Es mäandert alles so parallel dahin.

Derzeit sind in der 44er Galerie am Stadtplatz von Leonding ausgewählte Arbeiten der Linzer Künstlerin Astrid Esslinger in Tonkell zu sehen – einer Gruppenausstellung über sexualisierte Gewalt als gesellschaft­liche Selbstverständlichkeit. Elisabeth Lacher hat mit Astrid Esslinger gesprochen: über Bilder als Projektionsfläche und ein Atelier als Isolations-Tank.

Eisheilige V von Astrid Esslinger, 100 x 90 cm, 2013. Foto Otto Saxinger

Eisheilige V von Astrid Esslinger, 100 x 90 cm, 2013. Foto Otto Saxinger

Die in der Ausstellung Tonkell gezeigten Gemälde Esslingers sind eine Auswahl aus ihrem künstlerischen Werk der letzten Jahre. Die Gemälde sind zwar ursprünglich nicht unter dem Aspekt des Ausstellungsthemas entstanden, dennoch vermögen sie in unerwartet deutlicher Weise ein Netz aus optischen Impulsen in der Ausstellung zu flechten, das die Betrachterin und den Betrachter, durch die Meta-Ebene der gesellschaftlichen Thematik von sexualisierter Gewalt hindurch, in ein individuelles Wahrnehmen und in innere Betroffenheit führen. Und somit ein erweitertes Feld des Sehens, Fragens, Verstehens und Verständnisses eröffnen.

So begegnet man im ersten und kleinsten Raum der Ausstellung der Arbeit Eisheilige V aus dem Jahr 2013: Ein gebeugter Mensch, einsam und verlassen, den Kragen seines Mantels hochgeklappt. Er will weggehen. Sich verstecken. Voller Scham. Sich abwenden. Von einem Dunkel, in dem er nicht sein kann. In dem niemand sein kann. Der Kopf eingesunken, Abkehr, alleine, trostlos. Die Enge des realen Raums wird durch die Weite einer gemalten, gottverlassenen Landschaft ausgeglichen. Der Eisheilige berührt und macht betroffen. Und ist ein beeindruckendes Intro in eine Ausstellung, die in großer Bildgewalt den Raum aufmacht für das Überthema der gezeigten künstlerischen Arbeiten: Sexualisierte Gewalt als gesellschaftliche Selbstverständlichkeit. Die Ausstellung thematisiert den geheimen, privaten, sprachlosen und alltäglichen Raum, in dem sexuelle Gewalt häufig stattfindet. Jenseits von medialen Skandalmeldungen, die kurzfristig Empörung und Abscheu hervorrufen, schafft die Ausstellung generell ein tieferes Bewusstsein und einen differenzierteren Blick auf gesellschaftliche Strukturen, Machtverhältnisse und tradierte Rollenbilder von Mann und Frau.

Esslingers Bilder bieten sich als offene Projektionsflächen in Zusammenhang mit dem Thema der Ausstellung an. So zeigt das Bild Monokultur eine Gruppe junger, weißer Männer im schwarzen Anzug. Stellvertretend für das europäische Bild von Erfolg, Business, Macht. Das eigentlich nur wenigen etwas, und denen auch nur sehr wenig, zu bieten hat. Und neben eintönig und schwarz-weiß auch ziemlich aggressiv ist. Die Arbeit Under Cover zeigt zwei Frauen: die eine verbirgt ihr Gesicht durch einen Schleier, die andere durch eine Sonnenbrille. Sowohl die Sonnenbrille, wie auch ein Schleier können normale Mode und Alltagsgegenstände sein, gleichzeitig aber auch Spuren häuslicher Gewalt verbergen. Astrid Esslinger erzählt über ihre Arbeiten in der Ausstellung Tonkell, dass sie den Besucherinnen und Besuchern ihre Bilder als Projektionsfläche für eigene Gedanken und Erfahrungen anbieten möchte. Es läge ihr fern, fertige Erklärungen abzugeben oder die Betrachterin, den Betrachter auf die Suche nach der richtigen Interpretation ihrer Gemälde zu schicken. Vielmehr sollen ihre Arbeiten ein offenes System darstellen, die zwar in einen inhaltlichen Kontext eingebaut sind, jedoch verschiedenste Assoziationen und Gedanken nicht nur zulassen, sondern auch initiieren. Für Esslinger hat Kunst nichts Lehrhaftes, nichts Auratisches, nichts Erklärendes oder Abgeschlossenes. Sie selbst sieht ihre Bilder auch nie als „fertig“ an: weder in ihrem Atelier gibt es einen Zeitpunkt, an dem ein Bild fertiggestellt wird, noch sind es die Bilder, die sie in Ausstellungen bringt. Für Esslinger sind es die Personen, die ihre Bilder ansehen, sich einlassen, Gedanken machen, die die Bilder im Endeffekt fertigstellen. So hört sie zum Beispiel auch lieber dem zu, was ihr andere über ihre Bilder erzählen, als selbst viele Worte darüber zu verlieren.

Eine Haltung, die sich auch in ihrem Arbeitsstil im Atelier niederschlägt. Sie malt nie nur an einem Bild, es sind immer mehrere Bilder gleichzeitig in Arbeit. Manche Bilder werden über Jahre hinweg gemalt, stehen dann auch länger herum und warten oft sehr lange, bis wieder eine Farbschicht, eine Figur, ein Motiv hinzukommt. Eigentlich, erzählt Astrid Esslinger, gibt es in meinem Atelier keine Bilder, von denen ich sagen würde, dass sie fertig gemalt sind und ich nichts mehr hinzufügen werde. Solange sie im Atelier sind, verändern sie sich: oder können sich verändern. Erst wenn ich ein Bild weggebe, höre ich auf, daran zu malen. Und danach wird es erst fertig: durch die Personen, die es ansehen. Durch die Gedanken, Erfahrungen und Eindrücke, die daraus entstehen.

Die eigene Erfahrung nimmt in Astrid Esslingers Arbeit in vielerlei Hinsicht einen wichtigen Stellenwert ein. Ich beginne immer bei mir selbst, erzählt sie. Was ich nicht selbst in irgendeiner Form erfahren habe, darüber kann ich nichts erzählen, das ist nicht relevant. Meine Arbeit beginnt immer bei mir, bei meinen Erfahrungen, meiner Intuition. Was sich weniger auf konkrete Themen und Inhalte bezieht, sondern auf den eigenen Prozess des Malens, der entkoppelt ist von intellektuellen oder inhaltlichen Fragestellungen. So entstehen Bilder, die sich nicht konkret an einem Thema oder Inhalt festmachen lassen, aber später in unterschiedlichen Kontexten eine eigene Wirkung entfalten und oftmals mit der ursprünglichen Erfahrung der Künstlerin gar nicht mehr so viel zu tun haben müssen. Die Verbindung entsteht eher durch das eigene Einlassen auf Gesellschaft und sich selbst. Am Anfang der Arbeit steht das Tun, die Intuition, das Ausprobieren, die Absichtslosigkeit beim Malen. So bezeichnet Astrid Esslinger ihr Atelier gerne als Isolations-Tank. Am besten arbeitet sie, wenn sie hinter sich den Schlüssel im Schloss umdreht und alle Reize, die der Alltag und das Leben jeden Tag bieten, für die Zeit im Atelier aussperrt: aber nicht als abgegrenzt und autark stehend, sondern als unterschiedliche Ebenen, die zwar verschieden sind, einander jedoch bedingen. Im Atelier geht es ihr darum, Unbewusstem nachzusinnen, oder vielleicht auch gar nichts nachzusinnen. Zu tun oder nichts zu tun. Was in der Zeit im Atelier passiert, das passiert eben.

Und wenn ich nur rauchend dasitze. Oder fünf Leinwände um mich herum stehen, auf denen ich gleichzeitig male. Wichtig ist mir lediglich, dass die Gedanken draußen bleiben. Und das eigene Ego. Das wäre beides hinderlich beim Malen, erzählt Astrid Esslinger über ihren Arbeitsprozess im Atelier. Das Nachdenken kommt erst später hinzu, zum Beispiel bei der Wahl der Titel. Eine gesellschaftliche Relevanz ist für mich und mein Arbeiten schon sehr wichtig. Da verfolge ich durchaus den Ansatz: Das Private ist politisch. Aber das alles passiert erst in einem viel späteren Schritt, diese gesellschaftliche Meta-Ebene. Und eigentlich mäandert alles so parallel dahin bei mir …

Dass sich das alles ausgeht und Sinn macht, davon zeugen nicht nur die Bilder in der Leondinger Ausstellung, sondern ein mittlerweile recht umfassendes Werk und Ausstellungen im In- und Ausland. Neben ihren Gemälden, die durch den sehr intuitiven Arbeitsprozess entstehen, arbeitet Astrid Esslinger auch regelmäßig an ihrer zweiten künstlerischen Produktionsschiene: den Cut Outs. Oder auch bekannt als Strichcode Sklaven. Für die konzeptuelle Handgepäckproduktion bereist Astrid Esslinger unterschiedlichste Orte und Städte, und schneidet dort Figuren zwischen 10 und 40 Zentimetern Höhe aus: aus vor Ort gefundenen Kartonagen und Schachteln. Die, unterschiedlich arrangiert, dann unterschiedliche Geschichten erzählen: übers Reisen, über verschiedene Orte, über Handelswege, über Vereinheitlichung und Normierung, Konsum und Wegwerfprodukte. Für Astrid Esslinger ist die Arbeit an den Strichcode Sklaven eine wichtige Ergänzung zu ihrer Arbeit im Atelier. Durch die Cut Outs bekommen Reisen und Aufenthalte in verschiedenen Ländern eine ganz eigene Bedeutung. Zum Beispiel nimmt sie einen neuen Ort ganz anders wahr, wenn sie auf der Suche nach verwertbaren Schachteln und Kartonagen für die Strichcode Sklaven ist.

So entstanden in Esslingers Cut Out-Schiene die Barcode Slaves_New York und die Barcode Slaves_Sao Paolo im Jahr 2011. 2012 folgten die Barcode Slaves_Teheran. Weitere Barcode Slaves entstanden in den letzten Jahren in Wien, Los Angeles, Bangkok, Berlin und Böhmen.

Bis 25. Juni sind Esslingers Bilder nun in Leonding zu sehen. Ein Besuch der Ausstellung Tonkell sei hier von meiner Seite unbedingt empfohlen. Zumal es unvergleichlich ist, in den Räumen der 44-er Galerie vor den Gemälden zu stehen und sie wirken zu lassen. Wem der Weg ins suburbane Leonding allerdings zu weit ist oder aus sonstigen Gründen unmöglich, kann sich auf der umfassenden Webseite der Künstlerin einen guten Eindruck über ihre Arbeiten machen. Zum Abschluss des Textes bleibt von meiner Seite zu sagen: Ich bin beeindruckt. Astrid Esslinger schafft ein interessantes und vielfältiges künstlerisches Werk, das wie die Künstlerin selbst im Raum steht: Klar, stark, und mit einem unglaublich hohen Maß an Authentizität.

 

esslinger.servus.at

 

Tonkell

Gruppenausstellung Astrid Esslinger und Anna Rafetseder

44er-Galerie, Leonding Stadtplatz

Öffnungszeiten bei freiem Eintritt sind: Di, Mi, Fr 15.00–19.00 h, Do 17.00–21.00 h, So 10.00–16.00 h

Noch bis 25. Juni 2017 zu sehen

 

Zur Zeit sind noch zwei Ausstellungen von Astrid Esslinger in Graz zu sehen:

Transit in der Werkstadt Graz und Strichcode Sklaven in der Galerie Grazy

werkstadt.at/aktuelle-ausstellung

 

Außerdem ab September und bis zum Jahres­ende 2017 zu sehen:

Transit II, im Gesindehaus des Schlosses Freistadt. Ausstellungseröffnung am 01. September: Begleitend zu Arbeiten der bildenden Künstlerin Astrid Esslinger interpretiert der Klarinettist des Klangforums Wien, Bernhard Zachhuber Werke von Salvatore Sciarrino, Gerhard Stäbler u. a.

Ein Buch gegen die Angst

Geheime Papiere gegen den Faschismus. Europa ist in Zonen aufgeteilt, die Menschen sind angesichts des neuen faschistischen Regimes verängstigt. Während Claire hinter Barrikaden kämpft, sitzt ihre Freundin Su mit geheimen Papieren im Zug. Wenn es ihr gelingt, damit unbemerkt die Grenze zu passieren, ist es vielleicht noch nicht zu spät – so der Plot von Eva Schörkhubers neuem Roman „Nachricht an den Großen Bären“. Ein Interview mit der Autorin von and pawe.

Wie flach die Welt geworden ist. Flach und rissig. Auf riesigen Schollen treiben wir voneinander fort. Wir umzäunen unsere Denk-, unsere Sehterritorien mit Worten aus Stacheldraht. Wir schießen aufeinander, nicht nur in Sätzen. Der Pulvergeruch betäubt unsere Sinne. Jeder Sicht-, jeder Perspektivenwechsel wird als Verrat geahndet. Alle müssen sich für eine Seite entscheiden. Der Horizont reicht gerade bis zum Rand der Scholle und keinen Schritt weiter. Es gibt keine Möglichkeit, einen anderen, einen etwas abseits gelegenen Standpunkt zu erreichen. Das Gelände ist vermint. Ich bin froh, dass sich wenigstens die Landschaft vor dem Zugfenster zu falten beginnt. Leichte Erhebungen, eine sanfte Hügellandschaft. Mitteleuropa hat das einmal geheißen. Aber Europa gibt es nicht mehr. Der Kontinent ist zerklüftet, auseinandergerissen. Die Schollen sind zu weit auseinandergedriftet.

Im April erschien in der Edition Atelier Eva Schörkhubers drittes Buch „Nachricht an den Großen Bären“. Nach ihrem Debütroman „Quecksilbertage“ und der Erzählung „Die Blickfängerin“ ist dies nun ihr zweiter Roman. Dieser erzählt von einer Zeit, in der Europa in Zonen aufgeteilt und von einem autoritären rechten Regime regiert wird. Su, die Hauptfigur im Roman, hat sich dem Widerstand angeschlossen, sitzt im Zug und ist dabei, geheime Papiere außer Landes zu schaffen. Eva Schörkhuber zählt zu jenen Autor_innen, die gekonnt politische Inhalte mit hohem erzählerischem Anspruch und sprachlichem Feingefühl verbinden. Es ist auffällig, dass diese Art von Literatur gehäuft in der Edition Atelier in Erscheinung tritt. Das ist gut so. Denn es gibt genug Autor_innen, die wenig zu sagen haben und dies in einer leichten und gefälligen Sprache über hunderte von Seiten zum Ausdruck bringen. Die Bestsellerlisten sind voll davon. Literatur könnte aber soviel mehr sein … Ein Vorgeschmack über dieses „Mehr“ soll im Gespräch mit der Autorin über ihren neuen Roman, Arten des Schreibens, über Europa, die Politik mit der Angst und inspirierende Nachbarschaften gegeben werden.

Bei deinem ersten Buch ist mir aufgefallen, dass du in deinem Erzählen die Sprache gerne verdichtest, um sie im nächsten Augenblick wieder loszulassen, dass Wörter gleich einem losgelassenen Luftballon im Kopf herumfliegen. Gab es für dich in diesem Buch ebenso stilistische Vorüberlegungen? Welchen stilistischen Schreibimpulsen wolltest und konntest du nachgehen?

Ich wollte verschiedene Erzähltechniken und Erzähltempi ausprobieren, also mit Perspektiven und traumähnlichen Einschüben spielen, sowie beschleunigte, verdichtete Passagen mit langsameren, epischeren und reflektierenden abwechseln. Das Ausgangsmaterial für den Roman sind einige Erzählungen gewesen, die im Laufe der letzten drei Jahre entstanden sind, und die alle das Thema „Angst“ verhandeln. Diese Erzählungen sind in eine durchgängige Rahmenhandlung eingewoben und durch weitere Erzählungen ergänzt worden. Bei der Rahmenhandlung wollte ich einen Spannungsbogen bauen, der sich über die Reise der Hauptfigur Su von der Stadt aus über die Grenze spannt. In den Erzählungen wiederum liegt der Fokus auf einzelne Figuren, denen Su entweder auf ihrer Reise oder früher einmal begegnet ist. In den Erzählungen hatte ich die Möglichkeit, mit verschiedenen Perspektiven und Erzählstilen zu arbeiten.

Gleich zu Beginn des Romans antwortet Su auf die Frage, ob sie Angst habe: „Nein, ich habe keine Angst. Angst ist doch das größte Problem hier.“ Im weiteren Verlauf zeigst du die Angst in ihren verschiedensten Ausformungen; die Angst vor Fremden oder auch jene Angst, die einem im Wasser das Gefühl gibt, nach unten gezogen zu werden; und eines der letzten Kapitel hast du „Die Dichte der Angst“ genannt. Was unterscheidet die Angstlosigkeit der Widerständischen von der Angst, die ein autoritäres Regime erzeugt?

Angst zu haben ist etwas Menschliches, jeder und jede von uns kennt das Gefühl. Die Frage ist, wie mit dem Gefühl der Angst umgegangen wird. Wird sie geschürt, um Menschen leichter regierbar zu machen, wie es in rechtspopulistischen Diskursen und autoritären Regimen geschieht? Oder wird sie benannt und gemeinsam verhandelt? Wenn es keinen Platz dafür gibt, sich mit Ängsten, den eigenen ebenso wie mit jenen der anderen, auseinanderzusetzen, kann das dazu führen, dass man sich in sehr enge, disziplinatorische und autoritäre Zusammenhänge begibt, die – scheinbar – Sicherheit und Stabilität gewährleisten. Tatsächlich sind es aber diese Zusammenhänge, in denen Angst geschürt wird. Eine emanzipatorische Möglichkeit, mit Angst umzugehen, ist sich ihr zu stellen, sie zu benennen und sich schrittweise mit ihr auseinanderzusetzen. Die Menschen, die sich dazu entschließen, in den Widerstand gegen autoritäre Regime zu gehen, haben auch Angst – berechtigterweise, denn sie sind permanent von Gefängnis, Folter und Hinrichtung bedroht. Damit sie aber überhaupt in Betracht ziehen können, diese enormen Risiken einzugehen, haben sie Möglichkeiten gefunden, ihre Ängste gemeinsam und solidarisch zu verhandeln und sich ihnen also auch zu stellen.

Immer wieder kommen in deinem Roman traumähnliche Szenen und düstere urbane Landschaften vor, die an Filme und Gemälde erinnern. Du zeichnest intensive, fast bildnerische Szenen und schreibst auch über Bilder. Mir ist, als experimentiertest du mit erweiterten Formen des Erzählens. Als versuchtest du in benachbarte künstlerische Felder zu wechseln, dort Elemente zu nehmen und sie in literarische Formen zu verwandeln. Was waren für dich bei diesem Roman benachbarte Inspirationsfelder?

Während des Schreibprozesses habe ich einige Filme und Videoinstallationen gesehen, die inspirierend waren. Einer dieser Filme ist „La Cité des Enfants Perdus“ (Die Stadt der verlorenen Kinder) von Jean-Pierre Jeunet und Marc Caro gewesen. Dabei ist es mir weniger um thematische oder inhaltliche Bezüge gegangen als um Erzähltechniken, die es ermöglichen, der Erzählung eine bestimmte Färbung oder einen bestimmten Tonfall zu verleihen. Bei visuellen Medien wird in dieser Hinsicht mit Farben und mit prägnanten Einstellungen gearbeitet: Mit einem Bild kann so viel gezeigt und atmosphärisch erzählt werden, wofür es in einem Text vieler Sätze bedarf. Und ich habe mich immer wieder gefragt, wie es möglich ist, auch in und mit Sprache solche Effekte zu erzeugen, ohne dass ich dafür seitenlange Beschreibungen benötige. Die Manifesto-Videoinstallationen von Julian Rosefeldt sind in diesem Zusammenhang auch interessant gewesen. Anhand von kurzen filmischen Episoden sind Kunst-Manifeste (des Surrealismus, des Futurismus, des Dadaismus, des Situationismus usw.) dargestellt und in Szene(n) gesetzt worden. Die Möglichkeit, komplexe sprachliche Setzungen episodisch und narrativ aufzubereiten, ohne in irgendeiner Form illustratorisch zu werden, hat mich dabei fasziniert. Ein anderer Film, der während der Arbeit an dem Roman wichtig gewesen ist, ist der letzte Teil von Lars von Triers Europa-Trilogie, der auch den Titel „Europa“ trägt …

Der Traum von Europa ist in deinem Buch zum Albtraum geworden. Einiges davon, was du beschreibst, kann man auch in der gegenwärtigen Situation erkennen. Auf der einen Seite stehen die (Wirtschafts-)Liberalen, die die europäischen Werte hochhalten. Nennen wir sie die „good guys“ und auf der anderen Seite stehen die „bad guys“, die primär chauvinistisch und kulturkämpferisch auftreten, also die vom neuen und alten rechten Diskurs geprägten Fraktionen. Das ist jetzt eine sehr vereinfachte Dichotomie, aber die letzten Präsidentschaftswahlen in Österreich und Frankreich waren genauso gelagert. Diese Reduktion und der Zwang sich für eine der beiden Positionen entscheiden zu müssen, ist natürlich eine Falle. Wofür und wogegen muss heute gekämpft werden?

Ich denke auch, dass es ein Fehler ist, zu glauben, man könne sich heute für die eine – (wirtschafts-)liberale – oder für die andere – national-chauvinistische – Seite entscheiden. Wir befinden uns in einer Phase der massiven Reterritorialisierung. Das Prinzip des Nationalstaates ist in allen Bereichen tragend, nicht nur in rechtspopulistischen Diskursen. Die so genannten europäischen Werte sind viel abstrakter als die realpolitischen Auswirkungen: 60 Kilometer von Wien entfernt, in Bratislava, verdienen Menschen für dieselbe Arbeit um zwei Drittel weniger. Was, wie wir alle wissen, zur Folge hat, dass gewinnorientierte Unternehmen ihre Firmensitze und Produktionsstätten dorthin verlagern. Unter dem Deckmantel der so genannten Standortsicherung werden dann sukzessive Regelungen zum Arbeitnehmer_innenschutz abgebaut, Lohn- und Gehaltniveaus zum Stagnieren gebracht oder gar nach unten revidiert. Und da kommen die rechtspopulistischen Parteien ins Spiel: Sie kanonisieren die Ängste, geben ihnen einfache Ausdrucksformen und bieten monokausale Erklärungs- und Lösungsvorschläge an, die niemals umgesetzt werden (können). Die anderen Parteien (darunter auch die so genannten sozialdemokratischen) sind nicht mehr in der Lage, die Menschen, die tatsächlich von sozialem Abstieg, von Armut und Existenzkämpfen bedroht sind, zu repräsentieren. In dem Roman habe ich versucht, diese Entwicklungen nachzuvollziehen und in ihren weiteren Konsequenzen zu befragen: Die Aufteilung Europas in A-, B-, C- und D-Zonen, die einer binneneuropäischen Kolonialstruktur entspricht, ist nicht soweit an den Haaren herbeigezogen, wenn wir an den Ausverkauf Griechenlands oder jetzt an die an den Rändern Europas errichteten Lager für geflohene und schutzbedürftige Menschen denken. Ich denke, dass es diese Reterritorialisierungen sind, gegen die wir heute kämpfen müssen: Also gegen die realpolitischen und diskursiven Nationalismen und für globale Umverteilungen. Auch das ist ein Thema im Roman: Widerstand muss immer an und über Grenzen gehen, er kann nur als transnationaler funktionieren.

 

Eva Schörkhuber,

Nachricht an den Großen Bären

Roman, Edition Atelier, 200 Seiten, 20 Euro

ISBN 978-3-903005-27-3

E-Book: 12,99 Euro, ISBN 978-3-903005-48-8

 

Lesung und Gespräch:

Eva Schörkhuber (Nachricht an den großen Bären) und Mascha Dabic (Reibungsverluste).

Mo, 12. 06., 19.00 h, Stifterhaus Linz

 

Eva Schörkhuber, 1982 geboren, aufgewachsen in Oberösterreich. Exil-literaturpreis 2012, Theodor-Körner-Preis 2013. Lebt und arbeitet in Wien und Bratislava. Gemeinsam mit Elena Messner Konzeption und Durchführung der Wiener Soundspaziergänge. Zuletzt in der Edition Atelier erschienen: „Die Blickfängerin“ (2013) und „Quecksilbertage“ (2014).

„Make a total massacre and leave no one behind“

Mit schreddernden Gitarren, schillernder Gesichtsbemalung und schlagfertigen Texten haben es Post Period schnell von den lokalen Bühnen in Linz und Umgebung auch nach Wien geschafft, nicht zuletzt bis zum FM4-Protestsongcontest. Protest ist generell fixer Bestandteil der Band und zieht sich durch ihr Konzept, meint Alexander Eigner über die Band.

Links Vivan Bausch, rechts Nora Blöchl und im Auto Linda Greuter. Foto Bastian Moser

Links Vivan Bausch, rechts Nora Blöchl und im Auto Linda Greuter. Foto Bastian Moser

Post Period haben sich im November 2015 gegründet und bestehen aus Nora, Linda und Vivian. Instrumente kann man den drei Frauen allerdings nicht direkt zuordnen, denn diese wechseln bei diversen Gelegenheiten die Musikerin. Gitarre, Bass, Schlagzeug und Keyboard werden von den Dreien wechselnd bespielt und die Singstimme wechselt ebenfalls von Song zu Song. Das ständige Ändern der Formation spiegelt sich auch im Sound wieder, der eine Mischung aus Punk, Surf Rock und Pop erzeugt oder anders gesagt: Post! Schließlich ist alles, was irgendwann später kommt, eben die Post Period, egal ob aus musikalischer, geschichtlicher oder gesellschaftlicher Perspektive. Wenn diese Phase wiederum vorbei ist, kommt auch etwas Neues, also wieder eine Post Period und so lässt sich das immer weiterspielen. Es geht um die Ära danach. Mit diesem Konzept hat sich das Trio auch etwas Großes vorgenommen: musikalischen Stillstand vermeiden und eine stetige Neuerfindung forcieren.

Beim FM4-Protestsongcontest haben sie schließlich ihren Song sonic war präsentiert, dieser hat ihnen, dank des guten Votings des Publikums, zum sechsten Platz verholfen. Bei der Bewerbung dafür haben sie sich noch wenig Chancen ausgerechnet, was generell mit der Skepsis für Conteste zu tun hat. Diese sind oft negativ behaftet, wie man aus zahlreichen dieser Wettbewerbe weiß. Schließlich muss man sich immer mit anderen messen, die meist etwas völlig Gegensätzliches machen. Anschließend wird man von einer Jury bewertet oder eventuell sogar abgewertet. Nichtsdestotrotz war der Auftritt im Rabenhof Theater der größte ihrer bisherigen musikalischen Karriere. Der Song an sich ist ein Schrei danach, dass auch Frauen nicht nur genauso aggressiv sein dürfen, wie das bislang hauptsächlich männlichen Kollegen vorbehalten bleibt, nein sogar müssen. Er handelt aber ebenso vom Hadern mit persönlichen inneren Konflikten und soll die Zerrissenheit der Medien aufzeigen. Genau deswegen lässt sonic war so viel Raum für eigene Interpretationen offen, ein Songzitat: „Make a total massacre and leave no one behind“.

Um Post Period vollends zu verstehen, sollte man sie einmal gesehen haben. Ihr Auftreten, mit rebellischer Eleganz, verfeinert mit ihren stilvollen Gesichtsbemalungen lässt einen erst einmal staunen, regt zum Nachdenken an und bereitet Vorfreude auf das, was noch kommen wird. Die Verzierungen im Gesicht entstanden ur-sprünglich daraus, dass ein Bandmitglied längere Zeit ein blaues Auge hatte und dieses bei einem Auftritt kaschiert hat. Solidarisch mit ihr taten es ihr die beiden weiteren Frauen der Band gleich. Und weil es so viel positive Resonanz dazu gegeben hat, haben sie beschlossen es beizubehalten, was auch nicht weiter schlimm ist, da alle drei große Bowie-Fans sind. So wurde aus einer Not ein Ritual. Ein Ritual der Gemeinschaft, denn das gegenseitige Schminken vor einem Gig gibt ihnen Ruhe. So stimmen sie sich auf den bevorstehenden Auftritt ein. Mittlerweile ist es zu ihrem Markenzeichen geworden.

Post Period – die sich selbst auch als Stromgitarrenfrauenkapelle bezeichnen – sind trotzdem viel mehr als Frauen mit Kriegsbemalung. Als Frauenrockband setzten sie, ob gewollt oder ungewollt, sowieso ein Zeichen, denn manche Klischees bestehen immer noch: Schlagzeug, Bass und E-Gitarre sind keine typischen Frauen-Instrumente. Oft haben sie das zweifelhafte Kompliment gehört, dass sie für Frauen ja ganz gut spielen würden. Mit ihrem Auftreten sind sie nun dabei diese Stereotypen zu widerlegen und krachen chaotisch, aber authentisch, geradewegs in die Männer-Rockwelt der Stahlstadt.

Im September 2016 haben Post Period bei der Recording-Session Girls Rock Edition im Ann and Pat ihre ersten beiden Singles veröffentlicht, darunter findet sich auch die Nummer sonic war. Auch wenn es ihnen selbst mehr Freude bereitet live aufzutreten, haben sie mittlerweile genug Material gesammelt, um das erste Album auf-zunehmen. Die Zeit scheint reif zu sein. Fertig sein soll es noch im Sommer, denn da ist eine kleine Tour Richtung Deutschland geplant, ehe es wenig später weiter nach Italien gehen soll. Im Sommer in den Norden und im Herbst in den Süden. Dabei soll dann wiederum viel neue Musik entstehen. Wenn es nach ihnen geht, dann sind das im besten Fall Stücke, die in zwei Minuten fertig sind.

Derzeit wird noch eifrig gearbeitet. Einen Vorgeschmack auf das Album und die folgende Tour kann man sich aber schon live am 29. Juli Open-Air vor der Stadtwerkstatt holen. Man darf gespannt sein, wie Post Period im Sommer überraschen werden.

 

Post Period, 29. Juli, Stadtwerkstatt Open-Air

www.postperiod.at

Vernetzung, Bauchgefühl

Große Pläne werden geschmiedet. Zwei junge Männer aus Linz haben nichts Geringeres vor, als die junge Musikszene der Stadt neu zu vereinen. Daraus entstand der Gedanke für ein eigenes Label. Über Tentik Records berichtet Alexander Eigner.

Gegründet aus dem Gedanken, das Potential der jungen Künstlerinnen und Künstler der Stahlstadt zu bündeln, entstand Anfang des Jahres das Label Tentik Records. Der Name hat sich aus der Frage ergeben: Was ist das Wichtigste im Musikbusiness? Nach Meinung Tentiks ist das die Authentizität. Allerdings wird das Wort Authentizität, besonders bei wiederholtem Aussprechen, schnell zum Zungenbrecher. Es wurde einige Zeit gegrübelt, wie man dieses komplexe Wort etwas einfacher verpacken könne. Viele Ideen haben sich ergeben, aber letztendlich ist die Wahl auf eine simple phonetische Abkürzung gefallen: Tentik.

Hinter Tentik Records stecken Yuri Binder (19) und Kristian Fodor-Arus (20). Der Name Binder ist in Linz nicht unbekannt, so handelt es sich hier um den Sohn des Attwenger-Schlagzeugers/Sängers und Autors Markus Binder. Dass sich die nächste Generation auch ins Musikbusiness wagt, ist also wenig überraschend. Auch Kristian hat sich nach der Matura im letzten Jahr voll und ganz der Musik verschrieben. Zuletzt hat er sich verstärkt mit Rechtlichem in der Musik auseinandergesetzt. Beide sind sie, manchmal auch zusammen, in verschiedensten musikalischen Projekten unterwegs: Von Punk, Funk, Indie, Synth-Pop, Stoner-Rock bis Hip Hop und Rap haben sie einiges auf Lager. Sie scheuen es eben nicht, über die eigenen Grenzen hinweg zu blicken und Neues zu probieren – mit der Botschaft an die jungen Musikerinnen und Musiker der Stadt: Versucht euch in den musikalischen Bereichen, die euch Spaß machen. Seid aber auch offen für andere Sektoren der Musik.

Momentan umfasst Tentik Records sowohl die beiden Bands Slavica und Gerhard als auch den Rapper Cool K. Die aus vier Jungs bestehenden Slavica kombinieren auf ihrer ersten EP No contract geschickt den Rhythmus aus Synthesizer, Drums, Bass und Gitarre, um mit ihren prägnanten Texten die Welt ein bisschen auf den Arm zu nehmen. Gerhard umfasst insgesamt fünf junge Männer und eine junge Frau, die der Groove gepackt hat und die damit neuen Austrofunk kreieren. Auf der dazugehörigen EP Groove mit mir, stimmen sich der männliche und der weibliche Gesang ideal auf das markante Saxophon ein, wobei ein Sound entsteht, der einen – ja genau – eben grooven lässt. Mit Cool K gesellt sich auch noch ein Rapper zum Label. Unterstützt von Labelgründer Kristian Fodor-Arus erschaffen die beiden etwas, was sich am ehesten als Dialekt-Hip-Hop beschreiben lässt. Die EP – Karamel Karma weist auf eine interessante musikalische Entwicklung der urbanen Linzer-Szene hin.

Sie alle haben ihre erste EP bei Tentik Records veröffentlicht. Man muss allerdings erwähnen, dass sich Tentik Records noch am Anfang ihrer Arbeit befinden. Ebenso sollte man nicht vergessen, dass es sich um ein langfristiges Projekt handelt. Ganz entscheidend ist, dass das Label für alle Arten der Musik offen ist. Es soll eine Plattform entstehen, auf der sich Musiker*innen vereinen und vernetzen können. Rechtliches und musikalisches Know-how ist vorhanden. Und es bleibt sicher spannend, wie sich dieses Projekt weiterentwickelt. Die Idee dahinter ist ohne Zweifel toll: Junge Künstler*innen unterstützen sich gegenseitig. Dabei haben die beiden Labelgründer reichlich Vorarbeit geleistet. Nun muss das Projekt nach außen weitergetragen werden.

Weiter darf man auch gespannt sein, denn für den 12. Juni ist ein weiterer Release bei Tentik Records geplant. Der Gitarrist von Gerhard hat ein Solo-Projekt gestartet. Wie das klingen wird oder in welche Richtung er damit geht, verrät er noch nicht. Ebensowenig wird der Deckname dieses Projektes preisgegeben. Die Vorfreude auf frische Musik bleibt.

 

www.facebook.com/tentikrecords

Musik mehr als 4020

Klangwelten, die von einer thematischen Klammer gleichsam am Auseinanderdriften gehindert werden, Musik jenseits Neo-Biedermeier, MusikerInnen zwischen E und U – im Übrigen scheint Robert Stähr der Meinung zu sein, dass das Festival „4020 – Mehr als Musik“ bis zur heurigen Ausgabe 2017 die Grenzen mit assoziativer Leichtigkeit überwunden hat.

„Die andere Seite“ als Thema: Ein Kompositionsauftrag von 4020 ging an Judith Unterpertinger. Foto Michael Wegerer

„Die andere Seite“ als Thema: Ein Kompositionsauftrag von 4020 ging an Judith Unterpertinger. Foto Michael Wegerer

Er plane ein Musikfestival. Ein musikalisches Mehrspartenfestival, das „4020“ heißen werde, nach der Linzer Postleitzahl, mit Musikern aus Linz und Umgebung, erzählte mir Peter Leisch, es muss um 2000 herum gewesen sein. Leisch, bis heute für Förderungen zuständiger Abteilungsleiter am Kulturamt des Linzer Magistrats, startete „sein“ Festival, dessen Mastermind und Kurator er ebenso nach wie vor ist, im Jahr 2001 mit einem einwöchigen Parforceritt durch unterschiedliche musikalische Welten, welche von einer thematischen Klammer gleichsam am Auseinanderdriften gehindert wurden.

Dem Grundansatz – thematische Klammer, MusikerInnen und KomponistInnen aus dem Großraum Linz; musikalische Vielfalt jenseits von E und U, immer fernab eines wie immer definierten Mainstreams; begleitende Veranstaltungen („mehr als Musik“) – ist „4020“ bis in die Gegenwart treu geblieben, hat ihn freilich kontinuierlich weiterentwickelt. Ein nicht zuletzt atmosphärisch wirksames Charakteristikum des Festivals ist seit jeher die Bespielung unterschiedlicher Lokalitäten, deren Zentrum das Brucknerhaus ist. Die Linzer Synagoge, Kirchen, Lentos, Schlossmuseum, AEC sind weitere Veranstaltungsorte im Laufe der Geschichte des Festivals gewesen. Solcherart positioniert, hat „4020“ – obwohl zwischenzeitlich von verschiedenen Seiten in Frage gestellt – seinen speziellen Platz, seine Nische im „Kulturzirkus“ der oberösterreichischen Landeshauptstadt gefunden.

Vieles ist mir als Stammbesucher des Festivals erinnerlich: die zweite Ausgabe von 2002, in welcher sich der Bogen von Markus Hinterhäuser, ab 2017 Intendant der Salzburger Festspiele, der als Pianist im Alten Rathaus Kompositionen der bemerkenswerten russischen Komponistin Galina Ustwolskaja spielte, bis zum im Clubkontext bekannt gewordenen Crooner Louie Austen (Konzert im Cembrankeller) spannte. (In seiner Spannweite zwischen „Zeitgenössischer Musik“ und Pop ist „4020“ nur noch vergleichbar mit dem legendären Wiener Festival „Töne Gegentöne“, das der Ausnahme-Kulturjournalist Wolfgang Kos gemeinsam mit Edek Bartz zwischen 1983 und 1991 kuratierte.) Ebenfalls ein starker Eindruck waren die Auftritte des litauischen Komponisten Rytis Mazulis während der unter dem Thema „Minimal Maximal“ stehenden Ausgabe von 2008; er kombinierte mikrotonale Stücke für Computer und Streichquartett mit Kompositionen für ein Vokalensemble, das sein Konzert mit einer konzentrierten, archaisch anmutenden Choreographie verband. 2011 gestaltete eine für „4020“ zusammengestellte Gruppe von MusikerInnen im Veranstaltungssaal des neuen Südflügels des Schlossmuseums ein beginn- wie endloses Konzert mit einem Werk des tschechisch-amerikanischen Komponisten Petr Kotik nach Textfragmenten von Gertrude Stein, das nach knapp neunzig Minuten endete.

Seit 2015 ist das Brucknerhaus der alleinige Austragungsort des Musikfestivals, welches sich 2013 und 2015 dem kulturellen Raum des Nahen und Mittleren Ostens widmete. Kuratiert hat Leisch das heurige Festival gemeinsam mit der Musikwissenschaftlerin Marie-Theres Rudolph.

Die diesjährige Ausgabe von „4020 – Mehr als Musik“, das seit 2006 biennal stattfindet, öffnete, ergänzt durch einen Workshop mit SchülerInnen und Lesungen aus dem Roman, einen musikalischen Assoziationsraum zu Alfred Kubins „Die andere Seite“. Das Festival steht in einem gemeinsamen Veranstaltungsschwerpunkt rund um das Werk des Zeichners mit dem Linzer Musiktheater (Opernaufführung), der Landesgalerie (Ausstellung im wiedereröffneten Kubinkabinett und im Gotischen Zimmer) und dem Stifterhaus (Installation zu Briefen Kubins im Literaturmuseum).

Die vier Konzertabende folgten unter verschiedenen Überschriften (z. B. „Der Ruf“; „Im Bann“) jeweils einer ähnlichen Struktur: Sogenannte „Recitale“, in deren Rahmen Musiker wiederum vornehmlich aus dem vorderasiatischen Raum einzeln und in unterschiedlichen Konstellationen Stücke auf verschiedenen Instrumenten darboten, standen neben Konzerten mit Kammermusik: „Kubiniana I bis V“. In diesen von verschiedenen Ensembles gespielten, sorgfältig kuratierten Konzerten trafen Stücke von Komponisten der Klassischen Moderne auf Material aus weiter zurückliegenden Epochen der „Abendländischen Musik“ und (als Auftragswerk für „4020“ geschriebene) Kompositionen von Musikern aus dem Nahen und Mittleren Osten. Zu betonen ist in diesem Zusammenhang der nicht auf vordergründige Kontrast-Effekte abzielende, äußerst durchdachte Charakter der „Kubiniana“-Konzerte.

Meinem Empfinden nach am ausgeprägtesten war dieser Charakter im Konzert des „Trio Weinmeister“ am letzten Abend zu spüren. Einzeln, im Duett und im Trio spielten die MusikerInnen – zwei Frauen, ein Mann – abwechselnd einzelne Sätze oder ganze Stücke für Streichinstrumente der Barockkomponisten Purcell, Gabrielli und Tartini sowie der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wirkenden Tonsetzer György Ligeti und Giacinto Scelsi. Das Alternieren zwischen „Barock“ und „Moderne“ spannte einen akustischen Raum („eine Architektur fragiler Klänge“) auf, in dem sich gedankliche wie emotionale Assoziationen entfalten konnten. Dieser verdichtete sich im Zusammenspiel mit den Positionswechseln der MusikerInnen zu einem überzeugenden Konzept, welches in keiner Minute aufgesetzt oder zu bedeutungsbeladen anmutete.

Unter den Solo-Konzerten hervorzuheben ist das Eröffnungskonzert mit der estnischen Musikerin und Komponistin Maarja Nuut. Ihre Stücke oszillierten zwischen folkloristischen Klängen, Ambient und Minimal Music; Verwandtschaften mit Musikerinnen wie der tschechischen Geigerin und Sängerin Iva Bittova kommen mir in den Sinn. Auch Maarja Nuut spielt Geige und singt, ihr zweites Saiteninstrument ist eine Art Fiedel. Zusätzlich setzt sie elektronisches Aufzeichnungsequipment ein, um – auf Basis live kreierter Loops – gleichsam „mit sich selbst“ zu spielen.

Das Gesamtkonzept des diesjährigen „4020“-Festivals war weder ein bloß vager „Ansatz“ noch ein rigides, mit Konzerten befülltes Programm-„Korsett“. Es schuf eine Plattform für verschiedene musikalische Konstellationen, die sich – wenn auch nicht immer ganz zwingend – mit Motiven und Stimmungen des einzigen Romans von Alfred Kubin assoziieren ließen. Der hier mehrfach bemühte assoziative Zugang erscheint mir insofern adäquat gewesen zu sein, als Kubins Text weniger durch seine narrative Struktur denn vielmehr seine sprachlichen Bildwelten, die wiederum eng mit seinem zeichnerischen Werk korrespondieren, zu beeindrucken vermag. An im Foyer des Brucknerhauses verteilten Hörstationen waren gelesene Textauszüge der „Anderen Seite“ zu hören.

Mit den Konzerten asiatischer Musiker setzten Peter Leisch und Marie-Theres Rudolph den in den letzten beiden Ausgaben des Festivals zum Thema gemachten Schwerpunkt unter anderem Vorzeichen fort. Hier wurde wieder der Beweis erbracht, dass Konzerte mit „ethnischer“ Musik auch außerhalb des boomenden „World Music“-Wanderzirkusses aufmerksame HörerInnen finden können. Dies- bzw. jenseits des damit oft verbundenen Post-„Flower Power“-Biedermeier forderten MusikerInnen und Instrumente zum Mit-Hören und Mit-Denken auf.

Im Übrigen bin ich nicht nur der Meinung, dass „4020 – mehr als Musik“ unbedingt fortgesetzt werden muss, sondern auch, dass die Institution Salzamt budgetären Einsparungen auf keinen Fall zum Opfer fallen darf.

 

Die andere Seite

Die diesjährige Ausgabe von „4020 – Mehr als Musik“ stellte Alfred Kubins wenig beachtete Tätigkeit als Autor mit ins Zentrum. Der Zeichner Kubin entwarf in seinem visionären Roman „Die andere Seite“ von 1908 eine Traumstadt namens Perle, sozusagen als Traumreich eines Überwachungsstaates, in dem Gut und Böse nicht zu unterscheiden sind. Dieses Werk inspirierte immer wieder Schriftsteller, Musiker und Künstler – so auch die Komponistin Judith Unterpertinger in einem Auftragswerk des Festivals 4020 oder Michael Obst in seiner Oper, die im Mai im Musiktheater uraufgeführt wurde und noch im Juni zu sehen ist.

„Die andere Seite“ als Thema des Festivals „4020“ stand und steht im weiteren Zusammenhang mit Ausstellungen rund um das Werk Alfred Kubins. In der Landesgalerie und im Stifterhaus sind dazu aktuell Präsentationen zu sehen.

 

www.festival4020.at

Buy the Ticket, Take the Ride

Theaterfestival für junges Publikum, mit Schäxpir in 10 Tagen um die Welt: Über das Schäxpir-Programm und über Vermittlung als fast künstlerische Form hat Gerlinde Roidinger mit Julia Ransmayr, einer der beiden Festivalintendantinnen, gesprochen.

New Breed Tournament, Zuzanna Ratajczyk und Eoghan Ryan. Foto Alina Usurelu

New Breed Tournament, Zuzanna Ratajczyk und Eoghan Ryan. Foto Alina Usurelu

Buy the ticket, take the ride! lese ich auf dem Youtube-Video eines Bloggers, der seine 10-tägige Reise um die Welt dokumentiert, welches mir kürzlich mein jugendlicher Cousin vor die Nase hält. Der Globetrotter verdiene damit seine Kohle, während er im Sommer-Outfit laufend vor der Kamera zu sehen ist und mich über den Handy-Screen mit Zitaten wie Above all, try something! oder Action expresses Priorities! und Do more! anheizt … und ich frage mich, diesbezüglich und anlässlich des heraufziehenden Schäxpir-Festivals: Warum als junger Mensch ins Theater gehen, wenn es das bisschen Spaß auch stündlich am eigenen Smartphone gibt und der digitale Er-Lebensraum ohnehin vor Inszenierungen und (Selbst-)Darstellung strotzt?

Warum Theater für junges Publikum? Das fragten sich auch Sara Ostertag und Julia Ransmayr, als sie im Herbst 2015 die künstlerische Leitung des Schäxpir-Festivals übernahmen und damit Stephan Rabls Nachfolge antraten. Entstanden ist ein 10-tägiges Programm für „alle“ – also generationenübergreifend – mit dem Schwerpunkt Vermittlung. Doppelt so viele TheaterpädagogInnen werden daher in „Aktion treten“, weniger um Theater zu erklären, als es mit weiterführenden Inputs anzureichern und um einen Dialog zwischen Publikum und TheatermacherInnen zu schaffen. Vermittlung soll dabei fast als eigene künstlerische Form verstanden, jedenfalls aber innerhalb des Theaterschaffens begreif- und erfahrbar gemacht werden. Als Kuratorin habe sie zwar eine Verantwortung gegenüber dem Publikum, so Julia Ransmayr, doch die Auseinandersetzung mit der Zielgruppe dürfe keinesfalls heißen: „Ich weiß genau, was du sehen willst.“ Für das Programm inspirieren ließen sich die beiden jungen Kuratorinnen vom gegenwärtigen Diskurs der performativen Künste, insbesondere von Belgien, Niederlande und Deutschland – Theaterländer, in denen die darstellenden Künste nicht nur großgeschrieben, sondern auch großzügig gefördert werden.

Die Zusammenarbeit von Theaterhäusern, freien Gruppen, PerformerInnen und Publikum spiegelt sich auch im Festivalthema „Wie wollen wir zusammen leben?“ wider, wobei wie gewohnt Inhalte aus der Erfahrungswelt junger Menschen wie Liebe, Sucht, Gewalt, Familie und Freunde im Mittelpunkt stehen. Erwähnenswert ist neben der Erweiterung der Spielstätten um die OÖ Landesbibliothek und die Anton Bruckner Privatuniversität das bereits seit 2016 laufende Residenz-Programm, bei dem Schäxpir mit den Theaterhäusern HETPALEIS (Belgien) und Maas theater en dans (Niederlande) kooperiert. Dabei arbeiten neun Künst­lerInnen aus Österreich, Deutschland, den Niederlanden, Belgien, Marokko und Palästina zusammen, um an neuartigen Theaterkonzepten für Kinder zu forschen. Recherche und Proben dieses Pilotprojekts namens SECHSPLUS fanden in Rotterdam, Antwerpen und Linz statt. Bei der Auswahl des Teams, das sich ohne inhaltliche Vorgabe mit neuen Formaten des Theatermachens auseinandersetzt, wurde vor allem auf unterschiedliche Biografien der KünstlerInnen Wert gelegt.

Verschiedenartig sind in jedem Fall auch die partizipatorischen Formate, die zum Mit- und Theatermachen einladen und für die sich experimentierfreudige Menschen aller Altersgruppen bewerben konnten. Neben den workshopähnlichen Ateliers (zusammen bewegen, zusammen Utopien entwerfen und zusammen im öffentlichen Raum), bei denen mit den TeilnehmerInnen prozesshaft Stücke erarbeitet und in Form von Showings im Rahmen des Festivals gezeigt werden, konnten sich theateraffine Menschen für das offene Format Part of the Game Game zum Casting anmelden. Ähnlich einem Gesellschaftsspiel kann sich das Publikum durch ein riesiges Labyrinth „zocken“, um in den Levels à la Super Mario in direkten Kontakt mit den eingeweihten SpielerInnen zu treten. Die Idee dieses interaktiven Spiels stammt aus Graz und wurde von der Gruppe Das Planetenparty Prinzip und dem Theater am Ortweinplatz entwickelt. Völlig anders hingegen das Format der belgischen Künstlerin Audrey Dero, die in der Hip Hip Hip Kabine für jeweils nur eine Person performt und damit Theater auf kleinstem Raum, ähnlich einer Fotokabine, erlebbar macht. Noch etwas experimenteller und ebenfalls für die Festivaleröffnung angekündigt, dürfte das Stück „C“ sein, eine Musikperformance von Simon Løffler (Dänemark), die sich an alle mit Zähnen richtet und offensichtlich ein bissiges Klangerlebnis verspricht. Physisch wird es erfreulicherweise auch im tänzerischen Sinne, wenn De Dansers (Niederlande) und Theater Strahl (Deutschland) mit „The Basement“ stürmisch über den Tanzboden fegen und mit großer Leidenschaft jugendliche Gefühlswelten verkörpern …

… „Cool!“ sag ich jedenfalls zu meinem Cousin, während er kurz zurückgrinst und sich dann tippend einem seiner Whats­App-Dialogen widmet, woraufhin ich mich in Gedanken über das Video verliere: Heißt „Do more!“, ich soll jetzt noch mehr von diesem Weltenbummler streamen oder mich ebenfalls in meine Turnschuhe schmeißen und versuchen „in Action“ mein Geld zu verdienen? Oder anders gefragt: Steht diese Form der Inszenierung tatsächlich in Konkurrenz mit dem (Jugend-) Theater, das mittels appellativer „Action“ Interesse zu wecken versucht? Und wenn ja, was bedeutet das? Und wer wird wohl zu diesem schönen Festival kommen und bei den wertvollen Workshops mitmachen, wenn „alle“ eingeladen sind?

Mein Cousin etwa, der hybride Smombie (= Smartphone + Zombie) in Dauer-Wischaktion mit enormen Multitasking-Kompetenzen und chronischem Konzentrationsverlust? Oder gar die selbstverliebten, über Nacht vom Himmel gefallenen Youtube-Teenie-Stars, die emotional-melancholischen Pop covern und die längst aus der Mode gekommenen Boygroups aus den 90ern ablösen? Oder deren Fans, die Selbstwert heischenden Social-User aus Twitter, WhatsApp, Instagram, Facebook und Tinder? Möglicherweise erfahren aber auch die Zocker- und Hacker-Kids auf nächtlichen LAN-Party-Camps davon? Oder vielleicht sind es eher die Kinder von diesen so genannten Helikopter-Eltern der Generation 50+, die von einem Event zum nächsten chauffiert und vor lauter Frei-Zeit-Aktivitäten keine Zeit frei haben, um selbst aktiv zu werden, also permanent passiv aktiviert werden und sich aufgrund fehlender Langeweile kaum der eigenen Fantasie hingeben können?

Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht. Doch sollten diese eben skizzierten, klischeehaften Kategorien von Jugendlichen in irgendeiner Form existent sein, so hoffe ich, dass sie sich unter das Publikum mischen, Betonung auf MISCHEN. Und vielleicht nimmt mich ja jemand von ihnen mit, oder umgekehrt. Wegen des generationenübergreifenden Schwerpunkts versteht sich. Und wegen der Partizipation. Wegen der Zeiten voller Action. Und wegen der gesellschaftlichen Teilhabe und der instinktiven Kompetenz, die wir den Jugendlichen so gerne zuschreiben, genauso wie das Interesse an Liebe, Sucht, Gewalt, Familie und Freunden – das uns so genannte Erwachsene aber am besten selbst oder mindestens genauso beschreibt. Vermittlung als künstlerische Form scheint das Gebot der Stunde. Und wir selbst lernen währenddessen. An dieser Stelle will ich mir das Above all, try something! des Youtubers tatsächlich zu Herzen nehmen und es gleich mal mit seinen Methoden versuchen, wenn auch ohne Turnschuhe: Also: Buy the ticket, take the ride!

 

Theaterfestival für junges Publikum

vom 22. Juni – 1. Juli 2017

www.schaexpir.at

Make it Count

[Casey Neistat, YouTube Blogger]

Fahren, Fahren, Fahren.

Das Schöne am Eintauchen in ein vermeintlich lokales kulturgeschichtliches Thema ist, welche Vielzahl an unerwarteten Welten sich eröffnen. Das erlebte Veronika Barnaš während der Mitarbeit an der Ausstellung „Urfahraner Markt – 200 Jahre Linzer Lustbarkeiten“. Für die Referentin schrieb sie über oberösterreichische SchaustellerInnen – von Urfahr bis in den „Orient“.

Beim Blick hinter die Kulissen des größten Jahrmarkts Österreichs war die größte Überraschung für mich die Entdeckung der Berufsgruppe der SchaustellerInnen. Als solche bezeichnen sich die BesitzerInnen und BetreiberInnen der unterschiedlichen Fahrgeschäfte wie Kettenkarussell, Autodrom, Riesenrad und Hochschaubahn sowie von diversen Schießbuden. Dass der Wiener Prater z. B. seit Generationen von einigen wenigen Schausteller-Familien betrieben wird, die dort auch leben, ist landläufig bekannt. Die Frage, wer die Kettenkarusselle und Autodrome auf den Kirtagen, Stadt- und Dorffesten sowie Weihnachtsmärkten betreibt, kam mir allerdings nie in den Sinn.

Die bewegten (Familien-)Geschichten, die sich bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts nachvollziehen lassen und die sich in verändernden Lebens- und Arbeitsbedingungen widerspiegeln, sowie die Verwandtschaft der oberösterreichischen Schausteller-Familien untereinander, kamen zur Überraschung hinzu.

Wer kennt heute noch die „Erste europäische Todeskugelfahrerin“ Theresia Sonnberger – eine der fünf Sonnberger-Schwestern? Aus einer alten Schaustellerfamilie stammend, trat sie in den 1930ern mit Heinrich Straßmeier sehr erfolgreich unter dem Künstlernamen „Heinz und Gitta Gordon“ auf. Mit Motorrädern in einer Stahlkugel fahrend unterhielten sie die BesucherInnen – „Stirbt heute eine/r oder nicht?“ Theresia Sonnberger verließ zwar das Metier und wurde „privat“, ihre Schwester Olga heiratete allerdings in die Schausteller-Familie Rieger. Eine weitere der „Sonnberger-Girls“, Aloisia, heiratet wiederum Heinrich Straßmeier und auch ihre Nachfahren sind heute noch am Urfahraner Markt tätig.

Oder wer kennt heute noch die Geschichte von Johannes Mayerott (1840–1909), der mit seinem „Panorama“ (einer Vorstufe der Kinematografie) 30 Jahre lang durch Europa und bis den „Orient“ reiste? Das Panorama war ein in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts populäres Freizeitvergnügen. Es ermöglichte mehreren Personen gleichzeitig, stereoskopische Bilderserien in automatischer Abfolge durch ein Guckloch zu betrachten. Gezeigt wurden hauptsächlich exotische, aber auch erotische Motive. Mit der Erfindung der Kinematographie im Jahr 1895 ging die Zeit der Panoramen zu Ende. 1905 stellte Johannes Mayerott den Betrieb ein und starb 1909 in Urfahr. Seine Töchter Auguste, Franziska und Emma führten das Gewerbe der fahrenden Schaustellerinnen in unterschiedlichster Weise fort – Auguste Seitz betrieb ein Wanderkino, während ihre Schwester Emma Strobl u. a. als Wolfsdompteurin auftrat.

Auch den Ururenkel von Johannes Mayerott zog es sehr weit in die Welt hinaus: Erich Avi und seine Frau Elfriede fuhren, in den 1990er-Jahren, sieben Jahre lang mit dem selbsterfundenen Fahrgeschäft „Typhoon“ (600 qm Grundfläche, 200 t) über Hamburg und Antwerpen nach Zypern, wo sie mehrere Jahre Station machten. Der Anlass bzw. Auslöser für die Reise war simpel wie drängend – endlich der Kälte im Wohnwagen in den österreichischen Gefilden zu entkommen. Danach fuhren die Avis durch den Nahen Osten, mit Stationen u. a. im Libanon, Oman, Katar und Bahrain und weiter über Dubai bis nach China. Dort lebten und arbeiteten sie eineinhalb Jahre in Shanghai und Peking. Alles ohne vorherige Sprach- und Ortskenntnisse, natürlich selbst am Steuer der tonnenschweren Lastenzüge und mit dem Ziel, zumindest genügend Geschäft für den Rücktransport zu verdienen (rund 150 000 Euro). Die sogenannten „Rekommandier-Kommandos“ („Kommen Sie! Steigen Sie ein! Bitte anschnallen!“ etc.) wurden von Elfriede Avi von z. B. arabischer Lautschrift abgelesen. Mit dabei immer zwei Reisepässe und das gesamte Bargeld am Körper, um gegebenenfalls rasch das Land verlassen zu können, was sich zumindest einmal als notwendig erwies. Im Nahen und Fernen Osten herrschen andere Gesetze. In China verkaufte das Ehepaar Avi schließlich „Typhoon“, welches heute noch in Dubai in Betrieb ist. Heute betreiben sie noch einige Kindergeschäfte u. a. am Urfahraner Markt und die Ideen für neue gehen ihnen nicht aus.

Natürlich sind dies zwei sehr außergewöhnliche Geschichten, bei der die Faszination neben der Abenteuerlust der SchaustellerInnen, wohl nicht zuletzt mit den Klischees und dem Sehnsuchtsort des „Orients“ zusammenhängt.

Die sicher auch abenteuerliche wie typische Route oberösterreichischer SchaustellerInnen bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts führte vom Urfahraner Frühjahrsmarkt über Ried, Kufstein, Wörgl und Schwaz wieder zurück nach Wels und Ried. Der Urfahraner Herbstmarkt im Oktober markierte für viele das Ende der Saison. Die größere Tour folgte immer der Sonne nach – im Sommer über Villach in den Norden nach Deutschland und im Herbst über den Brenner nach (Süd-)Italien, wo man gerne den Winter verbrachte. Im Winter wurden die Fahrgeschäfte und Wohnwagen repariert und teilweise auch Saisonarbeit angenommen. Bis in die 1930er-Jahre reisten die SchaustellerInnen oft nur mit von Pferden gezogenen Wohn- und Lastenwagen (auch über die Alpen). Später wurden die Wohnwägen und Fahrgeschäfte mittels Zug transportiert. Die Kinder waren selbstverständlich immer dabei, mussten/durften mitarbeiten und lernten das Handwerk und Geschäft von der Pike auf. Dieser Umstand brachte mit sich, dass Kinder und Jugendliche bis in die 1970er-Jahre offizielle „WanderschülerInnen“ waren, was bedeutete, dass sie oft alle paar Tage, je nach Jahrmärkten und Route, die Schule wechselten. Schulstempel dokumentieren dies im sogenannten „Wanderschulbuch“. Die WanderschülerInnen waren beliebte KlassenkollegInnen, da sie natürlich auch Jetons verteilten und so Freifahrten ermöglichten. Ab der Mitte der 1970er-Jahre war das WanderschülerInnenleben dann zu Ende und wurde durch ein anderes Extrem ersetzt – das Internat.

In den Gesprächen mit den verschiedenen SchaustellerInnen bestätigte sich auch, dass sie lange mit den Stereotypen und Vorurteilen des so genannten „Fahrenden Volkes“ – im positiven wie negativen Sinne – assoziiert und konfrontiert wurden. Früher wurden unter diesem Begriff zahlreiche Professionen zusammengefasst wie mobile HändlerInnen, wandernde Heilkundige, Quacksalber, Theater- und Puppenspieler und Artisten wie Seiltänzer, Athleten oder Zauberer.

Die „Freiheit“ des Unterwegsseins, das Risiko, das Spektakel und das „Fremde“, mitunter Exotische, das sie lebten und in entlegene Ortschaften brachten, hatte seinen Reiz. Ihre durch und durch „anti-bürgerliche“ Lebensweise wurde zugleich mit Sehnsucht und Abwehr belegt. Und doch waren SchaustellerInnen durch ihre Hautfarbe und Sprache und nicht zuletzt durch die entsprechenden Lizenzen und Genehmigungen anerkannt, „zugehörig“. Ganz im Gegensatz zu vielen Roma und Sinti, die v. a. als fahrende Händler arbeiteten. Diese hatten kaum Genehmigungen oder Staatsbürgerschaften, was sich nach dem Überleben und Ende des Zweiten Weltkriegs als fatal für ihren weiteren Lebensweg herausstellte. Die österreichische Bürokratie verweigerte ihnen ob der „fehlenden“ Nachweise teilweise bis in die 1990er-Jahre die Staatsbürgerschaft, und somit auch Gewerbelizenzen, verunmöglichte also legales Arbeiten. Schausteller-Familien besitzen übrigens bis heute Wanderbücher, in denen man Route und Standorte durch offizielle Stempel von Gemeinden bis über 150 Jahre zurückverfolgen und nachweisen kann.

Viele der Schausteller-Familien erwarben erst ab den 1950er-Jahren Grund und wurden oft erst in den 1970er-Jahren quasi sesshaft. Christine Avi (geb. Schlader) verkaufte z. B. über amerikanische Besatzungssoldaten ein Pferdekarussell in die USA und konnte dadurch einen Grund in Wels erwerben, auf dem dann ein Wohnhaus und Lager gebaut wurde.

Die Rolle der Schaustellerinnen und Frauen von Schaustellern war schon immer eine starke und sehr präsente, und dies nicht erst seit dem Männermangel während des Ersten und des Zweiten Weltkriegs. Sie waren und sind nicht nur für Kinder und Haushalt verantwortlich, sondern auch in alle Bereiche des Unternehmens eingebunden – als Buchhalterin, Logistikerin, Erfinderin, Lastwagenfahrerin, Kassiererin und mehrsprachige Rekommandeurin am Mikrofon.

Bei den zahlreichen Gesprächen mit den zwei Familien Schlader (Linz und Wels), Avi, Gschwandtner, Straßmeier und Rieger wurde immer wieder erwähnt, dass sie alle irgendwie verwandt seien. Einen gemeinsamen Stammbaum gäbe es aber nicht. Ob meiner Leidenschaft in unterschiedlichster Form mit und zu Biographien sowie Lebenswegen zu arbeiten, war dies gleich ein besonderer Reiz. Nach und nach, wie ein Puzzle und durch viele Telefonate konnte ich die erste Fassung eines gemeinsamen Stammbaums von einigen oberösterreichischen Schausteller-Familien erstellen: ausgehend von Georg Schlader (1841–1847) und seiner Gattin Theresia (geb. Juretka, 1847–1928), deren Nachfahren die Familien Schlader (Wels und Linz) und Gschwandtner sind, die durch Heirat mit den Familien Avi, Bachmair und Wiesbauer verbunden sind, sowie auch mit den Familien Deisenhammer und Schorn verwandt. Die erste Version dieses Stammbaums ist neben zahlreichen Photos, Dokumenten, Interviews und Exponaten von und zu den Schausteller-Familien in der Ausstellung „Urfahraner Markt. 200 Jahre Linzer Lustbarkeiten“ im NORDICO Stadtmuseum Linz zu sehen und kann dort auch ergänzt und erweitert werden.

Was allen Schausteller-Familien, die ich traf, gemein ist, ist eine ungebrochene Leidenschaft für ihren Beruf, der starke Familienzusammenhalt, eine große Menschenfreundlichkeit und Hilfsbereitschaft. Außerdem ein gewisser Stolz auf ihre Berufsgruppe, der sich nicht zuletzt dadurch ausdrückt, dass zugeheiratete Personen, die nicht aus Schausteller-Familien stammen, „Private“ genannt werden. Der oder die sei ja „von Privat“.

Trotz der Begeisterung für ihr Metier erteilen sie geschlossen einer falschen Romantik eine Absage. Sie sind UnternehmerInnen, die seit dem Aufkommen der Kinderfahrgeschäfte auf Weihnachtsmärkten und der inzwischen zahlreichen Nachfrage von Firmenfeiern quasi das ganze Jahr arbeiten. Teils unter widrigsten (Wetter-) Bedingungen und weder Gewinn noch Verlust des Tages wirklich voraussehend. Und vor allem fahren sie weiterhin. Inzwischen allerdings sternförmig von ihrem jeweiligen Wohnsitz weg (u. a. Wels, Linz, Traun, Marchtrenk) und mit entsprechend schweren und modernen Lastenzügen.

Ihr Geschäft ist es, weiterhin die Leute glücklich zu machen.

 

Veronika Barnaš arbeitete bei der Ausstellung „Urfahraner Markt. 200 Jahre Linzer Lustbarkeiten“ im NORDICO Stadtmuseum Linz im kuratorischen Team gemeinsam mit Andrea Bina und Georg Thiel sowie als Redakteurin für den Ausstellungskatalog. Für die Ausstellung hat sie, an einem Berührungspunkt zur eigenen künstlerischen Arbeit, eine erste Fassung eines gemeinsamen Stammbaums von einigen oberösterreichischen Schausteller-Familien erstellt, der ebenfalls in der Ausstellung zu sehen ist. Die Referentin hat Veronika Barnaš gebeten, quasi von hinter den Kulissen des Jahrmarkts zu berichten, und speziell an der Überscheidung zu den eigenen künstlerischen Interessen ganz konkret über die Schausteller-Familien zu schreiben.

 

Veronika Barnaš ist Künstlerin, Kuratorin und Projektentwicklerin. Sie arbeitet forschend, orts-/kontextbezogen und genreübergreifend (Bildende Kunst/Literatur/Theater) – von Inszenierungen und Bühnenbildern über Installationen bis hin zu Mappings von historisch-biografischen Zusammenhängen („Subjektive Kartographien“). Produktionen für das Volkstheater Wien: u. a. Ich bin Zeuge! (Ge-)denksoirée zu den Novemberpogromen 1938, 2014; Ich gehe. Ein szenisches Essay nach Texten von Brigitte Schwaiger, 2013; Auftauchen gemeinsam mit Julya Rabinowich, 2010. Sowie freie Produktionen: u. a. Souvenir. Subjektive Kartographien von Israel (2013–), unORTnung – Eine Ausstellungsreihe in Wien (2006–2010).

Geboren 1978 in Wien. 1999–2006 Studium an der Kunstuniversität Linz – Meisterklasse „Metall“ und MA in der Studienrichtung „raum & designstrategien“. Seit 2014 Univ. Ass. für Künstlerische Praxis am Institut für Kunst und Bildung, Kunstuniversität Linz. Lebt und arbeitet in Wien und Linz.

www.veronikabarnas.net

 

Ausstellung

„Urfahraner Markt. 200 Jahre Linzer Lustbarkeiten“

NORDICO Stadtmuseum Linz

3. Februar bis 21. Mai 2017

 

Katalog

Andrea Bina, Georg Thiel

Urfahraner Markt

200 Jahre Linzer Lustbarkeiten

Herausgeber: NORDICO Stadtmuseum Linz

ISBN: 978-3-7025-0859-3

Verlag Anton Pustet, Salzburg

Wenn ein Toter plötzlich niesen muss …

Wodurch entsteht das sogenannte Unheimliche? Durch das Fremde, wenig Vertraute? Sigmund Freud vertritt eine entgegengesetzte These und formuliert in seinem Essay Das Unheimliche eine erstaunliche Erkenntnis: Unheimlich kann nur sein, was uns einst vertraut und nahe war. Den in Linz lebenden Literaturwissenschaftler Christoph Leitgeb interessiert in literarischen Texten vor allem das Unheimliche der Erinnerung an den Nationalsozialismus.

Das Unheimliche im Fokus. Foto Cornelia Hülmbauer, Tate Modern.

Das Unheimliche im Fokus. Foto Cornelia Hülmbauer, Tate Modern.

Das Unheimliche begleitet Christoph Leitgeb schon seit vielen Jahren. Derzeit schreibt er an einem Buch zu Unheimlichkeit und Erinnerung, das nächstes Jahr erscheinen wird. In seinem letzten Buch arbeitete Leitgeb über Ironie. Das Unheimliche und das Komische der Ironie sieht er aber keineswegs als Widerspruch. Wir treffen uns an einem Sonntagnachmittag, es sollte ursprünglich ein Gespräch über sein neues Buch und seine Forschungsarbeit zum Unheimlichen in der Literatur werden, doch bald drängen sich auch andere Themen auf, und so spannen wir gemeinsam einen Bogen in die aktuelle Gegenwart. Christoph Leitgeb analysiert den gezielten Einsatz des Begriffs Flüchtlingswelle, die Fremdheit der Herrschenden, das Bedürfnis nach dosierter Angst und was es bedeutet, wenn ein Toter auf der Bühne plötzlich niesen muss.

Du beschäftigst dich in deiner wissenschaftlichen Arbeit derzeit mit dem Begriff des „Unheimlichen“, was versteht man darunter?

Da gibt es mehrere mögliche und sinnvolle Definitionen. Allgemein geht es um ein Grenzphänomen zwischen zwei Bereichen oder Räumen, einem bekannten und einem nicht bekannten, und die Theoretiker des Unheimlichen gehen davon aus, dass bei der Grenzverletzung Angst auftritt. Freud etwa vertrat spezifisch die These, dass Verdrängtes Angst auslöst. Wenn Elemente, die ins Unbewusste verdrängt wurden, wiederkehren, entsteht Angst, der Grund der Verdrängung wird bewusst und löst dann das Unheimliche aus. Alle im weitesten Sinn psychoanalytischen Definitionen des Unheimlichen arbeiten mit einem Begriff der Angst. Philosophinnen und Philosophen wie etwa Jacques Derrida haben die Bestimmung der beiden Räume aber später modifiziert und weniger psychoanalytisch als kulturtheoretisch interpretiert.

Du analysierst in diesem Zusammenhang hauptsächlich literarische Texte, auf welchen Begriff des Unheimlichen fokussierst du dabei?

Eigentlich möchte ich mich nicht wirklich für eine eigene, einheitliche Definition des Unheimlichen entscheiden. Das klingt unseriös, aber vielleicht kann ich das am Beispiel von Ilse Aichinger erklären. In Kleist, Moos, Fasane hat sie eine Poetologie der Angst vertreten. „Die Stille zur Angst mißbrauchen“ (1954); „Jeden Tag mit Grauen und unabgeschwächter Angst beginnen, kein schlechter Rat“ (1971); das sind so ein paar ihrer Tagebuchnotizen diesbezüglich. In ihrem Werk findet sich die Angst ständig, der Begriff kehrt immer wieder.

Ist Ilse Aichinger in dieser Hinsicht herausragend?

Ja, es gibt wenige Autorinnen und Autoren, die sich so fundamental auf ihre Angst berufen. Ein Ansatz könnte nun darin bestehen, diese Angst auf den Moment zu beziehen, als ihre Großmutter ins Konzentrationslager deportiert wurde, das war der Moment, in dem Wien für sie als Heimat ins Unheimliche gekippt ist. Ilse Aichinger wurde auch von ihrer Zwillingsschwester Helga, die nach England geflohen ist, getrennt; sie ist zurückgeblieben, um ihre Mutter vor den Rassengesetzen zu schützen.

Freud nennt zum Unheimlichen den Ödipuskomplex, das ist für ihn eine allgemeine Formel für: ein Trieb wird verdrängt und kehrt als Unheimliches wieder. Aichingers Vater – er stammte übrigens aus Linz – hätte Mutter und Tochter schützen können und hat sie verlassen, auch hier könnte eine psychoanalytische Interpretation der Angst ansetzen. Diese Möglichkeit der Interpretation möchte ich anbieten, aber zugleich andere Möglichkeiten offenhalten.

Wenn Ilse Aichinger in ihrer Erzählsammlung Schlechte Wörter heimische Balkone unheimlich macht, dann kann man das in diesem Rahmen psychoanalytisch deuten, sich aber auch die Frage stellen: Warum ausgerechnet Balkone? Der Text Zweifel an Balkonen stammt aus den frühen 1970er-Jahren, ich lese ihn trotzdem als eine Replik auf den Beginn der Zweiten Republik, auf den Balkon, von dem Leopold Figl die Zweite Republik verkündet hat. Für Menschen mit der Vergangenheit Aichingers musste dieser Gründungsakt unheimlich sein, der einen neuen Staat gleichsam im Handstreich mit der Stunde null beginnt. Der Text wäre also Replik auf die Wiederkehr einer „Verdrängung“ innerhalb der Kultur, und diese Interpretation ist mit einem theoriegeschichtlich späteren Begriff des Unheimlichen, mit Derrida etwa, besser zu fassen als mit Freud.

Freud verortet das Unheimliche im Bereich des Eigenen, was zunächst erstaunt. Wenn wir die heutigen Ängste betrachten, so könnte man den Eindruck gewinnen, dass sich das Unheimliche zum überwiegenden Teil nicht auf das Bekannte, sondern auf das Fremde bezieht. Ist da eine Situation mit veränderten Vorzeichen entstanden?

Naja. Dieses Problem drückt sich am direktesten in Theorien des Postkolonialismus aus, die mit der psychoanalytischen Tradition davon ausgehen, dass man sich das „Eigene“, also auch das Persönlichste, Individuellste nicht ohne den Blick in den Spiegel des Anderen bewusst machen kann. Das Unheimliche der kolonialen Situation – beispielsweise für Engländer in Indien – ist, dass die Kolonialisierten nicht einfach „die Fremden“, „die Anderen“ bleiben. Situationsabhängig beginnen sie, sich in einer Art Mimikry anzupassen, und sie beginnen zugleich, ein schwer ausrechenbarer Spiegel für das „Eigene“ zu sein: Für den Kolonialherrn ist weniger der fremd gebliebene, traditionelle indische Bauer unheimlich als der angestellte Lakai, der im englischen Anzug steckt und Englisch mit merkwürdigem Akzent spricht.

Um das also auf die jetzige Situation zu übertragen: Wenn uns syrische oder afghanische Männer ängstigen, dann ist es vielleicht am wenigsten das Syrische oder Afghanische an diesen Menschen, das uns unheimlich ist. Darüber wissen die meisten von uns wirklich konkret auch fast nichts. Aber was wir in ihnen wie in einem Zerrspiegel erkennen, ist zum Beispiel ein kultureller und ökonomischer Anpassungsdruck, unter dem nicht nur sie stehen und vielleicht auch ihre rückwärtsgewandte Orientierung auf den Krieg. So angedeutet, ist das Wiedererkennen des Eigenen im Unheimlichen vielleicht zu abstrakt und abgehoben von der jeweiligen Situation. Aber es ist nie einfach nur „das Fremde“, das uns unheimlich ist.

Ich selbst habe drei Jahre in Japan gelebt und fand das Land weniger unheimlich als etwa England oder Tschechien. Für Japan setzte ich voraus, dass dort alles völlig fremd ist. In Japan glaubte ich von vornherein zu wissen, dass ein Lächeln etwas anderes bedeutet als bei uns. Darauf bin ich in England oder Tschechien nicht vorbereitet. Und gerade, wenn dann das Lächeln in einer Situation doch etwas anderes bedeutet, kann es unheimlich wirken.

Du beschäftigst dich in deiner Forschung vor allem mit Autorinnen und Autoren, die sich literarisch mit der Zeit des Nationalsozialismus beschäftigen, wieso gerade dieser Bereich?

Die österreichische Literaturwissenschaft hat sich mit einigen dieser Texte von Lebert über Jelinek bis Haderlap schon ausführlicher beschäftigt. Wenn man diese Texte also durch die Brille des Unheimlichen neu beschreibt und interpretiert, dann muss sich diese Interpretation zugleich vor einer bestimmten Forschungstradition bewähren.

Der jüngst verstorbene Soziologe Zygmunt Bauman hat den Zustand einer permanenten, unbestimmten Angst in der Gesellschaft als „Titanic-Syndrom“ beschrieben: als Gefühl, durch eine dünne, tragende Oberfläche durchzubrechen und in der Tiefe des Meeres zu verschwinden. Findest du dieses Bild auch in der Literatur?

Mit den Bildern der „dünnen Membran“ und des „Ozeanischen“ hat auch schon Freud den Übergang vom Bewussten ins Unbewusste beschrieben. Die Meeresmetaphorik findet man in Texten über Krieg und Holocaust, auch in der österreichischen Literatur. Maja Haderlap beschreibt in Engel des Vergessens, wie ihre slowenische Protagonistin die Kärntner Täler wahrnimmt, als seien sie in einem Eispanzer eingeschlossen, über den Krabben, Schnecken und Quallen kriechen. Sie kehrt das Bild also um und beschreibt das Ozeanische als Überschwemmung. Und auch diese Metapher taucht in der Alltagssprache auf, wenn wir zusätzlich zur „Überschwemmung“ an das Bild des „Flüchtlingsstroms“ oder an die „Flüchtlingswelle“ denken. Solche Bilder wirken unheimlich und kanalisieren Angst.

Seit einigen Jahren boomt die Kriminalliteratur. Zusätzlich ist ein Trend festzustellen, dass besonders grausame Krimis, wie sie auch aus dem Norden zu uns schwappen, besonders erfolgreich sind. Könnte ein Erklärungsversuch dafür auch darin bestehen, dass ein vom Leben irritiertes oder verängstigtes Publikum seine Angst durch unheimliche Lektüre kontrollieren möchte? Kann man sich durch die Fiktion von realer Angst distanzieren?

Ja, so würde ich diesen Krimiboom erklären. Angst, die man oft gar nicht fassen, geschweige denn aussprechen kann, wird auf die unheimliche Lektüre projiziert. Man kann dann die Angst mit der Gewalt in der Fiktion dem Anschein nach ausagieren und die Lösung des Krimis beseitigt das Unheimliche dann schließlich ganz, wenn auch fiktiv. Der Soziologe Luc Boltanski hat in einem seiner Bücher vor allem klassische Krimis analysiert. Er behauptet, dass die Lust am Krimi dadurch entsteht, dass die scheinbar vertraute Wirklichkeit durch das Rätsel des Kriminalfalls unheimlich gemacht wird. Regeln werden außer Kraft gesetzt, im Unheimlichen wird die sichere, langweilige Wirklichkeit zur Welt erweitert. Und durch die Auflösung des Falls kippt alles wieder ins Vertraute, der Krimi ist konservativ.

In einem deiner Bücher thematisierst du zentral die Ironie, siehst du eine Verwandtschaft zwischen dem Unheimlichen und der Ironie?

Eine bestimmte Sicht der Ironie gab mir den Impuls, mich mit dem Unheimlichen zu beschäftigen. Robert Pfaller zitiert in seinem Buch Die Illusionen der anderen das Beispiel eines Schauspielers, der als Toter auf der Bühne liegt und plötzlich niesen muss. Diese Situation kann für Theaterbesucher komisch sein, sie kann aber auch unheimlich sein für jene, die in der Theaterillusion befangen sind.

 

Christoph Leitgeb, Univ. Doz. Für Neuere deutsche Literatur, Literaturwissenschaftler, wissenschaftlicher Redakteur der Zeitschrift Sprachkunst.

The Sun. The Sun blinded me.

Das Tribute beim diesjährigen Filmfestival Crossing Europe ist Anka und Wilhelm Sasnal gewidmet. Pamela Neuwirth hat den diesjährigen Eröffnungsfilm The Sun bereits gesehen und einen Blick auf das Filmschaffen des Regie-Ehepaares geworfen. Politische Haltung, Polen, die Tristesse am Land und ein unverhohlenes Interesse an den menschlich dunklen Seiten: Wegen Vieldeutigkeit und existenzieller Offenheit der Filme garantiert kein Spoileralarm.

The Sun. The Sun blinded me – die letzte Filmarbeit der Sasnals von 2016. Bild The Sun. Filmstill.

The Sun. The Sun blinded me – die letzte Filmarbeit der Sasnals von 2016. Bild The Sun. Filmstill.

Wenn The Sun mit einer Sequenz zweier aufeinandertreffender, trauriger, sich nicht weiter bekannter Männer, deren Wege sich ebenso abrupt wieder trennen, beginnt, ist noch nicht offensichtlich, warum gerade diese Geschichte als Eröffnungsfilm des Crossing Europe Filmfestival ausgesucht ist. Das Vexierspiel aus Angst und Konvention und Verrat entspinnt sich erst langsam mit dem laufenden Protagonisten; nennen wir den Helden im Folgenden den Läufer. Er, der Läufer, der jeden Tag seine Runden dreht, gerät in einen Sog, in den er sich weitgehend unkommentiert und scheinbar unbeteiligt hineinziehen lässt. Später werden andere die tödliche Eskalation erklären und als Nichtbeteiligte die Tat und ihn richten. Dem KünstlerInnenpaar Anka und Wilhelm Sasnal, die neben der bildenden Kunst (Wilhelm Sasnal) Spielfilme wie auch Kurzfilme produzieren, haben mit dem heurigen Eröffnungsfilm von Crossing Europe einen Rückgriff auf das 1942 erschienene Buch Der Fremde von Albert Camus gemacht und eine filmische Neuadaption realisiert. Der Fremde ist die Geschichte eines Mordes. Camus’ Geschichte und deren Tatort haben die Filmemacher Sasnal für The Sun. The Sun blinded me an einen namenlosen Strand im heutigen Polen verlegt, das, wie jedes andere Land und jede andere Gesellschaft in Europa, mit den aktuellen Migrationsentwicklungen zurechtkommen muss. Das Polen der Sasnals ist ein enges Gehäuse aus Staatsreligion und ihrer orthodoxen Riten, aus xenophoben Gerede über Ebola und „den Ukrainern“, das während einer Feier beim polnischen Barbecue unverhohlen ausbricht. Das Heilige trifft auf das Profane, wobei die beiden naturgemäß gegensätzlichen Pole – an anderer Stelle auch in der Figur des Pfarrers vereint – ins Bodenlose zu stürzen scheinen. In der Stille seines kleinen Lebens wird der Geistliche ohne seine heiligen Insignien etwa zum gewöhnlichen Menschen, der in Unterhosen sein Käsebrot isst und zu viel Aftershave benutzt, bevor er später wortreich die Auferstehung verkündet. Erlösung, Mitgefühl und Gnade, Werte, denen der Geistliche und seine fromme Schar bei einem Begräbnis huldigen, werden letztlich niemandem zuteil und reduzieren sich auf Konventionen und Rituale. Nur der eingangs erwähnte Läufer schweigt und läuft emotionslos seinem Schicksal entgegen, das mit dem Fremden auf geheimnisvolle Weise verbunden scheint. Durch die Filmkunst des polnischen Regie-Paars ist die Erzählung nahe an die Untiefen der Gesellschaft herangeführt. Ein Kunstgriff ist es auch, dass jener, der vordergründig Schuld auf sich geladen hat, seltsamerweise – um in der religiösen Diktion zu bleiben – davon trotzdem unbefleckt scheint. Es gibt Dinge und Verhältnisse im Leben, die nicht begründet und auch durch Urteile nicht mit Sicherheit geklärt werden können. Die Dinge und Verhältnisse sind meistens größer, als es das Individuum ist und sie verweisen sehr oft auf gesellschaftliche Kräfte im Hintergrund. So bleibt das Motiv der Tat eines Vereinzelten vordergründig rätselhaft und kann auch vor der Gerichtsbarkeit nur mit unzureichenden Gründen erklärt werden: The Sun. The Sun blinded me. Es wird jemand anderer die Runden des Läufers im Weltgeschehen drehen müssen.

Von der Idylle des Landlebens freilich kann man sich beim Eintritt ins Kino auch bei Swineherd (2008) verabschieden. Swine­herd versteht sich als Referenz auf das gleichnamige Märchen von Hans Christian Andersen und ist im Film als absurd-perverser Kosmos auf einem fast normalen polnischen Bauernhof angesiedelt. Swineherd ist ein Paralleluniversum, indem die Währung der Menschen aus Brotkrumen und Habseligkeiten besteht, die man sich heimlich zusteckt oder stiehlt. Swineherd erzählt vom technologiefreien Leben, von Kitteln und Hosentaschen, die als Kommunikationskanäle für Zettelchen dienen – falls man kein Analphabet ist. Swineherd zeigt eine Welt, in der der Bauer längst selbst zum Knecht degradiert worden ist und trotzdem das Hegelsche Herr-Knecht-Verhältnis weiterspielt. Und so vom Gutsbesitzer-Knecht kontrolliert, entwickelt auch das rare soziale Leben seine täglichen Heimsuchungen und Sabotagen, wodurch auch das einzige moderne Kommunikationsgerät – ein Radio – bald ertränkt wird, somit niemand sich daran erfreuen kann. Wer hat etwas zu sagen und wer ist der Gute in der Geschichte vom Schweinehirten? Ist es der dem Gutsbesitzer-Knecht unterstellte junge Knecht-Knecht, der mit einem Stock im sprichwörtlichen Trüben fischt und doch nur Nazi-Devotionalien aus dem Schlammloch angelt? Sind es die jungen Leute, die ein Dorffest veranstalten und von Hippie- bis neuerer Musik beschallt, etwas zu sagen haben? Die Jugend, das Fest, ein Musikant in Lumpen, der des Weges kommt und später in einer eigentümlichen Bondage-Variante im Schweinestall zurückgelassen wird – Szenen in Schwarz/Weiß zwischen unverputzten Häusern, Stacheldraht, Nutztieren, seltsamen Stillleben aus Wurst auf Brot auf Hut, und ein noch merkwürdigeres Ende als Ausstieg: Nur ein bisschen Swing aus dem ertränkten Radio und vielleicht könnte die Flucht aus der Trostlosigkeit letztlich doch noch gelingen?

In Polen bleibt es auch in drei weiteren Filmen rätselhaft: It Looks Pretty Nice From A Distance, ein Film von 2011, stellt keine eindeutige Aussage in den Vordergrund. Verfremdete Geräusche und zumeist Stille halten eine sich grausam am ländlichen und menschlichen Minimum dahinentwickelnde Geschichte in der Schwebe. Eine Stringenz der Erzählung wird auch durch eine fast aufgehoben wirkende Zeit verunmöglicht. Dass auch so das klassische Anfang-Mitte-Schluss-Paradigma des Films aufgehoben wird, kann jedoch das Filmpublikum näher an ihre eigene Lebensrealität heranführen, wo diese Scheinordnungen ja trotzdem auch nur schwerlich existieren. Alexander (2013) zeigt ebenso, jedoch etwas freundlicher, die ländliche Lebenswelt als Niemandsland in der polnischen Weite, Menschen organisieren im Familienbund ihren Alltag. Die heute wieder vielfach verklärte Natürlichkeit des Landlebens wird uns nüchtern vor Augen geführt. Beispielsweise wird die Schlachtung eines Hasen minutiös dokumentiert: als Anatomie des Lebens und des Sterbens. Und last, but not least: Parasite, der 2014 übrigens seine Österreich-Premiere bei Crossing Europe hatte, ist wiederum ein Film, in dem die menschliche Existenz in ihrer Endlichkeit reflektiert wird. Das Leben eines Säuglings wird gegengeschnitten mit dem Leben eines alten Mannes, der mal in der schmutzigen Fabrik, dann im sterilen Krankenhaus zu sehen ist. Der Gegensatz fällt dort zusammen, wo das Künstlerpaar betont, mit wie wenig die Menschen von Beginn bis zum Ende zurechtkommen müssen. Er wird für einen kurzen surrealen Moment, der fast wie auf ein Gemälde gebannt wirkt, zärtlich, wo der alte Mensch mit dem Baby auf der Brust zu sehen ist. Der Trost auf einen Kreislauf des Lebens wird jedoch gleich wieder auf Reverse gesetzt: als künstlerisches Stilmittel kehrt etwa der aufsteigende Fabriksrauch aus dem Schornstein wieder in diesen zurück.

Neben den fünf Spielfilmen präsentiert Crossing Europe auch Kurzfilme aus dem Sasnal-Kosmos. Allen Filmen des Regieduos liegt zwar ein gemeinsamer existentieller Ton zugrunde, oftmals spielen diese Kurzfilme aber nicht im ländlichen Polen und an seinem existenziellen Minimum. Sondern es spielt sich neben der Tristesse etwas Kreatives in den Vordergrund, immer taucht da auch etwas klar Lebensbejahendes auf, mit der eine Schwierigkeit überwunden wird: Mit dem Skateboard über ein zuvor abgesägtes Autodach fahren, mit Protest der Unterdrückung begegnen – popkulturelle Bezüge und Freiheitsgefühl helfen aus der Enge eines regulierten Lebens. Ein Werk, das insgesamt am feinen Grat zwischen Pessimismus, Dystopie und existenzieller Offenheit angesiedelt ist.

 

Crossing Europe findet 25.–30. April in Linz statt.

Das umfangreiche Programm findet sich auf crossingeurope.at

Die Odysse der zwei Henriettas

„Henrietta“, sagst du dir, „jetzt hast du es kapiert: Die Frage an dich lautet, ob du überhaupt existierst.“. Von Lisa Spalt ist soeben der Roman „Die zwei Henriettas“ erschienen – eine Geschichte, in der nichts erfunden, aber alles Fiktion ist. Ausgangspunkt einer Recherche von hier bis in die USA ist ein Konvolut von Fotografien. Die Sehnsucht nach Wahrheit, Hintergründen und Räumlichkeit prallt auf der Suche nach Information am flachen Bildschirm ebenso ab wie an einer ganz normal irrealen Realität. Ein Textauszug.

Henrietta Goeritz aus dem Roman „Die zwei Henriettas“. Foto Privat

Henrietta Goeritz aus dem Roman „Die zwei Henriettas“. Foto Privat

Henrietta. Das Bild tritt mit deinem Jahrhundert in Verbindung. Ein Paket von Scans vergilbter Fotografien liegt auf deinem Schreibtisch, mit Rändern, die diese bösartige Schlampe von Zeit, in der du lebst, an den Ecken angeknabbert hat, als wären es Tafeln von im Schrank der Oma weiß angelaufener Schokolade. Du sagst dir: Henrietta, schau dir diese Zeit an, in der du ungefähr so lasziv herumliegst wie eine Dame im Burkini irgendwo am Ballermann. Schau dir diese Zeit an, die in ihrem Messie-Haushalt einfach alles vergammeln lässt, die jeden Käse so lange liebt, bis er sich aufbläst und vor Eitelkeit aufrecht zu gehen beginnt, wahlweise in Gestalt eines schnittigen Lehrers aus Nordrhein-Westfalen im vielleicht gewollt unvorteilhaften, mit Kreuze bildenden Karos bedruckten Look, der vor dem Mikro des landesweiten Broadcastings zu flirren beginnt mit dem Ziel, den Hohlraum um sich herum mit einer Art Vervielfältigung seiner selbst zu stopfen, diesen Raum, den man ihm zugemessen hat wie einen zu großen Taucheranzug. Und in deiner Geschichte, die, wenn sie gelungen ist, ein Gleichnis sein wird, geht es natürlich um die letzte Frage. Es geht um die Frage: Ist dieser Käse ein Gedicht. Ja, darum hat dieser vorhin hier eingeführte Mann jetzt etwas zur längst fälligen Schulreform zu sagen, nämlich dass man doch bitte endlich den Konjunktiv zwei und, seien wir uns ehrlich, den Geschichtsunterricht stanzen solle im Lehrplan et cetera, aber sagen wir ruhig „und so weiter“. Du stellst dir vor, wie die Jugend, unsere Zukunft, in irgendeiner beliebigen Bäckerei herumsteht und stottert: „Ich habe so gern ein Kipferl, bitteschön.“ Ja, da käme es zu unschönen Szenen, die der Pfarrer nicht goutieren würde / Schrägstrich / da kommt es zu unschönen Szenen und so fort. Und natürlich lässt du diesen unappetitlichen Tragödienkeks hier angebissen liegen. Denn deine Zeit ist eine Einkäuferin und Nicht-Konsumentin, ein Jahrhundert der Buyies, Messies und Schmeißies, eine Karikatur ihrer ernsten, älteren Geschwister, die vielleicht erwachsener, aber natürlich auch völlig irre waren. Jeden Tag zieht das Gespenst des Jahrhunderts, das seit Menschengedenken immer wieder eine neue Verkleidung annimmt, die Gesichter der Menschen von den Köpfen ab, indem es sie in Pixel übersetzt. Jeden Tag erzeugt es tausende von zusammenhanglosen Bildern, von denen die meisten am Gängelband toter Links verschimmeln und nie ihrer Bestimmung des Betrachtetwerdens zugeführt werden. Dennoch existieren die oft noch, wenn die abgelichteten Menschen schon lange in allen angesagten Shops Hausverbot haben oder sich die Augenbrauen, die sie sich ein Leben lang weggezupft haben, wieder rauftätowieren haben lassen, weswegen manche jetzt aussehen wie nicht ganz fertig gewordene Repliken der Schwester Tutanchamuns. Ja, die Menschen, die heute zu hundert Prozent davon leben, als Models für irgendwelche Bilder zu dienen, welche hauptsächlich dazu da sind, weggeklickt werden, gibt es nur einmal, und das in einem einzigen, unförmigen, länglichen Zeitstück. Diese Menschen werden immer noch in der Zeit spaghettifiziert, sie werden miteinander verknüpft und langgezogen, bis sie als ihre Lebensfäden reißen, während die bunten und perfekten Gesichter derselben Personen aus verschiedenen Zeiten in Filmen und Fotos als Erben nebeneinandertreten, um gegeneinander vollkommen unversöhnlich zu wirken; während sogar die total unterschiedlichen Gesichter der gesamten Menschheit einander gegenübertreten und sich selbstständig um die Sendezeit im Stadt-TV prügeln. Da trifft die Soldatin als Foltermagd aus dem Mittelalter auf den futuristischen Sternenreisenden, der beleidigt die Mundwinkel runterzieht, weil es immer noch keine App gibt, die ihm die Zehennägel in Lachsrosa lackiert. Und für beide stand kurz zuvor dieselbe Darstellerin Modell, aber trotzdem passen die Bilder nicht zusammen. Denn von uns billigen Props schaffen es eben nur ganz wenige, zu hundert Prozent gefilmt zu werden. Es klaffen meist Lücken zwischen unseren schlecht bezahlten, schlecht beleumundeten Auftritten; der Morphing-Prozess des Alterns, der zwischen zwei Bildern vermitteln könnte, ist aus Kostengründen komplett gestrichen. Die erwähnten Zombies von Gesichtern dagegen sind wirklich erst, wenn der letzte Online-Speicher eingeht, auf dem sie herumliegen, erledigt. Da tut es dann auch nichts mehr zur Sache, ob die Schauspielerin, die sie geschnitten hat und darum denkt, es sei irgendwann auf sie angekommen, sich nun irgendwo noch „Fuck you Goethe“ reinzieht und meint: „Ego video, also bin ich“. Die sitzt dann an diesem Punkt ihres Lebens mehr oder weniger unsichtbar in ihrer ungeheizten Blockhütte eines stromlosen Jenseits und denkt darüber nach, ob sie sich mit einer Bombe in die Nachrichten und damit zurück ins Leben sprengen könnte. „Henrietta“, sagst du dir, „jetzt hast du es kapiert: Die Frage an dich lautet, ob du überhaupt existierst.“

Hey, freie Dienstnehmerin. Du bist heute im Krankenstand, was eben gerade nicht bedeutet, dass deine Arbeitszeit ausgeht, will sagen: was eben gerade nicht bedeutet, dass deine Arbeitszeit ins Gewand des Feiertags schlüpft, sondern vielmehr, dass sie, wenn ihre Nachfolgerin aus der nächsten Woche sich bereits zur Tür reinschwingt in ihrem heißen Lederkostüm, seit Längerem ungeduldig auf dich wartet wie die Braut am Wochenende auf ihren Schatz, der sie auf seinem Motorrad mit ins Grüne nimmt. Und die beiden Damen werden natürlich nächste Woche keppelnd vor dir stehen und sich in die Wolle kriegen, weil jede von ihnen deinen Luxus-Körper ganz für sich allein haben will. Bezahlen aber musst du sowieso für beide mit deinem Leben, aber nur für eine kriegst du zur Hälfte bezahlt. Also klickst du jetzt, eine quasi nicht existierende Zeit wie ein aus einem Comic entkommenes Sauerstoffbläschen im Weltall nutzend, probeweise auf www.vorname.com, um zu sehen, wie Henrietta, dein neues Ich, beim altgedienten Personal deines Lebens ankommt. Vielleicht solltest du die Rolle annehmen? Henrietta, Herrin des Hauses: gilt durchwegs als intelligent und extravertiert. Schart ihre Leute mit einfachem Runterziehen eines Mundwinkels um sich. Nun, vielleicht hättest du eine bescheiden die Beine übereinanderschlagende junge Dame mit leiser, rauchiger Stimme, die sich bei Partys in einer dunklen Ecke ihre Slim-Zigarette reinzieht und der heimliche Magnet des männlichen Teils der anwesenden Gesellschaft ist, bevorzugt. Du hattest dir ja eigentlich fix vorgenommen, dieses Mal auf die Glamour-Karte zu setzen. Aber schon wieder wird das alles hier nur ein Knallbonbon. Okay, du klickst, klickst, klickst, das geht dann so hin und her, und am Ende übernimmst du die Rolle der Protagonistin, weil du klamm bist und nie weißt, ob morgen ein anderer Auftrag reinkommen wird. Dein momentaner Job läuft sowieso bald wieder aus beziehungsweise ist das eigentlich immer gerade der Fall, so dass du die Bemerkung stehen lassen kannst, auf dass sie ihre Präsenz eines Sich-Wiederholens im Dableiben entfalte. Also auf ähnliche Weise bleibst ja auch du selbst du selber, während du vorübergehend Betreuerin, Leih-Sandsack diverser Danke-dann-doch-nicht-Chefs oder Schulkrankenschwester Henrietta bist. Das alles bist du, dieser Umstand ist so verbürgt wie die Tatsache, dass Melchisedek, Haile Selassie und Jesus von ein und demselben Gott gespielt wurden, der nur aufgrund dieser drei Rollen ein Stipendium für die Unendlichkeit aushandeln konnte. Dagegen gerätst du bei deinen immer schneller aufeinanderfolgenden Engagements zunehmend in einen Zustand manischer Panik, ein bisschen so, als würde der Zugangscode zu deinem System fortlaufend gewechselt und als würde dir daher dreimal täglich ein Adrenalinschub diesen Schrecken, die gerade aktuelle Zahlenkombination vergessen zu haben, durch die Adern jagen. Aber du musst dich ja nur immer wieder ruhig mit deinem neuesten Unternehmen identifizieren, du musst nur immer wieder alles geben, dann wirst du immer wieder anfangen dürfen, ein bisschen etwas zu werden; daher also – unter anderem – derzeit das Unternehmen Henrietta. Kriegst du die Sache diesmal gebacken? Verflixt: Henrietta hat es dir, das merkst du an den vom Beginn der Unternehmung an freiwillig und entgeltfrei geleisteten Überstunden, bereits angetan. Sie hat, das wird dir klar, tatsächlich dich ausgesucht, um sich zu verkörpern, nicht umgekehrt. Ja, das historische Bild sucht sich den Menschen aus, den es als sein Ebenbild formen kann, aber bei der allgemein herrschenden Blasphemie, die wie alle anderen Erscheinungen des heutigen Lebens zunächst auch als ein verlockendes Bild existiert hat, denkt man jetzt, es gehe auch umgekehrt, und hält sich für den Prototypen des Menschen, nach dem das Ideal produziert werden könnte. Es ist sicher kein Zufall, dass die schöne Henrietta gerade in deinem unzulänglichen Körper geboren werden will: Es gibt da etwas an dir, das hoffnungslos antiquiert ist, und in so einem Biotop fühlt sich ein Gespenst eben wohl, es befindet sich da sozusagen in seiner ihm von einem evolutionären Schneider angemessenen ökologischen Nische. Also freu dich jetzt einfach mal, dass die Benutzeroberfläche von Henrietta schön und cool erscheint, so assoziierst du dich leichter mit ihr. Ist doch ein guter Job, auf jeden Fall um Längen besser, als sich zum Beispiel mit einem Hersteller von lustigen rosafarbenen Weichplastik-Kaktus-Penissen, die inzwischen den größten Teil des Umsatzes von Schreibwarenketten ausmachen, zu identifizieren, nur damit man ein bescheidenes Einkommen hat, mit dem man dann, wenn man, weil man ja selber einfach nicht so bescheiden sein kann wie das Einkommen, nebenbei ein ganz kleines bisschen auf einer der städtischen Müllhalden die Kunststoff-Sammlerin gibt, recht gut auskommen kann. Rohstoffe sind Wertstoffe, like me, like me!, Daumen hoch. Du bohrst deinen rechten Daumen in die darob glücklich erstrahlende Bildschirmluft, die wieder einmal nicht merkt, was ihr widerfährt, und fragst dich, ob Facebook für die Länder, in denen diese Geste als obszön gilt, eigentlich ein eigenes Symbol erfunden hat. Klick, klick. Im Netz, in dessen vieldimensionalem Koordinatensystem du tagtäglich mit eingeklippt wirst, scheint es, als du neugierig nachhakst, die Frage nicht zu geben. Sie ist, technisch gesehen, stellbar, also formulier- respektive ins Suchfeld eintippbar, aber das kollektive Gehirn kann auf sie offensichtlich keine Antwort generieren. Dieses ganz persönliche Auffang­netz für deine Gegenwärtigkeit dreht dir auf diese Weise gerade die hellrosa Schulter einer Schaufensterpuppe kaukasischen Typs ins Blickfeld, sodass dir wieder einmal die Angst vor einem europaweiten Stromausfall wie ein kalter Kuschelhormon-Entzug den Rücken hochkriecht. Du weißt, was dir in diesem Fall blüht! Dantes Inferno wäre der blühende Dachgarten eines Penthouses bei Abendrot dagegen. Die rund um die Uhr lächelnde und sich bedankende Koreanerin im Sushi-Laden, die, das hast durch ein paar einfache Frage-und-Antwort-Spielchen herausgefunden, in Wirklichkeit ein Pflege-Roboter ist, könnte sich nicht merken, was du bestellt hast. Die Leute wüssten ohne soziale Netzwerke nicht, ob sie gerade beliebt sind oder nicht, Massenselbstmorde würden einer beispiellosen, alle erfassenden Verunsicherung, die man als endlose Challenge einer beliebten Reality-Show empfinden würde, auf dem Fuße folgen. Am Ende würden sich die U-Bahn-Garnituren in den Schächten zu Haufen von Blech verspießen, und wir würden alle auf der Suche nach unseren Liebsten zerlumpt durch die Städte humpeln – Städte, die aufgrund massenhaft auftretender Aspartam-Hypos von in der Folge randalierenden Familienvätern wie zerbombt wirken würden unter dem stinkenden Gelbfilter, den das trotz aller Notstrom-Aggregate und mit extra-langer Laufzeit punktender Smartphone-Akkus am Aufmerksamkeitsentzug langsam verreckende Internet ausdünsten würde. Der Tod der Medien wäre unausweichlich und damit der des einzigen Instruments, das es unserer unterentwickelten Logik ermöglichen konnte, jemals unsere Kohorte zu finden. Mensch, beschäftige dich zur Beruhigung ein bisschen mit der schönen Henrietta, die zu verkörpern du dir vorgenommen hast – eine Frau aus einer Zeit, die zu einem großen Teil ohne Elektrizität klarkommen konnte. Bewundere ihre schlanke Datengestalt. Erkenne, dass, je weiter du bei deinen Recherchen in der Zeit zurückgehst, die Leute, die an den zugigen Ecken der Links rumlungern, immer prominenter und daher immer seltener werden. Es sind fast keine Frauen darunter, und so wunderst du dich nicht, dass die Geschichte immer wieder abreißt: Mit wem hätten die Herren Nachkommen zeugen sollen? Allein: Henrietta ist zu finden.

Wir nähern uns den Fakten, wir nähern uns der Welt. Du sagst dir: Die Daten werden heute in so großen Mengen aus den Tuben gepresst, dass die Geschwindigkeit ihres Erscheinens über ein kritisches Maß der Wahrnehmbarkeit hinausgetreten ist. Auf diese Weise lernten sie als Erfahrungen in vier Dimensionen laufen. Und das ist so ähnlich passiert, wie einst die Bilder im Film beweglich geworden sind. „Was willst du mit dieser Henrietta, geboren, gelebt, gestorben“, fragst du dich. „Hm“, sagst du dir, „du willst eigentlich nur auf die Kommode deiner Vergangenheit deinen Plasma-Schirm der Gegenwart stellen.“ Dazwischen liegen dann die polsternden Luftmaschen einer gehäkelten Zeit – nicht, um die Zeitfenster und ihre Aussichten zu verbinden, sondern damit sie, weil sie allem Anschein nach spröde sind, nicht aneinander zersplittern. Nimm das Deckchen weg, und du ragst zappelnd aus Henriettas gepolstertem JPEG-Sofa vom Anfang der Zwanzigerjahre – genau, das mit den stoffüberzogenen Knöpfen, das jetzt an deiner Stelle steht. Nimm sie weg, und die Zweige der Zimmerpalme lappen schmerzhaft aus dir heraus. Oder du siehst kurz an dir herunter und entdeckst, dass du bereits im Körper der bildschönen Henrietta steckst, dass du in einer Runde von kleinen Gören hockst, die die Kaffeetassen in den Händen gegen die Untertassen klappern lassen. Gerade liest deine Protagonistin, die du fährst wie die Kranführerin ihre Maschine, mit der sie im Laufe ihrer Dienstjahre verwachsen ist, die Zukunft aus ihrem Törtchen. Ihr Singsang erinnert dich an etwas, was sie dereinst werden wird. Gleich machst du daher den Mund auf, weil schließlich du hier leibhaftig die Zukunft darstellst, welche über sich schon so einiges zu erzählen wüsste. Und natürlich entwickeln sich in diesem Setting tumulthafte Szenen, weil du dich in der Zeit Henriettas überhaupt nicht auskennst und dementsprechend unverständlich wirkst. Du dagegen verstehst zwar alles – aber auch wirklich alles falsch. Die Zeit scheint aufgeplatzt wie der Stoffbauch einer alten, mit seltsam harten Kunststoffgliedmaßen versehenen Plinkerpuppe. Das ganze von Babyspucke aus mehreren Kindheiten imprägnierte Füllmaterial quillt raus, aber du hast den Eindruck, man stopfe es dir in den Mund. Und so erzählst du, dumpf brabbelnd, wie durch das undeutliche Gleichnis eines Romans hindurch irgendetwas Verqueres von einer Wohnung, die du gerade besichtigt hast – da erwartete dich vor der Tür ganz Österreich, das hier in Denver keiner auf einer Landkarte fände, ja, ein Österreich, das an diesem Ort der Welt wahrscheinlich gar nicht existiert, wartete auf dich mit blutunterlaufenem Blick, wieder mal ziemlich blöd personifiziert als ein zitternder Alkoholiker, der dich, indem er dir im jammernden Ton versicherte, er sei schlicht für gar nichts, wirklich gar nichts zuständig oder haftbar zu machen, mit taumelndem Schweißgruß willkommen hieß.

Textauszug: Lisa Spalt „Die zwei Henriettas. Eine Odyssee“, Czernin Verlag, Wien 2017

Buchpräsentation 04. Mai 2017 im StifterHaus

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