Aufgewackt, hergelockt und abgepoppt

Ein zeitgenössisches Frühlings-Tanz-Fest zwischen Südasien und Europa. Gerlinde Roidinger schreibt über vielfarbige Städte, bunte Kulturen und eine Menschenwelt: Inter-Dance-Project Linz Kalkutta#2, Teil II eines interkontinentalen Tanzprojekts von Elias Choi-Buttinger in Linz, ein verbindendes Städtchen an der türkis-blauen Donau.

Foto Pepe Zalba

Foto Pepe Zalba

Ich bin zu früh, stelle zuerst den Motor und dann das Licht ab, und warte. Es scheint irgendwie mehr los zu sein als letztes Mal, vielleicht weil Freitag ist, kurz nach Mittag. Ein Anruf, keiner hebt ab. Ich beginne ihn zu beobachten, diesen dunkelhäutigen Mann mit Zigarette, oder ist’s eine, wie heißt das noch mal, Tüte? Dann eine Frau mit Turban, weniger ein Kopftuch. Linz, Kalkutta. Ich sollte wahrscheinlich wissen, wie das zu unterscheiden wäre. Egal. Ein junger Mann, vielleicht ein Student, kommt mir entgegen, er hat helle Haare, blond, eigentlich mehr rötlich. Ich schaue auf die Uhr, löse den Gurt, bleibe sitzen. Eine ältere Dame, stark geschminkt, quert die Straße, mit vollen Einkaufstaschen. Von der anderen Seite quert jetzt ein älterer Mann die Straße, er hat ergrautes, leicht schütteres Haar, schaut irgendwie freundlich aus, trägt ein so genanntes Sackerl. Zu Deutsch Tüte. Es ist nicht viel drin, vielleicht ein kleines Geldbörserl. Kalkutta, Linz. Ich immer noch im Auto. Das Gesicht im Rückspiegel kann ich nicht erkennen, vielleicht ein Mann, eine Frau, … Ich kann’s nicht sagen. Beim Dunkelhäutigen weiß ich’s genau, er trägt eine dunkelblaue Haube und eine khakifarbene Jacke, steht noch immer an der Kreuzung. Wider Erwarten bleibt er an der Ecke, quert nicht die Straße, wartet, raucht. Der Rothaar-Student geht jetzt wieder retour, ich schätze ihn 28, vielleicht jünger. Eins nach. Ich öffne die Fahrertür, betrete den sauberen Gehsteig: Linz, Ghegastraße.

In der Wohnung angekommen, erzählt mir Elias von seiner Reise nach Indien, von einer befremdlichen Ankunft am Flughafen, der nicht endend wollenden Taxifahrt quer durch Kalkutta und einer von Angst erfüllten, schlaflosen Nacht: Zu viele Eindrücke, zu viel Neues. Und von einem Tanzstück namens Inter-Dance-Project, das er nach einer mehrtägigen Eingewöhnungsphase im geruchsintensiven Kalkutta mit lokalen Künstler*innen initiiert und zur Aufführung brachte. Es handelt sich um ein Tanzstück, das er 2 Jahre später nach Linz transferiert. Linz? Eine Stadt, in der sich knapp 194 Tsd. Menschen begegnen und aus dem Weg gehen, aus Europa oder Asien, aus aller Herren-, Frauen- und Genderländer. Ebenso wie in Kolkata, Calcutta oder Kalkutta, auch „Stadt der Freunde“ genannt, in der rund 30 Mio. Menschen leben, vorwiegend auf der Straße und in Armut. Elias lernt manche davon kennen und trifft sich regelmäßig mit ihnen. Mehrere Wochen leben und trainieren sie gemeinsam. Während sie probieren und experimentieren erarbeiten sie schließlich ein umfassendes Projekt, das Inter-Dance-Project, in dem sie zwei scheinbar völlig gegensätzliche Tanzstile gegenüberstellen, reflektieren und verbinden: Breakdance und klassischen indischen Tanz. Elias und seine indischen Kolleg*innen sind fasziniert von der Vielfalt der Tanzstile und deren Gemeinsamkeiten. Das Ergebnis dieser intensiven Auseinandersetzung wird später in Ahindra Manch, einer der größten Bühnen Kalkuttas, präsentiert, und Szenen daraus auch im öffentlichen Raum, etwa in U-Bahnen und auf Brücken, öffentlichen Marktplätzen und auf dem Uni-Campus. Elias will auf diese Weise den zeitgenössischen Tanz voranbringen und so einen Austausch für professionelle Tänzer*innen ermöglichen, um die Szene zu bereichern und Menschen aus verschiedenen Kulturen zu verbinden.

Kultur(en)! Oje, schon wieder dieses inflationäre Wort! Sorry, aber ich kann es schlichtweg nicht mehr hören. Ein kleiner gedanklicher Abstecher ins World Wide Web sei mir hier deshalb hoffentlich verziehen: Als erstes Suchergebnis finde ich (welch Überraschung!) einen Wikipedia-Eintrag mit der wörtlichen Bedeutung aus dem Lateinischen „cultura“ (= Bearbeitung, Pflege, Ackerbau), wobei Kultur im weitesten Sinne „alles, was der Mensch selbst gestaltend hervorbringt“ beschreibt und im engeren Sinne „ein System von Regeln und Gewohnheiten, die das Zusammenleben und Verhalten der Menschen leiten“.

Aber zurück zum Tanzstück: Es gehe um Integration, höre ich Elias später sagen. Shit, denke ich: Wort Nummer 2, das bei mir rein ins Ohr und direkt gegenüber gleich wieder rausfliegt, einfach weil es mein Gehirn wegen Übersättigung nicht mehr aufnehmen kann. Keine Sorge, dieses Mal wird es kein Exkurs, nur so viel: „Integrare“, ebenfalls lateinisch: erneuern, ergänzen und geistig auffrischen.

Die Idee für das integrativ-interkontinentale Tanzprojekt sei also in Kalkutta entstanden, erklärt Elias weiter. Er, selbst zeitgenössischer Tänzer und professioneller BBoy sowie Breakdance-Lehrer, trifft dort auf Darshana Borkotoky, eine der besten Tänzer*innen des klassischen indischen Tanzes und Gewinnerin von zahlreichen Preisen indischer Tanzwettbewerbe, mit einem Masterstudium in Bharatnatyam, der wohl berühmteste der indischen Tänze. Die beiden verstehen sich auf Anhieb, unterrichten sich gegenseitig, lernen voneinander, erforschen ihre Art zu tanzen und versuchen im Austausch Neues entstehen zu lassen. Gemeinsam mit den anderen Tänzer*innen aus der Breakdance- und klassischen Szene experimentieren sie mit den unterschiedlichen Tanzstilen, vermengen Breakdance-Moves mit indischer Hochkultur und tanzen für Kali, die indische Göttin der Erneuerung. Bald haben sie ein Stück entwickelt, mit dem sie dank LinzEXPORT 2016 durch ganz Kalkutta touren und welches nun durch Elias’ unermüdliches Bemühen um Förderungen und die Unterstützung des österreichischen Bundeskanzleramtes als Inter-Dance-Project#2 im Frühling 2018 in Linz fortgeführt wird.

Zusammen:wachsen lautet der Name der Förderung des bka, und so auch das Ziel von Elias, der überzeugt ist, dass „sich bewegen“ wohl der einzige Weg für die Menschen ist, wenn sie auf diesem Planeten überleben wollen: Wer in Zeiten von Erderwärmung und Klimakatastrophen in den Fluten der immer knapper werdenden Wasserressourcen nicht untergehen will, tut gut daran, neue Plätze kennenzulernen und sich aktiv daran zu beteiligen, miteinander auszukommen, um vorwärts zu kommen, ist der junge Choreograf sicher. Neue Kulturen kennenzulernen heißt für Elias, sich und sein Leben zu erfrischen: „Wir sind JETZT da, und wir leben im Moment. Auch wenn es manche nicht mitbekommen.“ Diese lebendige Haltung will er auch für Linz spürbar machen.

Aus Indien werden dafür 5 ausgezeichnete Tänzer*innen eingeflogen, um in einem 6-wöchigen Research-Projekt mit weiteren 4 lokalen Künstler*innen aus Tanz und Musik zusammenzuarbeiten. Insgesamt 9 Tanzstile hält dieses Multi-Kulti-Tanzprojekt bereit: Die klassischen indischen Tänze Bharatanatyam und Odissi, drei Stilrichtungen des urbanen Tanzes -Popping, Wacking und Breaking-, sowie auch syrischen und chinesischen Volkstanz und Einflüsse des zeitgenössischen Tanzes und des klassischen Balletts. Bharatanatyam, ein Tanz mit sehr vielen kleinen Bewegungen und Handgesten, vermittelt beispielsweise im Gegensatz zum klassischen Ballett der europäischen Hochkultur keinesfalls ein luftiges Körperkonzept und strebt demnach auch nicht nach Leichtigkeit. Vielmehr ist er erdig, manchmal auch schnell und dynamisch, und erfordert ebenso jahrelanges Training sowie eine enorme Körperbeherrschung. Nahezu jede Muskelbewegung hat eine Bedeutung, etwa auch ganz kleine Bewegungen der Augen und Augenbrauen. Elias, in der europäischen Hip­Hop- und Breakdance-Szene sozialisiert, verbindet in diesem Inter-Dance-Project jedoch nicht nur europäische und indische Kultur, sondern vor allem auch indische Hochkultur mit der Welt des Urban Dance indischer Ghettos. Extreme, die sich zwischen den emporragenden Himalaya-Gebirgsketten und den Straßen der staubigen Slums Indiens abzeichnen, und sich in den Tälern zwischen Arm und Reich sowie auch im Tanz widerspiegeln.

Um diesen Kultursprung mit all seinen Breaking Moves und tänzerischen Highlights möglichst vielen, vor allem auch jungen Menschen in Linz erfahrbar zu machen, wird neben der Anton Bruckner Privatuniversität und der Redsapata Tanzfabrik auch das Jugendzentrum Ann & Pat Schau- und Aktionsplatz von Unterrichtspraxis und offenen Gesprächen sein. Die kontroversen Tanzstile können im Workshop-Format kennengelernt und diskutiert werden, Einblicke in die künstlerische Arbeit der Tänzer*innen und die Möglichkeit zum persönlichen Austausch gibt es immer wieder auch tagsüber. Als sichtbares „Resultat“ dieses Inter-Dance-Project#2 wird das neunköpfige Ensemble Ende April in Wien (27. 4. Weltmuseum Wien, 28. 4. Volkskundemuseum Wien) und Anfang Mai in Linz (3. 5. Lentos Kunstmuseum) schließlich ein Tanzstück präsentieren, das die zeitgenössische Tanzszene bereichern sowie die Menschen vor Ort und darüber hinaus zum kulturellen Diskurs einladen soll …

Elias muss gleich zum Training, ich verabschiede mich. Auch bei Aruna, sie strampelt gerade ihre nackigen Füßchen in die Luft. Aufgeweckt lächelt sie jetzt ihren Papa an, während ich in ihren Augen die Ähnlichkeit mit ihrer Mama Wendy aus Macau, ebenfalls Tänzerin des Inter-Dance-Project#2, erkennen kann. Die Kleine ist erst ein paar Wochen frisch und hat gerade fleißig in die Windel gepfeffert. Scharfsinnig hält sie still und reagiert auf meine Stimme: So ein schönes Mädchen! Beautiful!

 

Inter-Dance-Project#2
26. März – 6. Mai 2018 in Linz
danceidp.com

Fr 27. 04. im Weltmuseum Wien

Sa 28. 04. im Volkskundemuseum Wien

Do 03. 05. im Lentos Kunstmuseum Linz

NEXTCOMIC Festival

 

Nadine Redlich lebt und arbeitet als Cartoonistin in Düsseldorf, ist Next-Comic-Artist und Artist in Residence im Salzamt. Laut Rotopol, dem Verlag für grafisches Erzählen, erscheint „nach ihren spannungslösenden Büchern ‚Ambient Comics‘ und ‚Ambient Comics II‘ dieses Jahr ihr Stresswerk ‚Paniktotem‘“.
Mehr unter www.nadineredlich.de

NEXTCOMIC Festival: 16. bis 24. März 2018, www.nextcomic.org

Dimensionen der Paranoia und der Kartografie

Zurück von der Transmediale und jetzt mit dem Streamingprojekt in Kooperation mit Museion Bozen beschäftigt, traf Pamela Neuwirth den Medienkünstler und Kurator Davide Bevilacqua zum Interview über das AMRO Festival in Linz, welches er 2018 organisiert. Sie sprach mit ihm auch über die Grauzone zwischen Kunst und Kuratierung.

Wanderer above the sea of Data von Davide Bevilacqua

Wanderer above the sea of Data von Davide Bevilacqua

Davide, du kommst eben von der Transmediale in Berlin zurück. Wie wars?

Intensiv. Festivalthema war Face Value. In unterschiedlichen Formen und Formaten auseinandergesetzt, dehnte sich das Thema inhaltlich in ein breites Spektrum aus, das von Bitcoin bis hin zu Fragen digitaler Kartografie reichte, es waren auch ganz schön paranoide Szenarien dabei.

Kartografie wäre ein Stichwort, servus.at hat sich letztes Jahr in einem Projekt damit befasst und ihr habt die Resultate im Kunstraum Goethestrasse präsentiert. Bevor wir davon sprechen, lass uns doch über deine letzte Vergangenheit hier in der Stadt reden, wo du nach deinem Studium in Venedig Interface Cultures studiert hast. Daneben die Zusammenarbeit mit quitch oder deine kuratorischen Aktivitäten. Was hat dich am Studienfach interessiert und wohin hat sich dein Forschungsinteresse und die Kunst bis heute entwickelt?

Ich komme eigentlich aus der bildenden Kunst, vom Theater und der Performance. In Venedig habe ich vom Studienfach Interface Cultures an der Kunstuniversität erfahren und von Linz im Allgemeinen durch die Ars Electronica. Jedenfalls kam es so, dass ich einen mehrmonatigen Crashkurs in Programmierung absolviert habe, bevor es hier losgegangen ist. Das Studium ist vielfältig, das geht von Tiefenprogrammierung bis hin zu klassischen bildschirmbasierten Interfaces oder sehr haptischen Umsetzungen. Es gibt große Diskussionen, wie man Informationen nicht nur visuell, sondern durch Motoren oder Sound vermittelt; dieses physische Feedback hat mich immer interessiert, weg von diesen Tendenzen „Alles schön und oberflächlich“, was gerade in den Interfaces passiert. Eine kleine Nebensache: Ich habe immer gerne Sachen organisiert. Während des Studiums habe ich 2015 die Ausstellung Unmade Displays an der Universität Udine mit Vincenzo Estremo organisiert. Seitdem habe ich das Kuratieren weiterverfolgt und daneben meine eigenen Projekte realisiert. Beim Palinsesti Festival bin ich seit drei Jahren als Kurator engagiert, dort hat es sich ergeben, mit Michele Spanghero, der mit Ad lib. (2017) bei der Ars vertreten war, in interessanter Konstellation zu arbeiten. Das Kuratorische war Nebenschauplatz, wir haben als Künstler miteinander funktioniert. Ich habe damals die Ursuppe entwickelt gehabt, eine Soundperformance mit Obst und Elektronik, wo es starke Parallelen zu Micheles Arbeit gab. Ursuppe war als eine Echtzeit-Umsetzung konzipiert; diese Form haben wir in seine – davor statische – Arbeit übertragen, wo eine fertige Komposition abgespielt worden wäre und sie in eine große Live-Performance transformiert. Es war bei der Masterarbeit klar, diese beiden Ebenen zu verbinden mit dem Ziel, die Grenze zwischen Kunstwerk und Ausstellung zu verwischen oder aufzuheben. In dieser feinen Grauzone, künstlerisch wie kuratorisch, neue Ansätze zu finden, einen echten Perspektivenwechsel. Linz ist dafür eine super Stadt. Ich bin im Künstlerkollektiv quitch aktiv. 2017 haben Ushi Reiter, System Jaquelinde, Veronika Krenn und ich das Kartografieprojekt HIC SVNT DRACONES umgesetzt; es war aufregend, die unterschiedlichen Denkweisen und Ideen miteinander zu erarbeiten.

Mit Veronika Krenn arbeitest du regelmäßig. In Summernights I Looked For Insects habt ihr erst letztes Jahr und zwar in London bei „Emotion + the Tech(no)body“ gezeigt. Wie funktioniert eure Arbeitsweise?

Uns interessieren momentan selbstentwickelnde Prozesse, die wachsen oder reagieren. Evolving Calculators ist ein Beispiel. Wir haben verschiedene Wirtschaftstheorien und ökonomische Konzepte miteinander abgeglichen. In den Konzepten spielen mittlerweile Maschinen eine Rolle. Unsere Idee war eine Maschine, die nicht Ökonomie erzeugt, sondern Theorien. Für das Unterfangen mussten viele Theorieblöcke gebaut werden, damit das eine Maschine lernen kann. Wir haben neben den Theorien Metaphern und Bilder generiert, um den Bruch zwischen Marxismus und Kapitalismus darzustellen. So generell, was das Arbeiten als Duo betrifft: Wir haben keinen Namen, aber einen dichten Austausch an Ideen. Bei den Insekten (Anm.: In Summernights I Looked for Insects) war es so, dass ich zu einer Ausstellung in Italien eingeladen war und es gab da diese Idee. Ich entwickelte Sounds und Stromkreise, Veronika die Realisierung der Objekte, visuelle Repräsentation liegt ihr sehr, sie ist auch eine ausgezeichnete Grafikerin.

Auf deiner Homepage war zu lesen, du beschäftigst dich vor dem Hintergrund der KI und Robotik mit Fragen des „technologischen Positivismus“ und der „Rhetorik der Kybernetik“. Das nimmt beinahe meine Frage vorweg, was die Diskurse sind, an denen du dich orientierst oder die du kritisierst?

Positivismus und Rhetorik der Technologiewelt sind für mich Probleme, um die man nicht herumkommt und ein Grund, warum ich gerne bei servus.at arbeite. Was Technodiskurse betrifft, interessieren mich Zusammenhänge zwischen monopolistischen Strukturen durch Konzerne, open source-Philosophie und ethische Fragen. Hinsichtlich der Verbindung von kapitalistischer Entwicklung und Technologie stören mich manipulative Versprechungen. Die trügerische Darstellung eines Produktes, einer Entwicklung. Die „neuen Ideen“ wurden ebenso von Open-Source-Communities hervorgebracht, wie das auch in der Medienkunst oder durch die Medienkunst vor zwanzig oder dreißig Jahren passiert ist. Die Ars Electronica hat die Themen KI und Machine Learning aufgenommen, weil es in ist. Bitcoin und Blockchain sowie Desinformation im Kontext von Social Media sind weitere Komplexe, um die man sich kümmern muss. Ich habe bei all dem aber das Gefühl, die Rhetorik ist oft fehlgeleitet. Weiß man ungefähr, wie eine KI funktioniert, bleibt man gegenüber Präsentationen, die eine künstliche Intelligenz suggerieren, skeptisch. Der Begriff ist zu großzügig, die Ingenieure meinen meistens etwas anderes. Der Sensor misst, die Maschine schaltet sich ein oder aus. Das ist nicht besonders smart, aber wir nennen es so. Vielleicht, weil es cool klingt, wie auch die Geschichten von Maschinenintelligenz. Intelligenz ist eine Frage des Begriffs. Im aktuellen Trend ist dafür zumindest viel Platz für Interpretationen.

Du hast eingangs die Paranoia erwähnt. Wie sieht deine aktuelle Situationsanalyse in Sachen Internet aus? Ich meine, nachdem die Weltöffentlichkeit von Snowden erfahren hat und während die Netzneutralität von staatlichen und wirtschaftlichen Interessen zerrieben wird, wie lassen sich aus deiner Sicht etwa Überwachungsszenarien im Internet beschreiben?

Das ist sehr schwierig. Überwachung, Datenschutz und Privacy … ich glaube, das Thema hat an Kraft verloren. Vor ein paar Jahren war es virulent, Wikileaks hat gezeigt, was nicht funktioniert, die Überwachung der NSA usw. Der Öffentlichkeit wurde das schon bewusst, aber es gibt mittlerweile andere Themen, die Raum brauchen, wie Extremismus im Netz. Es scheint, als ob sich die Menschen daran gewöhnt hätten, überwacht zu werden; es ist wie eine Post-Konditionierung. Daneben kümmert man sich um die Netzneutralität und geht gegen rassistische Inhalte in Filterbubbles vor; letzteres scheint momentan der stärkere Trend zu sein. Man ist mit einer Rhetorik konfrontiert, die sagt, man braucht Facebook, damit man nicht in Isolation gerät. Also die Konsequenzen tragen: Ich weiß, meine Daten werden gefressen, mache aber trotzdem mit. Kommunikation wäre ein Weg, Probleme nicht nur in kleinen, kritischen Gruppen, sondern in einer breiteren Öffentlichkeit zu lancieren. Um das zu erreichen, muss man die Kanäle dieser Öffentlichkeiten nutzen. Es geht um eine Balance zwischen kritischen Zugängen, wie AMRO oder Transmediale und daneben um populärere Zugänge. Auf der Transmediale sind die Themen leicht zu diskutieren, aber wenn wir uns bemühen, die Welt besser zu machen, dann sollten wir uns bemühen, die Diskussion breiter anzulegen. Es ist problematisch, dass manche der Überwachung durch CCTV-Kameras positiv eingestellt sind. Der tagespolitische Diskurs rund um Terroristen, Kriminalität und Migration hat die Gesellschaften nach rechts gerückt. Sicherheit ist nur ein Schlagwort. Wir wissen von den Problemen, Migration mit Gefahr gleichzusetzen. Solche radikalen Rhetoriken haben mitgeholfen, dass Überwachung heute von einer Mehrheit toleriert wird.

AMRO wird heuer von dir kuratiert. In welche Richtung geht das Festival bzw. gibt es Inhalte, wo du schon sagen kannst, dass diese in Lectures oder Performances umgesetzt werden?

Aus den Linux-Wochen Linz hat sich AMRO in den letzten Jahren biennal konzipiert, d. h. ein Jahr Research Lab, im nächsten werden die Resulate des Labs für das Festival aufbereitet. Für das Festival gibt es ein Kernthema, dem immer noch andere damit zusammenhängende Themen angeschlossen werden, die einen Open Source aufzeigen. Im Research Lab 2017 zu Kartografie oder Digital Mapping haben wir technische oder ästhetische Fehler in Kartografien untersucht und angewandt. Das Thema bei AMRO wird also Kartografie sein, vielleicht als Grundlage noch einmal abstrakter angelegt. Es geht nicht nur darum Karten zu zeichnen. Das Konzept der Critical Cartography finde ich, neben technischen oder ästhetischen Fragen, spannend. Critical Cartography bedeutet, BürgerInnen wenden die Kartografie selbst an. Karten haben mit Macht zu tun. Selbstermächtigung ist eine Taktik, einem Machtverhältnis etwas zu entgegnen. Das ist ein sehr schönes Bild: Zuerst musst du die Situation verstehen, das Netz, die Kommunikation, das Mapping aufbauen, und dann erschließt sich, was Kartografien fehlt, welche Schlüsse noch nicht gezogen wurden. AMRO funktioniert nicht top down, alle Beteiligten diskutieren auf einer Ebene unterschiedliche Perspektiven. Wie können post-demokratische Diskurse umgangen werden? Wie können wir uns in politische Verhältnisse einmischen? Beim Steirischen Herbst ist mir eine Gruppe aufgefallen, die für ihre Arbeit, The Left-to-Die Boat, die Meeresroute eines libyschen Schiffs auf dem Weg nach Italien untersuchte. Das Schiff havarierte, die Menschen, es waren Flüchtlinge, wurden auf dem offenen Meer zurückgelassen. Forensic Architecture sind ein Konglomerat von Leuten unterschiedlicher Sparten, wie Statistik, Informatik, Soziologie, Architektur. Für The Left-to-Die Boat wurden neben Weg-Zeit-Diagrammen, Daten mit ganz anderen räumlichen Informationen verschränkt. Die Adria ist ein hochüberwachtes Gebiet. Durch die unkonventionelle Verschränkung der ohnehin vorhandenen Informationen, haben Forensic Architecture gezeigt, dass nicht hätte passieren müssen, was passiert ist. Das Unglück wurde zugelassen. Forensic Architecture wären interessante Gäste für AMRO.

 

2018 – Art Meets Radical Openness (#AMRO18)

16.–19. Mai 2018

Unmapping infrastructures

AMRO – Art Meets Radical Openness, das Festival für Kunst, Hacktivismus und Open Cultures seit 2008 von servus.at in Kooperation mit der Kunstuniversität Linz organisiert, wird dieses Jahr von 16. bis 19. Mai im afo – architekturforum Oberösterreich, der Kunstuniversität Linz und der Stadtwerkstatt stattfinden.

www.radical-openness.org

Walter Pilar: Shortcuts

Am Neujahrstag 2018 verunglückte der Schriftsteller, Zeichner, KunstWandWerker & Rauminstallatör Walter Pilar. Robert Stähr mit einem kursorischen Beitrag.

Ein Bild aus Wandelaltar. Foto Franz Wolfsgruber

Ein Bild aus Wandelaltar. Foto Franz Wolfsgruber

Linz-Urfahr, Ecke Kaarstraße/Landgutstraße. Hinter mir auf der Straße höre ich ein Moped „tuckern“. Der Fahrer, ein bärtiger Mann von – wie ich meine – Ende vierzig, überholt und stellt sich mir auf dem Gehsteig in den Weg. Es ist der Schriftsteller Walter Pilar; wir kennen uns bis jetzt nur vom Sehen auf einschlägigen Veranstaltungen. Du bist der Stähr fragt er im Tonfall zwischen Behauptung und … Vorwurf. Ich bejahe, unsicher, aber doch erfreut über die Frage des Kollegen. Obwohl Walter anschließend mehrmals betont, es eilig zu haben, gleich nach Hause zu müssen, entwickelt sich ein erstes längeres Gespräch zwischen uns beiden, auf dem Gehsteig Ecke Kaar und Landgut.

Walter feiert den 50. Geburtstag in Ebensee, seinem … Heimatort, der Industriegemeinde am Südende des Traunsees, die ihm mitsamt der Umgebung und dem Salzkammergut nicht nur als biographischer Reibebaum, an denen er seine „Funken“ entzünden konnte, diente; als „Traunseher“ (so der Name einer von WP in den siebziger Jahren mitbegründeten Künstlergruppe) fand er in seiner engeren Heimat so etwas wie den Minimundus der „großen“ Welt und ihrer Verwerfungen. Am Morgen nach dem Fest in einem Gasthaus im Ort findet die Annahme der Geschenke im Hof hinter dem alten Bauernhaus in der Langwies, dem von den Eltern geerbten Zweitwohnsitz der Familie Pilar, statt. Die Inszenierung sieht vor, dass Walter, verkatert, nach durchzechter Nacht den Hof betritt und die in dessen Mitte aufgehäuften „Präsente“ begutachtet. Sein Verhalten ist eine Mischung aus Dank, Brüskierung und Provokation der Anwesenden. Ein Disput dreht sich um Qualität und Status des Verlags eines der Buchgeschenke; der „Schenker“ verteidigt den Verlag als renommiert, Walter zieht das in Zweifel. Das im Halbkreis um den Jubilar stehende und sitzende Publikum reagiert mit einer Mischung aus Lachen und Kopfschütteln.

Während des Lesens läuft Walter zur Hochform auf. Er liest zwanzig Minuten lang. Ich komme in den Genuss einer privaten Vorab-Lesung aus den Geraden Regenbögen, nach der Skurrealen Entwicklungsromanesque (1996) – einem „autoautopsischem Biografföweak“ (WP) – die zweite Welle von Lebenssee, dem (hätte er dieses Wort gehasst?) Opus Magnum von Walter Pilar. Die Regenbögen sind 2002 erschienen, es muss in diesem Jahr gewesen sein, als wir in seinem Gartenatelier zusammensitzen; die Frühlingssonne scheint durch die großen Glasfenster, es ist sehr warm. Ich erinnere mich an die Atmosphäre, die Intensität von Walters Vortrag, bruchstückhaft an die gelesenen Passagen, in denen es um eine „Dichterlesung“ seines Freundes Erich Wolfgang Skwara an der Linzer Kepler-Uni und um einen Besuch bei Thomas Bernhard auf seinem Bauernhof in Ohlsdorf („Hea Bernhart, wia wahn jetzt da!“), beides in den späten Sechzigern, geht. Noch während Walter liest, biege ich mich vor Lachen über seine mit Wortschöpfungen und beißendem Humor gespickten Schilderungen. Dann schauen wir einander an, lachen gemeinsam.

Ich müsse zuerst die Abfallkübel in die Mülltonnen entleeren, sage ich zu Walter Pilar, als er mich überraschend zu Hause besucht. Walter geht mir, pausenlos redend, hinterher, hinunter in den Hof hinter dem Wohnhaus. Die Tonnen stehen neben einer Gartenhütte, einem Hitl, wie Walter anmerkt – um augenblicklich Hitler damit zu assoziieren. Wortassoziationen wie diese, die sich in seinen collageartigen Texten in hochdeutscher und dialektaler Schriftsprache oft zu Wortkreationen – „Neologismen“ stimmt zwar, passt aber trotzdem nicht – entwickeln, sind typisch für Pilar. Irgendwo zwischen originell und absurd, erkenntnistief und bisweilen auch trivial: „Pilarismen“.

„Pilarismen“: Shortest Cuts (kleine willkürliche Auswahl) Kuhlenkrampf Unterkapital Kotelettrismen Alkoholfahnigkeit Thomas-Bernhardisten Schnarchotrotzkisten Rauminstallatör Blechbunkel Wixenschaften stupidiert Kleinquerbetreibender Kunstwandwerker Reisgangreisen gegenrund Lebensblumenbüschelkraut Lebensfleckerl hochkarametrig Hausmeisterfeldabfahrtslauf Knabenhau- und Reißschule Dampfsträhne Knackwurschtschläge PaRadieschen dumpfdunkel Dreckamöbenexistenz vaterlandsunwert

Mittagstisch bei Gerti Pilar, Walters Ehefrau, in ihrer Wohnung des gemeinsamen Hauses in Linz. Alle Gäste sitzen am Tisch, nur Walter fehlt noch. Schon von weitem hören wir ihn, „geistliche Gesänge“ anstimmend, kommen. Mit großer Geste betritt er den Raum und erzählt von der Messe in der Pfarrkirche, die er eben besucht und in deren Rahmen er nach der Predigt mit dem Pfarrer diskutieren wollte. Es sei keine Diskussion möglich gewesen. Vor der Messe sei er – in der Hoffnung, linken Freunden zu begegnen – demonstrativ auf dem Pfarrplatz auf und ab gegangen.

Über Jahre hinweg dasselbe Frage- und Antwortspiel: Wann kommt Lebenssee drei? – Ja … ja bitte, das braucht Zeit, ich kann doch nicht, bitte, ich schreibe daran … Walter wirkt aufgeregt und geradezu indigniert, wenn ich ihn bei zufälligen Zusammentreffen nach dem Fortgang der Arbeit am nächsten Band von Lebenssee frage. Mit der Zeit wird meine Frage zu einer Art Running Gag – zumindest für mich. Zwischen der Veröffentlichung von zweiter und dritter Welle (Titel: Wandelaltar) vergehen schließlich mehr als zehn Jahre.

Wer zählt den Herbst nach Spreißlholz?
Den Sommer nach den Beerenstacheln,
Den grünen Frühling nach versprühten Eimern Wiesensüling,
Den Winter nach den Abendstunden
Im Wirbel sanften Flockenflugs um Eiszapf. Eisack. Prost!

Am Neujahrstag 2018 stürzt Schriftsteller, Zeichner, KunstWandWerker & Rauminstallatör Walter Pilar über die Kellerstiege seines Hauses. Er müsse, nach ärztlicher Auskunft, mit dem Kopf auf die Steinkante einer Stufe geschlagen und sofort tot gewesen sein. Kurz zuvor hat er die vierte Welle von Lebenssee fertiggestellt. Sie ist, wie die ersten drei, im Ritter Verlag erschienen.

 

(„Pilarismen“ und Gedicht sind zitiert aus: Lebenssee. Eine skurreale Entwicklungsromanesque. Klagenfurt 1996
Lebenssee. Gerade Regenbögen. Klagenfurt 2002)

Walter Pilar war Schriftsteller, Zeichner und bildender Künstler. Seit 1968 trat er mit Performances, Aktionen, Ausstellungen und Publikationen auf. Am Beginn der schriftstellerischen Laufbahn standen die Gedichtbände klupperln & duesenjaeger, Jederland, An sanften Samstagen. Zu erwähnen sind außerdem vor allem Augen auf Linz (gem. mit H. Vorbach, 1990) und Eingelegte Kalkeier (1993). Das erste größere Prosawerk folgte 1996 unter dem Titel Lebenssee – eine skurreale Entwicklungsromanesque. Charakteristische Stilmerkmale Walter Pilars sind Collagetechnik und Wortschöpfungen, in denen hochsprachliche und dialektale Elemente in Kontrast gebracht werden. Pilar hat für die österreichische Literaturgeschichte das Genre der Heimatromanesque erfunden. Sein Lebenssee präsentiert sich als eine literarische Chronik des Provinziellen, die, vom „autoautopsischen Biograffäweak“ ausschweifend und auf umfassende Ton-, Bild- und Geruchsmaterialien zurückgreifend, zu einer Art fröhlichen Landesgeschichte des Voralpenländischen mutiert. Tatsächlich reiht sich hier der Chronist in die vorderste Linie der Hinterwäldler ein und sein Eintauchen in die Tiefen der verdammten Herkunft (Ebensee) ist vordergründig lustvoll angelegt, dass der Zeigefinger des distanzierten Satirikers oder das Ressentiment des heimatbeschädigt Gequälten ohnehin auf der Strecke bleiben. Walter Pilar lebte in Linz. Im Jahr 1990 erhielt er den oberösterreichischen Landespreis für Literatur.
(Zitiert u. a. aus: Ritter Verlag, Wikipedia)

Ein Text von Christian Pichler zu Walter Pilars Wandelaltar ist auch in der Referentin #1 erschienen.

„So rinnen blicke wie meersand durch unsere finger …“

Zum Tod von Hansjörg Zauner.

Foto Jörg Gruneberg

Foto Jörg Gruneberg

Für Widmungsexemplare griff Hansjörg Zauner gerne zur Nadel. Mit ihrer Hilfe zog er rote Wollfäden entlang von Worten und Bildern, die er zuvor aus von ihm gefertigten Texten, Fotografien und Collagen geschnitten, sorgfältig auf eine Buchseite geklebt und schließlich mit seiner Signatur versehen hatte. Der Nadelstich ins Papier fungierte zugleich als Ausweis einer Poetik, die Zauner mit beeindruckender Konsequenz und nicht nachlassendem Enthusiasmus in mehr als 20 Buchpublikationen sowie einem umfänglichen bildkünstlerischen Werk verfolgte, wie auch ein Ausschnitt aus der 2005 erschienenen Prosasammlung die ofensau muß raus verdeutlicht: „bekannt wurde ich also als worteaufschlitzer. ich bin der einzige der mit seinem gesamten körper hineinsteigen kann. so verschwinde auch ich für einige zeit.“ Zauners künstlerische Einlassungen, die zudem Ausstellungsbeteiligungen, Auftritte im Radio sowie die Herausgabe einer Anthologie Gedichte nach 1984 (gemeinsam mit Gerald Jatzek) und mehrerer Zeitschriften umfassten, machten nicht vor Worten und den ihnen zugewiesenen, vermeintlich feststehenden Bedeutungen Halt. Stets nahmen sie den Körper und seine Wahrnehmungsfähigkeit zum Anlass, das Verhältnis von Welt und Sprache neu auszuloten, indem bestehende Sinnzusammenhänge lustvoll dekonstruiert wurden. „ICH HABE DIE WORTE IN VERDACHT“, heißt es dementsprechend in einem Anagramm der Textsammlung zerschneiden das sprechen, die 1989 in der Linzer edition neue texte erschien und heute zu den weitgehend vergessenen, herausragenden Zeugnissen österreichischer experimenteller Dichtkunst der 1980er-Jahre zählt. In formaler Hinsicht deutlich von Autorenkolleginnen wie Friederike Mayröcker oder Reinhard Priessnitz beeinflusst, wollte Zauner das Durcheinander der Wahrnehmung und Dickicht der Worte weniger lichten als mit poetischen Mitteln veranschaulichen: „also liegen legionen worte versehentlich auf steilen rücken strecken alle ihre füße in ihr bezeichnetes hinein warten was sonst noch passiert.“ Der unbedingte Glaube an die dichterische Vernunft machte in seinem Schreiben einer neuen Sinnlichkeit Platz, die ihre Inspiration gleichermaßen aus dem Kanon literarischer Avantgarden von Gertrude Stein bis Meret Oppenheim wie aus der Musik von Sonic Youth, Hüsker Dü, PJ Harvey und Björk oder den Bildern von Cy Twombly, Keith Haring, Jean-Michel Basquiat, Andy Warhol bezog: „gleichzeitig spreche ich zwei wörter. gleichzeitig denke ich drei sätze durcheinander. drei sätze denken sich selbst wenn sie zu splittern beginnen.“ Daneben las Zauner aber auch Gedichte von Pablo Neruda, Ingeborg Bachmanns Der gute Gott von Manhattan oder die Prosa Josef Winklers. Dementsprechend häufig handelt sein Werk vom Blick des Außenseiters auf den multikulturellen Raum der Großstadt und ihr besonderes Lebensgefühl, von Randzonen der Gesellschaft und synästhetischen Grenzerfahrungen. Diese Beobachtungen verdankten sich nicht allein seinem ständigen Wohnort Wien, sondern waren auch längeren Stipendienaufenthalten in Berlin, Rom, Paris oder Istanbul geschuldet: „bis die sprache ganz zusammengekehrt ist dauert es ein paar jahre sagt man in barbès.“ Die dichterische Aufräumarbeit kannte feste Rituale, sah neben dem täglichen, mehrere Stunden umfassenden Schreib- und Korrekturprozess etwa auch intensives Musikhören und den Besuch von Kunstmuseen sowie der immer gleichen Caféhäuser und Clubs vor, die anschließend Eingang in seine Bilder und Texte finden sollten. Am Eindrücklichsten gelang dies vielleicht in seiner 1999 publizierten Textsammlung Jolly, die mittels poetischer Momentaufnahmen Anekdoten und Begegnungen in Zauners ehemaligem Wiener Stammlokal Chelsea oder Streifzüge durch den Pariser Stadtteil Belleville rekapitulierte. „hier oder?“, schrieb Hansjörg Zauner mit rotem Filzstift in meine Buchausgabe von zerschneiden das sprechen und das Vorsichtige und Ungewisse dieser Frage verrät viel von der ihm eigenen Art, sich anderen Menschen und ihren Lebensbedingungen mit künstlerischen Mitteln anzunähern, indem er zunächst seine eigenen Erfahrungen und Wahrnehmungen zu reflektieren suchte. Und es verwundert nicht weiter, dass eine Ausgabe der von ihm zwischen 1988 und 1998 publizierten Zeitschrift für neue Poesie Solande aus nichts als einem rechteckigen Stück Spiegelglas bestand. Die Methode der Selbstbespiegelung und die Fragen danach, wie wir selbst und andere uns sehen, einander begegnen und immer wieder verfehlen, stellten schließlich auch die Fluchtpunkte seiner künstlerischen Arbeit dar: „kein mund mehr in unseren händen sage ich; wir tauschen unsere weichrammelzungen und rauschen weiter. über unseren prallen lippen braust dieser lockere erdteil …“ In seinem filmischen, in Ausschnitten auch auf YouTube zugänglichem Werk rezitiert Zauner häufig eigene Texte vor der Kamera, die seinen Körper zerstückelt und perspektivisch vielfach gebrochen porträtiert, wie die 2008 erschienene Prosa LUXUS formuliert: „ich schlafe mich auseinander. hier ein sack hände. dort ein sack tisch. hier ein sack augen. dort ein sack ohren. hier ein sack mund.“ Im Video Jolly 2 hingegen beobachten wir den Dichter in seiner Wohnung minutenlang in Nahaufnahme beim Verspeisen des gleichnamigen Eislutschers, während er mit monotoner Stimme den Filmtitel repetiert. Einem anderen Prinzip der Wiederholung folgten seine farbigen Mehrfachbelichtungen, die in der Überblendung mehrerer Einzelbilder und Wahrnehmungspunkte auch in seiner Spracharbeit eine Entsprechung fanden: „gleichzeitig spreche ich zwei wörter. gleichzeitig denke ich drei sätze durcheinander. drei sätze denken sich selbst wenn sie zu splittern beginnen.“ Zauners Kunst kombinierte den bekannten Vorrat an Worten und Zeichen zu neuen Sinnzusammenhängen, deren Bedeutung unmöglich auf einen Begriff zu bringen war, getreu dem Motto „denken schützt vor worten nicht sagt naseweis“. Zugleich zeugten Wortneuschöpfungen wie „augenstrickblicke“ und „wackelwortkontakte“ von der Flüchtigkeit und den Unsicherheiten des täglichen Lebens und den Schwierigkeiten seiner literarischen Beschreibung, die er durch einen ständigen Wechsel der Erzählperspektive und eine Umkehrung der vertrauten Kausalitätsbeziehungen seinem Publikum näherbrachte. Mit poetischen Aussagen wie „Gehsteig ist also ein schuh“ oder „Mädchen fraß krokodil“ stellte der Künstler die herrschenden Verhältnisse auf den Kopf, indem er ihre Veränderbarkeit nahelegte. Der darin zum Ausdruck gelangende Optimismus, der Künstler und Freund Hansjörg Zauner, sie fehlen.

 

Hansjörg Zauner war österreichischer Schriftsteller und bildender Künstler, oder „Autor, Bildermacher, Filmer“. Er widmete sich der experimentellen Dichtung und Prosa, visuellen Arbeiten, der Photographie, Filmen (Super 8) und war Herausgeber der Zeitschrift für neue Poesie SOLANDE. Er war Mitherausgeber der Anthologie „Gedichte nach 1984“ – Lyrik aus Österreich. 1985 wurde er mit dem Theodor-Körner-Preis für künstlerische Fotografie geehrt. Zauner war unter anderem Mitglied der Künstlervereinigung MAERZ. Er lebte in Wien und Obertraun.

Biographie und Werk: www.literaturnetz.at

Akustische „Aufarbeitung“ von Jolly – „Mit dem Bagga mitten in die Worte hinein“:
www.kunstradio.at/2000A/28_05_00.html

Einige Filme und Lesungen auf Hansjörg Zauners youtube-channel:  www.youtube.com/channel/UC7q1EKHU_Glup5X7nJ-Gl4g

Dunkle Klänge

DVRST, eine Performancekollaboration bestehend aus Tanja Fuchs und Vinzenz Landl bewegt sich zwischen Experimentalkunst und Clubkultur. Erst im Sommer 2017 gegründet, entwickelte sich die Formation stetig und schon spielen DVRST beim MEM Festival for International Experimental Arts in Bilbao. Alexander Eigner hat DVRST getroffen.

Gleich zu Beginn stellen sich Fragen: Heißt die Formation nun DVRST? Sagt man DURST? Oder doch DÖRST? Ist es gar die Abkürzung für DiVerSiTy? Die genaue Bedeutung konnte nicht ermittelt werden. Ein Code scheint naheliegend. Ein Blick auf einen der Tracktitel, l0v34th33mpty, könnte den Anschein irren Geschreibsels erwecken. Aber nein, vielmehr ziehen sich diese Codes durch das ganze Projekt. Vinzenz und Tanja verstehen sich als FreundInnen der Abstraktion. Offensichtlich: o1no1on1o. Somit bleibt Freiraum für Interpretation, was es DVRST ermöglicht, sich selbst und ihre Tracks immer wieder zu verändern, was den konstanten Wandel unvermeidbar macht. Manchmal ist es schlichtweg spannender, sich abseits der Norm auszudrücken: v8edurj422. Man muss schon zwischen den Zahlen lesen.

Frei von Gender- und Genreschubladen geben sich Tanja und Vinzenz ihren Bühnenauftritten hin. Ein kraftvoll-magischer Sound, in Richtung Post-Rave gehend, entsteht. Während sich die Menschen im Publikum langsam in Bewegung setzen, wissen deren Füße nicht genau, was sie jetzt machen sollen, und trotzdem fühlt sich jeder Fuß dabei wohl: Fußtrance. Für DVRST ist es wichtig zu beobachten, wie sich die ZuhörerInnen zu ihrem drückenden Sound bewegen. Selbst wenn diese nur starren, wird das wahrgenommen. Tanja ist stets versucht auf die Menschen einzugehen, sei es durch Blicke oder Bewegungen. Und DVRST sind bereit auf ihr Publikums einzuwirken und das zu liefern, was „der Raum braucht“, selbst wenn dieser nach Wahnsinn verlangt.

„Witches are not explaining the voodoo to everyone“. Tanjas Texte sind oft drastisch, bildhaft direkt und obschon der Sound oft repetitiv-minimalistisch ist, ist die Sprachkunst bestechend körperlich: „Moon was decreasing — skin got burned“. War man schon einmal bei einem DVRST-Gig dabei, ist es nicht auszuschließen, sich bei einem nächsten Gig selbst zu hören. Auf der Loop-Station sammelt Tanja Publikumsgeräusche und Gekreische von vorherigen Shows zusammen, welche sie dann live, Schicht für Schicht, upcycled. Vinzenz, bisher am Synthesizer zaubernd, wird wohl auch bald einen sprachlichen Input zu DVRST liefern.

Geht man näher auf dieses Projekt ein, ist man mit einem weiteren Aspekt ihres Auftretens konfrontiert: dem Artwork. Der Blick fällt auf ein gerne verwendetes Bildsujet: das zweibeinige, dreiäugige, nasenblutende Wesen mit schwerer Kette im Bauch. Klartext gibt es bei DVRST selten. Auch ihre Fotos sind stets nebulös: Stahlkette, Bademantel, Schrottkarre. Offensichtlich weitere Codes. Artwork-Verschlüssler: Andreas Christian Haslauer, Epileptic Media. Foto-Verschlüssler: Johannes Oberhuber, Umbra Umbra.

Tanja, erfahren als Anarcho-Pop-Queen bei Fudkanista oder auch als Abu Gabi, kennt die experimentelle Bühne. Als Abu Gabi feierte sie am 3. November ihren ersten Solo-Auftritt im Quitch. Vinzenz hatte mit The Similars diverse Auftritte in Linz und arbeitete zuletzt als Tontechniker bei vielen Veranstaltungen des Kulturvereins Klangfolger Gallneukirchen. Hier lernten sich die beiden auch kennen und erkannten ihre gegenseitigen Talente. Aus einem Experiment in einem Gallneukirchner Keller wurde im Juli 2017 plötzlich ein Experimentalkunst-Projekt mit Elementen aus Post-Rave, Illbient und Experimental Electronics.

Experimentalkunst, das passt doch zum Mem-Festival for International Experimental Arts in Bilbao, dachte Tanja, als sie für dieses Festival mit der Formation Cine-Concert Fernweh/Heimweh gebucht wurde, und wurde prompt für einen weiteren Auftritt mit DVRST bestellt. Nach Auftritten in der Linzer Kapu und in den Wiener Underground-Clubs SUB (Super Unusual Beings) beziehungsweise Celeste, folgt also der erste große Vergleich mit ähnlich gesinnten Künstlern im ehrwürdigen Guggenheim-Museum in Bilbao.

Ein Auftritt von DVRST – ein Feuerwerk an Intuition. Die Bässe sind stets tief, der Sound grundsätzlich schwer, die Sprache meist schmerzhaft, aber voller Offenheit. Mit dieser Mischung wollen sie ihr Publikum aus der eigenen Dunkelheit zurück in die Wärme begleiten. Der Weg dieses düster-frischen Projektes ist jetzt schon ein interessanter und das Frühjahr wird einige weitere Überraschungen hervorbringen.

Das Spiel mit der Serialität, Zeit atmen

Kunsthistorisch und zeitgeschichtlich bemerkenswert ist die Landesgalerie-Ausstellung „Spielraum. Kunst, die sich verändern lässt“. Ebenso im Haus zu sehen: Waltraud Cooper.

Ausstellungsansicht. Foto Oö. Landesmuseum, A. Bruckböck

Ausstellungsansicht. Foto Oö. Landesmuseum, A. Bruckböck

„Die Ausstellung widmet sich dem Phänomen veränderlicher Kunstobjekte, deren Elemente von Betrachter/innen zu unterschiedlichen Konstellationen arrangiert werden können. Charakterisierende Schlagwörter dazu sind ‚Betrachter/innen-Partizipation‘, ‚Interaktion‘, ‚Raum-Zeit-Verhältnis‘ sowie das Jahr 1968 mit seinen folgenreichen politischen Protesten“, so ein Textauszug zur Ausstellung. Die formal verbindende geometrische Formensprache lässt sich kunsthistorisch aus dem Konstruktivismus ableiten. Einen Höhepunkt erlebte diese Kunstform Ende der 60er Jahre mit dem beweglichen bis seriellen Charakter von so genannten Multiples. Es ging um serielle, formalisierte Konzepte, um die Idee von Kunstwerken in hoher Auflage, teilweise industriell hergestellt. Dabei waren die frühen Multiples alle veränderlich, und diese Veränderlichkeit, Beweglichkeit der Kunstwerke diente auch als Legitimation für deren Vervielfältigung in hoher Auflage. Hier zeigt sich ein interessanter kunsthistorisch wie zeitgeschichtlicher Punkt, ein interessantes Detail, das sich in der Frage der Kommerzialität verdichtete: Wenn man so will, stand die serielle Produktion quasi den Ideen einer lebensweltlich linken Ausrichtung von Kunst entgegen. Die Kunst sah sich nah an der Politik, wollte etwa direkte Aktion, oder die Kunst auf die Straße, hatte die Idee einer Kunst für alle, sah Kunst und Leben im Alltag verbunden. Und laut Kurator Frederick Schikowski waren für manche Kunstschaffende diese Probleme, die sich hinsichtlich Kommerzialität und auch Erfolg zeigten, derartig unmöglich, dass sie dann letzten Endes mit der Kunst aufhörten. Und um in Bezug zur Serialität hier eine größere Abgrenzung zu markieren: Die Warholsche Serialität ist nicht nur von ihrem insgesamt mehr „campen, ironischen“ Charakter anders (lt. Kurator Frederick Schikowski), sondern nimmt vielleicht gerade in diesem Aspekt die Kommerzialität volée.

In der formalisierten, geometrisch-konstruktivistischen Formensprache jedoch, die sich wohlweislich kinetisch, aber nicht maschinell versteht, zeigt sich ein weiterer interessanter Gegensatz. Denn in der intendierten Demokratisierung von Kunst lassen sich weitreichende Entwicklungslinien verfolgen, die heute noch aktuelle Begriffe wie „Interaktion“ oder „Partizipation“ nicht im kunsthistorischen und zeitgeschichtlichen Vakuum hängenlassen, sondern die künstlerisch-lebensweltlich Demokratisierung geradezu fundieren. Hier etwa auch ein Hinweis auf Roland Goeschls recht populär gewordenen „Großbaukasten“ (Humanic-Werbung). Ebenso zeigt sich inmitten des politischen wie spielerischen Charakters des seriellen Formalismus bereits ansatzweise ein noch größerer Aufbruch, der sich später in einer ganz anderen Entwicklungslinie der technologischen Maschinen verwirklicht: Wenn man zum Beispiel Vasarely betrachtet, weist dessen Arbeit auch in eine Idee von Programmierung hinein, deren serieller Formalismus sich aus Rationalität, Kybernetik, eines Programmierens von Kunst speist, wenn auch hier spielerisch angedeutet. Dies ist als Programmblatt für eigene Komposition anzusehen.

„Spielräume, Kunst die sich verändern lässt“ – eine höchst bemerkenswerte Schau, die im kommenden Jahr auch im Museum im Kulturspeicher in Würzburg gezeigt wird. Fruchtbar, dass Kurator Frederick Schikowski auch Werke von hier arbeitenden Kunstschaffenden aufgenommen hat. Wie etwa von Josef Bauer, der mit seinem „Farbraum“ in den frühen Sechziger Jahren die Höhe der Zeit beinahe schon vorweggenommen hat. Wesentlich, dass zeitgenössische Künstlerinnen wie Margit Greinöcker mit New Town (eine Art Planungsstadt aus Plastilin) oder David Moises (The Ultimative Machine aka Shannons Hand) das Thema quasi von aktueller Seite komplettieren.

Ein allerkürzester Hinweis noch am Ende auf die Arbeiten von Waltraud Cooper, die im ersten Stock in einer eigenen Ausstellung mit dem Titel „Licht und Klang“ zu sehen sind. Sowohl mit Coopers Lichtinstallationen, die mehrfach bei der Biennale in Venedig gezeigt wurden, als auch insbesondere mit der Arbeit „Klangmikado“ kann man eine Zeit atmen, wo begonnen wurde, das aleatorisch-verspielte Kind mit dem Namen der Digitalen Kunst zu labeln.

 

Spielraum. Kunst, die sich verändern lässt Landesgalerie Linz, Bis 14. Jänner 2018 „Waltraut Cooper – Licht und Klang“, Landesgalerie Linz, bis 21. Jänner 2018

Hinweis: Pamela Neuwirth hat ein Gespräch mit dem Spielräume-Kurator Frederick Schukowsky geführt, nachzuhören auf Radio FRO: www.fro.at/spielraeume-in-der-landesgalerie-linz

Langer Vorlauf – späte Entscheidung

Sechs Jahre hat es gedauert, bis das VALIE EXPORT Center als Forschungszentrum für die Arbeiten der international bekannten Medienkünstlerin VALIE EXPORT eröffnet werden konnte. Spät, nämlich erst beim Festakt, wurde auch die Direktorin, Sabine Folie, präsentiert. Silvana Steinbacher im Gespräch mit Sabine Folie und der Geschäftsführerin Dagmar Schink.

Auf mehr als 300 Quadratmetern soll das VALIE EXPORT Center zu einer international beachteten Institution werden, deren Hauptintention die Erforschung und die Aufarbeitung des VALIE EXPORT Archivs sein wird, das bereits seit 2015 in Linz seinen Platz hat. Welchen Auftrag sehen Sie als Direktorin mit dem Werk dieser Ikone und vielseitigen Künstlerin verbunden?

Sabine Folie: Es ist ein enormer Fundus eines reichen Künstlerinnenlebens, den wir hier erforschen können. Wir werden zum einen das Archiv mit seinen verschiedenen Dokumenten beforschen, auch die Themen, die sich herausdestillieren lassen. Neben der historischen Einordnung suchen wir, ganz im Sinne von VALIE EXPORT, den Anschluss an die Medien- und Performancekunst der Gegenwart, um damit auch noch einmal eine ganz andere Perspektive, einen anderen Zugang zu ihrem Werk zu bekommen, um die Gegenwart auch über dieses historische Gedächtnis bewerten und einordnen zu können. Außerdem werden wir aus dem Archiv Forschungsansätze entwickeln und fördern, den Diskurs suchen, mit jungen Künstlerinnen und Theoretikerinnen arbeiten. Wir werden zur bereits bestehenden Bibliothek von VALIE EXPORT noch eine zweite einschlägige anlegen, die den aktuellen Forschungsstand mit abdeckt. Ich wünsche mir, dass das VALIE EXPORT Center Strahlkraft nach außen bekommt, national und international, schließlich ist das Center eine international einzigartige Einrichtung. Und dass es zu einem lebendigen Ort der Debatte wird.

Dagmar Schink: Ich finde den Bogen zur Gegenwart gerade bei VALIE EXPORT extrem wichtig, ihre Themen sind im Jetzt, deswegen ist es notwendig, daran zu arbeiten und nicht als Vergangenes zu verschließen.

 

Die zahlreichen Werke, Skizzen, Entwürfe, die persönliche Korrespondenz der vergangenen 50 Jahre bilden den Schwerpunkt des VALIE EXPORT Centers, das vom Lentos in Kooperation mit der Linzer Kunstuniversität betrieben wird. Was fasziniert Sie besonders an dieser Künstlerin?

Sabine Folie: Um nur einen Aspekt zu erwähnen: Sie war in ihrer Karriere nicht nur auf sich selbst und ihre eigene Arbeit konzentriert, sie hat auch mit anderen kollaboriert und war immer eine hoch talentierte Vermittlerin. So konzipierte und organisierte sie etwa Mitte der 1970er-Jahre MAGNA, (Anm.: wichtige Schau feministischer Kunst), eine Ausstellung, die nicht nur österreichischen Künstlerinnen eine Plattform bot, sondern auch deutsche und amerikanische präsentierte. Zu nennen sind auch die international viel beachtete Ausstellung Kunst mit Eigensinn oder die lehrreichen, niveauvollen und dabei avantgardistischen Sendungen für den ORF zur breiten Vermittlung von Kunst wie Das bewaffnete Auge und vieles mehr. Aus ihrem Archiv wird deutlich, welch eine akribische Sucherin sie immer war und ist, wie gründlich und wissbegierig und wie neben aller ästhetischen Erfindungsgabe politisch.

Wir wollen auch überlegen, welche Möglichkeiten bieten sich an, um an einen politisch-ästhetischen Diskurs anzuschließen, wenn auch nicht auf so spektakuläre Weise wie sie es getan hat.

 

Das kann als Forschungszentrum wahrscheinlich auch nicht das Ziel sein?

Sabine Folie: Natürlich, aber wir wollen die Qualität der kulturpolitischen Debatte mitbestimmen, denn wir sehen in Oberösterreich gibt es Zuspitzungen, die den Spielraum verengen, und es wäre schön, wenn wir etwas dazu beitragen könnten, um die Wichtigkeit von Forschung, Bildung und Kultur hervorzustreichen.

 

Damit spricht Sabine Folie einen nicht zu vernachlässigenden Aspekt an: Der Gemeinderat hat 2015 mit Mehrheit, aber bei Stimmenthaltung der FPÖ, beschlossen, das Archiv zu kaufen. Was die Finanzierung des VALIE EXPORT Centers betrifft, soll die Stadt Linz die Infrastrukturkosten bestreiten, die Kunstuniversität ist für die Kosten des Forschungsbetriebs zuständig. Für 2018 sind 200.000 Euro für das Center budgetiert.

 

Sabine Folie: Es ist die Frage, wie die Mehrheiten sind. Der Bürgermeister hat ein eindeutiges Statement abgegeben, dass ihm das VALIE EXPORT Center und Kultur generell ein echtes Anliegen sind, und ich vertraue darauf, dass er sich auch in Zukunft dafür einsetzen wird. Stadt und Universität investieren hier und ich gehe davon aus, dass der Bund ebenfalls wie im Falle des Forschungsinstituts von Peter Weibel, das in der Wiener Angewandten angesiedelt ist, seinen Teil beiträgt.

Das VALIE EXPORT Center muss lebendig gehalten und ein offener Ort sein und dazu bedarf es entsprechender Mittel.

 

In der Wiener Angewandten wurde – Sie haben es erwähnt – vor rund sechs Wochen das Peter-Weibel-Forschungsinstitut für digitale Medienkulturen eröffnet, das vom Bundesministerium für Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft finanziert wird. VALIE EXPORT und Peter Weibel waren viele Jahre Weggefährten und gehörten in den frühen 1970er-Jahren zu den ersten, die im Ausstellungskontext interaktive, elektronische Konzepte erprobt haben. In den Medien war bezüglich der beiden Center vom Kampf der Archive die Rede, Sie wohnen in Wien, wissen Sie dazu Näheres?

Sabine Folie: Peter Weibel hat gut verhandelt. Ich verstehe, dass Weibel wie auch andere nahezu „historische“, prägende Figuren ihre Archive für die Nachwelt in guten Händen wissen wollen. Der Zeitpunkt des Zusammentreffens ist in der Tat überraschend. VALIE EXPORTs Hinarbeiten auf ein Performance- und Medienzentrum reichen ja schon lange zurück, ich weiß nicht, wie lange die Gespräche auf der anderen Seite verliefen.

 

Die Initiative zum VALIE EXPORT Center stammt vor allem von Reinhard Kannonier, dem Rektor der Linzer Kunstuniversität. Von der Idee bis zur Realisierung sollte allerdings noch ein sechsjähriger Kampf folgen, ehe das Center für die international bekannte gebürtige Linzer Künstlerin eröffnet werden konnte. Im Gegensatz zur langen Vorlaufzeit hatte die Direktorin wenig Zeit, sich mit ihrer neuen Aufgabe vertraut zu machen, denn sie musste kurzfristig in ihre neue Funktion „springen.“ Der Grund dafür seien, so Rektor Kannonier, die zahlreichen und hochkarätigen Bewerbungen gewesen, einige davon auch aus dem Ausland. Aus diesem Grund gestaltete sich die Terminfindung für die Hearings schwierig. Die gebürtige Südtirolerin Sabine Folie hat zuletzt die kürzlich eröffnete Ausstellung VALIE EXPORT – Das Archiv als Ort künstlerischer Forschung im Lentos kuratiert. Die Schwerpunkte der Kunsthistorikerin und Kuratorin sind Studien zu (feministischer) Kunst, Theorie und Sprache, Kunst der Postavantgarde der 1960- und 1970-er Jahre bis in die Gegenwart. Sie war leitende Kuratorin an der KUNSTHALLE Wien und bis 2014 Direktorin der Generali Foundation, in deren Sammlung sich auch Werke von VALIE EXPORT befinden.

Zurzeit arbeitet Sabine Folie freischaffend mit internationalen Institutionen und Universitäten zusammen und hat eine Gastprofessur im Fach Kulturgeschichte der Moderne an der Bauhaus Universität in Weimar inne. Sie lebt in Wien. Im Gegensatz zur Geschäftsführerin Dagmar Schink wird Sabine Folie also nicht immer vor Ort sein. Die ungewöhnlich kurzfristige Entscheidung verlangt von ihr flexibles Vorgehen.

 

Sabine Folie: Zwischen Professur, Kandidatur für das VALIE EXPORT Center, Ausstellung und Entscheidung knapp vor Eröffnung des VALIE EXPORT Centers samt Symposion war es in der Tat ungewöhnlich dicht und es war daher angesagt, einen kühlen Kopf zu bewahren und geschmeidig zu navigieren, um alle Aufgaben konzentriert zu erfüllen.

 

Das Center soll auch ein Work in Progress sein, das EXPORT begleiten wird, betrifft das nur die ersten Jahre?

Dagmar Schink: In der ersten Phase ging es um eine Übergabe, die hat sie intensiv begleitet, es ist VALIE EXPORT auch ein großes Anliegen, sie steht uns immer zur Verfügung.

 

Eine Intention des Centers besteht auch darin zu vernetzen, mit anderen Institutionen in Kontakt zu treten. Gibt es da bereits Ansätze?

Dagmar Schink: Wir haben mit Initiativen schon Kontakte geknüpft, die sich zum einen mit VALIE EXPORTs Werk beschäftigen beziehungsweise vergleichbare Forschungsmaterialien haben. Dies werden wir international weiter ausbauen.

Sabine Folie: Ja, und wir haben in den vergangenen Tagen schon wieder viel Networking betreiben können mit internationalen Archiven und Interessierten.

 

Kommen wir zur unmittelbaren Zukunft des Centers, der erste Schritt ist die Digitalisierung des Vorlasses von VALIE EXPORT, in welchem Stadium befindet sich dieser Prozess?

Sabine Folie: Wir werden die Expertise von anderen Archiven einholen, werden mit Expertinnen auf diesem Gebiet arbeiten. Es wird aber vorerst nicht so sein, dass alle Dokumente online einsehbar sein werden, sondern dass es auf Antrag bestimmte Zugriffsrechte gibt. Bezüglich der Rechte tut sich hier ein nicht ungefährliches Terrain auf, das man erstmal eingehend abtasten muss. Da werden wir vorsichtig sein und darum bemüht, uns auf abgesichertem Boden zu bewegen. Die Digitalisierung muss weiter vorangetrieben werden, am besten vermutlich mit Fördergeldern, damit auch die Forschung parallel begonnen werden kann und nicht wertvolle Jahre vergehen, in denen die Bestände nur digitalisiert und nicht beforscht werden können. Diese Dinge müssen alle noch eingehend diskutiert werden.

 

Sie sind durch ihre Gastprofessur in Weimar ständig mit jungen Menschen in Kontakt, ist VALIE EXPORT noch eine prägende Figur für sie?

Sabine Folie: Ja, das Interesse ist da, auch viele Künstlerinnen stellen sich die Frage, welche gesellschaftliche Rolle der Kunst angesichts einer aufgeheizten Kommerzialisierung der „Ware“ Kunst, heute zukommt. Es gibt eine starke Gegenbewegung, einige Künstlerinnen der jungen Generation beschäftigen sich mit aktivistischer politischer Kunst und wollen mit dem Kunstmarkt nichts zu tun haben.

Dagmar Schink: Das ist auch ein Thema für uns, wir wollen auch in die Bildung gehen, Studierenden vor Ort das Center näherbringen, wir haben darüber hinaus auch schon Anträge für Fellowships, wir werden mit Studierenden aus dem In- und Ausland zu arbeiten beginnen.

 

Ich möchte zu den Filmen und Videos von VALIE EXPORT kommen, wie kann man sich das Center in der Praxis vorstellen. Kann ich beispielsweise in die Tabakfabrik kommen und mir Exports Film Unsichtbare Gegner, der mich nachhaltig beeindruckt hat, ansehen?

Dagmar Schink: Ja, es wird Öffnungszeiten geben, im Schnitt drei Tage, wir werden Plätze zur Verfügung stellen, wo die filmischen Werke laufen, wir arbeiten mit Sixpack Film zusammen, mit dem Filmmuseum Wien. (Anm.: Sixpack Film ist ein nicht gewinnorientierter österreichischer Filmverleih und Filmvermarkter.) Wir wollen ein Best-Practice-Modell anstreben.

 

Besonders reizvoll empfinde ich die Linzer Tabakfabrik als Präsentationsort, nicht nur, weil es ein gutes Forum bietet, schließlich wurde ja – als kleine Spitzfindigkeit – das Export Zigarettenpackerl VALIE EXPORTs Markenzeichen. Wie ist es zur Wahl des Ortes gekommen?

Dagmar Schink: Das ist vor meiner Zeit entschieden worden, ich find es gut, man sollte die Tabakfabrik nicht nur Wirtschaft und Industrie überlassen. Dass unser unmittelbarer Nachbar Gerhard Haderers Schule des Ungehorsams ist, gefällt mir auch.

 

Im Lentos ist noch bis Ende Jänner 2018 die Ausstellung zu VALIE EXPORT zu sehen. Wodurch unterscheiden sich die Kompetenzen der Kunstuni und des Lentos?

Dagmar Schink: Da besteht eine klare Aufgabenteilung, die Stadt Linz hat den Vorlass, das Lentos ist für das Material zuständig und wir dürfen es beforschen. Was Ausstellungen betrifft wird es sicher Kooperationen mit der Lentos-Direktorin Hemma Schmutz geben.

 

Das VALIE EXPORT Center ist also fest in weiblicher Hand, auch wenn einige monierten, dass jene Frauen, die sich bereits für das Center engagierten, bei der Eröffnung nicht einmal erwähnt wurden?

Dagmar Schink: Ja, es sind nur Frauen im VALIE EXPORT Center tätig, aber wir schließen natürlich keine Männer aus.

Sonne, Mond und CERN

Mit Prolog und sechs Überbegriffen zeigt die Ausstellung „Sterne“ derzeit im Lentos eine weitläufig kuratierte Themenschau. Lichtsmog, Bedrohung, Erhabenheit, Romantik, Leitstern und Kosmologie: Die Literatin Angela Flam hat sich zuerst zu eigenen kosmologischen Gedankenellipsen rund um das Thema Sterne inspirieren lassen, um am Ende zu zwei exemplarischen Positionen der Ausstellung zu schweifen.

Immer noch wandeln wir unter den Umherirrenden. Denn das griechische Wort ‚planetes‘ bedeutet übersetzt nichts anderes als die Umherirrenden, die Umherschweifenden.“ Die Sterne sind ein Symbol für das Unerreichbare, für Unsterblichkeit, Orientierung und Ewigkeit (per aspera ad astra).

„Universe shouldn’t exist“, verkündet CERN am 24.10.17. „Die jüngsten Entdeckungen deuten darauf hin, dass es eine perfekte Symmetrie zwischen Materie und Antimaterie gibt – was bedeutet, dass nicht klar ist, warum sie sich bei der Geburt des Universums nicht gegenseitig vernichteten.“ 99,999…% der beim Urknallereignis entstandenen Materie lassen sich durch Annihilation wegerklären. Unser Universum, der unerklärlicherweise verbleibende Rest, ist fast ein wissenschaftliches Ärgernis.

Zurück ins Jahr 1965. Penzias und Wilson hörten in New Jersey auf Wellenlänge 7,3 cm ein seltsames Störungsrauschen, welches mit gleicher Stärke aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen schien. Wie sich später herausstellte, war dieses Rauschen nichts anderes als die kosmische Hintergrundstrahlung, der elektronische Widerhall des Urknalls.

Die romantische Zeit des Sternguckens ist vorbei. Heutzutage werden wir von Satelliten aus dem Weltraum beobachtet, die wie Sterne imponieren. Astronomen durchwachen ihre Nächte vor Computermonitoren, Zahlenkolonnen ziehen über den Bildschirm. Genauer genommen beobachten wir Phantome. Die Himmelskörper, die wir zu sehen bekommen, sind Lichtjahre entfernt und viele bereits erloschen. Wegen der endlichen Geschwindigkeit des Lichts sehen wir einen Stern, der etwa 13 Lichtjahre von uns entfernt ist so, wie er vor 13 Jahren war. Wir sind aus Sternenstaub. Heutzutage können wir uns vom Sonnenlicht ernähren, mit dem Mond kochen, die Marskartoffel ernten und sogar echte Sterne kaufen, verschenken und taufen. Ein Geschenk für die Ewigkeit. Schon gesehen um € 29,95, seriös mit Zertifikat. Oder per Anhalter durch die Galaxis reisen und über die kalten Monde von Jaglan Beta hüpfen und dabei Fragen nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest beantworten. Mitzunehmen ist ein Handtuch! Weshalb, schreibt Douglas Adams: „Man kann an den leuchtenden Marmorstränden von Santraginus V darauf liegen, wenn man die berauschenden Dämpfe des Meeres einatmet …“

Was ist es, das die Welt im Innersten zusammenhält & das Universum immer schneller auseinanderdrückt? Die Gravitationswelle am 17. 8. 17 gab den Astronomen einen völlig neuen Einblick in das Universum. Mit der Beobachtung einer einzigen Neutronensternkollision wurde die Hälfte aller astronomischen Fragen beantwortet – wie der Ursprung von Gammastrahlblitzen, die Ausbreitungsgeschwindigkeit der Gravitationswellen, die Entstehung von schweren Elementen wie Gold sowie das Maß der Beschleunigung der Expansion des Universums. Durch die weitreichende Abhängigkeit unserer Zivilisation von Elektronik gibt es auch enorme Gefahren durch solare Stürme. Ein Ausbruch wie das Carrington-Ereignis 1859 könnte heute unser öffentliches Leben völlig lahmlegen, ein Gammastrahlenblitz überhaupt sämtliches Leben auf der Erde vernichten.

Was passiert, wenn die Sterne verlöschen? Eine ständig wiederkehrende letzte Frage nach der Umkehrbarkeit der Entropie behandelt Isaac Asimov in seiner Science-Fiction-Geschichte. Eine Sonne nach der anderen brennt aus und kollabiert während sich die Menschen in Galaxien bis zur Körperlosigkeit entwickeln und mit der im Hyperraum existierenden Superintelligenz AC verschmelzen. Kurz vor dem allerletzten Augenblick sagt AC „Es werde Licht!“.

Das Licht ist der größte Feind des Astronomen. Gemeint ist der lichtverschmutzte Nachthimmel. Scheinwerfer und permanent pulsierende Lichtquellen stören unsere uralten Rhythmen. In der Natur ist ein klarer Sternenhimmel wie im Planetarium kaum mehr zu finden. Allerdings kann man unter der computeranimierten Sternenkuppel auch nicht (wie mit dem Teleskop) Lichtjahre in die Vergangenheit blicken & auch nicht in die Zukunft, um zu erfahren, welche Stolpersteine uns der nächste Saturntransit aus astrologischer Sicht bringt … Der beringte Saturn ist der äußerste noch mit bloßem Auge sichtbare Planet und war deshalb schon vor Erfindung des Fernrohres bekannt. Am 8. 9. 17 konnte man ihn in der Johannes Kepler Sternwarte in Linz durch ein Teleskop betrachten – mit 15 Minuten Verzögerung. Zurzeit rätselt man über das mysteriöse rotierende Sechseck am nördlichen Pol. In der römischen Mythologie war Saturn Gott der Aussaat und Ernte, mit einer Sichel bewaffnet. Für die Griechen war er Kronos und versinnbildlichte als Gott der Zeit den Ablauf der (Lebens)zeit. Astrologisch steht er als Hüter des Schicksals für das personifizierte Gewissen, Verantwortung, Gesetz und Tod & begleitet uns ein Leben lang als Prüfstein …

Zeitreisen haben (k)eine Zukunft? Ein „kosmisches Wurmloch“ ist nach Kip Thorne ein unverhoffter intergalaktischer Schleichweg, eine Art Tunnel, in dem Überlichtgeschwindigkeit gar nicht notwendig ist, um die Zeit zu überholen. Nach neuesten Erkenntnissen der Quantenphysik sind wir nicht nur Beobachter, sondern auch Mitschöpfer unserer Wirklichkeit. Ändert sich etwas an einer Stelle im System, so hat dies unmittelbare Auswirkungen auf alles andere. Die Quantenwellen sind nicht nur Möglichkeits-, sondern auch Wahrscheinlichkeitswellen und geben eine Struktur vor, wie sich etwas materiell manifestieren kann – wie „Das Aleph“ in Jorge Luise Borges gleichnamigen Roman, welches ein konzentriertes Universum darstellt. Der kosmische Raum darin enthält alles, was jemals war und sein wird & das in jeder möglichen Variante des Augenblicks.

 

Zwei exemplarische Positionen

„Er hatte Genie, aber kein Diplom“, so beschreibt der surrealistische Maler Max Ernst das Lebensschicksal des Amateurastronomen Ernst Wilhelm Leberecht Tempel (1821–1881) und widmet ihm ein künstlerisches Werk, ein in Geheimzeichen verfasstes graphisches Buch mit dem Titel „Maximiliana oder die illegale Ausübung der Astronomie“. Diese Arbeit Maximiliana ist benannt nach dem ersten Planeten, den Tempel mit seinem Fernrohr gesichtet hat – ohne akademische Weihen und deshalb in „widerrechtlicher Ausübung“. Seine Entdeckung wurde nicht anerkannt – und 70 Jahre später beanspruchte ein anderer Astronom diesen Planeten für sich. Die Leidenschaft, die Astronomie in einer Sternwarte ausüben zu können, war ohne wissenschaftliche Ausbildung, ohne das Diplom, anfangs aussichtlos. Tempel war zudem gelernter Lithograph und später, als sich für seine kosmologischen Entdeckungen Anerkennung einstellte und er eine Anstellung bekam, traf ihn der nächste Schicksalsschlag: das Aufkommen der Fotografie machte seine von ihm hergestellten Lithographien überflüssig. In der Ausstellung ist außerdem ein 12minütiger Film über Tempel zu sehen, „ein Film mit und für Max Ernst von Peter Schamoni“, von 1967. Max Ernst spricht darin über ein Leben und Werk, in dem Berufung und Diplom wohl besonders poetisch wie brutal aufeinandertreffen.

Geschöpfe wie von einem anderen Stern tummeln sich in Manfred Wakolbingers Video „Galaxie 4“, die er bei Tauchgängen im Meer von Sulawesi aufgenommen und künstlerisch bearbeitet hat. Leise vor sich hinströmende Gespinste in Blasen- oder Lianenform, pulsierende Leuchtraketen, eingefangen in Spinnennetzen oder entstiegen aus imaginären Luftkutschen, teils mystisch, teils gespenstisch gleiten sie schwerelos durch blaues Licht in allen Schattierungen, manche tauchen aus der völlig dunklen Abgeschiedenheit aus dem Nichts auf. Diese Kreaturen der Tiefe leben dort in ihrem eigenen Universum, genauso gut könnte man auch außerirdisches Leben vermuten oder sich verändernde Spiegelungen, die stets neue Muster zeigen, wie beim Blick durch ein Kaleidoskop. Bildmotive und visuelles Ausgangsmaterial sind dabei Salpen (Pelagische Seescheiden), die auf offenem Meer in Kolonien leben, sich im Alter teilen, dabei schutzlose Einzelwesen werden und die sich letztendlich verflüchtigen. Wie der Mensch gehören diese Wirbeltiere zum Stamm der Chordatiere, die im Frühstadium Ähnlichkeiten mit dem Embryonalzustand des Menschen aufweisen. Wakolbingers Videoarbeit, im Übrigen auch mit meditativ-psychedelischem Sound unterlegt, korrespondiert auch mit dem Ahnenkult der Toraja, einem in Sulawesi lebendem Bergvolk, die, ihrem Mythos zufolge in einem Raumschiff auf die Erde gebracht und nach dem Tod wieder abgeholt werden. Auch ihre Häuser erinnern an Raumschiffe. Die Weite des Weltalls und die Gräben der Tiefsee bergen gleichermaßen Geheimnisse. Wovon erzählen uns die amphibischen Wesen aus den Tiefenschichten des Meeres? Von längst vergangenem und/oder künftigem Leben? Jedenfalls sind sie uns (Menschen) in vielem überlegen. Unter extremsten Bedingungen können sie, in einem für den Menschen lebensfeindlichen Milieu unter hohem Druck in völliger Dunkelheit gedeihen, sich von Kohlendioxid und Schwefelwasserstoff ernähren und haben fast unbegrenzte Fähigkeiten sich zu regenerieren. Solche Wesen würden auch auf fremden Gestirnen Lebensbedingungen vorfinden. Manche Forscher vermuten sogar, es gebe eine Verbindung zwischen Ozean und Kosmos: Nach John Delaney existiere ein Spiegelbild des Kosmos unter der Wasserlinie – ein „inner space“ in der Tiefsee.

 

STERNE – Kosmische Kunst von 1900 bis heute Lentos Kunstmuseum, bis 14. Jänner 2018

Die vielfältige und medienübergreifende Ausstellung gibt Einblicke in das Verhältnis des Menschen zum bestirnten Himmel, der Gegenstand der Forschung, der Romantik, der Schicksalsdeutung, jedoch auch von Bedrohungsszenarien ist. Träumerisch, humorvoll, poetisch, aber auch ironisch loten die KünstlerInnen des 20. und 21. Jahrhunderts die Beziehung des Menschen zur Unendlichkeit des Sternenhimmels aus und setzen sich mit dem Funkeln der Sterne und dessen gegenwärtigem Verlust auseinander.

Zur Ausstellung erscheint im Verlag für moderne Kunst das Buch Sterne. Kosmische Kunst von 1900 bis heute mit einem Vorwort von Hemma Schmutz und Textbeiträgen von Sabine Fellner, Thomas Macho, Elisabeth Nowak-Thaller, Ute Streitt und Margit Zuckriegl in deutscher Sprache.

Der One-to-One Grenzgang

Auf der MS Sissi von Linz nach Ottensheim gefahren. Auf der ruhigen, dicken Donau eine Stunde lang gegen den Strom getuckert. Am 24. September war das, also am zweiten und letzten Tag vom „Spotter Trip“, einem Projekt der Fabrikanten in Kooperation mit KomA. Theresa Gindlstrasser berichtet.

Körperliche Erlebnis, überwältigend angelegt: Ziggurat Project. Foto Erich Goldmann

Körperliche Erlebnis, überwältigend angelegt: Ziggurat Project. Foto Erich Goldmann

Das Publikum aka die Spotter waren „eingeladen, sich beunruhigen zu lassen“. Also eingeladen, im Rahmen von Live-Art-Miniaturen Begegnungen zu erleben.

Anatol Bogendorfer und Jens Vetter haben unter dem Namen „Gitter“ eine für die einstündige Fahrt zugeschnittene Sound-Performance kreiert. Es wabert, es wummert, es wellt. Es Rhythmus, es Synthesizer, es live Recordings. Derweilen geht die Herbst-Sonne unter und ein Herbst-Abend bricht an. Der Matrose bringt Getränke. Und Decken. Ich schaue aufs Wasser, mit einer Zigarette in der Hand. Es ist alles sehr ruhig, beruhigend eigentlich.

Aber dann! Ankunft in Ottensheim. Es gibt Pizza. Dafür kein Konzert. Alle erzählen von „Bruch“, der Auftritt von Philipp Hanich am ersten Abend war wohl für viele fabelhaft gewesen. Wie schon bei „Hotel Obscura“ (2015) oder „Spotter Night“ (2017), zwei vorangegangenen Projekten der Fabrikanten, ist auch der „Spotter Trip“ ein jeweils individuelles Erlebnis. Aus einem Angebot von insgesamt sechs 15-minütigen Interaktionen (die meisten davon One-to-one) wähle ich drei. Sechs Autos parken auf der Fähre Ottensheim-Wilhering. Die Fähre legt an, wir Spotter werden ins jeweilige Auto eingeladen.

Meinen Rucksack, meine Jacke, sogar meinen Pullover, soll ich in einem Plastiksack verstauen. Der Mann spricht leise, gehetzt. Er setzt mir eine Haube tief über die Augen auf und bindet einen Schal zweimal noch drüber. Ich sehe nichts. Er öffnet die Türe des Kleinbusses und hilft mir beim Einsteigen. Knall, Türe zu, ich alleine, ich sehe nichts. Schreit derselbe Mann nach hinten: „Go to the back! Now!“. Taste ich mich voran, kreische laut auf, als mich mehrere Hände zu sich ziehen, eins, zwei, drei Menschen müssen das sein, wir sitzen nebeneinander auf einer Bank.

Das 2013 in Budapest gegründete Kollektiv Ziggurat Project arbeitet stets site-specific. Für den „Spotter Trip“ wagen sie sich mit „Styx 2.0“ auf wahrlich beunruhigendes Gelände. Nicht nur wird im Hinterteil des Kleinbusses der abstrakte Horror „Flucht übers Mittelmeer“ zum körperlichen Erlebnis, sondern dieses körperliche Erlebnis ist dermaßen überwältigend angelegt, dass reale Angst, Überforderung, Tränen auftreten. Später lasse ich mir von den Beteiligten erklären, dass sie die Choreographie der Ereignisse stets genau mit den Reaktionen der jeweiligen Publikumsperson abstimmen. Die Regisseurin Fanni Lakos dirigiert die Beteiligten, lässt mal Elemente weg, geht mal noch weiter hinein. Solch aufmerksamer Umgang mit den Spottern ist für die Fabrikanten ein wichtiges Element ihrer Bemühungen um die Live Art.

Der Kleinbus rattert über unebenes Gelände. So fühlt es sich an. Stimmen, Geschrei, das Knattern eines Maschinengewehrs. Die Körper rechts und links schunkeln mit mir, schütteln mich durch, pressen meinen Kopf Richtung Boden. Wir alle atmen ängstlich. Dann Möwengeschrei, wir sind auf einem Boot, der Rhythmus der Wellen schaukelt uns weiter. Neben mir weint eine Frau. Sie führt meine Hand und ich schöpfe Wasser, sie trinkt daraus, sie weint, ich auch. Unvermutet hält der Wagen. So fühlt es sich an. Ich steige aus und stehe mit meinem Plastiksack in der Hand etwas verwirrt auf der Donau herum.

Für die Rückfahrt von Wilhering nach Ottensheim bittet mich Vida Cerkvenik Bren die Schuhe auszuziehen. Sie summt vor sich hin. Ich lege mich auf einen Matratzenberg und unter einen Deckenberg. Jemand massiert mir die Füße. Jemand träufelt warmes Wasser über meine Stirn. Ich fühle mich geborgen. Die Arbeit „Flush“ setzt auf das Thema Wasser als Wohlfühlgarant. Durch ein offenes Fenster schauen wir auf den Fluss. Unser Gespräch plätschert unaufgeregt vor sich hin. Das Timing könnte nicht besser sein, wer „Styx 2.0“ erlebt hat, wird bei „Flush“ wieder wohlig aufgepäppelt.

Für meine letzte Fahrt nehme ich Platz in der Personenkabine auf der Fähre. „Tote bei der Arbeit“ von Club Real geht über insgesamt 30 Minuten, also Ottensheim-Wilhering, Wilhering-Ottensheim, und bietet Platz für mehr als nur eine Publikumsperson. Zwei Figuren aus dem Totenreich sitzen mit weißen Masken und schwarzen Umhängen etwas teilnahmslos auf den Bänken herum. Am Boden steht eine Induktionsplatte, ein Topf, darin köchelt wenig Wasser mit viel Zwiebel. Es stinkt. Gewaltig. Außerdem liegt ein Pflasterstein darin. Für dieses „Erlebnis“ wurde wenig vorbereitet, einzige Handlungsanweisung oder Möglichkeit zur Interaktion besteht darin, von erlittenen Schmerzen zu erzählen. Was ein Schmerz mit einem Pflasterstein mit einer Zwiebelsuppe zu tun haben könnten oder inwieweit dieses wenig subtile Arrangement zu einer besonderen „Begegnung“ führen könnte, erschließt sich auch in 30 Minuten nicht.

Seit über 25 Jahren arbeiten sich die Fabrikanten an Konzepten von „Begegnung“ ab. In ihren letzten Projekten haben sie jeweils die Rahmenbedingungen gestaltet und einzelne Kunstschaffende eingeladen in kurzen One-to-one Situationen das Publikum zur Begegnung zu verführen. Obs dazu kommt oder irgendwo in einer wenig einladenden Konstruktion stecken bleibt, das hängt von der jeweiligen Arbeit ab. Insgesamt haben über 100 Menschen am „Spotter Trips“ teilgenommen. Und insgesamt ist die Atmosphäre des „Spotter Trip“ mindestens als geheimnisvoll, manchmal auch als beunruhigend zu beschreiben. Eine Fahrt mit dem Shuttle-Bus zurück nach Linz beschließt das Erlebnis.

Was ich alles nicht gesehen bzw. erlebt habe: Musik hören mit Patrik Huber unter dem Titel „Blinded?“, Kartoffeln essen mit Martha Labil unter dem Titel „Gegen den Strom“, die „Rest Area“ von S. J. Norman, mit Bernadette Laimbauer „sich gehen lassen“ oder mit Boris Nieslony bei „Rent an Artist“ über Live Art diskutiert. „WTF is Live Art“, so heißt eine Interviewreihe der Fabrikanten. Die Videos sind über Youtube zugänglich und versammeln Antworten verschiedener Personen. Die Fabrikanten forcieren den Begriff Live Art in Abgrenzung zur Performance-Kunst und bemühen sich um die Bereitstellung der Rahmenbedingungen für individuelle Begegnungen zwischen Kunstmachenden und Spottern. Immer anders. Immer verschieden. Einzigartig. Und unwiederholbar. Theresa Luise Gindlstrasser geboren 1989, lebt und arbeitet in Wien. Studiert dort Philosophie und Bildende Kunst. Schreibt dort, und manchmal woanders, meistens über Theater.

 

Die Fabrikanten haben außerdem eine neue Veranstaltungsreihe ins Leben gerufen mit dem Titel: „WTF is LIVE ART?“. Bei der „Vortragsreihe zu partizipatorischen Live Art Strategien“ werden Künstler*innen wie Tim Etchells (Forced Entertainment), Aaron Wright (Fierce Festival), Mary Paterson, Robert Pacitti (SPILL Festival), u. a. eingeladen. Den ersten Doppeltermin zum Thema Live Art gab es Ende November, mehr Infos: www.fabrikanten.at