Es mäandert alles so parallel dahin.
Derzeit sind in der 44er Galerie am Stadtplatz von Leonding ausgewählte Arbeiten der Linzer Künstlerin Astrid Esslinger in Tonkell zu sehen – einer Gruppenausstellung über sexualisierte Gewalt als gesellschaftliche Selbstverständlichkeit. Elisabeth Lacher hat mit Astrid Esslinger gesprochen: über Bilder als Projektionsfläche und ein Atelier als Isolations-Tank.
Die in der Ausstellung Tonkell gezeigten Gemälde Esslingers sind eine Auswahl aus ihrem künstlerischen Werk der letzten Jahre. Die Gemälde sind zwar ursprünglich nicht unter dem Aspekt des Ausstellungsthemas entstanden, dennoch vermögen sie in unerwartet deutlicher Weise ein Netz aus optischen Impulsen in der Ausstellung zu flechten, das die Betrachterin und den Betrachter, durch die Meta-Ebene der gesellschaftlichen Thematik von sexualisierter Gewalt hindurch, in ein individuelles Wahrnehmen und in innere Betroffenheit führen. Und somit ein erweitertes Feld des Sehens, Fragens, Verstehens und Verständnisses eröffnen.
So begegnet man im ersten und kleinsten Raum der Ausstellung der Arbeit Eisheilige V aus dem Jahr 2013: Ein gebeugter Mensch, einsam und verlassen, den Kragen seines Mantels hochgeklappt. Er will weggehen. Sich verstecken. Voller Scham. Sich abwenden. Von einem Dunkel, in dem er nicht sein kann. In dem niemand sein kann. Der Kopf eingesunken, Abkehr, alleine, trostlos. Die Enge des realen Raums wird durch die Weite einer gemalten, gottverlassenen Landschaft ausgeglichen. Der Eisheilige berührt und macht betroffen. Und ist ein beeindruckendes Intro in eine Ausstellung, die in großer Bildgewalt den Raum aufmacht für das Überthema der gezeigten künstlerischen Arbeiten: Sexualisierte Gewalt als gesellschaftliche Selbstverständlichkeit. Die Ausstellung thematisiert den geheimen, privaten, sprachlosen und alltäglichen Raum, in dem sexuelle Gewalt häufig stattfindet. Jenseits von medialen Skandalmeldungen, die kurzfristig Empörung und Abscheu hervorrufen, schafft die Ausstellung generell ein tieferes Bewusstsein und einen differenzierteren Blick auf gesellschaftliche Strukturen, Machtverhältnisse und tradierte Rollenbilder von Mann und Frau.
Esslingers Bilder bieten sich als offene Projektionsflächen in Zusammenhang mit dem Thema der Ausstellung an. So zeigt das Bild Monokultur eine Gruppe junger, weißer Männer im schwarzen Anzug. Stellvertretend für das europäische Bild von Erfolg, Business, Macht. Das eigentlich nur wenigen etwas, und denen auch nur sehr wenig, zu bieten hat. Und neben eintönig und schwarz-weiß auch ziemlich aggressiv ist. Die Arbeit Under Cover zeigt zwei Frauen: die eine verbirgt ihr Gesicht durch einen Schleier, die andere durch eine Sonnenbrille. Sowohl die Sonnenbrille, wie auch ein Schleier können normale Mode und Alltagsgegenstände sein, gleichzeitig aber auch Spuren häuslicher Gewalt verbergen. Astrid Esslinger erzählt über ihre Arbeiten in der Ausstellung Tonkell, dass sie den Besucherinnen und Besuchern ihre Bilder als Projektionsfläche für eigene Gedanken und Erfahrungen anbieten möchte. Es läge ihr fern, fertige Erklärungen abzugeben oder die Betrachterin, den Betrachter auf die Suche nach der richtigen Interpretation ihrer Gemälde zu schicken. Vielmehr sollen ihre Arbeiten ein offenes System darstellen, die zwar in einen inhaltlichen Kontext eingebaut sind, jedoch verschiedenste Assoziationen und Gedanken nicht nur zulassen, sondern auch initiieren. Für Esslinger hat Kunst nichts Lehrhaftes, nichts Auratisches, nichts Erklärendes oder Abgeschlossenes. Sie selbst sieht ihre Bilder auch nie als „fertig“ an: weder in ihrem Atelier gibt es einen Zeitpunkt, an dem ein Bild fertiggestellt wird, noch sind es die Bilder, die sie in Ausstellungen bringt. Für Esslinger sind es die Personen, die ihre Bilder ansehen, sich einlassen, Gedanken machen, die die Bilder im Endeffekt fertigstellen. So hört sie zum Beispiel auch lieber dem zu, was ihr andere über ihre Bilder erzählen, als selbst viele Worte darüber zu verlieren.
Eine Haltung, die sich auch in ihrem Arbeitsstil im Atelier niederschlägt. Sie malt nie nur an einem Bild, es sind immer mehrere Bilder gleichzeitig in Arbeit. Manche Bilder werden über Jahre hinweg gemalt, stehen dann auch länger herum und warten oft sehr lange, bis wieder eine Farbschicht, eine Figur, ein Motiv hinzukommt. Eigentlich, erzählt Astrid Esslinger, gibt es in meinem Atelier keine Bilder, von denen ich sagen würde, dass sie fertig gemalt sind und ich nichts mehr hinzufügen werde. Solange sie im Atelier sind, verändern sie sich: oder können sich verändern. Erst wenn ich ein Bild weggebe, höre ich auf, daran zu malen. Und danach wird es erst fertig: durch die Personen, die es ansehen. Durch die Gedanken, Erfahrungen und Eindrücke, die daraus entstehen.
Die eigene Erfahrung nimmt in Astrid Esslingers Arbeit in vielerlei Hinsicht einen wichtigen Stellenwert ein. Ich beginne immer bei mir selbst, erzählt sie. Was ich nicht selbst in irgendeiner Form erfahren habe, darüber kann ich nichts erzählen, das ist nicht relevant. Meine Arbeit beginnt immer bei mir, bei meinen Erfahrungen, meiner Intuition. Was sich weniger auf konkrete Themen und Inhalte bezieht, sondern auf den eigenen Prozess des Malens, der entkoppelt ist von intellektuellen oder inhaltlichen Fragestellungen. So entstehen Bilder, die sich nicht konkret an einem Thema oder Inhalt festmachen lassen, aber später in unterschiedlichen Kontexten eine eigene Wirkung entfalten und oftmals mit der ursprünglichen Erfahrung der Künstlerin gar nicht mehr so viel zu tun haben müssen. Die Verbindung entsteht eher durch das eigene Einlassen auf Gesellschaft und sich selbst. Am Anfang der Arbeit steht das Tun, die Intuition, das Ausprobieren, die Absichtslosigkeit beim Malen. So bezeichnet Astrid Esslinger ihr Atelier gerne als Isolations-Tank. Am besten arbeitet sie, wenn sie hinter sich den Schlüssel im Schloss umdreht und alle Reize, die der Alltag und das Leben jeden Tag bieten, für die Zeit im Atelier aussperrt: aber nicht als abgegrenzt und autark stehend, sondern als unterschiedliche Ebenen, die zwar verschieden sind, einander jedoch bedingen. Im Atelier geht es ihr darum, Unbewusstem nachzusinnen, oder vielleicht auch gar nichts nachzusinnen. Zu tun oder nichts zu tun. Was in der Zeit im Atelier passiert, das passiert eben.
Und wenn ich nur rauchend dasitze. Oder fünf Leinwände um mich herum stehen, auf denen ich gleichzeitig male. Wichtig ist mir lediglich, dass die Gedanken draußen bleiben. Und das eigene Ego. Das wäre beides hinderlich beim Malen, erzählt Astrid Esslinger über ihren Arbeitsprozess im Atelier. Das Nachdenken kommt erst später hinzu, zum Beispiel bei der Wahl der Titel. Eine gesellschaftliche Relevanz ist für mich und mein Arbeiten schon sehr wichtig. Da verfolge ich durchaus den Ansatz: Das Private ist politisch. Aber das alles passiert erst in einem viel späteren Schritt, diese gesellschaftliche Meta-Ebene. Und eigentlich mäandert alles so parallel dahin bei mir …
Dass sich das alles ausgeht und Sinn macht, davon zeugen nicht nur die Bilder in der Leondinger Ausstellung, sondern ein mittlerweile recht umfassendes Werk und Ausstellungen im In- und Ausland. Neben ihren Gemälden, die durch den sehr intuitiven Arbeitsprozess entstehen, arbeitet Astrid Esslinger auch regelmäßig an ihrer zweiten künstlerischen Produktionsschiene: den Cut Outs. Oder auch bekannt als Strichcode Sklaven. Für die konzeptuelle Handgepäckproduktion bereist Astrid Esslinger unterschiedlichste Orte und Städte, und schneidet dort Figuren zwischen 10 und 40 Zentimetern Höhe aus: aus vor Ort gefundenen Kartonagen und Schachteln. Die, unterschiedlich arrangiert, dann unterschiedliche Geschichten erzählen: übers Reisen, über verschiedene Orte, über Handelswege, über Vereinheitlichung und Normierung, Konsum und Wegwerfprodukte. Für Astrid Esslinger ist die Arbeit an den Strichcode Sklaven eine wichtige Ergänzung zu ihrer Arbeit im Atelier. Durch die Cut Outs bekommen Reisen und Aufenthalte in verschiedenen Ländern eine ganz eigene Bedeutung. Zum Beispiel nimmt sie einen neuen Ort ganz anders wahr, wenn sie auf der Suche nach verwertbaren Schachteln und Kartonagen für die Strichcode Sklaven ist.
So entstanden in Esslingers Cut Out-Schiene die Barcode Slaves_New York und die Barcode Slaves_Sao Paolo im Jahr 2011. 2012 folgten die Barcode Slaves_Teheran. Weitere Barcode Slaves entstanden in den letzten Jahren in Wien, Los Angeles, Bangkok, Berlin und Böhmen.
Bis 25. Juni sind Esslingers Bilder nun in Leonding zu sehen. Ein Besuch der Ausstellung Tonkell sei hier von meiner Seite unbedingt empfohlen. Zumal es unvergleichlich ist, in den Räumen der 44-er Galerie vor den Gemälden zu stehen und sie wirken zu lassen. Wem der Weg ins suburbane Leonding allerdings zu weit ist oder aus sonstigen Gründen unmöglich, kann sich auf der umfassenden Webseite der Künstlerin einen guten Eindruck über ihre Arbeiten machen. Zum Abschluss des Textes bleibt von meiner Seite zu sagen: Ich bin beeindruckt. Astrid Esslinger schafft ein interessantes und vielfältiges künstlerisches Werk, das wie die Künstlerin selbst im Raum steht: Klar, stark, und mit einem unglaublich hohen Maß an Authentizität.
Tonkell
Gruppenausstellung Astrid Esslinger und Anna Rafetseder
44er-Galerie, Leonding Stadtplatz
Öffnungszeiten bei freiem Eintritt sind: Di, Mi, Fr 15.00–19.00 h, Do 17.00–21.00 h, So 10.00–16.00 h
Noch bis 25. Juni 2017 zu sehen
Zur Zeit sind noch zwei Ausstellungen von Astrid Esslinger in Graz zu sehen:
Transit in der Werkstadt Graz und Strichcode Sklaven in der Galerie Grazy
werkstadt.at/aktuelle-ausstellung
Außerdem ab September und bis zum Jahresende 2017 zu sehen:
Transit II, im Gesindehaus des Schlosses Freistadt. Ausstellungseröffnung am 01. September: Begleitend zu Arbeiten der bildenden Künstlerin Astrid Esslinger interpretiert der Klarinettist des Klangforums Wien, Bernhard Zachhuber Werke von Salvatore Sciarrino, Gerhard Stäbler u. a.