhofer Gut blieb acht Jahre lang Schauplatz des Festivals und bot eine ebenso einzigartige wie charmant-skurrile Atmosphäre. Eine Scheune voller Lärm genießen, dann an Kunstinstallation und Traktor vorbei zum Zelt gehen, morgens verkatert Kühe schauen. Diese Symbiose von Landwirtschaft und zeitgenössischem Kunstschaffen endete 2015.

Bewegte Geschichte
Für 2016 hatte das Organisationsteam eigentlich eine Pause geplant. Doch ein leerstehendes Geschäftslokal im Ortszentrum (Alte Nähstube) lud förmlich zur Zwischennutzung ein. Man konnte dort einfach nicht nichts veranstalten. Der Verein benannte sich in „Klangfolger“ um und programmierte eine Veranstaltungsreihe mit demselben Titel, die sich über drei Monate erstreckte und dreizehn verschiedene Kulturereignisse umfasste: überwiegend Konzerte, aber auch Lesungen, eine Performance, sogar den Vortrag eines CERN-Wissenschaftlers. 2017 ging man es dann wirklich etwas ruhiger an und beschränkte sich auf ein einziges Klangfolger-Wochenende im Rahmen der Langen Nacht der Musik (u. a. mit dem fulminanten Lê Quan Ninh).

In den letzten beiden Jahren hat sich der Kulturverein noch besser im öffentlichen Leben Gallneukirchens verankert. Man ist nun sichtbar, arbeitet und veranstaltet im Ortskern. Durch die Auslagen der Alten Nähstube gewinnen die PassantInnen einen Einblick, die Hemmschwelle zur Kontaktaufnahme wird gesenkt, eventuelle Vorurteile leichter zerstreut. Ab und an platzt eine soziale Blase und unerwartete Begegnungen passieren. Obwohl die Alte Nähstube von bewohnten Gebäuden umgeben ist, gab es bis dato noch keine einzige Beschwerde (z. B. wegen der Lautstärke bei Konzerten).

Aktuell bilden elf Menschen das Kernteam. Etwa nochmal so viele sind Teil des erweiterten Kreises, diese bringen sich zwar auch inhaltlich ein, aber nicht kontinuierlich. Und schließlich gibt es zwanzig bis dreißig UnterstützerInnen, die an Veranstaltungstagen mithelfen. Dabei geschieht sämtliche Arbeit ehrenamtlich. Wie groß ist das eigene schlechte Gewissen angesichts der Selbstausbeutung? Die Antwort von Tanja Fuchs ist einfach und entwaffnend. „Es ist in Zeiten wie diesen extrem wichtig, dass solche Dinge passieren.“ Trotz allem. Punkt. Let’s go.

Triple X
2018 kehrt man zum Festivalformat zurück. Das diesjährige Festival wird als insgesamt zehntes präsentiert und steht unter dem Banner des Buchstabens X, der bekanntlich für die römische Ziffer 10 steht. „Es hat acht Klangfestivals gegeben und das ist jetzt das neunte. Aber das zehnte.“ Thomas Auer spricht’s und lacht. Man muss nicht alles verstehen. Der Buchstabe X steht nicht eben auch für das Variable und Unbekannte.
Zum ersten Mal wird das Festival dreitägig sein. Die bereits vielfach erprobte Alte Nähstube fungiert dabei als Zentrale. Die primäre Konzertlocation ist allerdings die „Halle X“, eine alte Feuerwehrhalle, die eigens für das Festival raumakustisch aufgewertet wurde. (Beide Gebäude sind Leerstände, Leerstellen, und da ist es schon wieder, das X.) Am Samstag wird zudem auch die wildromantische Ruine des Schlosses Riedegg bespielt: mit einer Performance von Magdalena Plöchl, die das Schöne und seine Machbarkeit, sowie die Rolle von Ikonen verhandelt.
Von Anfang an hat das Klangfestival andere Kunstformen miteinbezogen. Regelmäßig wurde das musikalische Programm von Installationen, Theaterstücken, Live-Art oder literarischen Auftritten flankiert und kommentiert. Dieses Jahr wird der zweite Stock der Festivalzentrale (Alte Nähstube) eine Ausstellung beherbergen. Für diesen Zweck hat das Klangfestival einen Open Call ausgeschrieben, der sich an alle Spielarten der Bildenden und Darstellenden Künste wandte. Zu Redaktionsschluss standen die ausgewählten Artists jedoch noch nicht fest. Auch das Booking war noch nicht zur Gänze abgeschlossen. Die bislang fixierten Acts versprechen jedenfalls bereits hohes Niveau und beste Unterhaltung. Proqueerfeministische Haltung gehört zum Selbstverständnis des Vereins. Auch ohne selbstauferlegten Frauen*quote beim Booking (die noch nicht eingeführt wurde, aber intern immer wieder diskutiert wird), erreicht man ein relativ ausgewogenes Geschlechterverhältnis.

Experimentell me more
Die progressiven Clubsounds der Wienerin „ƒauna“ sind subversiv und leidenschaftlich, sie scheuen weder Tod noch Lo-Fi und schon gar nicht die Zukunft. Kann also gut sein, dass sie sich mit „Wien Diesel“ gut versteht. Wobei dieses enthemmte Projekt von MC Rhine und Producerin Marie Vermont deutlich brachialdadaistischer um die Ecke kommt. Ingrid Schmoliner wiederum agiert mit gänzlich anderen Mitteln, mit Strategien der Neuen Musik. Sie arbeitet gerne mit wohl präpariertem Klavier, Stimme und klassischem Minimalismus. Ihr Zugang ist avantgardistisch, aber nicht verstockt elitär, sondern offen und stets am Unerhörten interessiert. Mit dem „Kollektiv Okabre“ wurde ein Projekt gebucht, beim dem das transdisziplinäre Arbeiten Teil der künstlerischen DNA ist. Das Linzer Sextett existiert seit vier Jahren, und hat sich rasch einen Namen erspielt. Unter anderem mit ebenso originellen wie stilsicheren Filmvertonungen. Am Klangfestival wird die Band aus dem Vollen schöpfen, um den Horrorklassiker „Night of the living dead“ (1968) live zu bereichern. „Gorilla Mask“ ist ein Projekt des kanadischen Altsaxofonisten Peter Van Huffel. Für dessen forcierte Free Jazz-Abfahrten legen Bassist Roland Filezius und Drummer Rudi Fischerlehner die harte Piste. Präzise, komplex, wuchtig, virtuos. Das Trio Jakob Gnigler / Susanna Gartmayer / Angelica Costello verspricht dem Papier nach ein Highlight zu werden. Costello muss aufpassen, dass sie von gewissen Szenen nicht bald heiliggesprochen wird, Gartmayer gehört seit Jahren mit zu den spannendsten InstrumentalistInnen hierzulande und Gnigler spielt sich auch gerade in die erste Liga.

Die Schwedin „Fågelle“ wiederum schichtet Rauschen und rhythmische Drones aufeinander, fragmentiert und entfremdet synthetische Sounds, setzt schlichtweg fulminante Gesangsmelodien auf das tonale Gewaber. Das ist Honig und Beton, das ist Popnoise vom Feinsten. „Diese Frau ist einfach eine Erscheinung“, bringt es Tanja Fuchs auf den Punk, „ein bisschen wie Björk, aber ohne den Kitsch.“
Entfernt artverwandt mit „Fågelle“ sind „Slow Slow Loris“, ein deutsch-amerikanisches Zweiergespann, das düstere elektronische Klänge, Breakcore-Elemente und zitternde Loops mit verfremdeten Vocals ins Gespräch bringt, bis alles zerbrechlich und tanzbar ist.
Ein anderes spannendes Duo sind „Ester Poly“ aus der Schweiz. Zwei Frauen aus zwei Generationen, zwei Stimmen, Bass und Schlagzeug. Treibend und druckvoll und melodisch, sehr cool und ein bisschen noiserockig, politisch und klug und multilingual. Straighter Edelpunk in Zeiten ohne Cholera, dafür mit ganz viele anderen Beschissenheiten.

Das Klangfestival denkt nicht in Genres, dennoch gibt es einen roten Faden bei der Programmierung: „Ob noisy, jazzig oder clubig, das Verbindende ist ein experimenteller Zugang“, meint Tanja Fuchs, die gemeinsam mit Magdalena Landl dieses Jahr hauptverantwortlich für das Booking ist.

Ende August – beim zehnten Klangfestival, das eigentlich das neunte ist – wird das Publikum erfahrungsgemäß zu großen Teilen aus der unmittelbaren Region kommen, aus Linz und Umgebung, aber auch aus ganz Österreich, und vereinzelt sogar aus Nachbarländern. Spread your X-Wings and fly. Nächtliche Heimfahrten kann man sich ersparen, da es in unmittelbarer Nähe des Geschehens Campingmöglichkeiten gibt. Langweilen sollte sich beim Festival wohl keine/r so schnell. Und falls doch, ist das nicht schlimm, weil es doch lediglich bedeutet, dass da jemand gerade kreativ wird.

 

Klangfestival Gallneukirchen
24.–26. 8. 2018
Infos: klangfestival.at
Tickets: klangfolger.kupfticket.at

Vad gör du?

Stadtwerkstatt-Nachtprogramm beim Stream-Festival: Klara Lewis lädt zu Experimenten ein, um einem größeren Publikum etwas vor Ohren zu setzen, das es sonst wohl so nicht hören würde. Christian Wellmann kompiliert einen assoziationsreichen Text zu Sound und Facts – und setzt der LeserInnenschaft zu Beginn ein paar von ihm in die Tastatur geklopfte Zeichen vor, um mit dem Titel gefragt ins Jetzt zu weisen: Was machst du?

Klara Lewis im Field. Foto Hampus Högberg

Klara Lewis im Field. Foto Hampus Högberg

Ja, was machst du? Jetzt? Du fixierst wohl gerade ==-== —> das hier. Ich, hier, lausche jetzt Vad gör du* von Klara Lewis. Funktioniert natürlich proper als Soundtrack zum Schreiben, sicher auch als Ausgangspunkt (Go-To-YouTube) zum weiteren Lesen der hier versammelten Wortanhäufung, als Sauce zu einem trockenen Gewirr an sub-objektiver Musikbeschreibung. Lewis bedient sich oft des Field Recordings, Grund genug, diesen Porträtversuch ebenso zu gestalten. Raus ins Feld. Getreidehalme zucken im Beat des Windes, ein riesiges, fließendes Gemälde entsteht, Bio-Visuals, das Meer des Binnenländers. Feldtext, aus gefundenem und erfundenem Feldgeschreibsel, im Ährenfeld zusammengestöpselt, schwer editiert und durch den Abc-Kompressor gejagt, unterteilt in sechs Titel:

1. Hard-Fakt-Abteilung**:
Die experimentelle elektronische Musikproduzentin und Videofilmerin Klara Lewis lebt in Schweden. Konzertiert seit 2014 rund um den Globus: Sonar, BBC-Live, Australien, Mexiko, Donaufestival, Berghain … Veröffentlichungen u. a. beim kultigen Wiener Label von Welt, Editions Mego (Ett, 2014. Too, 2016). Zusammenarbeit mit Simon Fisher Turner (Memo: Checkt seine Soundtracks! – The Epic of Everest!!). Videoprojektion zu ihren Liveacts. Tochter des Wire-Bassisten Graham Lewis, einer der wohl genialsten Punkbands überhaupt, weil gegen den Strich, zeitlos.

2. Sound-Tags – S#s:
Noise. Ambient. Diskrete Musik (stets mit einer Patina Dreck gezuckert). Field Recordings. Audio Visuell. Schicht über Schicht. Sound-Collagen (oder -Skulpturen). Kontrolliertes Improvisieren. Zeitgenössische elektronische Musik. Filmische Landschaften. Spärlich funkelnd. Persönlich. Reich texturiert. Fragile Instabilität. Gewohntes Irreales. Oder an Kategorisierungen abprallende Musik.

3. Was sind „Field Recordings“?
Analogie zu Feldstudien. Field Recordings werden Aufnahmen genannt, die außerhalb des Studios angefertigt werden, entweder in Kompositionen eingearbeitet oder für sich stehen. Alltagsgeräusche oder neue Gefilde. Durch leistbare digitale Recorder äußerst populär geworden, lassen sie sich nicht nur in experimentellen Genres finden. Auch ein Brian Wilson hielt bereits das Mikro in die Natur, auch als Mittel, Kindheit und Erinnerungen einzufangen. Stadt, Land, egal, alles geht. Nach dem Sound suchen, den man im Kopf/vor Augen hat. Zufälle zulassen. Weg vom Laptop, gut auch mal an die frische Luft zu kommen … Versteckte Schätze finden, daraus Rhythmen und Melodien machen, Tracks danach aufbauen. Mit einem Strauß voll Sounds nach Hause kommen (natürlich dürfen auch Kräuter, Pilze o. ä. dabei sein). Fund-Sounds mit individuellem Fingerabdruck.

4. Interview-Fragmente, digitale Field Recs:
„Ich verhalte mich Sounds wie Visuals in gleicher Weise gegenüber, und versuche immer meine Augen und Ohren offen zu halten.“
„Ich sammle Tonnen an Material und wenn ich an einem Track arbeite, gehe ich durch meine Bibliothek und zerschnipsle und manipuliere die Aufnahmen. Ich plane nie, welche Art von Track ich mache, es geht mir vorrangig darum, Sounds zu folgen, wohin sie mich führen, und um all diese kleinen Stücke baue ich eine Welt. Ich höre etwas in einem Sound, der mich etwas fühlen lässt, diese Emotion versuche ich zu erfassen. Mein Ziel ist es, etwas zu erschaffen, das sich eindringlich anfühlt oder wie in einem anderen Zustand oder Ort.“
„Aus einer sehr kreativen Familie zu kommen, hat mich sehr offen für diese Art von Musik werden lassen. Ich bin mit der Sichtweise aufgewachsen, dass das etwas Natürliches ist, wo ich also daran teilnehmen kann. Von früh an lernte ich, wie ich über Musik kommuniziere und meinem eigenen Urteilsvermögen vertraue.“

5. Sub-Objektive Musikwahrnehmungen:
Organische Sound-Wolken. Sandstürme aus den Wüsten des Orients. Neo-Klassischer Ambient in unerwarteten Pfaden. Rückwärts laufende Loops wehen mit nebulösen Hallfahnen durch futuristische Welten (die auch hier, wie in aller „ernsthaften“ Musik, „eigene Welten“ sind, das „Innere“ meinen und wohl „futuristisch“ für die meisten klingen). Vogelgezwitscher und aufheulende Amps. Flüssig anmutende, traumähnliche Sounds, als dumpfe Drones nahe dem Boden in der Dunkelheit herumschwirrend. Knotenpunkte für Stimmungen, Atmosphären und Räume. Ein organisches Ding, das aus sich selbst wächst, mit einer Menge verschiedener Schichten. Musik für Leute, die sich selber als „Sternenglotzer“ bezeichnen. Ästhetik im Gewöhnlichen finden, wie dem Summen eines Kühlschranks, einem kaum wahrnehmbaren Lachen. Die emotional unter Hochspannung stehenden Stücke offenbaren die Dualität ihres Ausdrucks, man fühlt Anspannung, Angst, Spaß, Melancholie, Zorn. Vollends gefordert, setzt gleichzeitig eine entspannende Wirkung ein. Doch Obacht, zu gemütlich sollte es man sich dann auch wieder nicht machen, man stellt sich ja auch nicht bei Blitzen unter Eichen … In Summe ergibt das Mehrdeutigkeit, wir reagieren und fühlen unterschiedlich. Das alles erfindet das Rad (elektronische Musik) sicher nicht neu, schmuggelt aber Frischblutkonserven in die Trinkflaschenbefestigung.

6. Postmodernes Samplegeschreibsel, anspielungsreich:
Auch mal wie My Bloody Valentine klingend, durch Effekt-Schleifen bis zum gefrorenem Feedback erstarrend. Boards of Canadas wehmütige „Erinnerungen als Sound“, verblasende (Musik-)Polaroids, zu lange an der Sonne liegen gelassen. Aber auch David-Lynch-Filme, wenn der Meister selber das Sounddesign übernimmt – insbesondere die neueste Twin Peaks-Staffel (2017), dem Epizentrum aller Serien. Die dunkle Energie vom schwarzen Monolithen aus „2001“ als Hal(l)-Soundbrocken, dessen Maß sich auszudehnen scheint, bis ihn ein gefallener Engelchor zerbirst. Eine süße Rache-Melodie, die der Graf von Monte Christo vor sich hin pfeifen würde …

Gegen den Strom – und das ist gut so.

 

* Was machst du? (Schwedisch) – Titel von Lewis’ Highschool-Abschlussarbeit (Soundtrack + Film)

** Interaktive Anspiel-Tipps zu jedem „Track“ (am besten auf YouTube: „Klara Lewis + …“): 1: Try / 2: Seascape / 3: Beaming / 4: Clearing / 5: Msuic 4 / 6: Us

Stream Festival
31. Mai – 2. Juni
www.stream-festival.at