Auguste Kronheim. Ausstellungsempfehlung.

Einer beinahe in Vergessenheit geratenen Künstlerin widmet das Nordico Stadtmuseum seine Herbstausstellung: In „Auguste Kronheim – Begleiterscheinungen“ wird die Schaffensperiode einer Künstlerin überblickt, die über 50 Jahre andauerte. Kronheims beeindruckender Lebensweg führte von Amsterdam über Linz, nach Irland, zurück ins Mühlviertel und schlussendlich nach Wien, wo sie bis heute lebt, und stellt sozusagen die vielfachen gegenseitigen Begleiterscheinungen von Kunst und Leben ins Zentrum. Auguste Kronheim arbeitete u. a. an sozialkritischen Holzschnittzyklen: Unter dem Titel Hell wie der lichte Tag etwa entstanden Holzschnitte, die sich mit den Wünschen und Träumen einer Fließbandarbeiterin in einer Leuchtmittelfabrik befassen; in der Serie Begleiterscheinungen schildert die Künstlerin drastische Ereignisse, wie sie zu ihrer Zeit in den Mühlviertler Dörfern vorkamen. Ab den 1980er Jahren verlagerte Kronheim ihren Fokus vermehrt auf Zeichnungen und Aquarelle mit naturhaften Sujets und Selbstporträts. In der umfangreichen Retrospektive werden mehr als 200 Holzschnitte und 30 Zeichnungen gezeigt.

 

Auguste Kronheim, Begleiterscheinungen 24. November bis 4. März 2018, NORDICO Stadtmuseum Linz

Zur Ausstellung erscheint ein Sammlungskatalog im Verlag Bibliothek der Provinz, mit einem Vorwort von Andrea Bina und Texten von Albert Müller, Brigitte Reutner (Kuratorin) und Franz Schuh.

Noch weit ins Unbekannte hinein

Elisa Andessner ist bekannt für Performances, die von ihr sehr kontinuierlich als Mimesis in Schwarz umgesetzt wurden. Jetzt bricht für die Linzer Künstlerin eine neue Phase an. Erfreulicherweise erscheint in Kürze auch ein Katalog über die letzten Schaffensjahre des Performancelaboratoriums. Pamela Neuwirth hat mit Elisa Andessner über künstlerische Entwicklungen, Bruchlinien und über die Ästhetik des zärtlichen Interieurs gesprochen.

Es ist mittlerweile etwas Zeit verstrichen, fast eine Dekade, seitdem Elisa Andessner die Performance als zentrales körperliches Vehikel anzuwenden begonnen hat. Doch von Anfang an hat eine bestimmte, wie beständige Konzentration und ein gewisser Minimalismus ihren Ausdruck begleitet. Die hintergründige Thematik ihrer Performances ist oft kompliziert angelegt und kann an das Arbeitsrepertoire einer Schauspielerin erinnern oder an Method Acting. 2009 entstand beispielsweise Speech, eine Performance, welche Andessner auch im bb15 zeigte. bb15 ist Linzer Raum und Kollektiv, mit dem das sogenannte Performancelaboratorium kooperierte, aber unabhängig davon seine inhaltliche Schiene entwickelte. In Speech analysierte die Künstlerin den Habitus politischer Repräsentantinnen und Repräsentanten. Diese Handlungsebene wurde von ihr mit einem zweiten, viel weniger repräsentativen Handlungsprogramm verschränkt, nämlich mit dem von psychischen Störungen, wie etwa der Hysterie. Für das Langzeitprojekt (2009–2011) vertiefte sie sich in die Bildsprachen von Politikerinnen und Politiker, aber auch in entsprechende historische Konzepte, wie Freuds Es-Ich-Überich und zelebrierte sie im zeitgenössischen Handlungsschema der Politik. Doch einigermaßen frappant wirkt heute die Aktualität von Speech, zumindest scheinen die damals von ihr erarbeiteten Schemata von Repräsentation und Irrationalität noch immer einer gesellschaftspolitischen Realität standzuhalten.

 

Surrender in Spaces

Das wechselnde Kollektiv Performancelaboratorium, in dem Elisa Andessner nicht nur festes Ensemblemitglied war, um im Kontext eines schauspielerischen Dramas zu bleiben, sondern auch Dramaturgin, war der zentrale Ort, an dem Andessner, neben unterschiedlichen Kooperationen, künstlerische Position und Haltung entwickeln konnte. Der Hang zur Serie oder zu Arbeiten, die wie längerfristige, aufwendige performative Studien funktionieren. In den Laboratorium-Jahren entstanden jedenfalls zahlreiche internationale Kontakte zu unterschiedlich ausgerichteten PerformancekünstlerInnen und führte die junge Künstlerin (*1983) an unorthodoxe Orte, wie Friedhöfe oder leere Strände, an denen sie ihre Praxis vertiefen konnte. Im Gespräch erzählt Elisa Andessner, dass der konkrete schöpferische Prozess einem viel abverlangt. Einsamkeit, zum Beispiel. Und zwar weniger aus einer romantischen Vorstellung heraus oder weil man kompliziert sei, sondern, weil das geistige Geschöpf oder Konstrukt über einen längeren Zeitraum recht wenig Einmischung von außen erlaubt. „Es verhält sich sogar so,“ überlegt Andessner im Gespräch, „dass man nicht einmal selbst zu sehr, zu aktiv in den autonomen Prozess eingreifen dürfe, weil man damit beginnen würde, die oft mäandernde oder zumindest diffuse Entwicklung auf kontraproduktive Art und Weise zu manipulieren. Setzt die eigene Kritik oder auch Kritik von außen zu bald ein, entzieht sich das Ding wie von Geisterhand, entweicht, funktioniert nicht mehr. Das sind Phasen, die schwer auszuhalten sind, da man nicht weiß, wohin die Reise geht, und in dem Zeitkontinuum oft unklar ist, ob Konzept und Entwicklung überhaupt etwas taugen.“

Am Vortag unseres Interviewtermins war in Linz gerade das VALIE EXPORT Archiv in den Tabakwerken eröffnet worden. Heuer erhielt die österreichische Performancekünstlerin Renate Bertlmann einen österreichischen Kunststaatspreis. Zwischen Archivierung und späten Preisen wendet sich unser Gespräch zur #metoo-Debatte. Stellt sich die Frage eines femininen Prinzips in der Performancekunst? Während Männer, zumindest in der Literatur, oft das große Panorama entwerfen, entspricht das sehr subjektive, am eigenen Körper ausgetragene, oft einer weiblichen Herangehensweise. In Gruppenarbeiten seien solche Tendenzen schon bemerkbar. Das Klischee, dass männliche Kollegen die schnellen Entscheidung treffen, findet man auch in der Kunst. Das kann schön sein, sich nicht in langwierigen basisdemokratischen Verhandlungen zu verstricken, aber manchmal reicht es eben auch nicht und man muss, sozusagen unter Einsatz des hohen Energielevels dranbleiben. Dranbleiben. Eine gewisse Abgeklärtheit macht sich im Gespräch breit, doch bevor diese spezielle Stimmung erklärt werden kann, erzählt Andessner noch von der sehr großartigen Performancephase, die unter dem Titel Surrender in Spaces von ihr nicht nur an internationalen Schauplätzen gezeigt wurde, sondern sie das Spiel zwischen Objekt und Subjekt doch einigermaßen zur Meisterschaft gebracht hat. Für die Surrender in Spaces-Serie inszenierte sich die Künstlerin in zahlreichen Settings und differenzierte dabei die Mimesis in Schwarz aus. Eine wiederkehrende, etwas abweisende Geste wird zum ästhetischen Mittel, denn durch die von ihr suggerierte Abgewandtheit, wird die Performancekünstlerin zugleich zum Objekt, zum Denkmal und zum Inventar unterschiedlicher Architekturen oder Gegenden. In den unterschiedlichen Sujets, wie dem bereits erwähnten Friedhof in Oberwart, wird das Denkmalhafte ihres Körpers besonders ausgeprägt. War die Zurückhaltung am Friedhof anfangs noch dem Respekt geschuldet, mündete diese Haltung in dem Resultat, die unterschiedlichen Bestattungsriten und Kulturen besonders gut nachvollziehen zu können, was auch für die BetrachterInnen der Serie sehr gut deutlich wird. Weitere Räume beziehen sich auf das Innen, also Innenräume. In den Innenräumen war die Parallaxe ein zentrales Thema. Andessner zoomte dafür mitunter ihren Körper ins Kleinformat und passte sich so in eine spezifische Raumsituation ein, in eine geometrische Ecke, ins Interieur, stehend in der Wiese oder, wenn es notwendig erscheint, auch auf einen Baum …

 

„Quite elegant … groove“

Interieur liefert ein Stichwort, das eine andere Richtung aufzeigt, zu einer anderen Arbeit führt, die Anfang nächstes Jahres als 80-teilige Grafikserie „Being Human“ und in unterschiedlichen Formaten von Elisa Andessner gezeigt werden wird. Möbel sind schon lange eine spezielle Leidenschaft der Künstlerin. Das Interesse für ein Gebrauchsstück wie das Möbel, ist aber nicht nur dem Design oder ästhetischen Annehmlichkeiten geschuldet, sondern steht mit etwas in Verbindung, das man mit Behaglichkeit und Vertrautheit, mit etwas sehr Intimen und einem menschlichen Grundbedürfnis in Verbindung bringen könnte. Als Andessner ein altes Büchlein über Möbel mit dem Titel „The Observer’s Book of furniture“ in die Hände fällt, beginnt sie es zu bearbeiten, bemalt Seite um Seite, bis die Seiten durch die weiße Ölfarbe etwas Körperliches und Schweres anhaftet. Auf jeder Seite im Buch wurden nur wenige Worte nicht übermalt, die weiße Farbe stellt so die Möbel vom Textblock frei und jene Worte, die noch lesbar sind, scheinen unterhalb des Mobiliars zu tanzen. Mitunter scheint es, als würden die Möbelstücke zwischen den beweglichen Worten und der schweren, weißen Farbe, zu zierlichen Wesenheiten geraten. Elevated …

 

Between Time and Space

Während der letzten Periode, in welcher der Between Time and Space-Zyklus entstand, passierte für die Performancekünstlerin etwas Neues. Vielleicht war der Prozess des Verschwindens daran schuld? Im Rahmen von Between Time and Space setzte sich Andessner jedenfalls nicht mehr nur mit speziellen Räumen auseinander, sondern bewegte die Räume oder Elemente gewissermaßen in ihre Richtung, in sich hinein, verleibte sie sich ein und verschwand dabei letztendlich selbst in einer neuen Virtualität. In Between Time and Space finden sich die BetrachterInnen zwar wieder in der Natur oder innerhalb spezieller Architekturen, doch spielen dieses Mal auch flüchtige Elemente, wie Rauch oder Wolken oder die Oberflächenstruktur des Meeres, eine Rolle. Zentral war während der gesamten Phase die Arbeit mit der Kamera, wofür sie eine Canon EOS 70D verwendet, um die jeweiligen Situationen zu fotografieren. Between Time and Space arrangierte sich Elisa Andessner derart mit dem Fotos, dass sie ihre Silhouette brechen oder daran andocken, die Bilder schieben sich vor ihre jeweiligen Körpergrenzen und schieben ihren Leib, Layer um Layer, langsam aus dem ursprünglich gemeinsamen Bildnis und bringen ihn scheinbar zum Verschwinden. Die Virtualität, die dabei entsteht, hat einen neuen und unbekannten Möglichkeitsraum für die Linzer Künstlerin eröffnet.

Die Performance als künstlerischer Ausdruck rückt zurück und gibt Raum für das, was Andessner formuliert als Wunsch, noch tiefer in das Unbekannte hineinzugehen, aber subtiler, intermedial und ästhetisch komplexer, als das mit dem performativen Zugang möglich wäre. Uns bleibt der Ausblick auf den Katalog, der nächstes Jahr von ihr mehr oder weniger unabhängig vom bb15 und in Eigenregie, über die Arbeiten im Performancelaboratorium veröffentlicht wird sowie ihre geplante Ausstellung der zärtlichen Interieurs: Being Human.

 

Die Bildserie „Between Time And Space“ ist während eines Residencyprojektes in Norditalien, im Rahmen des LinzExport Stipendiums der Stadt Linz, entstanden.

Elisa Andessner hat zuletzt im Kulturquartier bei der Ausstellung anlässlich „60 Jahre Egon Hoffmann Atelierhaus“ teilgenommen.

Ein umfangreicher Einblick in Elisa Andessners Arbeiten: elisa.andessner.net

Bedeutungs-Flüsse

Christian Steinbachers neues Buch Gräser im Wind als Abgleich und Genealogie. Über die Idee einer bis zum Stillstand verlangsamten Wahrnehmung, über Sprachskepsis und Ambivalenz anstelle universeller Wahrheiten schreibt Florian Huber.

„[…] und dann schien, obgleich nicht der leiseste Wind wehte, wahrscheinlich ein ganzer Baum zu erschauern, wobei alle seine Blätter einen plötzlichen, letzten Regen abschüttelten, dann fielen noch ein paar Tropfen, und dann, eine ganze Weile danach, noch ein Tropfen – und dann nichts mehr.“ – Mit diesen Worten endet der im Original 1958 erschienene Roman Das Gras des französischen Schriftstellers Claude Simon in der 1971 erstmals publizierten deutschen Übersetzung durch Erika und Elmar Tophoven, der 2005 eine Neuübertragung durch Eva Moldenhauer folgte. Der von Simon in diesen Zeilen gemachte Versuch, etwas Vergangenes wenigstens in der Sprache festzuhalten, indem man die eigene Wahrnehmung zu verlangsamen und zum Stillstand zu bringen sucht, ist vermutlich auch dem Lesen und literarischen Übersetzen inhärent. Diese Idee bildet jedenfalls das zentrale Motiv im Schreiben des 1913 in der madagassischen Hauptstadt Tananarive geborenen, und 2005 in Paris verstorbenen französischen Literaturpreisträgers, dessen Werk dem 1960 geborenen Linzer Schriftsteller Christian Steinbacher in seinem neuen Prosabuch Gräser im Wind. Ein Abgleich (Czernin Verlag 2017) als poetologischer Angelpunkt dient: „Ein Dehnen von Momenten ist’s, das uns da zum zentralen Vorhaben wird. Ja, immerzu gedehnt will das sein, ja und ja, und ja und ja und ja“ (S. 75).

Der Titel seiner Textsammlung erinnert dabei gleich doppelt an Claude Simon, indem neben Das Gras auch der prominente Vorgängerroman Der Wind von 1957 evoziert wird, während die für den Band zentralen „23 Seilschaften“ an die bereits 1947 entstandene Prosa Das Seil denken lassen. Das titelgebende Flechtwerk fungiert bei Simon als Sinnbild einer Historie, die dem Menschen geradlinig und zielgerichtet erscheint, aber letztlich doch unentwirrbar, verschlungen und voller Widersprüche ist, wie auch das dem Roman Das Gras vorangestellte Motto des russischen Autors Boris Pasternak unmissverständlich deutlich macht: „Niemand macht die Geschichte, man sieht sie nicht, ebenso wenig wie man das Gras wachsen sieht.“ Ihre Betrachtung verlangt daher nach einer Methode, die die inneren Widersprüche historischer Vorgänge und die mit ihnen verbundenen Traumata offenlegt, indem sie das „Werden der Menschheit [als] eine Abfolge von Deutungen“ begreift, wie der Philosoph Michel Foucault im Anschluss an Friedrich Nietzsches Genealogie der Moral formulierte.

Literatur wie Geschichtsschreibung dienen damit weniger der Begründung kultureller Identität als ihrer permanenten Kritik, indem sie an ihre Kontingenz, ihr historisches Gewordensein und somit auch an ihre Veränderbarkeit und Abhängigkeit von den herrschenden Machtverhältnissen erinnern: „Werden auch Schlussfolgerungen geboren? Oder gehen sie nur hervor?“ (S. 50). An die Stelle universeller Wahrheiten tritt dementsprechend ein Plädoyer für die Vielfalt historischer Gegenstände, Akteure und Sinnzuschreibungen, die nicht in einem gemeinsamen ahistorischen Ursprung wurzeln, sondern in ein Geflecht vielschichtiger Machtbeziehungen und Handlungen, eingebettet sind, die die Genealogie zu verorten und beschreiben sucht: „Und in ihrer Ansicht, dass schleifen auch ‚verwickelt‘ sein können, und nicht nur etwa ‚kompliziert‘, möchte ich unserem Professionistenpaar gerne recht geben.“ (S. 50). Wahrnehmungsroutinen werden durchbrochen, Worte und Dinge erscheinen in einem neuen Licht, indem festgefügte Wertvorstellungen und vermeintlich selbstverständliche Bedeutungen hinterfragt und andere Möglichkeiten des Handelns und Denkens in Betracht gezogen werden: „Auch bei L-leder denken wir unweigerlich an etwas Glattes. Ein pelziges Leder sei daher völlig widersinnig, meinte mein Gesprächspartner, als ich ihn scherzhaft fragte, wo es ihn denn mehr hinziehe, zu dem pelzigen oder zum krümeligen.“ (S. 54). Wie Claude Simons Prosa verdankt sich Steinbachers Erzählen mithin einer Sprachskepsis und einem Streben nach Ambivalenz, das das Seil kurzerhand zur Seilschaft macht und dadurch gleichermaßen auf Bergfreundschaften wie korrupte Vorteilsannahmen verweisen kann. Der Verlust feststehenden Sinns wird zum Ermöglichungsgrund poetischer Rede, da die begriffliche Mehrdeutigkeit zugleich den Garanten für sprachliche Unterscheidungen und Nuancierungen darstellt: „[…] also haltet bitte fest: Ein Volant ist keine Rüsche, ein Boy kein Portier, und eine Haube kein Deckel.“ (S. 46).

Im Rahmen literarischer Übersetzungen scheint dieses Differenzierungsvermögen besonders gefordert, wie Gräser im Wind durch die textliche Integration der Claude Simon-Übertragungen von Eva Moldenhauer und von Elmar und Erika Tophoven deutlich zu machen sucht. Während die literarische Leistung des Ehepaars Tophoven in der Rezeption häufig alleine Elmar zugeschrieben wurde, kommen bei Steinbacher stets Elmar und Erika zu Wort, deren Reden von einer dritten Figur namens Evas flankiert werden: „Eva: ‚was soll das beruhige dich‘ / Erika und Elmar: ‚ach was‘ / Eva: ‚was soll das‘“ (S. 102). So besehen liegen dem Verfertigen literarischer Texte und ihrer Übertragung kollektive Erfahrungen zugrunde, die das Geräusch der eigenen Stimme mit fremden Klängen in Gestalt anderer Sprachen und Themen, alternativer Lektüre- und Lebenserfahrungen konfrontieren. Deutschsprachige Leserinnen verdanken dem Ehepaar Tophoven etwa auch die Bekanntschaft mit dem Werk Samuel Becketts und von Nathalie Sarraute, während Moldenhauer neben Texten des französischen Ethnographen Claude Lévi-Strauss im Verlauf des letzten Jahrzehnts insgesamt sechs Romane Claude Simons ins Deutsche übertrug, die gemeinsam gelesen neue Motive, Fragestellungen und literarische Lösungsansätze sichtbar werden lassen. Sie alle umkreisen in ihrem Denken und Schreiben die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts und ihre traumatischen Zumutungen für das Individuum und die Gesellschaft, indem sie die begriffsschwache Erfahrung der Sinne in Sprache zu übersetzen und dabei literarische Traditionen umdeuten oder zu dekonstruieren suchen. Der eigene Text ist dabei Resultat des Austauschs mit anderen, deren Denken, Leben, Fühlen und Schreiben die eigene Ästhetik prägt. So treten in Steinbachers Prosa neben Claude Simon und seinen deutschen Übersetzerinnen etwa Felix Philip Ingold, Tomas Schmitt, Gunnar Ekelöf, Arthur Køpcke, Stefan Ripplinger und vor allem die Linzerin Elisa Andessner, die für den Band Fotografien beisteuerte – als künstlerische Weggefährtinnen in Erscheinung, zu denen sich Familienmitglieder und andere vertraute Stimmen gesellen, die den Schreib- und Redefluss zusätzlich durchkreuzen: „Ein Prachtsatz des Peppe heute: „,Ich weiß, dass das dort nicht passt, aber so kommt es mehr zu Geltung.‘“ (S. 265). Durch die Vielheit der Stimmen und ihre Uneinheitlichkeit wird die Prosa zur Genealogie. Im Akt des Zitierens erteilt der Dichter dem herrschenden Druck zur Anpassung eine poetische Abfuhr, die anstelle homogener Identitätskonzeptionen plurale Anschauungen und Lebensformen setzt. Florian Huber schreibt und forscht über den Zusammenhang von Literatur und Wissenschaft und lehrt an der Leuphana Universität Lüneburg.

Turntabling the Sound

What does John Cage have in common with Afrika Bambaataa? And Edgard Varèse with DJ Shadow? They were all turntablists at some moment of their lifes. In short, these personalities spent a lot of time in front of their record players, manipulating the sound of their records for producing electronic music. And this is also the case of Wolfgang Fuchs, the artist living and working in Linz. Enrique Tomás met him for knowing more about what he is producing these days.

Wolfgang Fuchs is one the most relevant turntablists in Austria. We can imagine him carrying a comfortable bag with no more than a small pile of records, arriving some art gallery of club, checking the needles of the record players on stage and almost being prepared to improvise a sonic perfomance. From loud and strange experimental music to calm and delicate pieces of improvisation, alone or together with other musicians. He soon admitted at our interview that he prefers a good conversation before the concert for preparing himself than many hours of rehearsals. “At rehearsals sometimes I feel as if we were consuming the energy for the concert” — asserted. When I ask him if he also plays with laptops, he quickly smiles and admits that he did it, “but only two or three times”. “I even once prepared a conceptual performance. It was just me on a club stage, faking clearly that I was playing live with my laptop. Everything was played back of course, nothing live. The point was clearly criticizing the lack of embodiment at many laptop performances. Sometimes I see laptop performers with mostly the attitude of checking their emails more than playing live!”. This idea resonated to me. Almost the same feeling impulsed DJ Moldover a decade ago to develop “controllerism” the next revolution after the decay of turntablism. Basically, it means the use of musical controllers (basically MIDI controllers) for live performance on stage, mostly for playing the music that traditionally was played with records. How is it possible that our technological advances have constrained so much the communication with our audience? “What I like of playing with records” — explains Fuchs “is that I can touch the sound. Everything I do is embodied and visible. I have direct haptic feedback with the instrument, and it is intimately connected with the musical content. Indeed I noticed how after some years of performance my earliest records begin to sound different. They begin to suffer the pass of time, and the use of many needles on many stages. But this makes me feel good. My records are evolving with me! I decided to archive the question about if he likes digital format of music, and I asked about the records he performs on stage. “In fact all the records I use at performance are bought from some other geeks like me. I prefer that the sounds used to build my works have some personal connection, some story”. In fact, that seems a strategy with a perfect logic. The more personal connection one has with the contents of a performance the easier is manipulating them. I can think of the same case when I played musical scores written by composers friends of mine. It was always easier to remember the notes. Interestingly, turntablism has had already periods of more and less activity. Golden years of experimentation and decades of commercial commodification. From the experimental years of avant-garde to the adveniment of the DJ phenomena. Probably the greatest days of turntablism were connected with the american hip-hop culture which started on the late 70s. But in the late 90s the appearance of computer applications brought a particular decay to the figure of the turntablist, even at hip-hop. In fact, one of the most popular definitions of the art, described by the composer John Oswald, directly engages this art with hip hop: “Turntablism is a phonograph in the hands of a ‘hiphop/scratch’ artist who plays a record like an electronic washboard with a phonographic needle as a plectrum, producing sounds which are unique and not reproduced. The record player becomes a musical instrument”. During our conversation, Wolfgang Fuchs clarifies his position regarding specific techniques with record players “I use plenty of techniques, but what I decidedly never use is scratching. It brings me to another aesthetics where I do not feel comfortable my art. It is strange” — continues “because the first technique which is explained to beginners is usually scratching. But this will affect all their learning about playing records”. And it seems coherent too. The culture of scratching has become almost a cultural cliché, a placeholder used when there are no other creative things to do with records. “My technique has evolved towards producing very abstract sound. Sometimes, when I play with other musicians, especially with those playing acoustic instruments, it is difficult to discern which sound is produced by each instrument”.

The conversation turns, and we dedicate our time to talk about more personal questions and about his recent years of career. Wolfgang Fuchs grew as a turntablist in Vienna, where he was surrounded by other artists and with the collective klingt.org he did his first steps as performer decades ago. “I still feel quite connected to the scene in Vienna. Still many of the projects I am involved were initiated there”. Then I asked about his connection with the Jazz Atelier Ulrichsberg. “Of course, I have been performing a couple of times there and this Summer I could produce one of the projects which I am more proud of”. He talks about the project ‘Kammerflimmern’, an artistic intervention with found objects at the Atelier spaces during the last festival Kaleidophon. “I was able to spend a couple of months collecting relevant objects from the corners of the Atelier. Like old posters, the saxophone suitcase of Anthony Braxton, and other strange objects too. For instance, tools used for fixing parts of the building. I decided to intervene various spaces with these objects alluding to the music produced around them at certain years. As well I wanted to remember all those important people who have contributed to keep the Jazz Atelier alive during so many years. For me and for Alois Fischer, the responsible of the Atelier, it was a very emotional project. We hope to have communicated it well to the visitors”.

Finally we commented the musical projects he is involved in nowadays. Among various formations Wolfgang Fuchs remarks the trio ‘SARROS’ with Veronika Mayer and Lale Rodgarkia-Dara. “I am quite happy about the combination of elements of this project. Electroacoustic music, experimental literature, radio artivism … The project does not look spectacular, but in contrast, the music produced is calm and meditative, but quite expressive”. He also reminds at the last moment the next release of a CD by Confront Recordings containing one of his works and that he is active part of the Baby Success Club … although that was already featured at another edition of Die Referentin.

 

Wolfgang Fuchs war im November in der argentinischen Stadt Lincoln auf Soundart-Residency, in der “Comunitaria – residencia de arte contemporáneo”: www.comunitaria-argentina.org

Vor seiner Residency war er ein paar Tage in Buenos Aires, um „u. a. ein Konzert mit Otomo Yoshihide, Luis Conde etc …“ zu spielen.

Artwork des Jahres.

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Das vergangene Leuchten

„Erinnerungen verblassen mit der Zeit, manchen hängen wir nach, andere wollen wir verdrängen“ hieß es im Ankündigungstext zu Astrid Benzers Arbeit „Was war …“, die beim Festival der Regionen in Marchtrenk gezeigt wurde. Und weiter: „Die Installation will alte Familienfotos und die dazugehörigen Familiengeschichten sichtbar machen. Sie will eintauchen in die Geschichte der Stadt und die Geschichten ihrer BewohnerInnen.“ Ein Kurzreview.

Foto Norbert Artner

Foto Norbert Artner

Die in einer Halle gezeigte Arbeit „Was war …“ schien immer wieder Menschen und ganze Menschengruppen in ihren dunklen Bann zu ziehen, die zwischen den Bildflächen herumgingen, lasen, schauten und scheinbar zu langen, langen Gesprächen über persönliche wie gemeinsame Geschichte angeregt wurden. Die Taktung zwischen düsterer Helligkeit, Flackern und plötzlicher Dunkelheit ergab sich durch fotografisch/fototechnische Notwendigkeit. Das Leuchten der fluoreszierenden Bildsujets, die Dunkelheit, dann wieder das kurze Lesen in den Zwischenphasen, bildete eindringlich wie leicht ein Szenario, das vielleicht sogar eine symbolische Taktung des Lebens und seiner Zeitrhythmen schlechthin symbolisierte: Vergangenheit, Historie, Erkenntnis, Verdrängtes, Erinnertes, Persönliches, Tag, Nacht, schöne Tage, besondere Ereignisse, Traum, Trauma, Unbewusstes, Ungewusstes. Die Referentin hat bei FdR-Besucherinnen nachgefragt: Neben anderen beeindruckenden Arbeiten des FdR wurde „Was war …“ von vielen als besonderes Projekt bezeichnet. Speziell hinsichtlich der Vergangenheit Marchtrenks als Ort des Krieges und der Flucht, der schon wie früher, durch zwei Weltkriege bedingt, nun neuerlich Ort des Ankommens für vom Krieg Geflüchtete geworden ist. Oder auch, durch persönliche Bilder von Marchtrenker Familien, eines Aufleuchtens von beispielhaften Erinnerungspunkten – am Weltgeschehen hängt Familiengeschichte und vice versa. Ein einnehmendes künstlerisches Statement, das Erinnerung schlechthin thematisiert: Zu den gezeigten Bildern gesellen sich weitere Erinnerungen von BesucherInnen dazu, es entstehen zusätzliche Bilder, so ein Besucher.

Videodoku: vimeo.com/228003866

Memphis in Linz

Was uns die Existenz des Kunstraums Memphis über die Bedingungen dauerhaften, künstlerischen Schaffens in Linz verrät. Ein Portrait über die Geschichte des Projekts und die beiden Künstler Jakob Dietrich und Kai Maier-Rothe, die an der Unteren Donaulände den Offspace betreiben.

Mamphis in Linz. Foto Die Referentin

Mamphis in Linz. Foto Die Referentin

Vom Nomadentum zur Sesshaftigkeit

2009 machte sich eine Gruppe von Kunst­uniabsolventInnen unter maßgeblicher Mitarbeit von Jakob Dietrich auf die Suche nach Leerständen. Ursprünglich entstand die Initiative, die sich den Namen „Nomadenetappe“ gab, aus einem konkreten Bedarf an Arbeitsplätzen und Ateliers, woraus sich bei der Suche nach Räumlichkeiten die Vorgabe einer mindestens zweijährigen Nutzung ableitete. Das Kernteam bestand dabei zeitweise aus bis zu zwölf Personen und durch die zahlreichen Aktivitäten waren in Folge eine Vielzahl weiterer lokaler wie internationaler AkteurInnen daran beteiligt. Die ehemalige KFZ-Werkstätte Niesslmüller zwischen Dametz- und Marienstraße diente alsbald zwei Jahre lang als erster Ort der künstlerischen Bespielung im (halb)öffentlichen Raum. Der Innenhof mit angrenzenden Garagenräumen schuf gleichzeitig einen charmanten sozialen Treffpunkt. Mit dem Anspruch ein „Little Berlin“ zu schaffen setzte man zumindest zwischenzeitlich den Gentrifizierungsaktivitäten in diesem Viertel ein lebendiges und weithin sicht- bzw. hörbares Kunstschaffen entgegen. Nachdem das Gebäude einem Wohn- und Geschäftskomplex weichen musste, übersiedelte man zunächst in die vergleichsweise kleinen Räumlichkeiten in der Unteren Donaulände. Für die nächste Etappe schielte man auf die ehemalige Tabakfabrik. Noch bevor sie zum Creative-Industry-Standort umgebaut wurde, beteiligte man sich aktiv an den Diskussionen zur Revitalisierung und den Möglichkeiten einer künstlerischen Nutzung. Letztlich ist die Stadt der Gruppe nicht entgegengekommen und hat damit eine weitere Chance, künstlerisches Schaffen in Linz zu erleichtern und Leute hier zu halten, vergeben. Daneben war bei vielen der Beteiligten der akute Bedarf an Arbeitsräumen von größerer Notwendigkeit, als die Ressourcen in die weitere Suche und dauerhafte Bespielung von Leerständen zu investieren. Auch aus diesem Grund verließ ein Teil der Gruppe sukzessive Linz, was schließlich zu ihrer Auflösung führte. Dietrich und Maier-Rothe ließen nicht ab und haben sich im Anschluss mit der Gründung von Memphis institutionalisiert.

Niederlassung Memphis

Seither macht sich im Linzer Kunstleben die Initiative mit vielfältigen künstlerischen Formaten bemerkbar. Inspiriert ist der Name vom Off-Space „Beirut“ in Kairo, den Maier-Rothes Bruder dort vor einigen Jahren eröffnete. Die Idee, dem Raum den Namen einer anderen, in hiesigen Gefilden weitgehend unbekannten, Stadt zu geben, der mehr- bzw. uneindeutig belegt ist und sich bewusst einer Definition entzieht, erschien den beiden Künstlern reizvoll. So wollte man sich bewusst als Freiraum und offene Infrastruktur gegenüber bestehenden Galerieansätzen abgrenzen. Man streicht damit aber überdies den internationalen Charakter des Projekts hervor, denn internationale Kooperationen und multilateraler künstlerischer Austausch sind selbstverständlicher Bestandteil der kuratorischen Praxis. Das Jahresprogramm gliedert sich in mehrere Schienen und wird in Form von Duo- und Gruppenausstellungen, Konzertreihen, Performances und Diskussionsveranstaltungen über die Bühne gebracht. Kuratorisch setzt man sich dabei keine Schranken: Einen thematischen oder formalen roten Faden gibt es nicht. Eingeladen wird, wer interessant erscheint. Wesentliche Stoßrichtung ist jedoch der Fokus auf Transdisziplinarität, die Ermöglichung von Experimenten und die Anknüpfung an künstlerisch-wissenschaftliche bzw. kunsttheoretische Forschungsfelder. Die Ausstellungsreihe „Parallaxe“ versammelt jeweils zwei künstlerische Positionen – eine lokale und eine internationale – zu einem Thema. Dabei finden die Beteiligten auf unterschiedliche Weise zusammen: KünstlerInnen werden entweder bewusst zur Zusammenarbeit aufgefordert oder man lässt die zweite Person von der angefragten selbst aussuchen. Mitunter stellt man auch zwei bestehende Arbeiten bewusst gegenüber. Auf diese Weise bringt die Projektreihe nicht nur Außenpositionen nach Linz, sondern leistet damit auch internationale Vernetzungsarbeit. Ein direkter Dialog mit dem Publikum wird bei den Eröffnungen möglich. In regelmäßigen Konzertreihen (momentan unter dem Titel „OFFNOFF“) loten KlangkünstlerInnen und MusikerInnen die Grenzen der Kunstform aus, oft als Teil ihrer eigenen künstlerisch-wissenschaftlichen Forschung. Über den „Galeriealltag“ hinaus entwickeln Dietrich und Maier-Rothe überdies gemeinsam Projekte, meist in Zusammenarbeit mit internationalen Offspaces oder etablierten Einrichtungen, wie etwa dem Museum für zeitgenössische Kunst Marco in Vigo/Galizien. Jüngst veranstaltete man während der Athen Biennale die performative Stadtrundfahrt „Klassenfahrt Athen“ gemeinsam mit zwölf beteiligten Personen, darunter auch eine Dramaturgin und eine Ethnologin.

Kunstschaffen zu zweit

Auch wenn Maier-Rothe erst nach dem Ende der Nomadenetappe in die Gründung von Memphis einstieg, verbindet Dietrich und ihn eine langjährige künstlerische Zusammenarbeit, bei dem das Thema „Leerstand“ stets ein zentrales Thema war. Mit gemeinsamen Soundarbeiten wurden Räume oder ganze Gebäude „vertont“. Im Mittelpunkt standen dabei sowohl die Eigenakustik dieser Räume als auch ihre Verortung in der Stadt. Die akustischen Interventionen in diesen „Nicht-Orten“ führten so zur Umdeutung und Neudefinition ihrer ehemaligen Funktion und Denotation. Die Wahl der leerstehenden Räumlichkeiten orientierte sich dabei an ihrer urbanen Entortung: Es sollten vor allem jene Räume zum „Sprechen“ gebracht werden, die sich dem umgebenden städtischen Kontext entziehen oder ihm entzogen wurden. Das reichte von der Bespielung von Industrieanlagen bis hin zu historisch aufgeladenen Bauten. Dokumentarisch materialisiert wurden die Soundproduktionen wiederum in Form von Vinyl­editionen. Auf Grundlage dieser temporären Interventionen entwickelten die beiden ein künstlerisches Format, das sie während zahlreicher Auslandsaufenthalte auf die jeweiligen örtlichen Gegebenheiten und Architekturen adaptierten, so etwa in China, Indonesien oder aber auch in den vormals geschlossenen Tabakwerken in Linz. Dabei verstehen die beiden ihre Eingriffe ebenso als Teil einer explorativen künstlerischen Praxis, mit der sie fremde Städte und Stadtgefüge für sich (neu) entdecken. Auch das gemeinsame Diplom an der Kunstuniversität Linz hatte den akustischen Raum der Stadt zum Thema: Die Soundinstallation „Reflector“ verstärkte Umgebungsgeräusche im Innenraum und richtete sie mittels einer verspiegelten Glasfläche, die als Membran fungierte, wieder nach außen. Wenngleich Dietrich und Maier-Rothe ein langes, gemeinsames künstlerisches Schaffen verbindet, trennen sie ihre Solo- bzw. Duoarbeiten strikt vom Betrieb des Memphis, in dem sie sich selbst mehr in einer kuratorisch-organisatorischen Rolle sehen.

Produktionsbedingungen

Trotz Jahresförderungen von Stadt, Land und Bund bleibt die Arbeit prekär. Erst die Bundessubvention ermöglichte überhaupt den regulären Betrieb des Art Spaces, während die Förderungen von Stadt und Land seit Jahren auf niedrigem Niveau stagnieren. Das Programm kann daher meist nicht in der geplanten Quantität umgesetzt werden. Auch die starke Konzentration auf künstlerisches Schaffen in Wien macht es selbst in den „eigenen Reihen“ schwierig, Öffentlichkeiten für das eigene Programm vor Ort zu schaffen. Wichtige MultiplikatorInnen, wie etwa Kunstuni-Lehrpersonal, leben vielfach selbst in Wien und haben daher oft lokale künstlerische Aktivitäten nicht in jenem Maße im Blickfeld, das man sich wünschen würde. In Summe schrumpft der Freiraum für eigene künstlerische Betätigung daher zusehends, was sich nicht zuletzt an den Förderungen der freien Szene durch die Stadt Linz ablesen lässt, wo heute derselbe Betrag wie 2001 ausgeschüttet wird, was einer faktischen Kürzung von über 30% entspricht. Ein Symptom, das sich durch eine älter werdende Künstlergeneration zieht: Nach zwanzig Jahren prekärer Arbeit von Projekt zu Projekt sind viele freie Kunstschaffende erschöpft. Wenn neben Administration, Programmentwicklung und Infrastrukturbetrieb noch Familie und gar selbständiges künstlerisches Schaffen möglich sein soll, wird das immer schwieriger. So ist die Institutionalisierung durch Memphis letztlich auch der (notwendige) Versuch, im künstlerisch-experimentellen Feld dauerhaft arbeiten zu können und dabei auch ein Auskommen zu finden. Es ist daher wenig überraschend, dass das Verhältnis zu Linz ambivalent ist: Während Maier-Rothe seinen Lebensmittelpunkt ohnehin außerhalb hat, ist Dietrich vor allem wegen seiner Familie hiergeblieben. Ob sich also aus dem Offspace langfristig mehr entwickelt, ist wohl wesentlich von den weiteren Bedingungen in der Stadt abhängig. Pläne zur Expansion gibt es: Stünden mehr Mittel zur Verfügung, würde in bessere und größere Räume investiert, sodass neben einem vergrößerten Ausstellungsbetrieb auch Art Residencies finanziert und durchgeführt werden können. Aktuell beschäftigt man sich im Rahmen des Researchprojekts „Essay as a state of mind“ mit dem Essay als Methode künstlerischer Forschung. Stellt, wie oft behauptet, künstlerische Forschung in der Bildenden Kunst ein Pendant zum literarischen Essay dar? Diese und ähnliche Fragen werden in Zusammenarbeit mit dem Kulturwissenschafter Leander Gussman behandelt und die Ergebnisse in Form von Ausstellungen, Diskussionsveranstaltungen, Filmvorführungen und einer abschließenden Publikation im Laufe des nächsten Jahres präsentiert. Kooperiert wird dabei mit verschiedenen Institutionen in Linz und Wien. Man darf gespannt sein.

 

MEMPHIS, Untere Donaulände 12, 4020 Linz Öffnungszeiten: Mo/Di/Do/Fr 13.00–18.00 h

www.memphismemph.is

Turnton und die utopische Dystopie

Wir befinden uns im Jahr 2047 in Turnton, in einer nicht näher definierten, kleinen Küstenstadt irgendwo in Europa: Time’s Up eröffnen ihre Ausstellung Turnton Docklands Anfang September im Kunstmuseum Lentos. Als Teil des Ars Electronica Festivals sind Time’s Up heuer auch „featured artist“. Die Referentin hat Time’s Up um einen Text gebeten, der im Vorfeld ihre Zugänge des „Future Fabulatings“ und der „Physical Narratives“ veranschaulicht.

Time’s Up bauen ins Untergeschoss des Lentos Teile des Hafenviertels der fiktiven Stadt Turnton. Die Besucher und Besucherinnen befinden sich beim Ausstellungsbesuch auf dem Marktplatz des „Hafengrätzls“. Sie sehen die Hafenmeisterei, repräsentiert als Kulissenwand in Form eines Leuchtturms, samt Registrierungsterminal für anlandende Schiffe. Sie sehen silhouettenhaft zwischen den Häuserfassaden vertikale Wälder, inzwischen eine urbane Normalität. Sie sehen weiter hinten den angedeuteten verseuchten, vergifteten und vermüllten Meerzugang, jedoch auch die reinigende Algenzucht. Das Fortbewegungsmittel einer Pflanzenbestäuberin steht prominent auf dem Platz. Gleich dahinter das Reisebüro „Travel without Borders“, wo aktuelle Reiseangebote eingesehen werden können. Zum Eintreten lädt Medusas Hafenkneipe. Diese folgt weniger einer baulichen Logik, als dass sie eine Sammlung von Geschichten, Anekdoten und Informationen präsentiert. Hörspiele und akustische Barkulisse verschwimmen, die regionale Zeitung, Veranstaltungsposter oder schlicht die Speisekarte orientieren über Dinge der Zukunft. Verschiedene Ausgänge der Bar führen in verschiedene Ideen einer möglichen Zukunft.

Mit Turnton Docklands konstruieren Time’s Up eine reale Umgebung – eine kulissenorientierte Architektur, die teils baulich, teils mit Licht- und Tonlandschaften und teils mit Narrationen Imagination erzeugt. Was sich inhaltlich wie das Was-ist-was der globalen Problemlagen liest, haben Time’s up mit ihrer Ausstellung Turnton Docklands ihrer typischen künstlerischen Bearbeitung von „Future Fabulating“ und „Futuring“ unterzogen – und zu einem neuen „Physical Narrative“, also einer „Verzimmerung“ von Rauminstallation, Erzählung und Zukunft gemacht. Anthropozän is over und auf Rückzug wie eine globale Gletscherlandschaft? Permanenter Ausnahmezustand und eine Mischung aus Liquid Democracy und Anarchosyndikalismus? Und in dieser Dystopie: Der große Zukunftswunsch nach Wohlstand für alle – ist das der neue Luxus, quasi wie zum Trotz? Die Referentin hat Time’s Up im Vorfeld der Ausstellung gefragt, wie man sich Turnton Docklands und die Geschichtsschreibung bis 2047 vorstellen kann und den folgenden Text erhalten: Keine Angst vor Utopie und vor dem Wunschzettel an die Zukunft.

Text Time’s Up

Zeitlich befinden wir uns im Jahr 2047, geografisch bewegen wir uns im Hafenviertel einer am Meer gelegenen und nicht weiter lokalisierten, kleinen Stadt namens Turnton. Wir wandeln in einer Zeit, in welcher die verheerenden Langzeitwirkungen von Umweltverschmutzung und deren einhergehende Erschütterung des Naturhaushaltes den globalen Alltag dominieren. Schadstoffbelastungen und Altlasten vergiften Böden und Gewässer, ganze Ökosysteme kollabieren, in den Ozeanen ist das Leben durch größer werdende tote Zonen bedroht. Umweltbedingte Gesundheitsschäden sowie Todesfälle mehren sich bedenklich. Die bis Mitte der 2020er Jahre politisch immer nur zögerlich bekämpfte globale Erwärmung wütet mit weltweiten Wetterextremen und erheblichen, klimatischen Veränderungen. Überflutungen, Dürren und Stürme samt stetigem Anstieg des Meeresspiegels verunmöglichen die Nutzung von weitläufigen Landstrichen und Küstengebieten.

Die Folgen der rücksichtslosen Eingriffe der Menschheit in über Millionen von Jahren entstandene, ökologische Systeme treiben diese Welt um Turnton des Jahres 2047 also ihrem desaströsen Höhepunkt entgegen. Was Time’s Up diesem Turnton der ökologischen Dystopie entgegenhält, ist eine gesellschaftliche Utopie. Ausgehend von der Frage, wie denn Luxus in 30 Jahren aussehen könnte, kontern wir der vorhergesagten Öko-Katastrophe mit der Fülle von bereits im Hier und Jetzt existierenden Visionen und Entwürfe, die in den nächsten 30 Jahren einen zivilisatorischen Wandel zum Besseren erlauben. Das heißt, wir wandeln in einer Welt, in der die Maxime „Wandel war unsere einzige Chance“ nicht nur von einer Fülle kleiner Initiativen und AktivistInnen implementiert wurde, sondern begann, die Massen zu bewegen. Wir erlauben eine Welt, in der das Streben nach Kooperation die gegenwärtige Gewinn- und Profitsucht überflügelte. Eine, in welcher die gepredigten Glaubenssätze des Neoliberalismus gebändigt und das entfesselte Wachstumsmantra in die Schranken gewiesen wurde, ohne in einen populistischen, nationalen Protektionismus zu münden: Wirtschaftlicher Erfolg erfuhr eine Umdeutung, er hat die faire und ressourcenschonende Bedürfnisbefriedigung von Mensch und Natur im Blick, dient der universell geachteten Lebensqualität und dem Gemeinwohl. Eine der Nachhaltigkeit dienende Rohstoff-, Energie- und Verkehrswende wurde in die Wege geleitet; Handels-, Produktions- und Arbeitsweisen zirkulieren um Maßnahmenkataloge für Klima- und Umweltverträglichkeit, Menschenrechte, Verteilungsgerechtigkeit und Arbeitsstandards. Folglich hat auch Migration ihren Schrecken verloren, inter- und transkontinentale Siedlungs- und Reisebewegungen in alle Richtungen wurden zur Normalität, sind gut organisiert und Ankommende werden als neue NachbarInnen in den Gemeinschaften aufgenommen. Kulturelle Diversität wird als Kraft erkannt. Sprich, alternative Lösungsansätze, die teils weit ins vergangene Jahrhundert zurückreichen, jedoch oft noch in den beiden ersten Dekaden des 21. Jahrhunderts mehrheitlich als naiv abgekanzelt wurden, gewannen in diesem Turnton des Jahres 2047 die Oberhand.

Zweifelsfrei, alles in dieser Stadt, in diesem Hafengebiet, in diesem fiktionalen Versuch einer möglichen Zukunft zeigt Mut zur Lücke. Turnton kann, darf und soll nicht das eine fertige, umfängliche Bild einer prognostizierten Zukunft sein. Turnton bündelt und skaliert bereits existierende Propositionen. Es erlaubt sich, Signale, von denen wir gehört und gelesen haben, mit einer spielerisch injizierten Portion Fabulation zu kombinieren und daraus Zukunftsvarianten zu präsentieren. Turnton erlaubt sich, den Ängsten zu widerstehen und Anstöße für eine mögliche Welt zu bieten, in der wir leben wollen. Eine, die irgendwann dann tatsächlich das gute Leben für alle zulässt. Als im Sommer 2016 die norwegische Regierung ankündigte, dass sie ab 2025 die Neuzulassung von Verbrennungs- und Dieselmotoren verbieten würde und nur wenige Monate später die schwedische Vizepräsidentin prophezeite, dass Schweden ab 2045 CO2-frei sein würde, glaubte wohl kaum jemand daran, dass diese Verheißungen sowohl zeitlich wesentlich früher als auch geografisch ausgedehnter eintreten würden. So war es dann aber in der Geschichte Turntons: Im Jahr 2047 gehören weit über die Region Skandinaviens hinaus fossile Brennstoffe der Vergangenheit an, als dominierende Energiequelle im Fahrzeugantrieb, in der Wärme- und Stromerzeugung. Alternative Energie-, Transport- und Handelsindustrie sind eingeführt und akzeptiert. Möglich wurden solche Erneuerungen durch flexibel organisierte Institutionen, die teils schon 2016 existierten, teils aus diesen erwachsen sind und sie ersetzten. So beispielsweise die über Dekaden hinweg gewachsene „General Authority for Sustainability (GAS)“ oder auch die „Global Transparency Agency (GTA)“. In wechselseitiger Abstimmung sind diese beiden Autoritäten zuständig für die Verabschiedung, Koordination und Umsetzung weltweit geltender Gesetzesgrundlagen, die von elementarer Bedeutung für ein sozial, ökologisch und wirtschaftlich verantwortungsvolles und kulturell vielfältiges Gesellschaftssystem sind. Lokal aktive Einheiten adaptieren die Grundsätze des Regelwerks jeweils regional flexibel.

Ebenfalls der sozialen Gerechtigkeit und der Umweltschonung dient das dichte Netzwerk autonomer Bildungs- und Forschungsknotenstellen – subsumiert als Zentren für hochentwickelte Technologien (Center for Advanced Technologies – CAT). Laboreinheiten entwickelten Alternativenergie-Lösungen, welche die Energie- inklusive Transportwende einläuteten. Weitere Schwerpunkte der Labor-Netzwerke sind intelligente Lösungen für die Beseitigung von Altlasten, die Regeneration von Artenvielfalt, medizinische bzw. transhumane Forschung oder auch die Luft- und Wasseraufbereitung. In Turnton selbst ist eines der „Networked Oceanic Labs“ darauf spezialisiert, Unterwasserorganismen zu züchten, die in der Lage sind, das Mikroplastik im Meer zu dezimieren (Microplastic Reduction Lab). Finanziert sind die Netzwerk-Labors unter anderem durch die freigewordenen Gelder aus direkter und versteckter Subvention der fossilen Rohstoffindustrie.

Für die Reinigung des unmittelbar an Turnton angrenzenden Küstenstreifens zeichnet sich der lokale Algenfarmer Hamish Dornbirn verantwortlich. Als Pionier dieses Sachgebietes dienen seine verfeinerten Verfahren der „Ocean Recovery Farm“ inzwischen als Grundlage für ähnliche Anlagen, die weltweit verseuchte Küstengebiete und offene Ozeanbereiche regenerieren. Er ist es auch, der die Hafenkneipe Medusa vor Ort mit Ingredienzien für die angebotenen Snacks und Drinks beliefert. Verkocht und serviert werden diese mitunter von der Besitzerin selbst, der ausgebildeten Meeresbiologin Fenfang Lin. Die Liebesbeziehung der beiden ist in der Umgebung des Hafenviertels bekannt. Die Kneipe selbst ist beliebter Treffpunkt für die Menschen des Handelshafens und des künstlerisch-kulturellen Milieus. Magaret Bloomenfeld, ambitionierte Koordinatorin des Handelshafens, mit Büro in unmittelbarer Nähe zur Bar, ist oft gesehene Besucherin wie auch enge Freundin von Fenfang.

Der hohe gesellschaftliche Stellenwert von Kunst und Kultur wird repräsentiert durch die „Always Arts- and Culture“-Einrichtungen, die wie alle etablierten Institutionen weltumspannend vernetzt sind, jedoch in regional-lokaler Autonomie agieren und dementsprechend variable Schwerpunkte setzen. Turnton selbst wird in wenigen Tagen Schauplatz eines mehrtägigen Festivals unter dem Motto: „Celebrating the strength of diversity”. Die „New Neighbour Integration Bewegung“ feiert ihren 20sten Jahrestag

– ein Anlass, mit einem abwechslungsreichem Kunst- und Kulturangebot aufzuwarten, im Zuge dessen auch Maja Jorecki, Theaterregisseurin und Pflanzenbestäuberin, in Erscheinung tritt. Die in und um Turnton kulturell und künstlerisch ausgerichteten Plattformen und Werkstätten, geführt als offene Orte, werden gerne auch von neu Ankommenden genutzt, um sich zu orientieren und auszutauschen – zusätzlich zur bereits erwähnten Hafenkneipe Medusa.

Initiativen wie das „New Neighbour Integration Bureau“ (NNIB) oder „Travel without Border“ (TwB) koordinieren international die unkomplizierte Abwicklung im Bereich der Migrationsbewegungen. Lokale Anlaufstellen stimmen die gesellschaftlich akzeptierten Reise-, Wanderungs- und Siedlungsaktivitäten aufeinander ab und unterstützen abwechslungsreiche „Teilnahme und Teilhabe-Programme“ der heterogenen, wechselhaften Gemeinschaften. Im Zentrum von Turnton wird sowohl eine „Travel without Border“ Börse als auch ein regionales NNIB betrieben. Ein erst kürzlich durchgesetzter Bescheid bewegt: Die bislang in Privatbesitz befindlichen Lagerhallen-Leerstände wurden dem Gemeingut überschrieben und können ab sofort umgenutzt werden. Speziell für die ZuwanderInnen aus dem in Kürze zu evakuierenden Küstengebiet einer atlantischen Inselgruppe ist diese Umwidmung ein willkommener Bescheid. Benötigter Wohnraum kann unverzüglich geschaffen werden – genau wie, so der örtliche Sprecher des NIBB, Olufemi Badour, endlich auch die Pläne für zusätzliche Proberäume und -bühnen umgesetzt werden können.

Die Travel without Borders Einheit kann auf eine noch längere Geschichte als das NNIB zurückblicken. Bereits 2020 erwuchs sie aus einer kleinen Gruppe ambitionierter Community-Workers auf der italienischen Insel Lampedusa, um aus der damals noch als „Flüchtlingskrise“ bezeichneten Situation, etwas Positives gedeihen zu lassen. Die Ergebnisse sind inzwischen gesellschaftlich verankert. Speziell in einer Zeit des neuen individuellen Reisens haben sich die umfangreichen Angebote der TwB als wertvolle Alternative erwiesen, die Welt zu bereisen und auch zu bewohnen. Am Ende als nennenswerte, übergeordnete Information steht der Hinweis auf das politische System: Im Zukunftsgefüge des Szenarios zirkulieren wir um ein vages Gemenge aus Liquid Democracy, Politie (im Sinne Aristoteles) und partiellem Anarchosyndikalismus. Irgendwo zwischen und inmitten von – zugegeben widersprüchlich klingender – organisierter, durch Recht geregelter Selbstbestimmung mit demokratisch gewählter Vertretung wird auch die alternative Wirtschaftsordnung definiert. Zentral an dieser ist neuerlich der Verweis auf die Abkehr von Gewinnorientierung, sowie Anleihen aus verschiedenen Konzepten der Gemeinwohlökonomie, Schumachers „Small ist Beautiful“ oder den Thesen um „Buen Vivir – Gutes Leben für Alle“.

Turnton Docklands im Lentos Kunstmuseum

Eröffnung: 6. September, 19.00 h Ausstellungsdauer: 7. September bis 22. Oktober

Turnton Docklands ist Rauminszenierung und Physical Narrative. Die Rezipientinnen sind eingeladen, Turnton Docklands zu erforschen und zu interpretieren. Turnton ist ein utopischer, positiver und mit Mut zur Lücke gedachter Vorschlag für eine mögliche Zukunft, die dem Gemeinwohl dient.

Das Linzer, international aktive KünstlerInnenkollektiv Time’s Up wirkt an den Schnittpunkten von Kunst, Wissenschaft Technologie und Unterhaltung. Time’s Up feiern auch ihr 20jähriges Jubiläum. Watch out for more Time’s Up Activities.

www.timesup.org

Der Schluss muss wie ein Hammer fallen

Die oberösterreichische Schriftstellerin Evelyn Grill ist eine Meisterin des ironischen Blicks und durchleuchtet in ihren Texten genüsslich die Abgründe unserer Existenz. Die vergangenen dreißig Jahre hat Grill in Deutschland verbracht, vor einigen Monaten ist sie wieder nach Linz zurückgekehrt. Im Gespräch mit der Autorin hat Silvana Steinbacher erfahren, warum sich Grill Linz zugehörig fühlt und was Abfälle mit Romanen zu tun haben.

Foto Christina Fritsch

Foto Christina Fritsch

Vor der Villa eines durch gegenseitigen Ekel verbundenen Ehepaars lungern Obdachlose in Designerklamotten mit ihren Hunden … Szenenwechsel: Am Bett der sterbenden Mutter ergötzt sich eine Familie daran, den Vater mit den Liebesbriefen an eine andere Frau bloßzustellen … Oder: Eine Schickimicki-Clique verfügt in selbstgefälliger Manier über das weitere Schicksal eines Messies …

Evelyn Grill entführt ihre Leser/innen ohne Erbarmen, mit hoher Erzählkunst und in oft sarkastischem Ton zu den Abgründen der menschlichen Existenz. Und diese Abgründe liebt sie zu sezieren. „Die Normalen interessieren mich nicht, was gäbe es da schon zu entdecken“, stellt die seit kurzem wieder in Linz lebende 75jährige Autorin fest, während sie mir in ihrer neuen Wohnung Tee eingießt.

Dreißig Jahre hat Evelyn Grill mit ihrem zweiten Mann, einem Germanistik-Professor und Rilke-Experten, in Freiburg im Breisgau gelebt. Die süddeutsche Stadt zählt etwas mehr Einwohner als Linz, doch Linz unterscheidet sich für sie in einer angenehmen Weise von Freiburg. Freiburg strahlt für Grill – sie wohnte zudem in einem sogenannten noblen Stadtteil – Prosperität aus, Linz erlebt sie vielfältiger. Sie veranschaulicht mir ihren Eindruck an einer Begebenheit, die sie kurz nach ihrer Rückkehr nach Linz beobachtet hat.

Die Schriftstellerin sitzt in einem kleinen Café im Zentrum der Stadt, um im Freien zu frühstücken. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite sieht sie einige Menschen, die sofort erkennbar finanziell bedürftig sind, in Deutschland würde man diese auf den ersten Blick als Hartz-IV-Empfänger einstufen, meint sie. Grill bewundert an diesem Vormittag, mit welcher Phantasie sich die beiden Frauen dieser Gruppe trotz ihrer bescheidenen Mittel gekleidet haben. Und in diesem Moment denkt sie: „Hier gefällt es mir, da gehör’ ich hin.“ Das soeben Wahrgenommene ängstigt sie aber auch, wie schon so oft. In den vergangenen Jahren beobachtete sie die zunehmende Verarmung sowohl in Deutschland als auch in Österreich. Den Wirtschaftsliberalismus, den Rechtsradikalismus und die Reichsbürgerbewegung, die in Deutschland schon wesentlich stärker ausgebreitet ist, nimmt sie mit Besorgnis wahr. Grill, in deren Büchern immer auch die Kunstgeschichte einen zentralen Raum einnimmt, schätzt allerdings auch das Angebot an Kunst in Linz, vor allem das Lentos und das Musiktheater, das sie bisher nicht kannte, und die große Donau, mit der sich die kleine Dreisam in Freiburg natürlich nicht messen kann.

Ausgehend von ihrem jetzigen Eindruck der Stadt erzählt sie mir von ihrer früheren Zeit in Oberösterreich, wohin sie zurückgekehrt sei, weil zwei ihrer mittlerweile erwachsenen Kinder hier wohnen. Bedrückend. Dieses Attribut verwendet Evelyn Grill jetzt einige Male, als sie mir ihre Erinnerungen schildert. Geboren und aufgewachsen ist sie in Garsten bei Steyr, wo sie als Kind das Gefängnis als dominant und furchterregend empfand, als junge Frau lebte sie einige Jahre in Hallstatt, das sie später zum Schauplatz ihrer beiden Romane Wilma (1994) und Der Sohn des Knochenzählers (2013) wählte. Die auratische Enge des für viele zauberhaften Tourismusortes wirkte auf sie bedrohlich, und so entspricht die Kulisse der beiden Romane sicher nicht dem, was sich eine Fremdenverkehrswerbung wünscht. Als Schauplatz für die Sujets dieser beiden Bücher erwies sich Hallstatt jedoch als außerordentlich inspirierend. Und heute, nach Jahren der Abwesenheit, sieht sie den Ort anders und weiß seinen Reiz zu schätzen, auch weil ihre Tochter und Enkel dort leben. Während ihrer Ausführungen bemerke ich, dass sich an vielen Stellen in Grills Wohnung nicht nur Bilder, sondern auch Büsten und Statuetten befinden, was mich nicht wundert, da künstlerische Exponate auch in ihren Büchern eine große Rolle spielen. Mir fällt auch auf, dass die Autorin die Farbe Grün bevorzugt, die in ihrer Wohnung bei Teppich, Sofa und Bildern wiederkehrt.

Ich bitte die Autorin, die im Gespräch nicht nur trockener Humor, sondern auch eine feine Aura des Understatements umgibt, die realen Lebenswelten zu verlassen und zu ihren literarischen zu wechseln. „Zuerst muss ich eine Idee und ein Schicksal haben und dann brauche ich einen konkreten Ort, ein fiktiver Ort würde mir nicht entsprechen“, berichtet Grill. „Vor allem das Umfeld, das ich aussuche, muss ich gut kennen, da will ich souverän agieren können. Danach stellt sich die Frage, in welcher Situation, welcher Phase ihres Lebens fange ich eine Figur auf.“ Und angesprochen darauf, wie sie denn zu ihren Stoffen kommt, meint sie knapp: „Die Abfälle meiner Reisen mit meinem Mann geben meine Romane.“

In den Rezensionen ihrer Bücher lobt die Kritik auch Grills überbordende Phantasie. Doch die Autorin verweist auf die Wirklichkeit, die manchmal kaum überboten werden kann. So habe sie beispielsweise die fast weltweit tingelnde Ausstellung Körperwelten mit den plastinierten menschlichen Körpern des Anatomen Gunther von Hagens als ein reales Element in ihrem für den Deutschen Buchpreis 2005 nominierten Roman Vanitas oder Hofstätters Begierden überhöht. Und auch ich erinnere mich jetzt an den Besucheransturm in der Linzer Tabakfabrik vor zwei Jahren und die begeisterten Berichte jener Menschen, die sich an dieser Schau voyeuristisch delektierten.

„Ich versuche mich in meine Figuren und ihre Abgründe hineinzuversetzen, hineinzudenken“, sagt Evelyn Grill. „Mich interessiert, warum sie so handeln, wie sie es tun.“ Ob und wie die Figuren handeln könnten, hänge doch ausschließlich von ihr ab, schließlich hielte sie die literarischen Zügel in Händen, halte ich entgegen. Grill stockt für einen Moment, will mir scheinen, oder habe ich mich getäuscht? Doch ich werde die Vermutung nicht los, dass sie ihre Figuren, sobald sie sie entworfen und umrissen hat, aufs Papier und somit in die Selbständigkeit entlässt. Ein Gedanke, den ich reizvoll finde und jetzt nicht weiter hinterfragen möchte.

Ende Oktober vergangenen Jahres hat Evelyn Grill ihren bisher letzten Roman Immer denk ich deinen Namen im Linzer StifterHaus präsentiert. Die Schriftstellerin schildert darin eine Liebe, die sich hauptsächlich in Briefen ausdrückt, Briefe voll von Sehnsucht und Begehren, bis der berüchtigte Hammer zuschlägt. „Der Schluss muss wie ein Hammer fallen“, stellt die Autorin fest, und auf dem Weg dorthin kann sie ihre Figuren völlig empathielos vor sich hertreiben. Empathielos wie die Narzissten, die sie literarisch faszinieren, doch in der Realität ängstigen, und bald darauf endet unser Gespräch dort, wo es begonnen hat, bei der Politik. „Putin, Erdogan und vor allem Trump sind Narzissten, Narzissten sind völlig empathielos; ich empfinde diese Situation wie einen Sprengstoff, vor allem, wenn es sich um Politiker bedeutender Länder handelt.“ Ein politisches Buch zu schreiben läge ihr jedoch fern, dazu sei sie politisch nicht gebildet, sogar naiv, antwortet sie mir auf meine Frage – wie gesagt: Understatement! –, doch wenn sie in Linz richtig angekommen sei, möchte sie mit einem nächsten Roman beginnen, und ich bin schon jetzt überzeugt: Bis ihr gnadenloser Hammer dann fällt, wird es auch in diesem neuen Roman nicht an Abgründen fehlen.

Grenzgängerin zwischen den Sinnen

Sonja Meller – das sind für mich zuerst einmal: feine Fäden und die Beteiligung aller Sinne, meint Lisa Spalt, die die Bildende Künstlerin und Illusionistin Sonja Meller getroffen hat.

1999 hängt sie – es ist Winter – an langen Schnüren wunderschöne rote Äpfel in die Linzer Martinskirche. Schon außerhalb des Gebäudes ist der Duft der Pracht wahrzunehmen. Da ist sie: „Diese Süße, die sich erst verdichtet“, ein Gewebe von Assoziationen, das sich erfreulich fassbar darbietet. Als Geschaffenes sind die Früchte anbetungswürdig, als Utensil der verführenden Eva negativ und attraktiv zugleich. Und dann hängen sie auch noch in Reichweite, von diesem Angebot der Erkenntnis könnte man abbeißen, das alles, dieses Paradies, hängt einem in den Mund als Verheißung, die sich – welch ein Glück – mitten im Alltag auftut. So bietet sich das Kunstwerk an als ein Weg zu einer süßen Erfahrung: Erkenntnis gewinnt der Leib, Erkenntnis wird über die Sinne erreicht.

Mit dem Geschmack, der Vorstellung desselben oder der Erinnerung an diesen spielt Meller in der Arbeit „Honighimmel“ aus dem Jahr 2015. Fäden hängen im Kreis von der Decke, die Künstlerin lässt an diesen Honig in eine goldene Schale rinnen. Die Arbeit ist auf Auftrag der Diözese Linz zum Thema Advent entstanden. Ihr sinnlicher, Zeit streckender Aspekt, der das Ankommen – diesfalls des Honigtropfens in der Schale – zum süßen Ankerpunkt der Erwartung macht, wirkt, wie die Künstlerin berichtet, sogar auf Kinder, die sich von der Arbeit kaum losreißen können. Zu spannend ist es, zuzusehen, wie der süße, klebrige Tropfen dem Abgrund zurinnt und sich endlich dazu entschließt, vom Fadenende in die Schale zu hüpfen, das Ros’ ist entsprungen, der Tropfen malt in der Schale sein zähes Gemälde. Aufregend ist der Moment der Suspension, der Moment des Atem-Anhaltens, wenn der Tropfen sich im freien Fall befindet, sich nirgends mehr festhält, nichts berührt, während er von einer „Welt“ in die andere wechselt. Die Arbeit ist pure sinnliche Mitteilung, die es schafft, das Thema jenseits rationaler Überlegung erfahrbar zu machen.

Sonja Meller, Magistra artium, hat von 1995 bis 2001 an der Kunstuniversität Linz Bildhauerei studiert, dann noch einen Master of Arts in San Francisco erworben. Sie arbeitet derzeit in einem Atelier des Egon-Hofmann-Hauses in Linz. Ihr Interesse gilt, wie man an den Arbeiten unschwer erkennen kann, vor allem dem Raum. Diesen verändert sie mit oft sehr zarten Angeboten, so auch bei der Arbeit „Eis-Grillen“, mit der sie 2009 mit Hilfe von „Lucky Chirping Crickets“ aus China Town in San Francisco sommerliches Grillengezirpe auf den verschneiten Linzer Schlossberg zauberte und damit Raum quasi in zwei Jahreszeiten gleichzeitig versetzt. (Für nach wie vor Wintermüde gibt es übrigens eine Variante in der Dose. „Langsam öffnen“, steht drauf, als wären empfindliche, lebende Wesen drin und könnten sich erschrecken.)

So ist die Arbeit der Künstlerin also ins Akustische ausgeufert wie übrigens auch in „Sonic Fruit“ aus 2004, einer Arbeit, die in Kalifornien realisiert wurde: Goldene Früchte hängen an einem Baum, in ihrem Inneren verbergen sich Spieluhren, die jeweils Teile von Brahms’ „Wiegenlied“ spielen. Es liegt an den BesucherInnen, diese Teile zu aktualisieren und ein Ganzes ahnbar zu machen. Sich beteiligend dürfte man vielleicht erfahren, dass die Entstehung eines Brahms’schen Werkes ein seltener Glücksfall ist, der ein Zusammenspiel unzähliger Faktoren verlangt. In wie vielen tausende „Weisen“ andererseits Menschen hier zusammenwirken können, welche Möglichkeiten einer Musik die Zufallsgesellschaft der BesucherInnen aktualisieren kann, macht die Skulptur in sehr feiner Weise hörbar.

Musik spielt eine große Rolle in der Raumwahrnehmung der Künstlerin. Da fällt ihr an einem Verkaufsstand mit Grußpostkarten auf, wie spannend deren Soundfiles zusammenklingen. Aus dem Moment der Überraschung entsteht die Arbeit „Mash-ups“, die Grußpostkarten dazu verschränkt, in einen von ihrer eigentlichen Intention abweichenden Dialog zu treten: Jeweils zwei von ihnen werden so gepaart, dass ihr Zusammenklingen ganz neue, „unerhörte“ Musik ergibt.

Quasi musikalischen Raum wiederum inszenierend, hat Meller in der Sound-Installation „Mondscheinsonate“, die 2015 in der Galerie Forum in Wels gezeigt wurde, unterschiedliche Interpretationen des ersten Satzes der „Mondscheinsonate“ von Ludwig van Beethoven aneinander vermessen. Aus der kreisrunden Auslassung inmitten einer stilisierten Plattenhülle hängt ein Paar Ohrhörer. Befördert man sie an ihren Bestimmungsort, starten Interpretationen von Friedrich Gulda, Maurizio Pollini und Daniel Barenboim wie Synchronschwimmerinnen, beginnen nach einem ersten, noch gemeinsamen Moment, einander zu umspielen, abzufälschen, nachzuäffen. Jetzt wird musikalischer Ausdruck als fast räumlicher Abstand erfahrbar. Wie seltsam mutet es an, wenn die Diven der Klaviere sich im Aufeinandertreffen wie „verstimmt“ zeigen. Die Aura der Primaballerina, die das Piano für gewöhnlich umgibt, scheint sich daran zu stören, dass sie die Bühne mit einem Mal mit anderen Glorienscheinen teilen soll. Die Verstimmung bringt aber auch eine verstörende Wehmut mit sich, etwas wie ein Echo aus einer früheren Zeit. Die zeitlose Interpretation des Star-Pianisten scheint, wenn sie neben anderen steht, auf einmal vergänglich. Die Interpretation trägt nicht mehr, wie so oft, aus der Zeit hinaus, sondern zeigt, dass sie eine unter anderen ist und dass wir hier eben eine Aufnahme zu hören bekommen, eine Konserve einer Zeit, die schon vergangen ist und die sich vom Musiker, dem Star, längst getrennt hat. Auch bei dieser Arbeit ist es neben der sinnlichen Erfahrung die Einfachheit der Mittel, die verblüfft. Sonja Meller arbeitet wie eine Illusionistin, die mit einfachsten Utensilien die Welt verzaubert. Wahrscheinlich gelingt ihr das auch so gut, weil sie niemals auf ökonomische Verwertbarkeit schielt, sind ihre Arbeiten doch größtenteils leichte, temporäre Eingriffe in Räume und selten Objekte, die man trophäenhaft nach Hause mitnehmen könnte. Zuweilen sind sie kaum noch fassbar, so zum Beispiel im Fall der Schneebälle, die die Künstlerin 2008 am Pöstlingberg mit Lebensmittelfarbe einfärbt und dann an Passanten verschenkt. Ein Hauch von Kindheit und Jahrmarkt – dann ist die Skulptur auch schon Geschichte.

Arbeiten von Sonja Meller sind ab 6. September in der Gruppenausstellung „Out of Dörfl“ zu sehen, die zum 60-Jahr-Jubiläum vom Egon-Hofmann-Haus in der Kunstsammlung Oberösterreich stattfindet. Etwas später dann wird die Künstlerin in den Iran aufbrechen, um dort, nahe am Zweistromland, Menschen dazu zu befragen, was für sie denn nun eigentlich das Paradies ist.

 

„Out of Dörfl“
60 Jahre Egon-Hofmann-Atelierhaus
Ausstellungseröffnung: Mittwoch, 6. September 2017, 19.00 h (Studiogalerie der KUNSTSAMMLUNG)

www.sonjameller.at