„Die Kunst als fünfte Gewalt im Staat?“

Wolfgang Ullrich und Tom Bieling über Artivismus.

In jüngster Zeit, vor allem im Zuge der Flüchtlingsdebatte mehren sich Projekte, die sowohl als Kunst verstanden als auch an politischer Wirksamkeit gemessen werden wollen. Das Stichwort lautet „Artivism“, zusammengesetzt aus dem Englischen „Art“ und „Activism“. Zu den bekannteren Vertretern zählen Künstlergruppen wie das Zentrum für politische Schönheit, Tools for Action, The Yes Men, Peng Collective, Enmedio, Dashndem oder Arbeiten von John Jordan, Liam Young, und Ai Weiwei.

Mit zum Teil performanceartigen, nicht selten provokanten Aktionen, werden – auch unter Zuhilfenahme von Social Media – politische Diskurse einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht und angefeuert. Dabei bleibt bisweilen unklar, inwiefern beides – künstlerischer und politischer Anspruch – miteinander verbunden und wechselseitig begründet sein soll.

Handelt es sich bei dieser Unklarheit um eine Schwäche oder eher um eine gezielte Strategie? Wolfgang Ullrich und Tom Bieling werfen einen Blick auf artivistische Ansätze und inspizieren, wie sie funktionieren und was an ihnen problematisch ist.

[Tom Bieling:] Im Verlauf der letzten Jahre mehren sich künstlerische Projekte, die sich im Kosmos aus investigativem und sozialem Engagement, politischem Aktivismus und Aktionismus bewegen, deren Leitmotiv eines zivilen Ungehorsams symbolische Funktionen beinhaltet, die aber auch an direkten, lebensweltlichen Interventionen interessiert sind. Gerade im Zuge der Flüchtlingsdebatte gibt es zahlreiche Projekte, die sowohl als Kunst verstanden wie an politischer Wirksamkeit gemessen werden wollen. Dabei bleibt jedoch oft unklar, wie beides – künstlerischer und politischer Anspruch – miteinander verbunden und wechselseitig begründet sein sollen. Handelt es sich bei dieser Unklarheit um eine Schwäche oder ist sie Teil der Strategie?

[Wolfgang Ullrich:] Das ist sicher Teil der Strategie – allerdings einer, die ich fragwürdig finde. Das Ziel dabei ist, dass man sich, wenn man im Zuge zivilen Ungehorsams Gesetze übertritt oder auch nur mit Anklagen zu rechnen hat, eine Aktion aber als Kunst gelabelt ist, auf die Kunstfreiheit berufen kann. Diese wird gleichsam als eine Art von Blankoscheck verstanden, den man zückt, sobald es eng wird. Allerdings wird dabei übersehen, dass man auch mit der Berufung auf Meinungsfreiheit in einem Rechtsstaat schon sehr weit kommt. Natürlich sind keine Gesetzesbrüche damit zu rechtfertigen. Andererseits ist es aber auch eine merkwürdige Vorstellung, sich als Künstler exklusive Rechte herausnehmen zu wollen – und zu glauben, man müsse sich nicht an Gesetze halten. Da frage ich mich, was für ein Selbstbild solche Menschen haben, ja woraus genau sie ihre Überlegenheit gegenüber anderen, ihren Anspruch auf Immunität eigentlich ableiten. Das geht, so scheint mir, nur mit einem sehr hochtrabenden Genie-Begriff. Zudem wurde die Kunstfreiheit historisch nie als pauschale Immunität verstanden. Vielmehr gab es eine Art von Deal zwischen den Künstlern und der Gesellschaft: Jene dürfen die gewagtesten Dinge tun, solange sie die Grenzen, in denen sie auftreten, klar definieren und respektieren. Auf der Theaterbühne, zwischen zwei Buchdeckeln, auf einem Gemälde, bei einer Performance im Ausstellungsraum darf ich als Künstler andere Menschen verfluchen oder irgendwelche Symbole beschmutzen, darf gegen die Demokratie wettern oder Welten imaginieren, in denen Mord erlaubt oder Vergewaltigung eine bloße Mutprobe ist. Doch sobald ich die Grenze zwischen Kunst und Realität, ja den Spielraum der Kunst übertrete, werde ich auch vom Künstler zum Bürger – und habe mit denselben Konsequenzen für ein gesetzeswidriges Handeln zu rechnen wie jeder andere auch. Es gibt im übrigen viele Beispiele dafür, dass Künstler diese Grenze anerkannt haben, aber mit ihrer Autorität dennoch etwas zu bewirken versuchten. Als etwa in den 1980er Jahren Schriftsteller wie Heinrich Böll gegen die Stationierung von Mittelstreckenraketen protestierten und dabei Zufahrten von Militärstützpunkten blockierten, haben sie sich nie auf die Kunstfreiheit berufen, sondern nahmen bewusst in Kauf, wegen Nötigung verklagt und verurteilt zu werden.

In diesem Zusammenhang wird in letzter Zeit auch wieder vermehrt mit dem Begriff der sozialen Plastik hantiert, der ja in den 1970er Jahren von Joseph Beuys als Versuch formuliert wurde, eine bestimmte Vorstellung gesellschaftsverändernder Kunst zu erläutern. Die darin ausgedrückte Abkehr einer rein formalästhetischen Erschließung von Kunst galt vor allem der Zuwendung zur aktiven Mitgestaltung von Politik und Gesellschaft durch alle Beteiligten, inklusive Künstler und Rezipienten. Inwieweit greift dieses Prinzip bei den artivistischen Projekten, die Sie sich in jüngster Zeit genauer angesehen haben?

Beuys’ Konzept der „sozialen Plastik“ war vor allem gegen die Institutionen der modernen Zivilisation gerichtet. Für ihn waren Bürokratie und Industrialisierung, Rationalisierung und technischer Fortschritt Übel, die mit den kreativen Kräften der Menschen überwunden werden sollten. Beuys war ein Sozialromantiker und Kulturkritiker, der das Organische dem Mechanischen gegenüberstellte und in der „sozialen Plastik“ das Ideal eines organischen Staates erblickte. Deshalb war er etwa auch für direkte Demokratie – eine Demokratie ohne Institutionen, die aus seiner Sicht nur zu Erstarrung und Korruption führen. Bei zeitgenössischen artivistischen Projekten kann ich keine entsprechende Grundsatzkritik an der Moderne erkennen. Vielmehr greift man einzelne Themen sehr punktuell auf, ohne sich auf ein großes Geschichtsbild oder eine metaphysisch-ideologische Weltanschauung zu berufen.

Der Großteil artivistischer Arbeit basiert gleichwohl auf einem erweiterten Kunstbegriff. Die Universalisierung des Kunstbegriffs bringt freilich auch Rezeptionsungewissheiten mit sich: Bemisst man die Arbeit nach politischen Wertmaßstäben oder nach Kriterien der Kunst? Braucht es eine dritte, eigenständige, symbiotische Bewertungskategorie? Oder ist genau diese Frage egal? Schließlich bleibt die Wirkmächtigkeit einer im Deckmantel der Kunst agierenden Protest-Intervention häufig ungeklärt, wenn sie sich im öffentlichen Diskurs verliert. Schlimmstenfalls bleibt sie gegenüber einer „tatsächlichen“ politischen Aktion wirkungslos, gerade weil sie „nur“ als Kunst interpretiert wird.

Was Sie hier ansprechen, ist gleichsam die Kehrseite dessen, was ich vorher erwähnt habe. Dass Künstlern in einem abgegrenzten Raum Immunität zugestanden wird, sie dort also in völliger Freiheit agieren dürfen, ist damit erkauft, dass das, was sie tun, keine reale Wirkung auf die Welt jenseits der Kunst hat. So wie andere Instanzen sich nicht in die Autonomie der Kunst einmischen, besitzt umgekehrt alles, was als Kunst auftritt, den Status eines Als-ob, einer höchstens möglichen Realität. Wenn nun Aktivistengruppen in der realen Welt agieren und dies dennoch als Kunst verstanden wissen wollen, müssen sie damit rechnen, dass man ihre Aktivitäten als lediglich symbolisch und bloßes Als-ob wahrnimmt, eben weil man sich vom Kunstpostulat beeindrucken lässt. Dann droht Wirkungslosigkeit. So etwas wie eine dritte Bewertungskategorie kann es meiner Meinung nach nicht geben: etwas kann nicht zugleich real und möglich sein.

Zumindest stehen die Themenspektren des Artivismus immer in Zusammenhang mit einem konkreten Zeitgeschehen. Aber auch seine Stilmittel sind meist schwer von den damit in Verbindung stehenden Protestkulturen zu trennen. Soziale Bewegungen, insbesondere Protestbewegungen erweitern ihr Formenrepertoire ja permanent. Dabei werden immer auch neue Herangehensweisen ausprobiert und weiterentwickelt. Denken wir beispielsweise an die humorvoll verspielten Aktionen der „Clowns“ im Zuge der Antiglobalisierungsbewegung. Gegenseitige Befruchtungen und ästhetische Überschneidungsformen von Kunst und Protestbewegungen finden sich immer wieder. Sei es im Zuge der Bürger-, Frauen- und Studentenbewegung der 1960er Jahre oder der Friedens- und Umweltbewegung der 1970er und 1980er Jahre. Die Grenzverläufe zwischen Kunst und Aktionismus sind dabei nicht immer ganz eindeutig: Wenn Pjotr Pawlenski sich vor dem Kreml seinen Hodensack an den Boden nagelt, so geschieht dies aus einer Protesthaltung heraus, aber eben auch als künstlerische Positionierung. Die hieran sich entfachenden gesellschaftlichen Diskurse, auch zu der Frage, wo Kunst anfängt und bloßer Protest aufhört, sind dabei fester Bestandteil der Aktion. Gerade in Zeiten massenmedialer Verbreitung durch Social Networks werden hier Dimensionen erreicht, die Künstlern (und Protestlern) früherer Dekaden verwehrt geblieben sind. Hiermit sind zwei Seiten einer Medaille verbunden: Zum einen ermöglicht die große Reichweite es, Themen auf die Straße zu bringen. Zum anderen müssen sich Artivisten den Vorwurf gefallen lassen, ihre Aktionen dienten nur der Generierung von Klickzahlen. Schmälert es das Anliegen und das Ansehen der Kunst, wenn durch sie vorrangig eine Art „Clicktivismus“ befördert wird, bei dem sich der Betrachter zurücklehnen und in seiner womöglich ohnehin affirmativen Grundhaltung bestätigt sieht? Oder wie Hanno Rauterberg es in der ZEIT ausdrückt: Überzeugt „der Künstler mit seiner Kunst nur die ohnehin Überzeugten“?

Wenn Sie die Geschichte der Protestbewegungen ansprechen, dann kann man wirklich kaum stark genug hervorheben, dass diese oft sehr innovativ und präzise hinsichtlich ihrer Stilmittel und Artikulationsformen waren. Eine Geschichte und Typologie der Ästhetik des Protests ist noch nicht geschrieben. (Peter Weiss’ „Ästhetik des Widerstands“ weist in eine andere Richtung.) Auch weil es da so viel Bemerkenswertes gibt, erscheint es mir unnötig und eitel, wenn heutige Protestgruppen ihr Tun gleich als Kunst verstanden wissen wollen. Es ist nicht neu, dass Protest eine gestaltet-ästhetische Dimension hat. Und, wie gerade besprochen, es schadet vielleicht sogar der Wirkkraft einer Aktion, wenn sie von vornherein als Kunst deklariert wird. Aus meiner Sicht spräche aber nichts dagegen, wenn nachträglich – im Zuge einer historischen Aufarbeitung von Protestkulturen – einige Aktionen mit Kunst verglichen oder dieser sogar zugesprochen würden.

Dass sich Logistik und Ästhetik von Protestkultur zuerst durch die Massenmedien, mittlerweile durch die Sozialen Medien immer wieder verändern, ist zwangsläufig. So etwas wie Clicktivismus kann man daher nicht zum Vorwurf machen, im Gegenteil sind Aktionen sogar eher unzeitgemäß, wenn sie die viralen Möglichkeiten des Internet nicht zu nutzen versuchen. Man kann höchstens fragen, ob bei manchem, was geklickt wird, nicht mehr Aktivität vorgegaukelt wird, als tatsächlich vorliegt. Dann halten User sich für Mitwirkende, die etwas real verändern können, obwohl ihr Verhalten eher symbolische Funktion besitzt. Und Hanno Rauterberg hat recht: Die meisten Formen von Artivismus können höchstens diejenigen mobilisieren, die ohnehin schon dieselbe Einstellung wie die Kunstaktivisten vertreten. Diese versuchen oft auch gar nicht, andere Milieus zu erreichen und Menschen zum Umdenken zu bewegen; vielmehr sind sie stark an ihrem Publikum orientiert, dessen Erwartungen sie entsprechen wollen. Auch hier ist es im letzten eher ein Nachteil, wenn Projekte als Kunst deklariert werden. Man wendet sich dann, wie im Fall anderer Kunstformen, an Interessierte, Insider, gar ein Spezialpublikum – eben an diejenigen, die sich mit (politischer) Kunst beschäftigen – und nicht an die Bürger in ihrer Gesamtheit, deren Meinungsbildung man zu beeinflussen anstrebt.

Vielen artivistischen Projekten und Aktionen der jüngsten Zeit ist gemein, dass sie in Teilen der Bevölkerung Unbehagen und Empörung hervorrufen. Und zwar sowohl in Bezug auf ihre Form als auch auf ihre Funktion. Ein oft gehörtes Argument in solchen Empörungsdiskursen lautet: Die Kunst solle sich gefälligst um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern. Ist es denn aber nicht legitim, dass der Künstler sich konkret mit den Mitteln der Kunst zu bestimmten Positionen und Phänomenen verhält? Die Frage nach politischem Handeln und gesellschaftlichen Idealen stellt und beantwortet er letztlich nicht nur mit anderen Werkzeugen und Methoden, sondern auch mit einer anderen Zielvorgabe als beispielsweise politische Entscheider oder Sozialarbeiter.

Der Vorteil der Kunst besteht freilich immer darin, dass es den Adressaten (z. B. der Staatsmacht) bisweilen schwerfällt, adäquat auf die Aktion zu reagieren. Im Falle von Pussy Riot beruft man sich dann auf fadenscheinige Religionsparagraphen oder führt monströse Regelwerke ein. Wie verhält es sich denn eigentlich mit Verwechslungsgefahren? Wann hören Subversion und der reine Protest auf? Wo beginnt letztlich die Kunst, im Gegensatz zu – sagen wir – politischer oder Sozialarbeit?

Wir müssen hier natürlich unterscheiden, ob es sich um Artivismus in einem westlichen Rechtsstaat handelt oder, wie im Fall von Pussy Riot, um Politaktivismus in einem Staat, in dem die Unabhängigkeit der Justiz nicht sichergestellt ist, wo also ein hohes Risiko eingeht, wer eine gegenüber der Staatsmacht dissidente Meinung artikuliert. Mein Eindruck ist, dass das Bedürfnis, auch als Künstler Anerkennung zu finden, bei Gruppen im Westen deutlich größer ist. Man könnte darin sogar ein Wohlstands- und Luxusphänomen erblicken: Man will nicht nur eine bestimmte politische Haltung artikulieren, sondern auch ein Gefühl von Auserwähltheit verspüren, das Künstler schon immer besessen haben. Gerade weil man in seiner bürgerlichen Existenz nicht bedroht ist, wenn man in einem Rechtsstaat Aktivist wird, verschafft man sich also einen Thrill – eine Exponiertheit – damit, dass man sich zum Künstler erklärt.

Aus dieser selbsterklärten Sonderstellung der Artivisten resultiert aber auch jene spezifische Form von Unbehagen und Empörung in Teilen der Bevölkerung, die Sie ansprechen. So fühlen sich viele – insbesondere weniger gebildete – Menschen von Kunst und gerade von zeitgenössischer bildender Kunst generell überfordert und zurückgesetzt; sie erscheint ihnen oft elitär, rätselhaft, unverständlich. Sie spüren bei den Akteuren Dünkel und Snobismus. Und wenn dann etwas nicht nur als Kunst auftritt, sondern auch noch eine politische Haltung zum Ausdruck bringt, die der eigenen widerspricht, dann kann lange angestauter Unmut, ja dann können Ressentiments, die erst einmal nur der Kunst gelten, in aggressiven Unmutsbekundungen münden. Dass ihnen Kunst fremd ist, haben viele Menschen lange und immer wieder geschluckt, aber dass sie außerdem für etwas steht, das sie ablehnen, ist zu viel für sie. Dann ist auch die entsprechende politische Haltung für sie Ausdruck eines Snobismus, eines elitär-weltfremden Denkens. Man sieht daran einmal mehr, dass die Berufung auf einen Kunststatus den Aktivisten nicht unbedingt nützt: Sie zementieren so politische Lager – und so gut sie ihr spezielles Publikum erreichen und begeistern, so sehr bestärken sie andere in ihrer Ablehnung. Aber vielleicht stört sie das auch nicht, da es ihnen mehr um ihre Rezipienten als um die Gesellschaft insgesamt geht, ja da sie ihr eigenes Gefühl von Auserwähltheit und Überlegenheit noch stärker empfinden, wenn ihnen auch Widerstand begegnet – und wenn dieser von Menschen kommt, die ihnen intellektuell unterlegen sind. Insofern könnte man auch sagen, dass es der Sache nach kaum etwas gibt, was sozialdemokratischen Idealen stärker zuwiderläuft als der heutige Artivismus. Statt daran zu arbeiten, möglichst vielen Menschen Anschluss zu geben und sie mitzunehmen, disqualifiziert man sie als ungebildet und unmoralisch, nur um sich selbst umso besser fühlen zu können. Artivismus ist, etwas überspitzt formuliert, eine spezielle Form von Neoaristokratismus.

Dazu muss festgehalten werden, dass die Kunst heute auch viel schneller auf Menschen und deren Meinungen trifft, die vormals von ihr nicht tangiert wurden, etwa weil man sich in anderen Medienkanälen bewegte. In den sozialen Netzwerken wirkt das Aufeinanderprallen häufiger und vor allem vehementer. Überhaupt scheint in vielen der jüngsten Artivismus-Projekte die Rolle der (sozialen) Medien zentral sein. Aktionen wirken dann besonders erfolgreich, wenn sie viral gehen und die dabei entfachten Debatten möglichst kontrovers sind. Besteht hierbei nicht auch die Gefahr, sich allzu sehr in skandalträchtige Denkmuster zu begeben und sich den Regelwerken der massenmedialen Aufmerksamkeitsökonomie unterzuordnen? Anders gefragt, lässt sich einem – als solchem empfundenen – Elend entgegenwirken, wenn man es mit elends-voyeuristischen Mitteln thematisiert?

Vor allem stellt sich auch die Frage, ob der Anspruch, Kunst zu machen, mit einer Skandalisierungslogik des Boulevards vereinbar ist, denn traditionell hat sich Kunst massenmedialen Kategorien ja gerade verweigert. Manche Gruppen gehen hier jedoch sehr professionell vor, indem sie einerseits etwas präsentieren, das die Bedürfnisse der Skandalpresse befriedigt, andererseits aber Elemente einbauen, die ausschließlich ihre eigene Klientel, also das Kunst- oder Theaterpublikum bedienen. Denken Sie etwa an die Aktion „Flüchtlinge fressen“, die das Zentrum für politische Schönheit im Juni 2016 veranstaltete. Dass da Tiger in Käfigen ausgestellt wurden, denen sich angeblich Flüchtlinge zum Fraß vorwerfen lassen wollten, stellte eine breite Berichterstattung in den Massenmedien sicher, ebenso sorgte es für vorhersehbare Proteste von „besorgten Bürgern“ und Tierschützern und damit für noch mehr Aufmerksamkeit. Für die Leute, die mit ein bisschen Klicken die Welt verbessern wollen, gab es zugleich ein Crowdfunding und eine Website, auf der man für oder gegen einzelne Flüchtlinge voten konnte. Und für die Intellektuelleren und das exklusivere Kunstpublikum fanden Reden im Theater sowie Diskussionsrunden statt. Die einzelnen Teile der Aktion waren so angelegt, dass man sie ganz unabhängig voneinander rezipieren, also gezielt nur das wahrnehmen konnte, was den eigenen Interessen und Erwartungen am besten entspricht. Hier scheint mir ein Maximum an Zielgruppenorientierung und Aufmerksamkeitsmanagement erreicht zu sein.

Offen bleibt stellenweise, inwieweit all dies der Sache an sich dient. Nehmen wir das Beispiel des Projektes „Green light“ von Olafur Eliasson, bei welchem er kürzlich in Wien Lampen von einer Gruppe Geflüchteter zusammenbauen ließ, die dann für einen guten Zweck verkauft werden sollten. Und lassen wir die Frage, inwieweit hier das Label „Artivism“ überhaupt greift, einmal außer Acht. Wenn es tatsächlich um einen konstruktiven Beitrag in Bezug auf die Situation von Flüchtlingen geht, ist solch ein Projekt dann nicht letztlich kontraproduktiv?

Das Kontraproduktive dieser Aktion besteht für mich darin, dass es Eliasson nicht gelungen ist, das undifferenzierte, vielfach klischeehafte Bild, das in der Öffentlichkeit von Flüchtlingen herrscht, zu modifizieren, ja dass die gesamte Aktion sogar auf diesem klischeehafte Bild basiert. So ließ man die Flüchtlinge öffentlich und in Gruppen arbeiten, so als benötigten sie keine Privatsphäre und träten gleichsam von Natur aus immer nur im Plural auf, man ließ sie die immer selbe simple Tätigkeit verrichten, so als seien sie ungebildet und kaum lernfähig, man bot ihnen mit der Lampe ein Objekt, das nur eine rudimentäre Symbolik von Hoffnung zum Ausdruck bringt, so als seien sie für komplexere Inhalte oder Formen zu primitiv. Ob man mit traumatisierten Menschen aus der eigenen Kultur auch so umgegangen wäre, ist sehr zu bezweifeln. Gegenüber Flüchtlingen fehlt es bei einem Projekt wie „Green light“ also offenbar an Empathie. Dabei hat man doch gerade der Kunst in ihrer Geschichte immer wieder zugetraut, ja sogar von ihr verlangt, dass sie in der Lage ist, durch eine Stimulierung der Einbildungskraft Empathie für Menschen in anderen Lebensverhältnissen zu stiften.

Es entsteht mitunter der Eindruck, dass gerade im Flüchtlingskontext viele kunstaktivistische Projekte aus einem naiven, unreflektierten Zusammenhang heraus entstehen. Der große Gestus des humanitären Aktes, des Handelns im Auftrag der Menschlichkeit, entpuppt sich dabei schnell als profaner, banal plakativer Schnellschuss. Wenn es tatsächlich um Kunst um des Aktivismus Willen geht, stellt sich die Frage, inwieweit die jeweiligen Künstler dem wirklich gerecht werden. Einige der jüngsten, populäreren Artivismus-Gruppierungen sind jedenfalls mit dem Vorwurf konfrontiert, ihre Aktionen würden in erster Linie der Schärfung ihrer eigenen Marke dienen und weniger der Sache an sich.

Das stimmt, allerdings ist dieser Vorwurf vielleicht manchmal etwas ungerecht und einseitig. So hat man es durchaus oft als Aufgabe von Künstlern angesehen, dass sie einen eigenen Stil entwickeln und sich in Szene setzen, also, wenn man so will, ihre eigene Marke schärfen. Erst vor dem Hintergrund, dass es bei Projekten der Artivisten um Flüchtlinge geht, erscheint das auf einmal als zu egoistisch und selbstverliebt. Dass das Schicksal der Flüchtlinge nicht unbedingt im Zentrum des Interesses steht, ist jedoch in anderer Hinsicht, wie ich finde, viel interessanter. So richten sich viele Projekte – nicht zuletzt auch „Green light“ – an ein Kunstpublikum. Wie viele andere Formen zeitgenössischer Kunst bieten sie dabei die Chance auf Partizipation: aktive Teilnahme an politischem Protest oder an Integrationshilfen. Man kann etwa eine der Lampen online oder im Museumsshop kaufen, bei anderen Projekten kann man spenden oder eigene Zeit und Fähigkeiten zum Einsatz bringen. Angesprochen werden damit wertebewusste Bürger, die längst gewohnt sind, vor allem Kaufentscheidungen nach moralischen Kriterien zu fällen und dafür einen Mehraufwand zu leisten. Wenn man etwas teurer kauft, damit von diesem Geld unterprivilegierten Menschen geholfen werden kann, erfährt man den eigenen Konsum als ein Handeln, das die Welt verändert. Etwas kritischer könnte man darin einem Ablasshandel erblicken, mit dem die Konsumenten und genauso die Teilnehmer an artivistischen Aktionen ihr schlechtes Gewissen – die Sorge, selbst zu wenig zu tun – besänftigen, vielleicht sogar in gutes Gewissen verwandeln. Künstler wie Eliasson sind also gerade deshalb beliebt, weil sie dem Publikum eine Gelegenheit verschaffen, durch Partizipation Schuldgefühle abzuarbeiten. Diese entstehen insbesondere bei Menschen, die selbst keine Opfer sind und auch kaum erfassen können, was es heißt, eines zu sein. Entsprechend wollen sie gerne eine Art von Tribut leisten. Daher braucht nicht zu wundern, wenn die Qualität artivistischer Projekte nicht daran gemessen wird, wie überzeugend sie ein alternatives Bild von Flüchtlingen zu etablieren vermögen oder ob sie durch Empathieleistungen wirksame Solidarisierungsbewegungen in Gang setzen können. Sofern es vielmehr darum geht, Rituale zur Entlastung von schlechtem Gewissen anzubieten, ja sofern vor allem der Seelenhaushalt des Publikums von Bedeutung ist, unterscheidet sich aktuelle politische Aktionskunst im Übrigen kaum von anderen, oft als elitär oder konservativ verdächtigten Kunstgattungen aus der Geschichte der Kunst. Wie schon so oft geht es auch diesmal um eine Art von Läuterung des Publikums.

Die Frage ist ja, wen kann ich mit einer Arbeit so überzeugen, dass sich auch wirklich etwas ändert? Wer genau mit der Kunst adressiert werden soll und wer sich letztlich von ihr angesprochen fühlt, scheint häufig nicht klar zu sein. Der eigentliche Clou bei Schlingensiefs Container-Aktion beispielsweise bestand ja damals darin, dass genau nicht nur Leute aus den eigenen Reihen angesprochen wurden, sondern es tatsächlich auch um einen Miteinbezug einer breit gefächerten Passantengruppe und somit auch rechter Wähler ging.

Sie sprechen einen wichtigen Unterschied an. So scheint mir im Fall fast aller heutigen Aktivistengruppen, wie schon ausgeführt, sehr wohl klar zu sein, an wen man sich adressiert. Eben an jenes bildungs- und konsumbürgerliche Publikum, das ein Verantwortungsgefühl angesichts der herrschenden politischen Zustände empfindet, aber entweder nicht die Möglichkeiten sieht oder nicht engagiert genug ist, um in anderer Form als bei einer mehr oder weniger symbolisch bleibenden Kunstaktion mitzuwirken und so zu einem besseren Gewissen zu gelangen. Bei den stärkeren Aktionen von Schlingensief war hingegen bemerkenswert, dass weder die Adressaten klar waren noch die Botschaft. Da gab es keinen klaren Frontverlauf zwischen „gut“ und „böse“ – als Rezipient oder Partizipant musste man vielmehr damit rechnen, sich plötzlich ganz woanders als erwartet wiederzufinden. Um es zuzuspitzen, könnte man auch sagen, dass Schlingensief nicht gutes Gewissen, sondern schlechtes Gewissen erzeugte. Bei ihm konnte und sollte man sich nicht zu bestimmten Werten bekennen, sondern bisher ungeahnte Seiten und Abgründe in sich entdecken.

 

In der Druckausgabe der Referentin ist eine gekürzte Version dieses Interviews abgedruckt. Diese Version ist das vollständige Interview.

 

Artivismus, Teil 2, in einem der kommenden Hefte.

 

Wolfgang Ullrich, Autor, Kulturwissenschaftler und Kunstphilosoph, lebt in Leipzig und München. Zuvor u. a. Professor für Kunstwissenschaft und Medientheorie an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe. Forscht zu Geschichte und Kritik des Kunstbegriffs, bildsoziologischen Themen und Konsumtheorie.

www.ideenfreiheit.de

„Wenn man einen Stein anstößt und schaut, was passiert“

Leo Schatzl zeigt sich auch bei seiner Saunabox wieder experimentierfreudig. Silvana Steinbacher hat sich mit dem in Linz lebenden Künstler über seine heiße Hütte als künstlerischen Aktionsraum, seine Liebe zur Genügsamkeit im Alltag, sowie Kunst und Menschen an den Peripherien unterhalten.

Ein Auto fährt auf der Landstraße mit einem Holzhäuschen auf dem Anhänger. Es biegt in eine unwegsame Straße ein, und schon ergibt sich das erste Problem: Wie soll das zwar kleine mobile Haus, das aber dennoch 400 Kilogramm wiegt, auf das unwegsame Ufer des Donaukanals manövriert werden? Glücklicherweise helfen sofort einige Arbeiter, die gerade an einer Baustelle beschäftigt sind, mit, die Saunabox genau an jene Stelle zu positionieren, wo sie sein soll: auf die begrünte Böschung, umrankt von Laubbäumen.

Ich treffe Leo Schatzl an einem angenehmen warmen Tag im Café Strom, das sich im Gebäude der Stadtwerkstatt befindet. Auch sie war für den aus dem Innviertel stammenden Künstler prägend, als er als 20-jähriger nach Linz kam, um an der Kunstuniversität zu studieren.

Jetzt erzählt er mir von der Saunabox, die seit vergangenem Jahr in der Nähe der vor zehn Jahren gegründeten Kunst-und Kulturinitiative Das WERK in Wien ihr temporäres Zuhause gefunden hat. Bei diesem Projekt, das im Rahmen von Leo Schatzls Lehrveranstaltung an der Kunstuniversität und in Kooperation mit Das WERK entstanden ist, entwickelt sich ständig Neues, schwärmt Leo Schatzl. So haben StudentInnen eine Laterne zu einer Dusche umgebaut, die Hütte wurde durch einen Steg ergänzt und das Umfeld des 3 m2 großen Schwitzhäuschens mit Leben erfüllt, denn rund um das Häuschen wird auch gefeiert und gegrillt oder in der funktionsfähigen Sauna einfach geschwitzt. Mittlerweile ist das mobile Häuschen nicht nur ein künstlerischer Aktionsraum mit unterschiedlichen interdisziplinären Beiträgen und ein Experimentierfeld für die Studierenden der Kunstuniversität, sondern auch für junge KünstlerInnen und AktivistInnenaus der Umgebung, die nicht nur selbst mitgestalten möchten, sondern auch kommen, um Bildende Kunst und Musik rund um die Schwitzhütte zu erleben oder um die Lesung des Performers und bildenden Künstlers Julius Deutschbauer zu hören, der hier aus seinen Texten vortrug. Auch die Radfahrer und Spaziergänger können das Geschehen rund um die Hütte von einem stark frequentierten Weg etwas unterhalb beobachten.

Während der vergangenen Monate hat sich die Saunabox an der Spittelauer Lände des Wiener Donaukanals also mehr und mehr zu einem vitalen Ort der Kunst und ständigen Wandlung entwickelt.

Dieses Projekt erfüllt vor allem ein Kriterium, das Leo Schatzl an seiner Vorstellung von Kunst schätzt: eine Aktion im öffentlichen Raum mit prozessorientiertem, temporärem Charakter. „Wenn ich nach einiger Zeit wieder an die Donaulände komme, sehe ich Veränderungen. Es ist, als würde man einen Stein anstoßen und sehen, was passiert. Mich interessiert das nicht Vorgegebene, Lebendige.“ Und in diesem Sinne bleibt die Zukunft der heißen Hütte, die 2013 in Zusammenarbeit mit Franz Xaver entstand und unter anderem als Wechselstube für die Linzer Lokalwährung „Gibling“ fungierte, offen. Vielleicht steht sie bald an einem anderen Platz als Konzerthaus, Universität, Hotel oder Asyl oder auch als etwas völlig anderes. Möglich auch, dass sie gar keine Funktion mehr haben wird.

Leo Schatzl ist 1958 in Obernberg am Inn geboren, studierte an der Kunstuniversität Linz und arbeitet intensiv in den Bereichen Objektgestaltung und Visuelle Kommunikation. Seit den 1980er Jahren beschäftigt sich Leo Schatzl experimentierfreudig, aber auch subversiv mit gesellschaftlichen Vorgängen, Abläufen und öffentlichem Raum und richtet die Aufmerksamkeit in seiner Kunst weniger auf das Resultat als auf den Prozess. 2004 war er zur 26. Kunstbiennale in São Paulo eingeladen. In den vergangenen Jahren interessiert ihn vor allem der experimentelle Umgang mit räumlichen und sozialen Konstellationen. In der mehrjährigen Projektreihe „floating village“ standen vor allem Wasserflächen als öffentlicher Raum im Zentrum, das Wasser als Lebensraum mit wieder anderen, neuen Herausforderungen, das Wasser im Sinne des fluiden Gedankens.

Leo Schatzls Kunstauffassung und -produktion mag schlüssig nach einem grundlegend flexiblen Leben rufen. Er lebt seit vielen Jahren in Wien, seit einigen Jahren nun auch am Hafen in Linz. Er könne sich nur ein Leben in provisorischen Verhältnissen vorstellen, erzählt er mir und empfindet die konventionelle Form des Wohnens für sich als Luxus. So wie in der Kunst schätzt er auch hier das Temporäre, das Leben in Hotels etwa oder das Leben auf seinen oft monatelangen Reisen, auf denen er für ihn prägenden Menschen begegnet. Es sind Menschen an der Peripherie des Lebens, nicht nur geografisch, sondern auch biografisch gesehen, wie beispielsweise ein ehemaliger Boxer in São Paulo, der unter einer Autobahnbrücke einen Boxclub gegründet hat, um Menschen von der Straße zu holen. Die Faszination abseits des Mainstream fand Schatzl seit jeher auch als Künstler in seiner Beschäftigung mit Randzonen im öffentlichen Raum, die landläufig als funktionsfrei und unbrauchbar gelten. Jene Räume oder Orte, die Leo Schatzl interessieren, bieten auf den ersten Blick wenig, ihn treibt vielmehr die Frage an, wie durch eine Maßnahme ein Ort verändert werden kann.

Die nächsten beiden Monate wird Leo Schatzl aber auf einem Schauplatz verbringen, auf dem schon seit fast 50 Jahren KünstlerInnen arbeiten: beim Bildhauersymposium Lindabrunn im Bezirk Baden in Niederösterreich. Schatzl kennt die Location bereits, denn schon vor 13 Jahren hat er gemeinsam mit David Moises und Severin Hofmann dort jene Arbeit entwickelt, die später in Brasilien präsentiert wurde und bei der ein VW Käfer an 200 Expander-Gummis aufgehängt und in Rotation versetzt wurde.

Auch in diesen Tagen setzt sich der Künstler keinem geringeren Kraftakt aus. Bis Anfang Oktober entsteht im Steinbruch ein monumentales Modell eines mobilen Hafens mit Kran, eine modulare Metallskulptur als nicht zu übersehender Akt für die Überwindung der Schwerkraft und möglicherweise auch für eine Infragestellung starrer Denksysteme. Dem Temporären, dem Fließenden bleibt Leo Schatzl also auch bei diesem Projekt treu.

 

Teilnehmende KünstlerInnen von DuckDock: Maximilian Anelli-Monti, Jakob Breitwieser, Julius Deutschbauer, Alex de las Heras-Carballo, Becky Hochreiter, Melanie Ludwig, Pia Mayrwöger, Paul Peters, Antonia Prochaska, Leo Schatzl, Benjamin Tomasi, Anna Watzinger u. a.

DuckDock #1 war ein Projekt im Rahmen von „Floating Village“ in Kooperation mit dem KV das WERK, mit geladenen KünstlerInnen und Studierenden der Linzer Kunstuniversität/Experimentelle Gestaltung und der Angewandten Wien / Digitale Kunst.

Leo Schatzl ist Lehrbeauftragter für Experimentelle Gestaltung an der Linzer Kunstuni.

www.ufg.ac.at/Experimentelle-nbsp-Gestaltung.2150.0.html

www.facebook.com/Experimentelle

www.facebook.com/DUCK-DOCK-1-126974500983440/?fref=ts

Ein neues Format für Linz

Report: Kulturreferent Bernhard Baier kündigt ein neues, biennales Kunstfestival für Linz an, das anstelle des Linzfests installiert werden soll; mit Schwerpunkt Kunst im öffentlichen Raum und Partizipation. Elisabeth Lacher interviewte querfeldein einige Linzer Kunst- und Kulturschaffende sowie den Kulturreferenten zu den Themen: Kunst im öffentlichen Raum, Partizipation, Kunst und Öffentlichkeit, Kunstfestivals und Stadtteilkulturarbeit. Erste Aufwärmrunde, Fortsetzung folgt.

Eines der liebsten Referenzprojekte: Bellevue – Das gelbe Haus. Ein Linz09-Projekt von Peter Fattinger, Veronika Orso und Michael Rieper im Landschaftspark Bindermichl-Spallerhof. Foto Stadt Linz. Planung, Technik und Umwelt – Pertlwieser. Gütesiegel Die Referentin

Eines der liebsten Referenzprojekte: Bellevue – Das gelbe Haus. Ein Linz09-Projekt von Peter Fattinger, Veronika Orso und Michael Rieper im Landschaftspark Bindermichl-Spallerhof. Foto Stadt Linz. Planung, Technik und Umwelt – Pertlwieser. Gütesiegel Die Referentin

Alle Interviews zum Text sind weiter unten in voller Länge zu finden.

 

„Partizipation und Kunst halte ich in Kombination für schwierig, da die Bedürfnisse der KünstlerInnen ganz andere sind als die der StadtbewohnerInnen.“

Peter Arlt, Stadtsoziologe und Experte in Stadtteilkulturarbeit

 

„Die vielfältigen Projekte des KunstRaum Goethestrasse xtd. im Linzer Stadtraum sind getragen von der Frage, was die Stadt braucht, und was ihre BewohnerInnen brauchen. Unsere Vision einer city of respect bedingt ein Hinausgehen aus dem Ausstellungsraum, ein Arbeiten inmitten der Dinge und inmitten der Stadt.“

Beate Rathmayr und Susanne Blaimschein, KunstRaum Goethestrasse xtd.

 

„Ein Kunstfestival an einem spezifischen Ort zu veranstalten heißt, die Kunst aus der Mitte heraus wachsen zu lassen.“

Gottfried Hattinger, Künstlerische Leitung des Festivals der Regionen

 

„Für das neue Festivalformat wünschen wir uns ein inhaltlich scharfsinniges Konzept und keine Eier legende Wollmilchsau.“

Andre Zogholy und Thomas Philipp von qujOchÖ

 

„Ein neues Festivalformat für Linz könnte Anlass für einen „gemeinsamen Tisch“ der in Linz ansässigen Kunstinstitutionen, Vereine und Akteurinnen sein. Um programmatisch auch etwas beizutragen, und: um voneinander zu lernen“

Stella Rollig, Direktorin Lentos Kunstmuseum

 

„Kunst im öffentlichen Raum ist mir als Kulturreferent ein großes Anliegen, da Kunst im Stadtraum Menschen erreichen kann, die über die Institutionen größtenteils nicht erreicht werden. Ich selbst erinnere mich gerne an Linz09, meine eindrücklichsten kulturellen Erlebnisse waren jene, die den Stadtraum bespielt haben.“

Bernhard Baier, Kulturreferent der Stadt Linz

 

Das seit 1990 jährlich veranstaltete Linzfest wird es ab nächstem Jahr nicht mehr geben. Kulturreferent Bernhard Baier wünscht sich für die Stadt Linz einen neuen kulturpolitischen Schwerpunkt bei Kunst im öffentlichen Raum und partizipativen Kunstformaten. Kunst und Kultur soll die Bevölkerung stärker einbinden und verstärkt ein Instrument der Stadtentwicklung werden. Derzeit wird an einem Konzept für ein neues Festivalformat für Linz gearbeitet. Alle zwei Jahre soll dieses Festival an immer unterschiedlichen Orten in der Stadt veranstaltet werden. Nicht als Stadtteilfestival, sondern als Kunstfestival in der Stadt will Bernhard Baier das neue Format verstanden wissen. Es sollen in diesem Festival unterschiedliche Themen von einer künstlerischen Leitung bearbeitet werden, durch Einbeziehung unterschiedlicher Menschen soll das Festival besondere Wirkung entfalten.

Große Wünsche und große Erwartungen an die Kunst: Partizipation, öffentliche Wirksamkeit, Instrument der Stadtentwicklung, überregionales Beachtet-Werden. Leise meldet sich hier vielleicht eine Stimme und fragt: Kann die Kunst das alles leisten? Oder gibt es hier einen Moment der Überfrachtung von Kunst? „Nein, als Überfrachtung würde ich das nicht sehen“, meint Stella Rollig als Direktorin des Lentos Kunstmuseums dazu. „Die Kunst kann grundsätzlich viel und man kann ihr einiges zutrauen. Es kommt natürlich immer auf die einzelnen Arbeiten der Künstlerinnen und Künstler an. Und ob sie das, was sie sich vorgenommen haben, inhaltlich auch einlösen.“ Aber von einer Überladung des Kunstbegriffs würde Rollig in diesem Zusammenhang nicht sprechen.

Auch sie betont das große Potential von Kunst im öffentlichen Raum und partizipativen Kunstformaten. Das Museum selbst sieht sie diesbezüglich nicht ausgeschlossen; denn auch das Museum gilt als öffentlicher Ort. Der sich natürlich anders definiert als der Außenraum und der Stadtraum. Dennoch sieht sie das Lentos und auch andere Museen in Linz nicht abgegrenzt von der Diskussion um Kunst im öffentlichen Raum und beschreibt die gegenseitige Bereicherung unterschiedlicher künstlerischer Formate. So arbeitet und wirkt Kunst im Außenraum oft viel spontaner und unmittelbarer als die Kunst innerhalb der schützenden Hülle des Museums. Im Museum wiederum sieht sie das Potential einer tieferen Ebene der Auseinandersetzung und Reflexion von Kunst. Auch lässt sich Kunst im öffentlichen Raum gut in die Museumsarbeit einbinden, erzählt Stella Rollig weiter. So hat zum Beispiel das Lentos die Reihe „Raum Lentos“ und „Lentos Park“ als zwei Formate im Programm installiert, die den Außenraum des Museums bespielen. Weiters verwaltet das Lentos auch die vom Forum Metall übernommenen Skulpturen im Donaupark.

Was die Stadt ist und was sie braucht, darüber denkt der KunstRaum Goethestrasse xtd seit vielen Jahren in der Auseinandersetzung mit einer city of respect nach. Der KunstRaum überrascht regelmäßig mit großer Wirkungskraft und vielseitigen Formaten und Aktionen im öffentlichen Raum der Stadt. Schaut man sich die Arbeit der beiden Macherinnen Susanne Blaimschein und Beate Rathmayr in der Spanne der letzten Jahre an, so findet sich eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit der Stadt Linz, ihren unterschiedlichen Räumen und BewohnerInnen. Besonders beim Linz09-Projekt des KunstRaums Der kranke Hase fanden viele Projekte im öffentlichen Raum statt. Blaimschein und Rathmayr eignen sich für die Projekte des KunstRaums vielfältig und themenspezifisch öffentliche Räume an und bespielen diese mit unterschiedlichen Projekten: Plakataktionen, Performances oder temporären Installationen. „Wir überlegen uns für jedes Projekt, welchen spezifischen Raum es für die Umsetzung braucht. In unserer Auseinandersetzung mit einer city of respect und den BewohnerInnen von Linz wäre es kaum vorstellbar, uns dabei nicht auch aus den eigenen Ausstellungsräumlichkeiten hinaus zu bewegen, nicht in den öffentlichen Raum der Stadt zu gehen.“

Thomas Philipp und Andre Zogholy vom Kollektiv qujOchÖ äußern während des Gesprächs über das neue Festivalformat die Befürchtung, dass derzeit eine „Eier legende Wollmilchsau“ geplant wird. Die zwei plädieren für eine inhaltliche Schärfung des Konzepts und verweisen auf unterschiedliche Diskurse rund um Kunst im öffentlichen Raum, die im Konzept bearbeitet werden sollten. qujOchÖ beschäftigen sich seit 15 Jahren mit experimenteller Kunst, rund ein Drittel ihrer Projekte finden im öffentlichen Raum statt. Im Gespräch mit Philipp und Zogholy wird auch ein Widerwille und ein großes Unverständnis für die Abschaffung des Linzfests Thema. Die beiden empfinden das „Durchboxen“ eines neuen Festivalformats als kulturpolitische Ellbogenmentalität mit Scheuklappen. Ein bewährtes Format wie das Linzfest hätte ausgebaut werden können und von innen her weiterentwickelt, auch mit einem Schwerpunkt bei Kunst im öffentlichen Raum. Thomas Philipp und Andre Zogholy empfinden das kulturpolitische Vorgehen bezüglich Linzfest als Affront. Auch andere InterviewpartnerInnen äußern sich eher verhalten bei der Frage, ob sie sich für das neue Festivalformat Anknüpfungspunkte für die eigene Arbeit wünschen würden: weil die „by the way“ Abschaffung des Linzfests für viele schon ein Thema ist, das auch stutzig werden lässt.

Wenn man sich den Wunsch nach einem neuen kulturpolitischen Schwerpunkt für Linz bei Kunst im öffentlichen Raum noch einmal genauer ansieht, wird man sich auch die Frage stellen müssen, ob dieses neue Format eines biennalen Kunstfestivals dem Schwerpunkt per se gerecht werden kann. Und ob diesbezüglich nicht erweitert gedacht werden müsste. Denn konsequenterweise sollte dieser neue Schwerpunkt für die Linz Kultur auch bedeuten, dass Einrichtungen, Vereine, Kollektive und AkteurInnen – die ganzjährig, langfristig und kontinuierlich Linz mit Kunst im öffentlichen Raum bespielen, entsprechend gefördert werden müssen. Nur so können in der Stadt hochqualitative Kunstprojekte im öffentlichen Raum mit weniger Eventcharakter umgesetzt werden. Kurz fällt hierzu vielleicht die Wiener Fördertraditionen von Kunst im öffentlichen Raum ein: KÖR Wien; als GmbH organisiert und in den Förderungen vielseitig, ganzjährig und niederschwellig. Es wäre sicher sinnvoll, dieses Förderformat auch für Linz anzudenken, zumal es derzeit noch nicht einmal eine dezidierte Förderschiene für Kunst im öffentlichen Raum gibt.

Zum großen Thema der Partizipation in Kunst und Kultur äußerte sich der Stadtsoziologe Peter Arlt. Bekannt ist er für seine langjährige Tätigkeit und sein Engagement im Bereich Stadtteilkulturarbeit im Linzer Franckviertel. Er hat auch schon vielfältige Erfahrungen mit Kunst im öffentlichen Raum und partizipativen Kunstformaten in Berlin sammeln können und teilt im Interview mit, dass er die Kombination von Partizipation und Kunst mittlerweile für schwierig hält. Die Bedürfnisse und Themen von KünstlerInnen unterscheiden sich meist zu stark von den Bedürfnissen und Themen der BewohnerInnen selbst. Dennoch spricht für ihn nichts dagegen, an wechselnden Orten der Stadt ein Kunstfestival zu verorten und die BewohnerInnen miteinzubeziehen, solange sich die Kunst nicht als Stadtteilkulturarbeit begreift. Für das künftige Festivalformat in Linz wünscht er sich eine genaue Auseinandersetzung mit dem Ort oder Stadtteil, in dem das Festival jeweils stattfinden soll, ohne das eigene Thema „einfach nur über die BewohnerInnen drüber zu stülpen“.

Zum Wechsel des „Slogans“ der Linz Kultur: Von Kultur für alle hin zu Kultur mit allen rät Peter Arlt, sich von diesem Begriff und Anspruch an alle besser zu verabschieden. „Alle“ ist eine nicht wirklich definierbare Gruppe, alle gibt es nicht.

Die Denkansätze von Peter Arlt decken sich mit dem, was der künstlerische Leiter des Festivals der Regionen, Gottfried Hattinger im Interview über seine Arbeit an verschiedenen Orten Oberösterreichs erzählt. Bevor die zeitgenössische Kunst an einen Ort kommt, ist es für ihn eine Voraussetzung, den Ort gut kennenzulernen. Engagierte Personen und Vereine im Ort zu treffen, das Festival näher zu bringen, Bezüge zu den Menschen und Strukturen vor Ort herzustellen und somit das Festival und die Kunst schon im Vorfeld zu vermitteln.

Zum angekündigten Festivalformat für Linz wirft Gottfried Hattinger eine wichtige Frage auf; nämlich ob die Kulturabteilung einer Kommune oder vom Land überhaupt als Veranstalter von Kunstfestivals auftreten soll. Beim Festival der Regionen werden die Fördergelder autonom in einem Verein verwaltet. Der Kulturreferent Baier kann sich eine Auslagerung des Linzer Formats in einen Verein oder eine GmbH aber nicht vorstellen und erwähnt als Gründe die Ressourcen der Linz Kultur, wie Personal und Öffentlichkeitsarbeit, die von der Stadtverwaltung in die Organisation des Festivals einfließen können. Gleichzeitig erwähnt Baier aber auch, wie wichtig ihm die inhaltliche und thematische Unabhängigkeit der künstlerischen Leitung und der künstlerischen Projekte ist. Auch bei subversiven politischen Projekten garantiert er keine inhaltlichen Einschränkungen von Seiten der Stadt und bekennt sich zum inhaltlichen Freiraum der Kunst.

Als Conclusio zu allen geführten Interviews könnte Folgendes festgehalten werden: der Wunsch nach qualitativ hochwertigen Inhalten. Die Möglichkeit einer Einbindung und Vernetzung unter den Linzer Institutionen und Kulturschaffenden im Zuge des Festivals. Und es soll nicht alles, was an Diskurs über Kunst im öffentlichen Raum derzeit im Gespräch ist, in dieses neue Format gepackt werden: denn um dies inhaltlich genau umsetzen zu können, bräuchte es ein Vielfaches des anvisierten Budgets.

Jaja, es ist die alte Leier, das mit dem Geld und der Kunst. Kunst ist schön, aber macht viel Arbeit, meinte Karl Valentin. Und Arbeit sollte entsprechend bezahlt werden, egal welcher kulturpolitische Schwerpunkt gerade gesetzt wird.

Dies wäre nun schon fast schon ein schöner Schlusssatz. Aber nur fast. Denn wie könnte man diesen Report beenden ohne ein Zitat über das Potential von Kunst im öffentlichen Raum anzufügen? Here we go:

„Künstlerische Arbeiten verfügen über die Potenz, Verborgenes oder Übersehenes sichtbar und diskutierbar zu machen. Sind sie im Stadtraum verortet, positionieren sie sich immer auch zu diesem und verbinden verschiedenen Ebenen der ‚Wege in die Stadt‘: die materiellen räumlichen und städtebaulichen Zugänge, wie auch die vielfältigen methodischen Annäherungen – sozial, psychologisch, ästhetisch, räumlich fantasierend, forschend, diskutierend, sehend, ergänzend. In den (künstlerischen) Werken spiegelt sich immer auch das jeweilige Verständnis von Öffentlichkeit und städtischem Raum.“ (Frauke Ellßel, 2008 in Urbanografien – Stadtforschung in Kunst, Architektur und Theorie, S.125)

 

Factbox

• Derzeit ist das neue Festival in der abschließenden konzeptionellen Phase

• Anfang September wird das Konzept dem Kulturausschuss vorgestellt

• Bernhard Baier will bis Herbst einen Grundsatzbeschluss für das vorliegende Konzept erreichen

• Das erste Festival soll 2018 stattfinden

• Die Linz Kultur soll die Veranstalterin sein: eine künstlerische Leitung wird extern besetzt, begleitet von einem Board oder einer Jury

• Budgetzahlen und das vorläufige Konzept gingen noch nicht an die Öffentlichkeit

• Ob das gesamte Budget des Linzfestes in dieses neue Festivalformat fließt, ist derzeit noch nicht geklärt

 

Weitere Reports zum neuen Format folgen in den kommenden Ausgaben.

 

Alle Interviews zum Text sind hier in voller Länge zu finden.

Peter Arlt, Freischaffender Soziologe im öffentlichen Raum

Bernhard Baier, Kulturreferent der Stadt Linz

Susanne Blaimschein und Beate Rathmayr, KunstRaum Goethestrasse xtd.

Gottfried Hattinger, Künstlerischer Leiter des Festivals der Regionen

Thomas Philipp und Andre Zogholy von qujOchÖ

Stella Rollig, Direktorin des Lentos Kunstmuseum
 


 

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Interview mit Peter Arlt

Der Stadtsoziologe und Stadtteilkulturarbeit-Experte Peter Arlt erzählt im Interview am 11. August 2016 über seine Erfahrungen mit dem Begriff der Partizipation in Kunst und Kultur und warum er sich vom Anspruch an Partizipation in Kombination mit Kunst lieber verabschieden würde. Weiters gibt er Einblicke in seine Arbeit im Linzer Franckviertel und beschreibt die Schwerpunkte, die wichtig sind, wenn man mit BewohnerInnen oder an einem spezifischen Ort in einer Stadt arbeitet.

EL: Sie sind Soziologe und arbeiten in Linz schon viele Jahre im Franckviertel zu Themen der Stadtentwicklung und Stadtteilkulturarbeit. Sie haben sich in Ihrer Biografie auch viel mit Kunst im öffentlichen Raum und partizipativen Formaten beschäftigt. Können Sie Ihre Arbeit und Ihre Arbeitsschwerpunkte kurz umreißen?

PA: Am Beginn meiner Tätigkeit in Städten und in Stadtteilen arbeitete ich mit den Instrumenten der klassischen Stadtsoziologie wie zum Beispiel BewohnerInnenbefragungen. Später kamen viele Projekte mit ArchitektInnen und KünstlerInnen im öffentlichen Raum dazu. Performances, Installationen oder temporäre Bauten, bei denen es mir weniger um einen wissenschaftlichen Ansatz als um den Aspekt einer Aktivierung der Bevölkerung ging. Im Laufe der letzten zehn Jahre habe ich mich von diesen eher kurzfristigen Projekten wegbewegt, hin zu langfristigen Stadtteilprojekten. Nun arbeite ich schon einige Jahre im Linzer Franckviertel und mein Schwerpunkt liegt bei Stadtteilentwicklung und Gemeinwesensarbeit im weitesten Sinne. Im Franckviertel arbeiten wir als kleine Gruppe, die relativ frei agiert. Seit zwei Jahren gibt es auch den Verein Friends of Franckviertel. Wir arbeiten in enger Kooperation mit der dortigen Volksschule und organisieren zum Beispiel partizipative Umbauprojekte. Zuletzt wurde die ehemalige Stadtteilbibliothek von uns gemeinsam mit der Schule zu einem Stadtteilcafé umgebaut.

Für mich ist im Laufe der Jahre das Prinzip einer gewissen Permanenz und langfristigen Präsenz immer wichtiger geworden, wenn ich an und mit einem bestimmten Ort arbeite. Gleichzeitig ging ich immer mehr weg von den eigenen Ansprüchen und dem, was ich selbst gut finden würde, das an einem gewissen Ort passiert. Viel wichtiger wurde mir die Konzentration darauf, was an einem bestimmten Ort vorhanden ist, welche Themen bei den BewohnerInnen vorhanden sind, um daraus gemeinsam etwas zu erarbeiten. Diese Herangehensweise bedeutet, anders als bei künstlerischen Arbeiten, weniger von den eigenen Ideen umsetzen zu können.

EL: Was hat Sie dazu bewogen, in diese Richtung zu gehen?

PA: Ich war 1995 bis 2001 in Berlin. Dort habe ich einiges an Erfahrung mit Kunst im öffentlichen Raum gesammelt. In dieser Zeit hat sich in Berlin sehr viel getan, was Kunst im öffentlichen Raum und Stadtteilprojekte betrifft. Als ich 2001 nach Linz zurück kam, begann für mich eine Zeit des Reflektierens. Ich habe darüber nachgedacht, was meine Aktionen und Projekte tatsächlich für einen Sinn hatten, und welche langfristigen Auswirkungen sie auch hatten, zum Beispiel bezüglich Gentrifizierung. In Berlin selbst stand eher das Tun, das Tätig-Sein im Vordergrund. So habe ich die Zeit danach genutzt, um über Kunst im öffentlichen Raum, BürgerInnenaktivierung und Partizipation nachzudenken.

EL: Derzeit kündigt der Kulturreferent Baier für Linz ein neues Festivalformat an, das anstelle des Linzfests biennal an unterschiedlichen Orten der Stadt stattfinden soll und einen Schwerpunkt bei Kunst im öffentlichen Raum und Partizipation haben soll. Wenn Sie das hören, wie ist Ihre erste Reaktion darauf?

PA: Dass ich Partizipation in Zusammenhang mit Kunst mittlerweile für schwierig halte, da die Bedürfnisse der KünstlerInnen meist ganz andere sind als die der StadtbewohnerInnen. Eigentlich mag ich den Begriff der Partizipation überhaupt nicht mehr, denn für mich hat es den Beigeschmack, dass man an etwas teilhaben „darf“, das sich jedoch ein anderer ausgedacht hat. Es hat etwas herablassendes, es ist nicht auf gleicher Augenhöhe.

EL: Was aber, wenn man sich den Begriff und die Definition von Partizipation genau ansieht, eigentlich eine Grundvoraussetzung wäre. Auf Augenhöhe zu sein. Das wäre ja eigentlich, rein vom Gedanken her, das Potential der Partizipation.

PA: Ja, natürlich, aber dennoch beginnt die Partizipation meist damit, dass man an einer bestimmten Sache teilhaben „darf“. Es wird selten so angedacht, dass sich BewohnerInnen oder eine bestimmte Gruppe selbst etwas ausdenken und dann zusammen darüber verhandeln. Meist sind es andere Personen, zum Beispiel die KünstlerInnen, die sich ein partizipatives Projekt ausdenken. Und in Folge „brauchen“ sie eine gewisse Anzahl an Personen die mitwirken, damit das Projekt funktionieren kann. Aber was bringt das den BewohnerInnen? Meist ist es lediglich der Aspekt des Dabeiseins. Und das ist meiner Meinung nach zu passiv. Mein Ideal ist ein anderes. Für mich ist es wichtig, dass die inhaltlichen Themen und Fragestellungen von den BewohnerInnen selbst kommen, und ich diese Themen lediglich aufgreife und beim Umsetzen von Ideen unterstütze. Das ist ein völlig anderer Anspruch als der Anspruch der Kunst oder eines Kunstfestivals in einem Stadtteil.

EL: Könnte man nicht die Kunst, oder die KünstlerInnen, die an einen Ort kommen und gemeinsam mit BewohnerInnen Projekte realisieren, als Anregung für die BewohnerInnen sehen? Dass durch die Kunst neue Impulse „vor die Haustüre“ kommen?

PA: Ja, das ist auch sicher so. Und das war, besonders bei meinen früheren Projekten auch die Argumentation, dass wir einen bestimmten Stadtteil „aufmischen“. Kurzfristig etwas Neues machen. Um dadurch etwas zu bewirken. Ein Beispiel dazu war der temporäre Bau eines Schwimmbads in einem Berliner Stadtteil. Es kamen viele BewohnerInnen zum Baden, dennoch hat es nicht dazu geführt, dass die BewohnerInnen das in den nächsten Jahren selbstständig weiter organisiert hätten.

Die Idee, dass man künstlerisch etwas setzt, und diese Setzung dann mittelfristig etwas bewirkt und die Menschen aktiviert, ist eine schöne Idee. Aber aus meiner Erfahrung heraus funktioniert es nicht und fördert eine eher konsumistische Haltung. Es kommt letztendlich nicht zu einem Punkt an dem die Leute sich denken: Aha, so etwas könnte ich auch selbst machen.

EL: Wie könnte dann ein Kunstprojekt, das die Bevölkerung mit einbindet, gut funktionieren?

PA: Auf jeden Fall ohne den Anspruch auf Partizipation oder Stadtteilkulturarbeit. Weil der Künstler oder die Künstlerin im Normalfall schon eine ganz bestimmte Idee für einen Ort im Kopf hat. Mir fallen aber schon auch Projekte ein, wo eine Einbindung der Bevölkerung gut gelungen ist und spannend war. Zum Beispiel beim Festival der Regionen in Ebensee, wo mit der Bevölkerung ein Marsch durch den Ort erarbeitet wurde. Man konnte sehen, dass die Leute gerne und begeistert mitgemacht haben. Aber ob ein solches Projekt dann gut funktionieren kann, das hängt sehr stark von der Persönlichkeit der Künstlerinnen und Künstler ab. Wie sie mit Menschen umgehen können, ob sie Menschen auch tatsächlich zum Mitmachen begeistern können. Nämlich ohne die BewohnerInnen als reine Staffage für die eigenen Ideen einzusetzen.

EL: Angenommen das Linzer Festivalformat wird so umgesetzt, wie es angekündigt wird. Biennal, an wechselnden Orten in Linz mit starker Einbindung der Bevölkerung. Haben Sie eine Empfehlung an die zukünftige künstlerische Leitung des Festivals bezüglich Schwerpunkte und Vorgehensweise?

PA: Auf jeden Fall fände ich es wichtig, dass man den Ort oder den Stadtteil, an den man kommt, wirklich gut kennen lernt. Sinnvoll ist es sicher, am Anfang alle sozialen Treffpunkte anzulaufen wie Kindergruppen, Schulen, Vereine, Pensionistenzentren, Pfarre, usw. Das gibt es ja eigentlich in jedem Stadtteil. Dann die Leute kennen zu lernen, die in irgendeiner Form dort aktiv sind. Um zu erfahren, welche Themen an dem Ort präsent sind. Auch Asylheime zu besuchen. Oder mit Hausmeistern zu reden. Das ist immer sehr interessant. Gerade wenn man an den Stadtrand von Linz geht, ist das Thema Wohnen, Wohnsiedlungen und Genossenschaften ein interessantes Thema. Das funktioniert dort ganz anders als in der Innenstadt.

Abschließend könnte ich das so formulieren, dass aus meiner Sicht die Aufgabe einer künstlerischen Leitung ist, aus dem, was an einem bestimmten Ort schon vorhanden ist, etwas zu formen. Das fände ich sinnvoll.

EL: Worin sehen Sie die Gefahren eines solchen Festivalformats?

PA: Der worstcase wäre wahrscheinlich der Anspruch, dass man in ein Stadtviertel geht und glaubt, den BewohnerInnen nun die moderne Kunst „beibringen“ zu wollen. Man verpflanzt quasi das eigene Wissen, das eigene Know-How und die eigene Sicht der Dinge an einen bestimmten Ort in der Meinung, man weiß mehr als die Leute vor Ort. Ich bin mittlerweile der Überzeugung, dass, wenn man an einen Ort geht an dem die Leute völlig anders sozialisiert sind als man selbst, genau darin auch das Potential liegt. Nämlich etwas völlig Neues zu erfahren, völlig neue Sichtweisen kennen zu lernen. Dies hätte, um neben der möglichen Gefahr noch ein großes Potential zu erwähnen, die große Chance, mit ganz anderen Welten in Verbindung zu kommen. Sowohl sozial, wie auch politisch und kulturell. Das kann natürlich auch herausfordernd sein, mit dem „Anderen“ in Kontakt zu kommen. Ich denke da zum Beispiel an die Wahlergebnisse der letzten Zeit, wo sich gezeigt hat, dass es im Linzer Franckviertel eine sehr große FPÖ-Wählerschaft gibt. Das fällt mir in meiner Arbeit dann schon sehr schwer, damit umzugehen. Dennoch, diese anderen Welten kennen zu lernen, auch andere Kulturen aufgrund des hohen MigrantInnenanteils im Franckviertel, das ist eine Bereicherung.

EL: Zum Abschluss möchte ich Sie um ein kurzes Statement bitten. Der Kulturreferent Baier will für Linz von Kultur für alle zu Kultur mit allen kommen. Was fällt Ihnen dazu ein?

PA: Mit alle hab ich sowieso ein Problem. Vom Anspruch an alle würde ich mich eher verabschieden. Weil alle gibt es nicht. Das ist eine nicht wirklich definierbare Gruppe.

EL: Ich bedanke mich sehr herzlich für das Interview und wünsche Ihnen und Ihren KollegInnen weiterhin eine spannende und bereichernde Arbeit im und für das Linzer Franckviertel.

Peter Arlt ist 1960 in Linz geboren. Lebte einige Jahre in Berlin und seit 2001 wieder in Linz. Praktiziert angewandte Soziologie im öffentlichen Raum, in Linz und anderswo. Aktuell arbeitet er in der Stadtteilentwicklung im Linzer Franckviertel.

www.peterarlt.at

www.friendsoffranckviertel.at
 


 

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Interview mit Bernhard Baier

Elisabeth Lacher traf am 5. August 2016 den Kulturreferenten der Stadt Linz, Bernhard Baier, zum Gespräch über das von ihm angekündigte „Neue Format“ eines biennalen Kunstfestivals, das in Linz anstatt des Linzfests installiert werden soll.

EL: Sie haben als neues Format für Linz ein biennales Kunstfestival angekündigt, das anstelle des Linzfests alle zwei Jahre im öffentlichen Raum der Stadt stattfinden soll. Was können Sie mir dazu erzählen?

BB: Ausgangspunkt meiner Überlegungen war, dass es einen neuen kulturpolitischen Impuls geben soll in der politischen Periode bis 2021, und nach Möglichkeit darüber hinaus. Und der Grundgedanke ist, dass wir vom Ansatz Kultur für alle hin zu Kultur mit allen kommen wollen. Also einen stark partizipativen Ansatz verfolgen, der die Bevölkerung und die Menschen stärker mit einbindet und die Kunst und die Kultur wieder stärker zu einem Instrument der Stadtentwicklung werden lässt.

Dies ist die Grundüberlegung, die hinter diesem neuen Konzept steht. Und die im Raum stehende Idee ist, ein biennales Kunst- und Kulturfestival zu veranstalten, an immer wechselnden Orten der Stadt. Das kann in unterschiedlichen Stadtteilen sein, kann aber auch im Zentrum sein. Ich will es auch nicht als „Stadtteilfestival“, sondern als Kunstfestival „in der Stadt“ verstanden wissen. Es sollen immer wechselnde Themen und Fragestellungen aufgeworfen werden, und es soll einen sehr starken Ansatz hin zur Bevölkerung geben, unterschiedliche Menschen mit einbeziehen und damit eine besondere Wirkung entfalten.
EL: Dann darf ich bezüglich der Umsetzung fragen: Wie sicher ist es, dass dieses neue Format des biennalen Kunstfestivals statt dem Linzfest installiert wird?

BB: Derzeit sind wir in der abschließenden konzeptionellen Phase. Anfang September werden dann die inhaltlich konzeptionellen Überlegungen im Kulturausschuss vorgestellt und zur Diskussion gestellt. Danach braucht es eine Einigung auf politischer Ebene. Mein Ziel ist, im Herbst dieses Jahres den Grundsatzbeschluss für dieses neue Festival zu erreichen. Danach könnte gleich die Umsetzungsarbeit beginnen. Im „Konjunktiv“ spreche ich deshalb, weil die notwendigen Beschlüsse noch nicht vorliegen und ich diese Überlegungen gerade erst eingebracht habe. Und meine Intention ist diese, dass ich glaube, dass Kunst und Kultur wieder stärker in die Stadtentwicklung und in den öffentlichen Raum eingreifen sollen. Dafür muss aber ein bestimmter Rahmen geboten werden.

EL: Bezüglich des neuen Festivals und dessen inhaltlicher Gestaltung: Was erwarten Sie sich als Gewinn für Linz, als Gewinn für die Kultur?

BB: Meine Erwartung ist, dass wir über die regionalen Grenzen hinaus wieder stärker als Kunst- und Kulturstadt, die einen Impuls setzt, in Erscheinung treten. Zum Zweiten erwarte ich mir eine niederschwellige Möglichkeit für die Menschen in Linz, mit Kunst- und Kulturprojekten in Kontakt zu treten, weil es eben im öffentlichen Raum stattfinden soll. Und Drittens ist mir die Bearbeitung aktueller Fragestellungen gesellschaftspolitischer Natur und der Stadtentwicklung wichtig. Und dadurch auch Antworten für die Politik zu erhalten.

EL: Dazu möchte ich fragen, wie die Organisation des Festivals geplant ist.Wie autonom wird es organisiert werden, um auch diese inhaltliche Schärfe in den gesellschaftspolitischen Fragestellungen und der Stadtentwicklung zu sichern? Wird das neue Festival eine Veranstaltung der Stadt Linz werden, oder streben Sie eine von der öffentlichen Verwaltung und politischen VertreterInnen unabhängige Organisation des Festivals an?

BB: Meiner Meinung nach sollte es eine Veranstaltung der Linz Kultur sein, aber ausgestattet mit einer eigenen künstlerischen Leitung, die dann die Themen definiert und die Orte auswählt. Begleitet von einer Jury oder von einem Board. Es soll also die Anbindung an die Stadt geben wie auch die künstlerische Autonomie gegeben sein, um die natürlich notwendige Freiheit auch zu bieten.

EL: Das kennt man ja auch aus anderen Städten, wie zum Beispiel der Leonart in Leonding, die bis 2013 eine Veranstaltung der Stadt Leonding war. Dort wurde die künstlerische Leitung dann alle zwei Jahre ausgeschrieben. Würden Sie das für Linz auch gerne so haben?

BB: Für mich sind unterschiedliche Varianten denkbar. Die Variante, dass sich für jedes Festival eine künstlerische Leitung bewirbt genauso wie eine längerfristige künstlerische Leitung. Ich sehe leichte Vorteile für die Variante der wechselnden künstlerischen Leitung.

EL: Die wären?

BB: Ich bin der Meinung, dass der Wechsel immer wieder eine neue Perspektive, neue Sichtweisen einbringen kann. Dadurch besteht weniger die Gefahr, festzufahren und man kann immer wieder neuer und spannender unterwegs sein.

EL: Und die Befürchtung, dass es flüchtiger wird dadurch? Sie haben ja schon öfters dieses Argument des Flexibel-Seins, des Wechsels, dadurch„etwas Neues ermöglichen“geäußert. Ich erinnere mich an die Diskussion um die frei verfügbaren Mittel und der Förderpolitik für freie Kunst- und Kulturschaffende. Hier berufen Sie sich auch immer wieder auf die Förderung von wechselnden und kurzfristigen Projekten und Initiativen, mit dem Argument, nicht festzufahren. Dass dies zu einer Flüchtigkeit und einem Mangel an langfristiger, inhaltlicher Schärfe in Kunst und Kultur führt, diese Sorge haben Sie nicht?

BB: Nein, diese Sorge habe ich nicht. Und in Bezug auf das neue Festivalformat ist es auch so angedacht, dass jedes Festival für sich stehen kann.

EL: Zum Thema der Linz Kultur als Veranstalterin des Festivals. Heißt das für Sie, dass die Verwaltung und Organisation des Festivals in der Stadtverwaltung sein wird?

BB: Die Linz Kultur wird sicher mit einbezogen.

EL: Was heißt miteinbezogen? Wer trifft die Letztentscheidungen? Wie wird das organisiert sein?

BB: Es soll ja eine künstlerische Leitung geben, die natürlich inhaltlich frei arbeitet. Daneben sollen gewisse Entscheidungen dann von einem Gremium beschlossen werden, wo der Rahmen und gewisse Grenzen auch festlegt werden. Ich halte es für wichtig, dass es diese Rückkoppelung an die Linz Kultur gibt. Es soll eine Art „gemeinsame Abwicklung“ des Festivals geben, wo es natürlich noch zusätzlicher Kräfte bedarf, aber wo gewisse Ressourcen der Linz Kultur auch genutzt werden.

EL: Zum Beispiel personelle Ressourcen?

BB: Ja, aber natürlich kann und soll die Linz Kultur das nicht alleine machen, da braucht es schon dieses „mehr“ auch von außen.

EL: Da taucht bei mir die Frage auf, warum Sie das neue Festival nicht autonom andenken und gestalten? In Form eines Vereines oder einer GmbH? Um diese inhaltliche Freiheit der Kunst- und Kulturarbeit auch wirklich zu verankern? Wird oder wurde dies als Möglichkeit auch angedacht? Also zum Beispiel das jeweilige Budget für ein Festival einer Gruppe oder einem Verein für die Gesamtabwicklung des Festivals zur Verfügung zu stellen und dadurch die Autonomie der Kunst und Kultur zu stärken.

BB: Nun, es ist deswegen an die Linz Kultur angebunden, weil es sich um einen kulturpolitischen Ansatz,eine kulturpolitische Initiative der Linz Kultur und des Kulturreferenten handelt.

Das heißt, der Impuls geht von der Stadt aus und soll auch ganz bewusst so kommuniziert und positioniert werden. Und deswegen wird an eine „Auslagerung“ nicht gedacht. Das soll aber der inhaltlichen und künstlerischen Freiheit aus meiner Sicht überhaupt keinen Abbruch tun.

EL: In meiner Recherche bin ich auf einige kritische Stimmen gestoßen, die davor warnen, ein Kunstfestival von einem städtischem Amt oder einem städtischen Gremium veranstalten zu lassen. Als Argument wird angeführt, dass Kunst und Kultur inhaltlich fundierter und zeitgenössischer agiert, je autonomer die Organisationsstrukturen dahinter sind.

Davon abgesehen wäre es ja per se eine große politische Leistung und ein Erfolg, wenn Sie und die Linz Kultur den Rahmen des Festivals entwerfen, dieses Format in Linz quasi „initiieren“. Wenn die jetzige kulturpolitische Periode und ihre MitarbeiterInnen als InitiatorInnen und „RahmenbauerInnen“ für dieses Festival gesehen werden, das dann aber autonom von Stadtverwaltung und politischen Ansprüchen gestaltet wird. Ich würde das als großen Erfolg für einen Kulturreferenten und die Linz Kultur werten. Wäre Ihnen das zu wenig?

BB: Ich sehe hierin einfach keinen Widerspruch. Denn letztlich wäre es von mir so angedacht, dass die Anbindung an die Linz Kultur gegeben ist, und so auch organisatorisch die Mitbeteiligung und Unterstützung da ist. Gleichzeitig aber die notwendige Freiheit durch die künstlerische Leitung gegeben ist, die das Thema definiert, die auch den Vorschlag für einen Ort macht, und wo dann darauf aufbauend ein Call gemacht wird, wo dann Projekte eingereicht werden können. Es wird und soll auch eine Jury geben, die diese Projekte auswählt: einerseits nach einer finanziellen Maßgabe und auch im Einklang mit der Programmatik. Und dadurch ist die Autonomie letztendlich ja gegeben. Ich sehe diesen Widerspruch nicht ganz und ich glaube, dass deshalb dieser angedachte Weg ein schlüssiger ist und ich möchte den so gehen.

EL: Für mich ist schon ein Widerspruch sichtbar. Besonders dann, wenn Kunst- und Kulturprojekte durch zu viele „öffentliche“ Filter laufen müssen vor der Realisierung.

Aber kommen wir noch einmal zurück zum großen Thema Kunst im öffentlichen Raum. Was interessiert Sie daran? Was finden Sie daran faszinierend?

BB: Kunst im öffentlichen Raum ist mir als Kulturreferent ein großes Anliegen, da Kunst im Stadtraum Menschen erreichen kann, die über die Institutionen größtenteils nicht erreicht werden. Ich selbst erinnere mich gerne an Linz09, meine eindrücklichsten kulturellen Erlebnisse waren jene Projekte, die den Stadtraum bespielt haben. Weiters finde ich faszinierend, dass eben Menschen erreicht werden können und auch tatsächlich erreicht werden, die möglicherweise über die Institutionen und über die üblichen Angebote nicht erreicht werden. Das heißt, dieser Vermittlungsaspekt und der Aspekt der Partizipation in Kunst und Kultur ist der eigentlich wichtigste Punkt, der mich im Zusammenhang mit Kunst im öffentlichen Raum fasziniert.

Außerdem glaube ich, dass Linz bezüglich Kunst im öffentlichen Raum einen Nachholbedarf hat. Als ich die Funktion des Kulturreferenten übernommen habe, da habe ich festgestellt, dass es mit Ausnahme von Linz09 keine wirklich großen Initiativen für Kunst im öffentlichen Raum in Linz gibt. Und mit dieser Tradition würde ich gerne brechen, weil ich glaube, dass die Berührung und der Kontakt untereinander: für Künstler und Künstlerinnen und unterschiedlichsten Menschen wichtig und bereichernd ist.

EL: Also auch um eine gewisse Vielfalt an Kunst und Kultur zu fördern abseits dem Programm der Institutionen?

BB: Ja, definitiv. Wenn ich bei Veranstaltungen wie Vernissagen oder im Theater bin, treffe ich regelmäßig die selben Personen an. Was keinesfalls negativ verstanden werden soll, ich will das überhaupt nicht kritisieren. In den Institutionen trifft man eben auf das „von Haus aus“ kulturinteressierte Publikum. Und das ist auch eine Freude. Gleichzeitig denke ich, dass es schade ist, dass viele andere Personen, die an den Kulturangeboten aus unterschiedlichen Gründen nicht teilnehmen, weniger in den Genuss zeitgenössischer Kunst und Kultur kommen. Deshalb ist mir dieser Kontakt untereinander, oder dieser Vermittlungsaspekt bei Kunst im öffentlichen Raum sehr wichtig und im Vordergrund meines Interesses. Gleichzeitig bin ich auch davon überzeugt, dass es durch einen neuen Schwerpunkt bei Kunst im öffentlichen Raum zu einer größeren Vielfalt kommen wird.

EL: Zum Thema der Partizipation in Kunst und Kultur. Wie würden Sie Partizipation für sich definieren?

BB: Kultur für alle hat für mich einen sehr starken Spektakelcharakter bekommen. Es ist wichtiger ein „Feuerwerk abzuschießen“ als einen gesellschaftspolitischen Tiefgang zu forcieren. Kultur mit allen bedeutet für mich, dass es zu einer stärkeren gedanklichen Einbeziehung des Publikums und der Menschen kommen soll, und das sehe ich durch ein Festival im öffentlichen Raum eher wahrscheinlich.

EL: Die Wiener Kulturtheoretikerin Nora Sternfeld hat vor einigen Jahren Partizipation so beschrieben, dass sie, in Abgrenzung zur reinen Interaktion, mit einem Kartenspiel vergleichbar ist. Bei der Interaktion in Kunstprojekten werden quasi die Karten verteilt und die Leute dürfen mitspielen. Bei der Partizipation ist aber das Besondere, dass erst über die Verteilung der Karten wie auch über die Spielregeln gemeinsam verhandelt wird, bevor man spielt. Sie plädiert in Bezug auf Partizipation für einen ergebnisoffenen Rahmen mit Handlungskonsequenz, sonst wäre es keine Partizipation. Nora Sternfeld warnt regelmäßig davor, Partizipation in einen Topf mit Interaktion, mit „Mitmach-Aktionen“ oder mit reinen Vermittlungsgedanken zu vermischen. Denn Partizipation muss im Endeffekt real auch etwas verändern können. Auf welcher Ebene auch immer, kommt natürlich auf das Ziel und den Inhalt des Kunstprojekts an.

Meine Frage ist, wie würden Sie mit widersprüchlichen politischen Inhalten oder Outputs umgehen, die dann in einem Festival oder einem Projekt auftauchen, wo Sie von Ihrem politischen Background sagen würden, dass dieses Ergebnis für Sie so gar nicht passt?

BB: Also den Satz „Das ist mir nicht recht“, den wird es sicher nicht von mir geben. Das ist eben genau diese Freiheit, dass es auch zu Widersprüchlichkeiten und Spannungen kommen darf. Und dass dadurch Fragestellungen zutage treten, die man sonst nicht sehen würde, die auf den ersten Blick verschüttet liegen. Das heißt, die Aufgabe der künstlerischen Leitung wird dann sein, das Thema, den Ort und die Projekte so auszuwählen, dass nicht nur eine „Teilnahme“ oder eine „Interaktion“ stattfindet, wie Sie zuvor ausgeführt haben, sondern dass eben eine Teilhabe und eine Einmischung der Leute möglich ist, eben eine Partizipation. Und das wird dann auch in der Einreichphase eine wichtige Rolle spielen, weil eben KünstlerInnen, Kollektive, Vereine usw etwas einreichen können und daran denken sollen, wie es zu eben dieser Partizipation kommen kann.

EL: Um zum Abschluss noch einmal zur Frage der inhaltlichen Autonomie zu kommen. Es gibt ja durchaus sehr kritische, widerständige und politisch agitative Aspekte an Kunst im öffentlichen Raum. Mir fällt Christoph Schlingensiefs Containeraktion aus dem Jahr 2000 ein, die damals für großes Medienfurore gesorgt hat und viele kontroverse Stimmen erzeugte. Das Kunstprojekt stellte sich öffentlich gegen die Regierungskoalition der ÖVP mit der FPÖ. Angenommen, es würde etwas ähnlich ÖVP-kritisches, aufrührerisches, agitatives als Festivalprojekt eingereicht werden, hätten Sie damit ein Problem? Würden Sie einschreiten, wenn zum Beispiel die ÖVP in einem Kunstprojekt öffentlich und laut kritisiert wird?

BB: Nein, natürlich nicht. Ich kenne selbstverständlich die Containeraktion von Schlingensief. Aber als Kulturreferent muss es ja noch lange nicht heißen, dass ich selbst der Meinung eines Künstlers oder einer Künstlerin bin, die ich fördere. Aber es zuzulassen, das steht für mich völlig außer Frage. Und dann können sich der Betrachter oder die Betrachterin, der Teilnehmer oder die Teilnehmerin selbst eine Meinung bilden, eine eigene Position dazu finden. Und genau dann wäre meines Erachtens das erreicht, was ich mir vorstelle: Dass Kunst und Kultur zu Themen der gesellschaftspolitischen Entwicklungen wachrüttelt. Und damit Kunst zu einer Positionierung und zu einer Auseinandersetzung führt. Das wäre eigentlich das „Wunschszenario“, das ich mir vorstelle.

EL: Wird eigentlich angedacht, für die kulturellen Institutionen und die freie Szene in Linz Anknüpfungspunkte an das Festival zu schaffen?

BB: Ich sehe das neue Festival als große Chance, natürlich und in erster Linie für die freie Szene in Linz. Was aber nicht bedeutet, dass „nur“ die freie Szene einreichen soll.

EL: Sie sehen die Einbindung also auf der Ebene der Einreichungen?

BB: Ja, weil es zusätzliche Mittel sind, die zur Verfügung stehen und die sonst nicht zur Verfügung stünden. Und damit die Chance gegeben ist, hier Projekte umsetzen und realisieren zu können.

EL: Und anzudenken, dass Linzer Institutionen und die freie Szene von vornherein in die Programmatik des Festivals mit einbezogen werden? Vielleicht in einer extra Programmschiene, und dass dafür auch Mittel zur Verfügung gestellt werden?

BB: So weit ins Detail bin ich noch nicht vorgedrungen. Aber es ist durchaus denkbar, so etwas auch zu installieren. Es gibt ja viele, auch kleinere Einrichtungen in Linz, die schon viel und kontinuierlich im öffentlichen Raum arbeiten. Und natürlich soll es auch eine Abstimmung und Miteinbeziehung der größeren Institutionen geben, die, wenn man so will, das ganze auch begleitend gestalten könnten. Das hielte ich für einen richtigen und guten Ansatz: Sowohl die Einrichtungen der Stadt Linz als auch eine Einladung an die Einrichtungen des Landes oder Einrichtungen darüber hinaus, die von Vereinen und sonstigen Personen getragen werden.

EL: Dann danke ich Ihnen nun für das interessante Gespräch und die Informationen zum neu angekündigten Festivalformat. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg und spannende Momente in der weiteren Arbeit am neuen Format für Linz.

Bernhard Baier, geboren 1975 ist Politiker der ÖVP. Seit 2013 ist er Vizebürgermeister und Kulturreferent der Stadt Linz.

www.linz.at/kultur
www.bernhardbaier.at

 


 

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Interview mit Gottfried Hattinger

Am 16. August 2016 traf Elisabeth Lacher den künstlerischen Leiter des Festivals der Regionen, Gottfried Hattinger zum Interview. Er erzählte über die Arbeitsweise des Festivals der Regionen, über das Potential dieses Kunstfestivals als Wanderformat im ländlichen Raum von Oberösterreich und über die Herausforderungen, die diese Arbeit mit sich bringt. Es stellte sich auch die Frage, inwiefern es Sinn macht, wenn ein Kulturamt als Veranstalterin eines Kunstfestivals auftritt, so wie es für das neue Format für Linz derzeit geplant ist.

EL: Das Festival der Regionen gibt es jetzt seit 1993. Es findet alle zwei Jahre an wechselnden Orten in Oberösterreich statt. Sie haben als künstlerischer Leiter bereits drei Festivals geleitet und sind derzeit inmitten der Planung des vierten Festivals, das nächstes Jahr in Marchtrenk stattfinden wird.

Wie würden Sie das Potential und die Schwerpunkte des Festivals der Regionen beschreiben? Welchen Herausforderungen begegnet ein Kunstfestival, das biennal an unterschiedlichen Orten veranstaltet wird?

GH: Die Frage nach der Herausforderung und dem Potential ist bei jedem Festival von neuem eine spannende Frage. Alleine die Arbeitsweise und Herangehensweise einer künstlerischen Leitung fürs Festival der Regionen muss sich stark von anderen Kunstfestivals oder sonst üblichen kuratorischen Prozessen unterscheiden. Wenn man, wie in unserem Fall, in eine kleinere, ländliche Stadt kommt, muss man grundsätzlich davon ausgehen, dass sich dort vorerst niemand oder kaum jemand für zeitgenössisches Kunstschaffen interessiert. Am Beginn eines neuen Festivals besteht unsere Arbeit hauptsächlich darin, die Stadt kennen zu lernen, die Menschen dort kennen zu lernen. Ich beschäftige mich zu Beginn ausführlich mit der Geschichte der Stadt. Das heißt, bevor ich überhaupt an die Kunst denken kann, lese ich Stadtchroniken und lerne verschiedene Vereine und engagierte Personen an diesem Ort kennen und versuche, ein Gefühl für den Ort zu bekommen. Es gilt herauszufinden, wie dieser spezielle Ort gesellschaftlich aussieht, wo es hakt und wo die guten Kräfte sind. Daraus ergibt sich dann ein Thema, und erst dann, zu einem viel späteren Zeitpunkt als eigentlich üblich, kommt die Kunst ins Spiel.

EL: Können Sie Ihre Vorgehensweise anhand eines Beispiels verdeutlichen? Vielleicht vom ersten Festival der Regionen, das Sie kuratiert haben?

GH: Das war im Jahr 2011 in Attnang Puchheim. Im Vorfeld waren für meine Entscheidung für einen Ort die Ergebnisse der Landtagswahlen von 2009 entscheidend. Ich habe mir als Möglichkeiten Orte in Oberösterreich gesucht, in denen es die größte FPÖ-Wählerschaft gab. An oberster Stelle war Aurolzmünster bei Ried. Als ich den Ort dann besuchte stellte sich heraus, dass ein Festival dort nicht passend ist, weil es sich um eine richtige „Schlafstadt“ handelte. Man sah den ganzen Tag über keinen Menschen, die BewohnerInnen arbeiten außerhalb und kommen eigentlich nur zum Schlafen nach Aurolzmünster. Deshalb habe ich mich dann für Attnang Puchheim entschieden und dort fand im Jahr 2011 das Festival Umsteigen statt.

EL: Nachdem Sie recherchiert und einen Ort ausgewählt haben, wie gehen Sie dann vor?

GH: Ich wende mich immer zuerst an den Bürgermeister oder die Bürgermeisterin der Stadt. Früher wurde es beim Festival der Regionen teilweise auch so gemacht, dass zuerst die Kulturvereine im Ort kontaktiert wurden. Für mich stand aber immer im Vordergrund, zuerst bei den offiziellen Stellen der Stadt willkommen zu sein, weil es im Zuge des Festivals dann eine enge Zusammenarbeit mit der Gemeinde gibt.

EL: Sind beim Festival der Regionen infolge auch Gemeindebedienstete im Festivalteam, also unter den EntscheidungsträgerInnen? Oder Angestellte des Landes OÖ? Wie sind Sie als Festival der Regionen organisiert?

GH: Das Festival der Regionen ist autonom als unabhängiger Verein organisiert. Wir kommen mit einem bereits vorhandenen Budget an den ausgewählten Ort. In unserem Team und Vorstand sind weder Gemeindebedienstete noch Angestellte der Kulturabteilung des Landes OÖ eingebunden. Natürlich werden wir vom Land OÖ gefördert, und auch mit den jeweiligen Gemeinden gibt es immer eine enge Zusammenarbeit. Uns werden auch immer Leistungen der Gemeinde, wie Bauhofleistungen, zur Verfügung gestellt. Grundsätzlich arbeiten wir als Verein jedoch unabhängig.

EL: Sie haben in Ihrer Biografie schon sehr vielfältige Erfahrungen in der Arbeit mit Festivals gesammelt. Sei es die Ars Electronica, das Festival steirischer herbst oder das Theaterfestival Spielart in München. Wenn Sie sich das Festival der Regionen ansehen, worin würden Sie, im Vergleich zu anderen Festivals, die Stärken dieses wandernden Konzepts sehen? Worin liegt das Potential eines solchen Formats?

GH: Die Arbeit für das Festival der Regionen gleicht einer Frischzellenkur (lacht).

EL: Inwiefern?

GH: Im Vergleich zu anderen kuratorischen Prozessen muss man, wie anfangs schon erwähnt, beim Festival der Regionen völlig anders arbeiten. Man arbeitet größtenteils mit Personen, die mit Kunst, besonders mit zeitgenössischer Kunst, nichts „am Hut“ haben. Ein großer Aspekt des Festivals der Regionen besteht darin, sehr starke Vermittlungsarbeit zu leisten. Und das sehe ich als großes Potential. Für mich persönlich eine „Frischzellenkur“. Ich bin als künstlerischer Leiter des Festival der Regionen also dazu gezwungen, mit einem Mitarbeiter eines Kebab-Stands genauso über Kunst zu reden wie mit einem Blasmusikverein und generell Personen und Gruppen, von denen ich den Eindruck gewonnen habe, dass man sie in einen künstlerischen Prozess mit einbeziehen kann, und zwar ohne sie zu instrumentalisieren.

In Attnang-Puchheim war das zum Beispiel die Eisenbahnerstadtmusikkapelle, für die im Zuge des Festivals ein eigenes, zeitgenössisches Werk geschrieben wurde. Dieses Projekt war uns ein großes Anliegen. Schon deshalb, weil besonders bei Blasmusikvereinen das Repertoire beim Radetzkymarsch meist endet, und es kaum bis gar keine zeitgenössischen Musikformen im Programm gibt. Und es war dann so, dass ein zeitgenössischer Komponist auf die Musikkapelle zuging, der extra für sie ein Werk geschrieben hat und dann nur mit Tafeln in die Luft zeigte und unübliche Bewegungen machte. Das war am Anfang ziemlich herausfordernd für die MusikerInnen wie auch für den Komponisten. Der für dieses Projekt zwei Monate lang jeden Dienstag von Wien nach Attnang Puchheim fuhr. Aber es hat letztendlich sehr gut funktioniert und die Aufführung war ein schönes Erlebnis für alle Seiten.

Ein wichtiges Potential des Festival der Regionen ist sicher, dass wir unterschiedlichste Personen mit Kunst erreichen, die ohne das Festival der Regionen wahrscheinlich niemals mit Kunst in Berührung gekommen wären.

EL: Würden Sie grundsätzlich behaupten, dass dieses Konzept, nämlich mit zeitgenössischer Kunst an einen bestimmten Ort zu gehen und unterschiedlichste Menschen mit Kunst in Kontakt zu bringen, dass das funktioniert?

GH: Ja, zumindest was das Festival der Regionen betrifft, funktioniert das tatsächlich.

EL: Dann möchte ich auf das große Thema der Kunst im öffentlichen Raum zu sprechen kommen. Ein Großteil der Projekte des Festivals der Regionen sind im öffentlichen Raum verortet. Was ist für Sie ausschlaggebend bei Kunst im öffentlichen Raum?

GH: Kunst im öffentlichen Raum nimmt einen spezifischen Bezug zu einem bestimmten öffentlichen Ort und dessen Begebenheiten. Diese Ortsspezifik und die Leute, die mit diesem Ort etwas zu tun haben, sind für mich ausschlaggebend. Wenn es ein Kunstprojekt schafft, diese Faktoren miteinzubeziehen, sind die Ergebnisse immer sehr spannend und neu.
Das kann zum Beispiel eine urbane Seltsamkeit sein, die selbstverständlich im öffentlichen Raum vorhanden ist, und erst durch eine Künstlerin oder einen Künstler bemerkt und thematisiert wird. Ich erinnere mich an das letzte Festival der Regionen in Ebensee. Bei der Ortseinfahrt gibt es eine Verkehrsinsel, und darunter führt eine Unterführung vom Ort zum See. Und hier gibt es die witzige Begebenheit, dass von der Unterführung eine Treppe auf diese Verkehrsinsel hinauf führt. Und niemand wusste, wozu diese Treppe eigentlich vorhanden war. Man geht hinauf und steht inmitten der Straße, mitten auf einer Verkehrsinsel. Das ist einem Künstler aus dem Ruhrgebiet aufgefallen, der für das Festival dort ein Stiegenmuseum errichtet hat. Dieses Projekt wurde von den Ebenseerinnen und Ebenseern recht gut angenommen und es gab dann sogar Initiativen, dass das Gebäude auch nach dem Festival bleiben soll. In der Umsetzung gab es hier auch sehr schöne Momente. Ein Trafikant hat den Künstler bei der Errichtung des Museums beobachtet, wie sich dieser Tag und Nacht abmühte, um es bis zum Festival fertig zu stellen. Kurzentschlossen hat der Trafikant dann mit „angepackt“ und hat von sich aus eine Woche Arbeit investiert, um dem Künstler zu helfen, das Stiegenmuseum zu errichten.

EL: Das ist ein sehr schönes Beispiel dafür, was mit der Bevölkerung entstehen kann, wenn ein Kunstfestival im öffentlichen Raum installiert ist. Solche Situationen würden wohl im Kontext von Kunstinstitutionen und reinen Ausstellungsformaten eher nicht entstehen …

GH: Ja genau, und das ist etwas sehr spezielles an Kunst im öffentlichen Raum, der Kontakt zu Personen, die eigentlich weder eine Ahnung noch ein Interesse an Kunst haben. Die wachsen dann in manchen Situationen einfach in die Kunst hinein. Das ist zwar manchmal fordernd, aber die Ergebnisse sind immer sehr schön.Und mit fordernd meine ich diese anfangs erwähnte Frischzellenkur. Wenn man als Kurator für Kunstinstitutionen, Museen und Ausstellungen arbeitet, hat man größtenteils mit einem ExpertInnenpublikum zu tun. Alleine die Sprache, der Jargon, der dabei entsteht oder vorhanden ist, ist spezifisch und eigen. Darauf muss man in der Arbeit fürs Festival der Regionen völlig verzichten. Und so lernt man, dass Kunst eigentlich auch mit ganz einfachen Worten, in einer alltagstauglichen Sprache beschrieben werden kann. Obwohl das auf keinen Fall bedeutet, dass wir dadurch die Qualität der Kunst nivellieren. Darauf achten wir sehr bewusst. Aber dieser Aspekt, wie spricht man über Kunst mit vielen unterschiedlichen Personen, um sie auch verständlich zu machen, ist unumgänglich im Arbeitskontext des Festivals der Regionen.

EL: Der Begriff des Publikums und die Erweiterung der Reichweite ist bei Kunst im öffentlichen Raum eine sehr spannende Angelegenheit, die durchaus auch Ambivalenzen in sich trägt. Wenn man die Entstehungszeit von Kunst im öffentlichen Raum für Mitteleuropa in den 1960er Jahren verortet und sich die Entwicklung bis in die Gegenwart ansieht, so hat Kunst im öffentlichen Raum einen enormen Bedeutungsgewinn erfahren, auch von kulturpolitischer Seite. Es werden immer wieder Gründe wie Niederschwelligkeit, eine umfangreichere Wirkungskraft, Partizipation und Stadtentwicklung hervor gehoben.

Wird Ihrer Meinung nach die Kunst damit überfrachtet? Sind diese Ansprüche eine Überforderung, eine Instrumentalisierung des Kunstbegriffs? Waren solche Überlegungen in Ihrer Tätigkeit beim Festival der Regionen jemals Thema?

GH: Nein, kein bisschen. Was meine Arbeit am Festival der Regionen betrifft, hatte ich nie solche Überlegungen.

EL: Also unterstreichen auch Sie dieses hohe Potential an Kunst im öffentlichen Raum?

GH: Ja, durchaus. Wenn man sich auf diese doch recht andere Arbeitsweise einlassen kann und man sich traut, sich der Öffentlichkeit zu einem gewissen Grad auch auszuliefern, sehe ich großes Potential. Aber man sollte sich eben darüber bewusst sein, dass man, auch als Kurator oder Kuratorin, bei Kunst im öffentlichen Raum die geschützten Räume der Kunst verlässt und ganz anders arbeiten muss. Eine „gemähte Wiese“ gibt es in den Rahmenbedingungen nicht. Man muss sich wirklich darum bemühen, eine gewisse Akzeptanz für zeitgenössische Kunst zu erreichen. Oder zumindest eine positive Provokanz.

EL: Vermissen Sie die schützenden Räume eines Museums oder einer Institution?

GH: (lacht) Da ich als kultureller Saisonarbeiter arbeite, also immer parallel an mehreren Projekten, arbeite ich nach wie vor auch in Institutionen und geschützteren Bereichen.

EL: Das Festival der Regionen hat sich seit dem ersten Festival 1993 einen renommierten Namen gemacht. Ihr habt es geschafft, national wie auch international einen hohen Bekanntheitsgrad zu erlangen. Was war hierfür ausschlaggebend?

GH: Ich glaube das liegt daran, dass sich das Festival der Regionen als erstes großes Kunstfestival in Österreich mit einem anspruchsvollen Kunstprogramm außerhalb des städtischen Raums, also in eher ländlichen Gegenden, verortet hat. Ich denke, das ist bis dato eine große Besonderheit. Auch die Kontinuität der Zweijährigkeit und das wandernde Format sehe ich als besondere Eigenschaften. Außerdem werden fürs Festival der Regionen tatsächlich neue künstlerische Arbeiten für den jeweiligen Ort produziert. Ich denke, dass dies in Kombination ausschlaggebend für die nationale und internationale Beachtung ist.

EL: Wenn man nun die Ankündigungen des Kulturreferenten Bernhard Baier zum neuen Format für Linz hört, sind sehr große Ähnlichkeiten zum Festival der Regionen zu erkennen. Man könnte meinen, es wird versucht, eine Art kleine Schwester des Festivals der Regionen in Linz zu installieren. Wie stehen Sie da dazu?

GH: Ich sehe das Ganze relativ entspannt. Ich war selbst bei einem der Klausurtage dabei. Und es gibt ja auch ein Konzeptpapier, das die Linz Kultur gemeinsam mit Martin Fritz gemacht hat, der ja vor mir der künstlerische Leiter des Festivals der Regionen war. Es gibt hier sicher Berührungspunkte und Überschneidungen. Wie es dann in Linz wirklich funktionieren wird, ist schwer zu sagen. Linz ist eben Linz. Grundsätzlich finde ich es nicht schlecht, dass man in Linz einen Impuls weniger in Richtung Eventkultur setzen möchte. Vor allem wenn Honorare an Präponenten aus der Unterhaltungsindustrie bezahlt werden. Solche Praxen sind in der derzeitigen Fördersituation nicht wirklich tragbar. Obwohl ich das nicht so verstanden wissen möchte, dass ich persönlich etwas gegen das Linzfest einzuwenden hätte, im Gegenteil. Es gibt ja auch im Musikbereich viele junge Bands und kreative Leute, die interessant und gut sind und die auf jeden Fall gefördert werden müssen, auch durch Auftrittsmöglichkeiten.

EL: Wie ist Ihre persönliche Meinung zur Abschaffung des Linzfests?

GH: Ich sehe eigentlich auch das sehr entspannt. Muss aber hinzufügen, dass ich selbst nie Berührungspunkte mit dem Linzfest hatte und somit habe ich zu wenig Wissen darüber, um eine persönliche Meinung zu vertreten. Mir geht es hauptsächlich darum, dass es bei großen Events nicht akzeptabel ist, wenn öffentliche Kulturbudgets in die Unterhaltungsindustrie fließen. Wobei dies sicherlich nicht bei allen Gruppen der Fall ist; ich möchte da nicht unbedingt eine zu enge Kunstscheuklappe aufsetzen.

EL: Wenn wir nun davon ausgehen, dass es inhaltlich bestimmte Überschneidungspunkte zwischen dem Festival der Regionen und dem geplanten neuen Format für Linz gibt, würde mich Ihre Sicht auf die aktuelle Fördersituation des Festival der Regionen interessieren. Soweit ich weiß, gab es von der Stadt Linz eine Streichung der Förderung für das Festival der Regionen.

GH: Das ist tatsächlich der einzige Aspekt, der auch wirklich schmerzhaft ist. Dass die Stadt Linz ihrer Förderung für das Festival der Regionen auf Null reduziert hat. Es waren ursprünglich 36.000 Euro, welche die Kulturabteilung der Landeshauptstadt dem Festival der Regionen zur Verfügung gestellt hat. Und das war schon deshalb wichtig und gerechtfertigt, weil es immer eine gewisse Anbindung an Linz gab. Und viele Kunst- und Kulturschaffende aus Linz in das Festival der Regionen miteinbezogen werden. Vierzig Prozent unserer Projekte kommen aus der Linzer Kulturszene. Dennoch hat die Kulturabteilung diese Förderung relativ unbeeindruckt gestrichen – entgegen der ursprünglichen Absprache zwischen Land, Bund und Stadt.

Und bei Projektbudgets, die kontinuierlich weniger werden und massiven Kürzungen unterliegen, tut das natürlich weh. Auch das Land OÖ hat seit dem Jahr 1993 ihre Förderung nicht erhöht. Rechnet man die Inflation mit, haben wir auch hier nur mehr die Hälfte der Förderung seit dem Beginn unserer Arbeit.

Ich musste als künstlerischer Leiter auf diese Budgeteinschränkungen reagieren und das Festival räumlich und zeitlich verdichten. Irgendwann kommt dann aber der Punkt, an dem man sich nicht mehr weiter einschränken kann. Und man kommt dann sehr schnell an unterschiedliche Grenzen. Dem Festival der Regionen ist es auch sehr wichtig, kein „Ausbeuterfestival“ zu sein. Wir wollen der KünstlerInnenschaft und den MitarbeiterInnen faire Honorare bezahlen.

EL<: Und wie wirkt dann auf Sie die Tatsache, dass neue Formate aus dem Boden gestampft werden während beständige Formate, die über lange Jahre hinweg erfolgreiche Arbeit leisten, die regional wie überregional Beachtung finden, mit immer weniger Budget arbeiten müssen? Und dann diese neuen Formate, mit einem noch geringeren Budget ausgestattet, dieselbe Leistung erbringen sollen. Wie stehen Sie dazu? GH: Auch diesbezüglich bleibe ich entspannt. Man streckt sich halt nach der Decke. Was natürlich schon traurig ist, ist die Einschränkung an Ideen, die Budgetkürzungen und viel zu kleine Projektbudgets mit sich bringen.

EL: Was halten Sie davon, dass das neue Festivalformat für Linz als Veranstaltung der Linz Kultur gedacht wird?

GH: Man kann bei diesen Projekten durchaus politisch die Frage stellen, ob die Kulturabteilung einer Stadt, vom Land oder Bund überhaupt als Veranstalterin eines Kunstfestivals auftreten soll. Ob es nicht eher die Aufgabe einer Kulturabteilung wäre, die Förderungen zu verwalten. So wie es auch früher Usus war.

Für das Festival der Regionen sehe ich es schon als Vorteil, dass das Festival unabhängig als Verein agiert und niemand aus dem Team bei einer öffentlichen Behörde angestellt ist.

EL: Wo würden Sie die Gefahren sehen, wenn eine Stadt als Veranstalterin eines Kunstfestivals auftritt und das Budget selbst verwaltet? Wenn lediglich eine künstlerische Leitung von extern an Bord geholt wird?

GH: Eine Gefahr sehe ich darin, dass dadurch Ressourcen gebunden werden. Aber andererseits fließen natürlich auch Ressourcen zurück in die Organisation des Festivals. Es hängt sicherlich sehr stark davon ab, wie die künstlerische Leitung installiert wird und vor allem, welchen Freiraum sie dann auch hat. Ressourcen und Personal zur Verfügung zu stellen ist sicher eine gute Sache. Auch den Apparat der Öffentlichkeitsarbeit zu nutzen finde ich unbedenklich. Das sind zum Beispiel Kosten, die das Festival der Regionen selbst tragen muss. Darin liegen aber wiederum auch viele Vorteile, sei es in der freien Wahl des Grafikbüros usw. Am wichtigsten ist für mich die Frage, wie viel inhaltlichen Freiraum die künstlerische Leitung des Festivals haben wird.

Ich denke dennoch, dass ein Maximum an Unabhängigkeit sehr viel wert ist. Eine externe Organisation in einem Verein oder einer GmbH hat auf jeden Fall mehr Vorteile und man kann inhaltlich scharfsinniger arbeiten. Die optimalen Bedingung für ein biennales Kunstfestival im öffentlichen Raum sind meiner Meinung nach inhaltlicher Freiraum und die Möglichkeit, sich wirklich langfristig mit einem Ort, einer Region, einem Stadtteil auseinandersetzen zu können. Wenn man sich lediglich „im Kopf“ ein Thema ausdenkt und das dann an einen beliebigen Ort „hinsetzt“, dann wird es an diesem Ort wohl niemanden wirklich interessieren. Es sollte gelingen, dass die BewohnerInnen vor Ort das Gefühl bekommen, dass das Kunstfestival etwas mit ihnen zu tun hat.

EL: Etwas mit der Kunst „zu tun zu haben“, das ist eine sehr schöne Formulierung. Da komme ich auf Partizipation zu sprechen. Der neue Linz-Slogan soll ja „Kultur mit allen“ lauten, anstelle des althergebrachten und zu Tode kritisierten „Kultur für alle“. Was sagen Sie dazu?

GH: Da gibt es nicht viel dazu zu sagen. Ich habe noch nie gehört, dass ein Künstler oder eine Künstlerin bestimmte Personen im Vorhinein ausgeschlossen hätte. Kultur ist eigentlich immer für alle offen. Nun den Anspruch zu formulieren, alle miteinbeziehen zu wollen, empfinde ich persönlich als Unmöglichkeit, die letztendlich nur in eine Nivellierung führen kann. Ich sehe diesbezüglich eine große Gefahr, in zu „seichte Gewässer“ zu kommen. Meiner Meinung nach muss man auch nicht „alle“ für Kunst begeistern. Dieser Anspruch ist nicht notwendig. Also würde ich das so sehen, dass die Kritik, die zuvor an Kultur für alle formuliert wurde, auch für Kultur mit allen gilt.

Dennoch muss ich sagen, für Linz ist es sicher nicht unspannend, sich mit einem bestimmten Stadtteil auseinander zu setzen. Da fällt mir zum Beispiel Peter Arlt ein, der schon lange Jahre im Linzer Franckviertel arbeitet.

EL: Peter Arlt wurde für diesen Report auch interviewt.

GH: Er arbeitet ja eher aus einer soziologischen Perspektive heraus, und wirklich langfristig und durchgängig in einem Linzer Stadtteil. Das finde ich äußerst beachtenswert und vorbildlich als Vorgehensweise.

EL: Eben unter diesem Aspekt, nicht einfach das Zelt der Kunst auf einen Ort drauf zu setzen?

GH: Ja, genau. Eher die Kunst wachsen zu lassen. Aus der Mitte heraus.

EL: Ich bedanke mich für das Gespräch. Alles Gute für die Arbeit am Festival der Regionen 2017 in Marchtrenk!

Gottfried Hattinger (*1950 in Oberösterreich) ist Kurator, Buchdesigner und arbeitet mit Vorliebe in Zwischengebieten der zeitgenössischen Kunst und Kultur. Seit 2010 ist er künstlerischer Leiter des Festivals der Regionen, das biennal an unterschiedlichen Orten Oberösterreichs stattfindet.

www.hattinger.org
www.fdr.at
 


 

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Interview mit Thomas Philipp und Andre Zogholy

Kontroverse Stimmen zum neuen Format und zur Abschaffung des Linzfests kommen von Thomas Philipp und Andre Zogholy vom Kollektiv QujOchÖ. Elisabeth Lacher traf die beiden am 10. August 2016 mit dem Anliegen, über den Begriff der Kunst im öffentlichen Raum zu sprechen. Im Gespräch ergaben sich interessante inhaltliche Abgrenzungen zum Thema des öffentlichen Raums. Was kann dieser? Wie definiert er sich? Weiters gewähren Thomas Philipp und Andre Zogholy Einblicke in die Arbeit des Linzer Kollektivs QujOchÖ und wagen dabei den Unversuch einer Zuordnung, was Kunst im öffentlichen Raum ist und wie man daran von verschiedenen Seiten herantreten kann.

EL: Ich möchte mit euch vom Kollektiv QujOchÖ gerne einen Direkteinstieg in unser Gespräch wagen und euch als Stichwort Kunst im öffentlichen Raum geben. Derzeit in aller Munde, nicht nur von den politischen VertreterInnen hochgewollt und forciert. KünstlerInnen sollen Projekte im öffentlichen Raum entwickeln und Fragen der Stadtentwicklung bearbeiten. Es werden als großer Bonus Publikumszahlen und niederschwelliger Zugang genannt. Wie reagiert ihr darauf?

AZ: Zunächst und zuerst geht es für mich vor allem um eine Definition des Begriffs Kunst im öffentlichen Raum. Allein die Definition von öffentlichem Raum ist eine klar abgrenzbare von der Definition von Kunst. Aber dieses Thema würde für sich schon den Rahmen dieses Interviews sprengen. Dennoch ist es mir ein Anliegen, die Begrifflichkeit der Kunst im öffentlichen Raum kurz zu umreißen, auch in Bezug darauf, was die Linz Kultur als neuen Schwerpunkt ankündigt und mit dem neuen Festivalformat erreichen will.

Für mich stellt sich bei Kunst im öffentlichen Raum immer auch die Frage nach dem öffentlichen Raum selbst. Und damit zusammenhängend geht es um große Themen wie Privatisierung, Politisierung und Entpolitisierung des öffentlichen Raums. Gerade die Entwicklungen in den letzten 20 bis 30 Jahren, und hier fällt das wichtige Stichwort Neoliberalismus, der in der Diskussion um öffentlichen Raum eine große Rolle spielt.

Was mir in deiner Aufzählung in der Frage nach Konnotationen noch gefehlt hat, war die Partizipation. Ich weiß nicht, ob das absichtlich war…

EL: Du kannst den Begriff der Partizipation gerne mit einflechten.

AZ: Partizipation spielt bei diesem Anspruch an Kunst imöffentlichen Raum natürlich eine ganz große Rolle, und das kann man durchaus ambivalent sehen. Es gibt diesen Partizipationsimperativ, der bei Kunst im öffentlichen Raum immer wieder auftaucht.

EL:Ich stimme dir hier zu, und das wird auch von Kulturreferent Bernhard Baier öfters erwähnt, dass Partizipation erwünscht und gewollt ist für das neu konzipierte Linzer Festivalformat. Was ich an deiner anfänglichen Ausführung zu Kunst im öffentlichen Raum sehr interessant finde, ist die Frage nach dem Begriff des öffentlichen Raums per se. Was beinhaltet er, welche Themen wirft öffentlicher Raum auf? Soweit ich eure Projekte als QujOchÖ kenne, beschäftigt ihr euch generell sehr intensiv mit dem Thema Raum. Ich erinnere mich sofort an das Projekt [H:UMMMM], bei dem ihr in den akustischen Raum der städtischen Wellnessoase Hummelhofbad interveniert habt. Würdet ihr das als Projekt zu Kunst im öffentlichen Raum sehen?

TP: Für mich war[H:UMMMM] kein Projekt zu Kunst im öffentlichen Raum. Als städtisches Bad würde ich das Hummelhofbad zu den halböffentlichen Räumen zählen.

Ich versuche mich der Definition von öffentlichem Raum mal über die Abgrenzung zu privatem und halböffentlichem Raum anzunähern. Für mich ist öffentlicher Raum, in Zusammenhang mit Kunst, ganz klar der Außenraum, also kein gebauter Raum. Keine Galerie, kein Museum, kein Wohnzimmer, keine Firmenhalle. Und wenn Linz mit einem Festivalformat einen Schwerpunkt bei Kunst im öffentlichen Raum setzen möchte, dann ist es mir auch wichtig, dass es letztendlich auch wirklich im öffentlichen Raum stattfindet. Ich sehe da keine Verbindungen zu beispielsweise Volkshäusern oder Bibliotheken. Ausgeschlossen sind für mich auch Werbeformate im öffentlichen Raum, Kunsthandwerks- oder Designmärkte, oder ein musikalisches Format. Dies würden wir nicht unter Kunst im öffentlichen Raum verstehen. Und hier beginnt es sich zu spießen mit dem, was der Kulturreferent als neues Format ankündigt. Ich glaube, dass man bei der Begrifflichkeit und Definition von Kunst im öffentlichen Raum sehr klar wissen sollte, worauf man sich einlässt. Weil bestimmte Dinge dann höchstens noch am Rande denkbar sind. Was derzeit jedoch über dieses neue Format kommuniziert wird, geht in eine völlig andere Richtung, man will quasi alles inkludieren.

AZ:Auch für mich hat unser Projekt [H:UMMMM], obwohl es im halböffentlichen Raum der Stadt stattgefunden hat, nichts mit Kunst im öffentlichen Raum zu tun. Der künstlerische Ansatz ging zurück auf das Konzept der Heterotopie von Michel Foucault, das sogenannte andere Räume beschreibt. Unsere Herangehensweise lag in der Normativität bestimmter Architekturen. Das hat weniger mit Fragen von öffentlichem Raum zu tun. Hier ging es uns dezidiert um bewusste Ein- und Ausschlusskriterien, die in einer Heterotopie wie etwa einer städtischen Wellnessoase zum Tragen kommen. Beim Projekt [H:UMMMM] stand die Auseinandersetzung mit einem grundlegend neoliberalen Konzept im Mittelpunkt, das sehr eng mit dem Wellnessbegriff des Neoliberalismus verwoben ist. Nämlich eine bestimmte Architektur für genau diesen bestimmtenZweck der schnellen Erholung zu bauen, um in kürzester Zeit wieder und bestmöglich für den Arbeitsalltag gerüstet zu sein. Allein diese klare Zweckmäßigkeit beim Hummelhofbad unterscheidet sich sehr stark und in vielerlei Hinsicht davon, wofür zum Beispiel der Linzer Hauptplatz steht.

EL:Aber wenn man sich den öffentlichen Raum als solchen ansieht, ist dieser ja auch normativ, repräsentiert Gesellschaft, schließt ein oder grenzt aus. Es wirken Architektur, Stadtplanung, Verkehr. Würdet ihr den öffentlichen Raum, den Außenraum als freieren Raum als den gebauten Raum bezeichnen?

TP: Egal ob man von gebautem oder offenem Raum spricht, oder zwischen öffentlichem und halböffentlichem Raum unterscheidet, wenn man tatsächlich „freie“ Räume sucht, dann kommt man in unserer Gesellschaft sehr schnell ans Ende der Möglichkeiten. Unter freien Räumen verstehe ich solche, die wenig reglementiert sind und viel Freiheit bieten. Meiner Meinung nach muss öffentlicher Raum nicht heißen, dass es ein freierer Raum ist. Es gibt hier, wie überall, Regeln, Strukturen und Einschränkungen. Aber dadurch wird der öffentliche Raum nicht weniger öffentlich, er ist nur anders reglementiert. Ein Thema dazu ist zum Beispiel die Tendenz der letzten Jahre, Freiheitsrechte im öffentlichen Raum immer stärker einzuschränken mit dem Argument von mehr Sicherheit. Und das ist höchst kritisch zu reflektieren.

AZ:Und gerade das ist ein wichtiges Thema bei Kunst im öffentlichen Raum, nämlich der eigentliche Verlust des öffentlichen Raums als Raum der Öffentlichkeit und Freiheit. Einschränkungen wie Bettelverbot oder Alkoholverbot an öffentlichen Plätzen. Damit befasst sich vor allem Kunst im öffentlichen Raum. Und dieser öffentliche Raum ist klar abzutrennen und zu definieren, es braucht hier Begrifflichkeiten und Definitionen. Ohne Abgrenzung ist jeder Raum plötzlich alles und nichts.

Und das ist genau der Punkt, den wir an diesem neuen Format der Linz Kultur kritisieren. Das Konzept ist völlig schwammig definiert. Ich persönlich frage mich auch, was an diesem Formatüberhaupt neu sein soll. Oder was es überhaupt sein soll. Da ist die Rede von den drei Eckpfeilern: Kunst im öffentlichen Raum, Partizipation und wechselnde Veranstaltungsorte. Aber jeder dieser Begriffe ist wiederum alles und nichts. Für mich persönlich ist das Vorhaben viel zu vage. Ich würde bisher weder von einem Konzept für einen kulturpolitischen Schwerpunkt bei Kunst im öffentlichen Raum sprechen, noch von einem Konzept für ein Kunstfestival.

EL: Der derzeitige Konzeptentwurf ist leider noch nicht für die Presse freigegeben, ich muss mich inhaltlich derzeit darauf beschränken, was Bernhard Baier im Interview erwähnt hat. Dass es ein biennales Kunstfestival sein soll, mit Schwerpunkt Kunst im öffentlichen Raum und mit einem Schwerpunkt bei partizipativen Kunstprojekten. Es sollen Fragen der Stadtentwicklung bearbeitet werden und Ergebnisse für die Politik liefern. Mit dem Anspruch: Kultur mit allen statt Kultur für alle.

Für mich ist zu diesem frühen Zeitpunkt aber vor allem interessant, was unterschiedliche Kulturschaffende in Linz generell zu diesem Vorhaben, zu Kunst im öffentlichen Raum, zu Partizipation zu sagen haben. Ob es allgemeine Wünsche und Bedürfnisse an das neue Format gibt. Ob nicht von der Linz Kultur auch angedacht werden muss, unterschiedliche Vereine, AkteurInnen und Institutionen, die schon lange im öffentlichen Raum der Stadt Linz arbeiten, miteinzubeziehen. Gäbe es von eurer Seite das Bedürfnis, programmatisch oder inhaltlich miteinbezogen zu werden? Gibt es den Wunsch, mit dabei zu sein?

TP: Wenn es um ein Festival für Kunst im öffentlichen Raum geht, ist von meiner Seite natürlich großes Interesse vorhanden. Aber da spreche ich vorerst nur für mich persönlich. Wenn es aber um dieses Konglomerat an Schlagworten geht, also um Kultur im öffentlichen Raum, um ein Festival „für alle“ oder „mit allen“ im öffentlichen Raum, was dann auch immer daraus wird, dann würde ich eine Beteiligung von QujOchÖ für eher unwahrscheinlich halten. Bei Kunst im öffentlichen Raum steht für uns der Kunstbegriff im Vordergrund, und der sollte dann nicht durch ein „Kultur für alle“ oder „Kultur mit allen“ zu sehr verwässert werden.

EL: Kann ich das so verstehen, dass ihr euch für das neu angekündigte Format eine inhaltliche Schärfung wünscht, besonders bezüglich Kunst im öffentlichen Raum?

TP: Das trifft es ganz gut. Wir wollen keine Eier legende Wollmilchsau für Linz. Das heißt, lieber ein klares Konzept, das gut definiert ist, anstatt alles an möglichen Inhalten hineinpacken zu wollen.

Aber für mich stellt sich in diesem Zusammenhang auch eine weitere, wichtige Frage: Warum man eigentlich das Linzfest abgeschafft hat. Was ist hier die tatsächliche Intention? Worum geht es wirklich? Was ist das Ziel? Geht es hier tatsächlich um einen neuen Schwerpunkt bei Kunst im öffentlichen Raum? Diesbezüglich ist die Vorgehensweise wirklich unverständlich.

AZ: Ich würde diesbezüglich auch gerne Bezug zu dieser Presseausendung nehmen, die von der Linz Kultur versendet wurde, ich glaube das war im Juli. Darin war tatsächlich ein großes Schlagwort nach dem anderen zu lesen, was dieses Festival alles leisten soll. Da sind wir dann ganz schnell bei der Eier legenden Wollmilchsau. Und da las ich einen Begriff, der völlig unglaublich ist, nämlich das neue Festival „mit internationaler Strahlkraft“.

Und ich gehe davon aus, dass in den Diskussionen vorab auch die ökonomische Situation des neuen Formats diskutiert wurde. Wenn man nun in Linz ein Festival von internationaler Strahlkraft installieren möchte, das dezentral ausgerichtet ist, würde meiner Meinung nach nicht einmal das doppelte Budget des Linzfests dazu ausreichen. Die internationale Wahrnehmung kann meiner Meinung nach schon mal aus ökonomischen Gründen gar nicht erreicht werden. Und da sich die Linz Kultur in den allgemeinen Sparkurs einordnet, ist allein dieser Anspruch an breite Wirksamkeit schon eine Fehlkonzeption.
EL: Ich stimme dir hier zu, dass diese Wirkungskraftso sicher nicht erreichbar ist. Aber lassen wir vorerst die Wünsche an die öffentliche Wirksamkeit beiseite. Meine Frage ist, wenn das Festival in etwa so installiert wird, wie derzeit angekündigt, wünscht ihr euch Anknüpfungspunkte?

AZ: Bevor ich darüber nachdenke, muss ich dennoch noch einmal auf die Abschaffung des Linzfests zurückkommen. Ich empfinde das als Affront. Das kulturpolitische Vorgehen zeugt von Ellbogenmentalität, gepaart mit Scheuklappen. Die Abschaffung des Linzfests, das ja größtenteils sehr gut funktioniert hat, zugute eines neuen Festivals ist unverständlich. Auch das Linzfest hat sich ja immer redlich bemüht, verschiedene Zielgruppen anzusprechen, nämlich nicht nur Jugendliche sondern zum Beispiel auch Kinder. Dessen Inhalte waren durchaus auch mit einem politischen Anspruch versehen. Das Linzfest hat in den letzten Jahren auch mit einer Dezentralisierung Richtung Innenstadt gearbeitet, beispielsweise den Nightwalks. Da gab es vieles, das wirklich gut funktioniert hat. Und dieses bekannte Format nun einfach abzudrehen, und etwas so Vages wie dieses neue Format für Linz in den Raum zu stellen, das ist eigentlich völlig inakzeptabel.

TP: Ich sehe das ähnlich. Wenn man von einem Festival für Kunst im öffentlichen Raum mit internationaler Strahlkraft spricht, dann fallen mir Formate wie skulpturprojektemünster oder die Manifesta ein. Da reden wir von deutlich höheren Budgets.

Ich persönlich bin der Meinung, dass man das Linzfest weiter finanzieren und weiterentwickeln hätte sollen.

Oder man greift auf bereits Bestehendes zurück. Man könnte zum Beispiel an das Festival der Regionen andocken, die zum Beispiel jedes zweite Jahr auch ein Format in Linz realisieren könnten. Aber das nur als grobe Idee erwähnt.

EL: Ihr wünscht euch etwas wirklich Durchdachtes, das in den Diskurs um Kunst im öffentlichen Raum passt und man dann ganz genau weiß: Das ist es und das ist es eben nicht. Würdet ihr es dann auch als Potential sehen, zur Programmatik des neuen Formates etwas beizutragen?

TP: Ja, aber ich würde das vielleicht eher im Rahmen von den bewährten Sonderförderprogrammen machen. Ansonsten taucht wahrscheinlich das Problem auf, dass nur altbewährte Linzer Kunst- und Kulturinitiativen miteinbezogen werden, und das würde ich schade finden.

EL:Zu Kunst im öffentlichen Raum gäbe es ja, prinzipiell und allgemein gesehen, auch viele andere Fördermöglichkeiten. Wenn man einen kulturpolitischen Impuls bei Kunst im öffentlichen Raum setzen will und das wirklich ernst nimmt, müsste hier ganz sicher breiter gedacht werden. Mir fällt da zum Beispiel die KöR Wien ein, die als GmbH organisiert ist und ganzjährig und relativ niederschwellig Kunst im öffentlichen Raum fördert.

AZ:Und da komme ich gleich zu einem weiteren Kritikpunkt an der derzeitigen Forderung nach einem Linzer Schwerpunkt bei Kunst im öffentlichen Raum. Man sollte sich, wenn man hier einen Schwerpunkt setzt, bereits bestehende Programme genau ansehen und abwägen, was man mit welchem Budget auch wirklich umsetzen kann. Als gutes Beispiel fällt mir auch Kunst im öffentlichen Raum Niederösterreich ein.

Diese budgetäre Abwägung ist, neben der Auseinandersetzung mit den theoretischen Diskursen, als Basis bei der Konzeption mit zu berücksichtigen, um eine fundierte und realistische kulturpolitische Vision für eine Stadt wie Linz zu entwickeln.

Derzeit scheint es für mich eher so zu sein, dass man aus einer kurzfristigen Laune heraus sagt: Wir wollen Kunst im öffentlichen Raum fördern und ein Festival dazu konzipieren. Aber dazu braucht es schon ein Mehr an Auseinandersetzung. Und das erwarte ich mir von der Linz Kultur: Dass inhaltlich fundiert konzipiert wird.

TP: Derzeit hat es wirklich den Anschein von allem und nichts. Das ist unzulänglich.

EL:Dann danke ich euch an dieser Stelle für eure kontroversen Beiträge zum Thema. Und schlage als Abschluss eine kleine Phantasiereise ins Jahr 2018 vor. Gehen wir davon aus, dass dieses neue Kunstfestival, mit dem budgetären Rahmen des Linzfests, dann tatsächlich das erste Mal stattfindet. Wie müsste es sein, damit ihr sagen könnt, dass es passt? Dass es inhaltlich fundiert ist, am Puls der Zeit und dem entspricht, was Linz braucht. Ein neues Format, an dem ihr auch gerne mitarbeiten würdet.

TP: Für mich müsste es einen sehr starken Fokus auf gesellschaftspolitische Themen haben. Das wäre das, was meiner Meinung nach die Ars Electronica in den letzten Jahren immer wieder einmal verloren hat. Die großen Themen Arbeit, Industrie, neue Industrien würde ich gerne als Beispiele nennen, weil Linz für uns einfach eine „Hacklerstadt“ geblieben ist. Das Thema Arbeit könnte von Künstlerinnen und Künstlern in einer kritischen, künstlerischen Perspektive gut im öffentlichen Raum bearbeitet werden. Auch im Zuge eines Festivals. Das fände ich spannend. Und alleine der Fokus auf ein Thema und Kunst im öffentlichen Raum, ohne die ganzen zusätzlichen Ansprüche und Schlagworte. Ich will da kein Messeformat dabei haben, auch keine supertechnologischen Produkte wie Drohnen. Einfach: Kunst im öffentlichen Raum.
AZ: Mir ist bezüglich Kunst im öffentlichen Raum auch eine gute Vermittlungsarbeit wichtig, also genügend budgetäre Mittel für zeitgemäße Vermittlungskonzepte zur Verfügung zu stellen und dadurch der Kunstvermittlung das Gewicht geben, das sie braucht. Nicht nur lose immer wieder die Wichtigkeit der Vermittlung zu erwähnen, sondern auch entsprechend Budget dafür bereit zu stellen. Und gerade in Bezug auf gute Vermittlungskonzepte ist, auch im internationalen Kontext, bei Kunstfestivals oft ein Defizit zu verfolgen. Bei der zeitgenössischen Vermittlung gibt es wirklich großen Nachholbedarf.

EL: Ich danke euch für das Gespräch,eure interessanten Denkansätze zu Kunst im öffentlichen Raum und die subversiven Wortmeldungen zum neu angekündigten Festivalformat. Alles Gute weiterhin für eure künstlerische Arbeit!

Thomas Philipp ist 1975 geboren und arbeitet im Kollektiv QujOchÖ in den Schwerpunkten experimentelle Kunst und Kulturwissenschaften.

Andre Zogholy ist 1975 geboren und arbeiten im Kollektiv QujOchÖ in den Bereichen Audio, experimentelle Kunst und Kulturwissenschaften.

www.qujochoe.org


 


 
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Interview mit Stella Rollig

Elisabeth Lacher traf am 10. August 2016 Stella Rollig, die künstlerische Direktorin des LENTOS Kunstmuseum, um mit ihr über Kunst im öffentlichen Raum, Kunst und Öffentlichkeit und das von Kulturreferent Bernhard Baier neu angekündigte Festivalformat zu sprechen.

EL: Kulturreferent Bernhard Baier kündigt ein neues Festivalformat anstelle des Linzfests an, das biennal im öffentlichen Raum von Linz veranstaltet werden soll. Wie stehen Sie als Museumsdirektorin zu Kunst im öffentlichen Raum? Empfinden Sie Kunst im öffentlichen Raum als einen „Hype“, der alle Probleme des Kunstbetriebs, wie zum Beispiel Publikum und Fragen nach Partizipation, zu lösen scheint? Was denken Sie als Museumsdirektorin dazu, wie ist ihr Blick darauf?

SR: Auch das Museum ist ein öffentlicher Raum, wenn auch natürlich mit bekannten Zugangsschwellen, die bei der Eintrittsgebühr beginnen und über eine gewisse Auratisierung führen, die historische Gründe hat. Aber ich bin davon überzeugt, dass Kunst im Außenraum und Kunst im Museumsraum einander ergänzen müssen. Aus meiner Geschichte als Kuratorin und Kunsttheoretikerin ist vielleicht bekannt, dass ich mich in den 1990er Jahren sehr stark gemacht habe für Kunst im öffentlichen Raum und mich intensiv damit beschäftigt habe. Auch mit partizipativen Formaten, mit Bürger- und Bürgerinnenbeteiligung. In und mit einem Museum zu arbeiten, das war schon eine starke Veränderung, ein ziemlicher Sprung – nicht im Sinne von crack, eher im Sinne von jump – in meiner Biografie. Ich meine, dass heute beide Formate: sowohl die Kunst im Museum als auch die Kunst im Außenraum sehr starke Beachtung finden.

Sie haben nach einem Hype der Kunst im öffentlichen Raum gefragt. Aus meiner Sicht stimmt sowohl der Hype wie auch der rapide Bedeutungsverlust. Das ist eine zutiefst paradoxe Aussage, die nichts desto trotz ihre Richtigkeit hat. Auf der einen Seite bekommt Kunst einen immer höheren Stellenwert, sie ist schick, sie hat Lifestyle-Aspekte und Lifestyle-Charakter. Auf der anderen Seite gibt es auch Rückgänge in Museen bei BesucherInnenzahlen, zum Beispiel in Deutschland. Es werden dort mehr und mehr Museen gebaut, und sie haben weniger und weniger Budget. Und gleichzeitig gibt es erstarkte Formate und Veranstaltungen von Kunst im Außenraum. Zum Beispiel die Emscherkunst, die derzeit aktuell ist und auch in den Medien sehr präsent ist. Sie findet im Ruhrgebiet statt, an diesem sehr verschmutzten Fluss Emscher. Die Emscher wird renaturiert und dieser Prozess, der sehr teuer und aufwändig ist, wird begleitet von künstlerischen Projekten. Hier geht es um die Vermittlung und Vermarktung einer politischen Entscheidung. Und hat offenbar, auch in Hinblick auf Besuch, sehr großen Erfolg.

Ich glaube, dass beide Formate, Kunst im Museum und Kunst im Außenraum, unbedingt parallel und miteinander existieren sollen und müssen. Einerseits hat für mich die Kunst im Museum ihre großen Qualitäten, sozusagen das Museum als eine schützende Hülle und als Ort einer Utopie und Reflexion. Auf der anderen Seite darf man nicht versäumen, die Kunst auch draußen im öffentlichen Raum zu positionieren, denn sonst verschwindet die Kunst aus breiten Teilen der Gesellschaft, sonst kennt man Kunst nicht mehr. Es ist auch notwendig, quasi über die Kunst zu „stolpern“, um dann zu begreifen und zu erfahren, was Kunst kann. Und um sich dann auch im Museum tiefergehend damit auseinander zu setzen.

EL: Stichwort: Was die Kunst kann. Kulturpolitischen Stimmen und Äußerungen zufolge, kann besonders Kunst im öffentlichen Raum, Kunst im Außenraum, im Stadtraum ja fast alles leisten. Sie ist nicht nur ein Publikumsmagnet mit immens hohen BesucherInnenzahlen, durch beispielsweise PassantInnen und AnrainerInnen, sondern sie wird auch in gesellschaftlich transformativen Prozessen, wie bei der von Ihnen erwähnten Emscherkunst, eingesetzt. Kunst kann quasi die Gesellschaft mitgestalten, vielleicht fast schon retten. Sie ist Instrument der Stadtentwicklung, wird in prekären Stadtvierteln als Stadtteilkulturarbeit eingesetzt.

Ist dies eine Überforderung, eine Überlastung der Kunst? Ist es arrogant, soviel von der Kunst zu wollen? Kann die Kunst das?

SR: Meines Erachtens ist das weder eine Überforderung noch eine Überfrachtung der Kunst. Die Kunst kann ja a priori sehr, sehr viel. Dann kommt es natürlich auf die einzelnen Künstlerinnen und Künstler und deren Projekte an. Und man muss sich auch immer jedes Projekt genau anschauen, um zu sehen, was es wirklich leisten kann. Und auch im Nachhinein überprüfen, wie es funktioniert hat. Wurde das, was die Künstlerinnen und Künstler vorab in Aussicht gestellt haben, auch wirklich eingelöst? Ich denke, möglich ist tatsächlich sehr viel, und Kunst im öffentlichen Raum hat ja auch schon eine lange Geschichte.

EL: Wo würden Sie den Beginn verorten? In den 1960er Jahren?

SR: Ja, ich würde den Beginn in den1960er Jahren sehen. Es gibt natürlich eine historische Ahnenlinie, zurück zu den russischen Konstruktivistinnen und Konstruktivisten. Damals ist in der Revolutionskunst die Idee entstanden, dass Künstlerinnen und Künstler, und damals waren Künstlerinnen schon sehr eingebunden und emanzipiert, was später und andernorts leider wieder verloren gegangen ist, aber damals wollte man mit der Kunst hinaus zu den Menschen gehen, zu den Arbeiterinnen und Arbeitern, zu den Bäuerinnen und Bauern.

Ich würde mir jetzt nicht anmaßen wollen zu beurteilen, wie erfolgreich das dann wirklich war. Und es ist ja bekannt, dass all diese Bestrebungen von Stalin dann gewalttätig unterbunden wurden. Aber es gibt schon eine Geistes- und Praxisgeschichte, die länger zurückreicht als bis zu den 1960er Jahren. In den Sechzigern gab es dann, auch im Zuge von Bürger- und Bürgerinnenbewegungen und einer beginnenden Institutionskritik, vermehrt Aktionen im öffentlichen Raum. Man kann den Beginn der Kunst im öffentlichen Raum, wie sie heute passiert, sicher dorthin zurückverfolgen.

EL: Was sind nun Ihrer Ansicht nach die Herausforderungen an diese beiden, sich ergänzende Formate: Kunst im Außenraum und Kunst im Museum? Sie haben schon vorhin angesprochen, dass auch das Museum als öffentlicher Raum zu verstehen ist. Es ist ja tatsächlich eine öffentliche Einrichtung, die eigentlich allen Bürgerinnen und Bürgern „gehört“. Vielleicht sogar mehr als der Stadtraum selbst, der viel eher Marktkonzepten und Privatisierung unterworfen ist als das Museum.

Sie sprechen von gegenseitiger Ergänzung von Kunst im Außenraum und Kunst im Museum. Ein Nebeneinander und ein Miteinander. Wo sehen Sie die Überschneidungspunkte, und wie kann man als Museum an die Kunst im öffentlichen Raum, die Kunst im Außenraum herantreten?

SR: Zum einen kann man auch als Museum Projekte an der Schnittstelle und im Außenraum veranstalten. Das machen wir mit der Reihe RAUM LENTOS, die jetzt schon seit einigen Jahren im Programm ist. Gestartet wurde sie, um kleinere Räume, Zwischenräume im Museum zu erkunden und zu bespielen. Und vor einiger Zeit sind wir dann auch in den Außenraum gegangen und haben die Reihe LENTOS X PARK definiert. 2015 haben wir mit dem Projekt Der Zaun von Claudia Seigmann und Markus Zett das Thema Ein- und Ausgrenzungen thematisiert. Das war nicht nur eine skulpturale Setzung mit einem weißen Gartenzaun, sondern auch eine sogenannte performative Intervention. Das heißt, die beiden KünstlerInnen haben draußen agiert und mit Passantinnen und Passanten darüber gesprochen, warum hier ein Zaun errichtet wird und was er bedeutet. Wer ist drinnen, wer ist draußen? Hier wurden für einige Tage wichtige Themen wie Einschließung und Ausgrenzung verhandelt.

Im Grunde genommen hat das Lentos auch eine „Filiale“ im Außenraum, mit den Skulpturen des Forum Metall im Donaupark. Diese sind Ende der 1970er Jahre entstanden und gehören auch zum Museum. Das ist eine sehr klassische Form eines Skulpturenparks, den wir hier verwalten.

EL: Würden Sie auch mögliche Verknüpfungspunkte zu einem Kunstfestival im öffentlichen Raum sehen?

SR: Natürlich könnte man, wenn man an ein neues Festivalformat denkt, zu fantasieren beginnen. Mit Projekten, die im Innen- und Außenraum stattfinden. Dass zum Beispiel eine KünstlerInnengruppe oder eine Einzelperson etwas in der Stadt macht, und in irgendeiner Weise wird das dann angeknüpft an einen zweiten Schauplatz, eine Aktion im Museum. Das muss aber auch nicht unbedingt sein. Mir geht es nicht darum, konkret zu sagen, dass es eine Zusammenarbeit geben muss. Sondern es geht eher darum, gemeinsam ein Bewusstsein für Kunst zu stärken. Zum Beispiel in der Wahrnehmung dass Kunst in unserer pluralistischen Zeit sehr viele unterschiedliche Erscheinungsformen haben kann und nicht nur Malerei und Skulptur ist, was noch immer eine tief verwurzelte Annahme ist. Und das allein ist schon eine sehr wichtige Erkenntnis, die man vermitteln sollte.

EL: Kunst als Vielfalt. In unterschiedlicher Form und vielfältigen Formaten. Kann man das diesbezüglich so sagen?

SR: Ja, das würde ich so unterstreichen.

EL: Dann würde mich interessieren, woran Sie zuerst denken beim Begriff Kunst im öffentlichen Raum?

SR: Die erste Assoziation ist natürlich Kunst im Stadtraum. Kunst, die sich grundsätzlich an alle wendet. Wobei das die Kunst im Museum auch tut… Manchmal wird auch eine Gruppe an Mitschaffenden definiert, dabei denke ich an partizipative Projekte. Mir fällt dazu auch das Festival der Regionen ein. Wir haben in Oberösterreich seit vielen Jahren dieses biennale Format eines Festivals, das durch das ganze Bundesland wandert. Hier werden beispielhaft die Möglichkeiten von Kunst im öffentlichen Raum ausgelotet und praktiziert. Das kann eine Installation in einer Galerie sein, die frei zugänglich geöffnet wird. Oder eine Tanzveranstaltung im öffentlichen Raum, die von Künstlerinnen und Künstlern konzipiert wird.

Ich würde sagen, dass Kunst im öffentlichen Raum auch immer eine Art „neuen Raum“ eröffnen muss. Einen Raum, in dem all das möglich ist, was Kunst ausmacht und was Kunst auslöst. Also eine gewisse Freiheit, eine gewisse Komplexität. Wahrscheinlich muss man sagen, dass der Grad der Komplexität sich im öffentlichen Raum und im Museum unterscheiden muss. Weil im Museum habe ich die Ruhe und die Möglichkeit, mich ganz einem Werk zu widmen und mich damit auseinanderzusetzen. Ich kann auch die Vermittlungsangebote in Anspruch zu nehmen. Im Außenraum muss ein Projekt meist schneller und zugänglicher funktionieren. Das heißt aber nicht, dass es immer laut oder unterhaltsam sein muss. James Turrell zum Beispiel ist ein Künstler, der sehr stille, sehr poetische Arbeiten mit Licht macht. Der Orte schafft, an denen man zum Beispiel durch eine Öffnung in einem Dach bestimmte Himmelsstimmungen beobachten kann. Das sind sehr ruhige, sehr sinnliche und verständliche Arbeiten, und sie funktionieren auf der kognitiven Ebene völlig ohne Intellektualisierung.

EL: Dann möchte ich noch einmal zum neu angekündigten Format des biennalen Kunstfestivals für Linz zurückkommen. Und hier wäre meine Frage, ob es von Ihrer Seite, von Seiten des LENTOS das Bedürfnis oder den Wunsch gibt, programmatisch oder in irgendeiner Form miteinbezogen zu werden?

SR: Ja, durchaus. Da Linz eine mittelgroße Stadt ist, kennen einander viele Akteure und Akteurinnen im Kunstbetrieb, und das sollte man als Chance nutzen. Ich selbst habe zum Beispiel sehr große Hochachtung vor den beiden Macherinnen des KunstRaum Goethestrasse xtd und finde, dass Susanne Blaimschein und Beate Rathmayr seit vielen Jahren wirklich beispielhaft hier in Linz arbeiten. Und es gibt eigentlich viel zu selten Anlass, an einem Tisch miteinander zu diskutieren, was schade ist.

Aber ich möchte das nicht falsch verstanden wissen. Ich möchte nicht, dass es so wahrgenommen wird, dass das Museum sich in das Festival hineinreklamieren und irgendeine Art von Deutungshoheit ausbauen möchte. Aber es wäre eine gute Möglichkeit, auch voneinander zu lernen.

Es wäre schade, einfach eine neue Person oder Gruppe zu definieren, die sich um dieses Festival kümmert. Und Museen und andere Institutionen, die sich in Linz langjährig und langfristig mit Kunst beschäftigen, dabei ausgeschlossen wären. Auch das NORDICO als zeitgenössisches Stadtmuseum ist hier ins Spiel zu bringen. Das NORDICO zeigt sehr gut, wie dialogische Ausstellungen und Projekte mit der Stadt ausschauen und funktionieren können.

EL: Also gäbe es von Ihrer Seite ganz klar das Interesse, zum Programm des Festivals etwas beizutragen? Und vielleicht auch gemeinsam mit anderen Einrichtungen in Linz?

SR: Ja, bestimmt. Aber wie gesagt, dieses Voneinander-Lernen wäre vorerst ein wichtiger und interessanter Ausgangspunkt, und auch durchaus ein Wunsch. Wenn man gemeinsam an einem Tisch sitzt, entstehen immer die besten Ideen. Aber es wäre zum aktuellen Zeitpunkt vorweggenommen, hier konkreter zu werden. Wir wissen noch sehr wenig von diesem neuen Festival.

EL: Als letzte Frage darf ich Ihnen noch das Stichwort Von Kultur für Alle zu Kultur mit Allen geben. Was fällt Ihnen dazu ein?

SR: (lacht) Ich habe ein köstliches Posting in den Oberösterreichischen Nachrichten gelesen, als Kommentar zur redaktionellen Ankündigung Jetzt kommt Kultur mit Allen. Jemand hat darunter geschrieben Who the hell is Allen? Das würde ich am liebsten so stehen lassen.

Stella Rollig (* 1960 in Wien) ist eine österreichische Kulturmanagerin, Autorin und Journalistin. Sie ist seit 2004 künstlerische Direktorin des LENTOS Kunstmuseum und seit 2011 zusätzlich des NORDICO Stadtmuseum in Linz.

www.lentos.at

www.nordico.at

Das, was uns umgibt

„The Era of Dissolution“ im KunstRaum Goethestrasse xtd. im Herbst: Michael Franz Woels gibt einen ersten Eindruck zum Projekt „The ragged gesture“. Zuerst allerdings eine Skizze des Mission Statements des KunstRaums, das Kunst auch in einer Katalysatorfunktion des gegenseitigen Respekts verstanden wissen will.

Aus der noch in Arbeit befindlichen Umsetzung: „The ragged gesture“. Bild The Era of Dissolution

Aus der noch in Arbeit befindlichen Umsetzung: „The ragged gesture“. Bild The Era of Dissolution

Der KunstRaum Goethestrasse xtd. ist ein Ort zeitgenössischer Kunstproduktion, ein Raum für Experimente und für künstlerische Prozesse und Präsentationen, ein Raum für Workshops, gemeinsames Arbeiten und Ausstellungen. Oder wie es Susanne Blaimschein, die seit 2008 gemeinsam mit Beate Rathmayr für verstärkte Schnittstellenarbeit zwischen KünstlerInnen und Menschen mit psychosozialen Beeinträchtigen sorgt, beschreibt: „Bei der Arbeit des KunstRaum Goethestrasse xtd geht es uns nicht darum, „etwas“ zu eventisieren, sondern der Zeit entsprechend sowohl Methoden, wie Formate und PartnerInnen zu finden, um gemeinsam zu tun, sich aktiv einzubringen, Sichtbares zu produzieren, Wahrnehmungen anzustoßen, Erlebnisse zu schaffen und Kooperationen zu leben. Durch, mit und über bildende Kunst über Gesundheit, Gesellschaft, Stadt und Respekt – in möglichst vielen Sprachen und auch ohne Wörter – zu kommunizieren ist wesentlich.“

Seit 2008 realisiert der KunstRaum Goethestrasse xtd., ein Angebot der pro mente OÖ, gefördert aus öffentlichen Mitteln, Kunst- und Kulturpreisen, Projekt-Sponsoring und Kooperationen, auch Kunstprojekte im öffentlichen Raum. Interventionen und Installationen, die sich mit der Stadt und ihren BewohnerInnen auseinandersetzten waren zum Beispiel 2009 die Projektreihe der Kranke Hase/verrückt nach Linz – als Kooperation mit der Kulturhauptstadt Linz. Susanne Blaimschein dazu: „Wir haben KünstlerInnen eingeladen, sich verstärkt mit dem Stadtraum und der Frage „Wie viel Verrücktheit verträgt Provinz“ zu beschäftigen. Von März bis Oktober gab es im Stadtraum von Linz, im Volksgarten, am Hauptplatz, am Pfarrplatz, in der Landstraße, im Einkaufszentrum Passage temporäre Installationen. Im Volksgarten wurde ein Baumhaus errichtet, am Pfarrplatz irritierten „Sprechende Tiere“, hasenmaskentragende StadtbewohnerInnen flanierten durch den Stadtraum.“

Botschaften in die Stadt zu bringen ist somit eine der Möglichkeiten, den öffentlichen Raum künstlerisch zu durchwirken. Exemplarisch hier das Jahresthema „Im täglichen Wahnsinn den Zauber finden“ von 2011 mit zwei realisierten Projekten: Eine Reiterin mit einer Kartonfahne wurde zur Botschafterin dieses trostspendenden Apercus. Weiters wurden eine große Anzahl metergroßer Kartonfahnen mit der Wahnsinns-Aufschrift im Stadtraum ausgebracht. Susanne Blaimschein rekurriert: „Der tägliche Wahnsinn lässt sich nicht ändern, aber der Zauber lässt sich gestalten.“

Beim Projekt „Weiße Katzen/Sieben Leben“, das ebenfalls 2011 gestartet wurde und bis heute läuft, wurden sieben überdimensionale weiße Katzenobjekte aus Styropor und Plüsch in den Stadtraum – auch ins MQ Wien – transferiert. Diese Katzenobjekte werden in Patenschaften vergeben und sind bis heute ausgebucht.

Noch eine weitere Projektauswahl zur Veranschaulichung: Die Botschaft „Bevor wir scheitern arbeiten wir doch zusammen“ wurde mit metergroßen Kartonbuchstaben, die in Workshops gebaut wurden, an jeweils von den ProtagonistInnen, zunächst von Jugendlichen, bevorzugten Orten gebracht.

Mit „City of Respect / Die Stadt des Respekts“ wurde im Juli 2016 gemeinsam mit LINZ AG LINIEN und Friedensstadt Linz eine einjährige Kooperation gestartet und ein Übereinkommen formuliert, gemeinsam mit Kommunikationsmaßnahmen und Projekten für eine Stadt des Respekts Sorge zu tragen. Im Mission Statement von City of Respect findet sich zum Beispiel folgende Zeile: „City of Respect“ basiert auf der Annahme, dass jeder Mensch gestalten, etwas bewirken und wirken will. In der Zusammenarbeit zwischen Sozialem, Verkehr, Stadt und Kunst ist es möglich, Menschen mit dieser Initiative zu erreichen, sie für das Anliegen zu sensibilisieren und eine Auseinandersetzung darüber anzuregen.“ Und im zehngebotigen Manifest wird in der zeitgenössischen Kunst „ein Katalysator für das Erleben von Zusammenhalt“ erkannt.

Diese Katalysatorfunktion von Kunst kann demnächst im KunstRaum Goethestrasse xtd. bei der Ausstellung „The ragged gesture“ von dem Londoner KünstlerInnenduo Atherthon/Mccormack überprüft werden. Diese co-worken momentan unter dem Label „The Era of Dissolution“, vormalig waren sie bekannt unter der Bezeichnung The Nudge Unit. Michelle Atherthon und Thomas Col Mccormack kamen erstmalig 2015 nach Linz, um ihr Projekt The NudgeUnit vorzustellen und um ihr Projekt in der Stadt Linz zu erweitern, um KünstlerInnen und Kunstinstitutionen kennenzulernen und um für zukünftige Zusammenarbeiten einen Austausch zu starten. Der erste Aufenthalt von Michelle Atherton und Thomas Col Mccormack wurde dabei durch eine Initiative des Künstlers Sam Bunn ermöglicht. Beate Rathmayr und Susanne Blaimschein wurden neben vielen anderen Linzer Kunstinstitutionen ebenfalls zu einem Austausch eingeladen, sie diskutierten über die Arbeit und die Visionen des KunstRaums Goethestrasse xtd. ebenso wie über das Projekt The Nudge Unit. Aus diesem ersten Treffen in Linz folgte eine weitere Einladung, gemeinsame Arbeitstage mit Michelle Atherhon und Thomas Col Mccormack folgten und die Einladung zur Präsentation eines Projektes im KunstRaum Goethestrasse xtd.

Beate Rathmayr über ihre Erwartungen: „Die künstlerischen Positionen von Michelle Atherton und Thomas Col Mccormack eröffnen Fragen und Austausch über bestehende Strukturen, kulturelle Phänomene, die Wahrnehmung des Stadtraums sowie einen Austausch über Positionen der zeitgenössischen Kunst. Als Lehrende an der Sheffield Hallam University haben sie gemeinsam im Rahmen des Projektes The Nudge Unit Fragen nach den Strukturen unserer Zeit gestellt. Ihre künstlerische Praxis in Verbindung mit wissenschaftlichen Methoden, Fragestellungen und Herangehensweisen eröffnet eine neue Sichtweise, die für unsere Arbeit im KunstRaum Goethestrasse xtd sicherlich Impulse geben wird. Der öffentliche Raum, der Ausstellungsraum und der private Raum werden neu geordnet – Versuche und Vorschläge, ein Herantasten an Formen, Wirkungen und Zuschreibungen.“

Der Künstler und Akademiker Thomas Col Mccormack im O-Ton über den Ausstellungstitel „The ragged gesture“: „A ragged gesture is a counter position, an instance that manifests itself against the neat formulations of progress and handed down historical trajectories. It speaks to the ruptures of the past and present, in offering points of contention to the state we find ourselves in today. A formal-physical phenomena has become apparent, where many of the geometric environments we have constructed or inhabit, are dissolving or are being dissolved. The long held certainties of the vertical line, structural integrity and clean frame are all being undermined, directly challenged, displaced and broken out of. In response they have determined that the essence of this phenomenon is a ragged gesture.“

Beate Rathmayr abschließend: „Die Frage nach dem ‚Wir‘, die der KunstRaum als Jahresstatement formuliert hat, wird in dieser Auseinandersetzung, der Ausstellung The ragged gesture“, aus den Spuren des „Wir“ gezeichnet. Was sehen wir täglich, was hinterlassen wir oder was umgibt uns an Gebautem, Gewachsenem, Zerstörtem … oder auch: Wie definieren wir uns über das, was uns umgibt?“

 

The Ragged Gesture im Herbst im KunstRaum Goethestrasse xtd.

kunstraum.at

Last Exit Linz Pöstlingberg

Groß, düster und ungeheuerlich ist die Kunst des Linzer Künstlers Klemens Brosch (1894–1926), die darauf wartet, entdeckt zu werden. Pamela Neuwirth hat im Vorfeld der Ausstellungseröffnungen zu Klemens Brosch die Kunsthistorikerin und Brosch-Expertin Elisabeth Nowak-Thaller getroffen und mit ihr über „Klemens Brosch. Kunst und Sucht des Zeichengenies“ gesprochen.

Groß, düster und ungeheuerlich ist der Zeitgeist der 10er und 20er Jahre. In der Kunst: Der Tod der Jugendstilväter Gustav Klimt, Otto Wagner, Egon Schiele und Kolo Moser markierte eine stilistische Wende. Futuristen, Surrealisten, Kubisten und Dadaisten suchten als Antwort auf den Krieg nach einer neuen Kunst, um die gefundenen -Ismen gleich wieder abzuschaffen. In der Gesellschaft: Karl Kraus schrieb die „Letzten Tage der Menschheit“; seine Prognosen treten ein. Neben der Ernüchterung allerorts nur elegischer Abgesang. Da war auch das Leben und Werk des Linzer Künstlers Klemens Brosch schwer und schien von seiner schwarzen Tinte durchtränkt: Dem jungen Chronisten an der Front haftete nach seiner baldigen Rückkehr aus dem Krieg schon der zweifelhafte Ruf des Morphinisten an, wo er den Apotheken stadtbekannt war. Klemens Brosch war zur Zeit seiner frühen künstlerischen Anerkennung (1915–1919) Mitbegründer der Galerie MAERZ gewesen, verließ aber schon 1917 das Kunstkollektiv mit der Begründung: „… Nun widern mich die Ausstellungskritiken wie überhaupt das Öffentliche der Ausstellungsweise derart an, daß ich es möglichst vermeide.“ Ebenso zwiespältig, öffentlich zwischen Anerkennung und Ablehnung, gestaltete sich das private Leben von Klemens Brosch. Er war Ehemann – von Johanna, von der es aus dieser Zeit keine einzige Fotografie gibt, nur seine Portraits zeigen sie still beim Nähen; wobei die frühen Zeichnungen nicht ahnen lassen, dass sie kurze Zeit später Ko-Abhängige seiner Sucht und später freiwillige Dauerpatientin der Landesnervenheilanstalt wird. Zu der Zeit war die Kunst von Klemens Brosch bereits mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden. Namhafte Zeitungen hatten seine Arbeiten besprochen und die Auftragslage war über die Jahre ganz beachtlich gewesen. Mit der Geld-Inflation kam es nach dem Krieg aber zu finanziellen Schwierigkeiten, die durch seinen Rückzug aus dem gesellschaftlichen Leben verschärft wurden. Die Sucht zog das Ehepaar tiefer hinunter, wie das durch eine Beobachtung von Broschs Schwiegervater dokumentiert ist und wo man stark an Burroughs schlimmste Zeiten erinnert ist oder auch an das Berlin von Christiane F. Die materielle Not konnte Brosch insofern durch seine Kunst abwenden, indem er von den umliegenden Gemeinden Puchenau, St. Johann, Weitersfelden und Neufelden um 1920 beauftragt wurde, Entwürfe von „Notgeld“ zu gestalten; so entstanden fein kolorierte Geldscheine für temporäre Alternativ-Währungen, die er interessanterweise klassisch im Jugendstil umsetzte, aber mit surrealen Einschlägen, wie etwa der Gemeinde St. Johann, der er in der 1. Auflage einen Pfeife rauchenden Eulen-Waldschrat (mit Vollmond) zeichnet.

 

„Hätte das Rad nicht gekreischt, es wäre herrlich gewesen“

Franz Kafka, Strafkolonie

 

Vor dem Krieg und bevor die Dämonen im Leben von Klemens Brosch seine Kunst bestimmen werden, verläuft sein Leben privilegiert. Kurz vor Kriegsbeginn wurde er durch die Intervention des Vaters in einer Art Sonderverfahren doch noch an der Kunstakademie Wien aufgenommen, wo er wenige Monate Kunst studierte, bevor er an die Front eingezogen wird. Die Arbeitstechnik, die er zeitlebens vorzog, hatte er allerdings schon vor dem Studienbeginn gefunden. Tuschezeichnungen mit Titeln wie „Der wahnsinnige Schuster auf seiner Wanderschaft“ (1911) oder „Drache hält den Mond umklammert“ (1911) zeigen seine ästhetische Ausrichtung schon auf, die surreal und phantastisch war, und geben Einblick in sein Wesen, das melancholisch und düster schien und älteren Zeitgenossen, wie Kubins, ähnelte, der ja wie Brosch zeitlebens an den Schattenseiten interessiert war. Elisabeth Nowak-Thaller sieht Parallelen zwischen den beiden Künstlern. Alfred Kubins Ausspruch „Zeichnen ist Schicksal“ passt auch auf Klemens Broschs künstlerische Neigung. Wenn für Kubin Zeichnen Schicksal bedeutet hat, dann könnte man sagen, dass Zeichnen für Brosch wie Atmen war. Und der zeitlebens lungenschwache Klemens Brosch zeichnet sich durch die Kriegsjahre.

In der Zeit vor seiner Morphiumsucht und bevor seiner Kunst durch die Droge etwas Anästhetisches anhaftet und an Komplexität einbüßt, sind seine Zeichnungen fein und von so großer Akribie, dass die Detailliertheit in Distanziertheit umschlagen kann. Im „Waldfriedhof“ (1912) unter der großen Trauerweide stehen in einer hellen Szene die Kreuze eng beisammen; hintergründig verdichtet wird das Bild erst durch die vielen Schatten, die auf die Gräber fallen, doch trotz der Dichte und Tiefe bleiben Raum und Stimmung seltsam geordnet. In den Kriegszeichnungen wird die erwähnte Distanziertheit im Strich dann zu etwas Dokumentarischem. In der Zeichnung „Treffer einer Granate“ (1914) hat die Tuschezeichnung eine Wirkung wie ein Negativbild eines Fotos. Am anonymen Kriegsschauplatz im hellen Birkenwäldchen ist die Romantik des Tuschestrichs verloren gegangen. Das wenige Schwarz im Bild eröffnet stattdessen ein grausames Schlaglicht auf den von Granaten zerrissenen Körper eines Soldaten. Seine Zeugnisse von der Zeit an der Front und über Kriegsexekutionen tragen Titel wie „Gefallene vor einem Stacheldraht“ (1914) und später „Siesta der Henker“ (1916) und sind großteils mit Monat und Tag datiert. Zeichnen ist wie Atmen. Der Krieg forderte seelischen Tribut, durch das Lungenleiden wurde Broschs ohnehin prekäre körperliche Konstitution noch schwächer. Das Morphium wurde ja nicht nur im Krieg, sondern damals schon bei kleineren Unpässlichkeiten verabreicht, Frauen zum Beispiel bei Menstruationsbeschwerden. Morphium, verklärt vom Lebensstil der Boheme, war wie Kokain in Mode und hatte bei vielen den Alltag erreicht. Beides waren wenig erforschte Substanzen, mit denen neben den sogenannten Morphinisten auch Ärzte im Selbsttest leichtfertig experimentierten, wie in dem Zusammenhang auch der Psychoanalytiker Dr. Freud. Bei Klemens Brosch entwickelte sich das alles zu einem großen, dunklen Malstrom. Seine großen Erfolge zwischen 1915 und 1919, von denen er sich misanthropisch distanzierte, fallen in die schrecklichen Kriegsjahre und mit seiner Sucht zusammen. Im retrospektiven Blick auf sein kurzes Leben kann eine seiner frühen Zeichnungen den Weg vom Träumer zum apokalyptischen Propheten fast schicksalhaft vorweggenommen werden. Klemens ist erst sechzehnjähriger Schüler, als er das Vanitas-Motiv in dem komplexen, wie beklemmenden Werk „Ostern“ (1910) – man muss fast sagen: abhandelt. Auch „Der Blitz“ aus dem gleichen Jahr – hier ist es das Thema Nachdenklichkeit (!) – zeigt, wie der Jugendliche intuitiv und souverän eine Bildkomposition umsetzt.

Die große Ausstellung zu Klemens Brosch wird neben der Landesgalerie auch im Nordico Stadtmuseum zu sehen sein. In der Landesgalerie wird die große Werkschau als Sonderausstellung präsentiert. Der Titel der Ausstellung „Klemens Brosch. Kunst und Sucht des Zeichengenies“ lässt hinsichtlich des Suchtfaktors keinen Zweifel aufkommen. Der Alptraum der Abhängigkeit spiegelt sich in unterschiedlichen Formen in der Kunst wider – aber die Ausstellung zollt auch den bereits erwähnten surrealistisch-phantastischen Einschlägen Tribut. Der Zeichner Brosch hat außerdem in Öl gemalt. Zwei riesige Leinwände, die zudem in Vergessenheit geraten waren und sich in einem ganz bedauernswerten Zustand befunden haben, wurden jetzt restauriert. Die großformatigen Malereien bilden vor einem fantastischen Hintergrund in Grün und Rot Saurier ab, deren Anatomie weniger von Darwin, sondern mehr von H. G. Wells Science Fiction inspiriert war. Das Nordico wird außerdem mehrere Stationen seiner Biografie in verschiedenen Lebensphasen beleuchten. „Hätte das Rad nicht gekreischt, es wäre herrlich gewesen“ – mit diesem Zitat aus Franz Kafkas Strafkolonie soll zuletzt noch auf das Buch von Elisabeth Nowak-Thaller verwiesen werden, wo sie besagtes Kafka-Zitat in Bezug auf Brosch’ Biografie setzt. Elisabeth Novak-Thaller, die sich in den 80er-Jahren in ihrer Dissertation mit Klemens Brosch beschäftigte, hat Fakten zum Werkverzeichnis zu Tage gebracht; und meint, dass das Werkverzeichnis von Klemens Brosch noch nicht vollständig sei. Die Brosch-Expertin hat den Linzer Künstler im Interview als komplexe, dunkle Persönlichkeit beschrieben. Als Ort für seinen Abgang hat Klemens Brosch 1926 den Linzer Pöstlingberg gewählt, wo er an einem Wintertag unter Zuhilfenahme einer Atemschutzmaske sein Leben beendete. Die Gasmaske trat so zum Schluss noch einmal als schreckliches Symbol des Ersten Weltkrieges in Erscheinung und hat sich mit ihm im letzten Ausatmen im Tod verbunden.

 

Früh vollendet, tragisch und verloren

Klemens Brosch zählt zu den interessantesten Zeichnern Österreichs im 20. Jahrhundert. Schon in der Linzer Schul- und Akademiezeit galt er als Wunderkind, das Themen wie Vergänglichkeit, Leid und Naturphänomene in einer unheimlichen, surrealen Bildsprache mit fotografischem Strich festhalten konnte. In der repräsentativen Monografie werden Kontakte mit Linzer Persönlichkeiten, Erfolge in der Künstlervereinigung MAERZ sowie noch nie gezeigte Linz-Ansichten versammelt. Kunsthistorische Vergleiche runden das Bild eines bereits zu Lebzeiten gefeierten und später vergessenen Zeichners ab. Die gesellschaftlichen Hintergründe werden ebenso beleuchtet wie die Entziehungsaufenthalte und der tragisch inszenierte Freitod auf dem Pöstlingberg. Auch der Einfluss von Drogen in der Kunst des beginnenden 20. Jahrhunderts wird thematisiert.

Gemeinsam würdigen die Landesgalerie und das NORDICO Stadtmuseum Leben und Schaffen dieses in Linz geborenen Grafikers mit der bislang größten Retrospektive. Gemeinsam geben beide Häuser außerdem einen umfassenden Katalog heraus.

Ausstellung in der Landesgalerie und im Nordico: „Klemens Brosch. Kunst und Sucht des Zeichengenies“ von 30. September 2016 bis 8. Jänner 2017

Katalog: Klemens Brosch (1894–1926) – Kunst und Sucht des Zeichengenies. Von Elisabeth Nowak-Thaller. 290 Seiten, durchgehend farbig bebildert, Hardcover, 34 Euro

Dreams are my reality …

Mit Ruth Beckermanns Die Geträumten und Patric Chihas Brüder der Nacht starten diesen Herbst/Winter zwei österreichische Filme in den heimischen Kinos, die die Grenzen dokumentarischen Erzählens ausloten und somit formal unverbindlich bleiben, während sie sich zweifelsfrei der Menschenliebe verschreiben. Von Peter Schernhuber und Sebastian Höglinger.

Der österreichische Film, so lässt sich etwa an seinen zahlreichen internationalen Festivalauftritten nachweisen, ist eine Erfolgsgeschichte. Eine jedoch mit Brüchen, geben die Zahlen am heimischen Box-Office doch nur einen dürftigen Widerhall der internationalen Lobgesänge. Diese ernüchternde Tatsache darf weniger als Aussage über die Qualität der Filme denn als Hinweis auf den Zustand des Kinomarkts mit seinen Verwertungslogiken interpretiert werden. Beiden widerfährt derzeit eine der gröbsten Veränderungen ihrer jüngeren Geschichte. Veränderungen, die in einem Land, in dem Kino und Fernsehen alleine schon strukturell verschränkt sind, notgedrungen auch Auswirkungen auf den ORF, den größten Arbeitgeber der Branche, haben. Diese kulturpolitische Debatte ist der Öffentlichkeit vor wenigen Wochen, anlässlich der Wahl des ORF-Generaldirektors, mit Sanftmut – quasi im Stille-Post-Modus – entgegengeblinzelt. Indirekt ist sie auch Gegenstand von Ruth Beckermanns neuestem Film. Mit ihrem hellwachen Sensorium gegenüber den Phänomenen ihrer Zeit ist Beckermann als Filmemacherin, Autorin und Künstlerin bekannt. Als sie 1987 ihren Film Die papierene Brücke vorstellte, lag die Waldheim-Affäre gerade erst ein Jahr zurück. Obwohl oder gerade weil der Film Beckermanns eigene Familiengeschichte und zugleich die Geschichte der mitteleuropäischen Juden zu erzählen suchte, fand dieses markante Wendejahr Eingang in den Film. 2001 porträtierte die Filmemacherin die Wiener Marc Aurel-Straße und wurde erneut Zeugin einer Zäsur für das republikanisch gestimmte Österreich: die Regierungsbeteiligung der extremen Rechten im Jahr 2000. Dass Beckermann fünfzehn Jahre später ihre jüngste Arbeit Die Geträumten in den Räumlichkeiten des Wiener Funkhauses, dem unlängst veräußerten architektonischen Bollwerk des intellektuellen ORF, ansiedelt, zeugt erneut von Beckermanns Gespür Zeitgeschichte en passant zu erzählen: Im großen Sendesaal treffen der Schauspieler Laurence Rupp und die primär als Musikerin bekannte Anja Plaschg aufeinander. In ihre Münder sind ihnen die Worte Paul Celans und Ingeborg Bachmanns gelegt. Ruth Beckermann inszeniert den todtraurigen und gleichwohl wunderschönen Briefwechsel, den die beiden Poeten in den Wirren nach dem 2. Weltkrieg bis zu Celans Suizid 1971 wort- und emotionsgewaltig geführt haben. „Im Wiener Funkhaus, wo die Gemälde an der Wand wie Fenster in die Welt wirken, lesen Plaschg und Rupp die Texte nicht nur ein – sie lassen zu, dass diese auf sie wirken, dass diese Liebe auf sie wirkt, in ihrem Rausch, ihrer Verlustangst, ihrem Entzücken, ihrem Erschrecken, ihrer intimen Nähe und schmerzlichen Fremdheit, aber auch in ihrem historischen Kontext der Nachkriegszeit“, schreibt die Filmjournalistin Alexandra Zawia im Katalog der Diagonale’16, wo der Film mit dem großen Preis für Spielfilm ausgezeichnet wurde. Über die Textpassagen hinaus verweilt Johannes Hammels Kamera bei den beiden Darsteller/innen und wird Zeuge, wie sich die gelesenen Worte setzen und sich ihr Nachwirken in Mimik und Gestik regelrecht abzeichnet, übersetzt. Beckermann verweigert die Suche nach schauspielerischer Entsprechung für Celan und Bachmann. Sie entscheidet sich dafür, den geschriebenen Worten der betörenden Liebesbriefe Körper zu geben, sie filmisch körperlich werden zu lassen. Dabei changiert Die Geträumten zwischen ruhigem Dokumentieren und feinfühliger Inszenierung. Es darf so gesehen auch nicht als Affront oder Chuzpe interpretiert werden, dass Die Geträumten nur wenige Wochen nach dem Spielfilmpreis beim Festival des österreichischen Films als bester Dokumentarfilm beim renommierten französischen Dokumentarfilmfestival Visions du Réel prämiert wurde. Beckermanns jüngste Arbeit, womöglich eine ihrer sinnlichsten, verweigert sich bewusst jeder Genrekategorisierung und ist doch ein deutliches Dokument ihrer Zeit. Mit Laurence Rupp, der dem Filmpublikum nebst TV-Auftritten vor allem aus Andreas Prochaskas Coming-of-Age-Genrearbeit In 3 Tagen bist du tot wohlbekannt ist – und Anja Plaschg alias Soap&Skin lädt Beckermann zwei zeitgenössische Künstler/innen ein, Worte – die über die Jahre weder Zauber noch politische Brisanz eingebüßt haben –, an einem Ort zu studieren, zu lesen, zu verkörpern, der lange Zeit für intellektuelle Besonnenheit und Gemächlichkeit stand (Attribute, die möglicherweise als Kern eines öffentlich-rechtlichen Rundfunkauftrags zu verstehen wären und gegenwärtig dem Zeitgeist geopfert werden). Beides gilt es gegenwärtig wieder verstärkt zu verteidigen. Gegen Marktlogik und einen ökonomisierten Kulturbegriff etwa, der zunehmend mit Schlagworten wie City-Branding hantiert.

Am anderen Ende einer solchen City liegen Schiffe am Donauufer vor Anker. Zur sehnsüchtigen Schwere einer Opernarie umarmt die Skyline das Wiener Nachtschwarz – und dieses wiederum die Protagonisten eines weiteren österreichischen Genrehybriden, der bei der Diagonale in Graz seine Österreichpremiere gefeiert hat: Brüder der Nacht von Patric Chiha rückt die Lebensrealität bulgarischer Stricher in den Fokus. In Wien verkaufen sie ihre Körper an wohlhabende Freier, gebären sich als Verführer und Gangster, stark und verletzlich zugleich. Obgleich sich ihre Leben beinahe diametral zu Rupp und Plaschg entfalten, finden sich doch Überschneidungen zu Beckermanns Die Geträumten: Ohne jeden Zweifel muss auch Patric Chihas Film – en passant – als hochgradig politisch gelesen werden; als Arbeit, aus der sich Aussagen über eine europäische Metropole im Spätkapitalismus ableiten lassen. In Chihas Interpretation sind die jungen Roma, die sich wie auf Theaterbrettern grazil durch diese politische Geographie bewegen, Popstars – sie glänzen, sind mächtig und (selbst-)verliebt. Sie sind „keine Schauspieler, auch wenn sie sich gern zur Schau stellen und spielen“, bemerkt er im Interview, „manchmal wie Tigerjungen, manchmal wie die schwulen Matrosen aus Rainer Werner Fassbinders Querelle, manchmal wie Marlon Brandos Enkel, die ihre Lederjacken wie Schutzhüllen tragen.“ Unter den dunklen, feuchten Brückenbögen und in den diffus beleuchteten Kaschemmen der Stadt ist ihre Selbstinszenierung emanzipatorische Geste, während sich nur wenige Kilometer entfernt zwei Schauspieler im Wiener Funkhaus einem Text annähern, und dabei zunehmend die eigene Rolle in Film und Alltag befragen. Während hier die bedächtige Reflexion und der Denkprozess zum Filmbild wird, dürfen Chihas Protagonisten in bester Bühnenmanier glitzern und leuchten. „Ich bin nicht die Polizei“, sagt Chiha selbst, „ich bin ein Filmemacher“, und so sind es nicht Gesetze, sondern sämtliche Regeln der Kunst, die er mit seiner ureigenen dokumentarischen Form, verspielt, aber niemals leichtfertig, auslotet. Paradoxerweise ermöglicht gerade dieser Bruch mit den Methoden eines authentizitätsfixierten Dokumentarismus sowie das Zugeständnis an Inszenierung und Überhöhung, dass Chiha den Protagonisten näherkommt, ihren Sehnsüchten, Hoffnungen und Träumen glaubhaft nachspürt. „Dreams are my reality“, hieß es schon in einer Pophymne zum Coming-of-age-Klassiker La Boum. Andere Baustelle. Doch letztlich ist Richard Sandersons eingängige Hook sowohl für Brüder der Nacht als auch für Die Geträumten geradezu trefflich. Dann nämlich, wenn der genuin immer schon träumende Pop nicht bloß als Hymne oder Soundtrack, sondern vielmehr als bedacht gesetzte Geste verstanden wird: Pop und Traum als Konzept und künstlerische Strategie. Hier die Künstlichkeit als dokumentarische Methode, da die Verschmelzung von Avantgarde und Pop, die Thomas Hecken als Avant-Pop beschrieben hat und sich vielleicht an keinem Ort so vollmundig inhalieren lässt, wie im Wiener Funkhaus, das bis dato sowohl Heimstätte von Radio Ö1 als auch Radio FM4, von Hoch- und Popkultur, U- und E-Musik war. Dass sich an diesem Ort die Biografien von Ingeborg Bachmann und Soap&Skin, einer der wohl progressivsten und meistbeachteten Musikerinnen dieses Landes, verweben, weist Schubladendenken schon generell als obsolet aus – ein Gedanke übrigens, der nur allzu gut mit dem Genrebruch der beiden besprochenen Filme korrespondiert. Neben diesem Status als Hybrid im Dazwischen der Konventionen ist ihnen dabei eine wahrlich zärtliche Nähe zu den Protagonist/innen und ihren Lebensrealitäten gemein. In einem Land, das unentwegt auf die dritte Republik zusteuert und das Miteinander zugunsten eines nationalstaatlichen Wir überwirft, ist das nicht nur ein Gewinn, sondern eine politische Geste des Aufbegehrens und Widerstands.

Man möge sich auf das Gedankenspiel einlassen, Laurence Rupp und Anja Plaschg nähmen nach ihrer Aufnahmesession im Funkhaus ein Taxi mit dem Ziel Donauhafen. Dort träfen sie auf Chihas junge Helden und verlören sich gemeinsam zwischen Textzeilen und flackerndem Licht, melancholischer Stille und sehnsüchtigen Beats einer Wiener Parallelwelt. Eine Zusammenkunft, die es freilich nie geben wird, außer – zeitlich getrennt – auf der Leinwand der heimischen Kinos. Dort sind beide Film diesen Herbst/Winter zu sehen. Eine dringliche Empfehlung.

Angeschnallt im begrenzten Leben

Es hat sich zugetragen: Am 8. 8. zur 8. Abendstunde tat sich ein magisches Zeitfenster auf, wo keine Chemtrails am Himmel waren. Ein Himmel wie ausgeputzt, gereinigt und ausgewischt, ganz sauber. Pamela Neuwirth fühlte sich relativ sicher und traf sich in der Alten Welt mit dem Kollektiv, das sich selbst „Die Regionären“ nennt. Ein Gespräch über regionäre Methoden, Ziele und die im Herbst in Linz stattfindende „Konferenz der Begrenzten“.

Sauberkeit, Sicherheit und Ordnung

In der Unordnung der großen weiten Welt braucht es klare Linien. Herr und Frau Österreicher schauen in eine ungewisse Zukunft, wo das Unheil jeden Moment im Freibad zuschlagen kann. Andreas Gabalier, der selbsternannte Volks-Rock’n’Roller, auch schon mal mit Koteletten in Schwarz-Rot-Gold auf der Volksmusikbühne, hat während seines Konzerts in München verlautbart, dass man „hierzulande kaum mehr aus dem Haus gehen kann“. Er sagt, er hat eine Meinung, die er, wie die Süddeutsche berichtet, zwar nicht verrät, aber so viel hat er dem Publikum dann verraten und sich so weit deklariert, dass nämlich (auch) er uns beschützen will. Versucht Gabalier unsere „Hoamat“ mit seinem Mikroständer zu verteidigen, der tatsächlich eine Astgabel ist, an der rotweiß-karierte Schneuztüchl und ein Gamskrickerl prangen? Zumindest scheint das Thema Ordnung und Sicherheit auch den kernigen Steirerbuam zu bewegen.

Vom Gabalier’schen Verteidigungs-Singsang bis zum Trump’schen Grenzzaun zwischen USA und Mexiko – übrigens ein Unterfangen beinahe in der halben Größenordnung einer chinesischen Mauer – entstehen von derart finsteren Stimmungen angestiftet, eben auch in den kleineren Gefilden eines lokalen Bewusstseins derartige Ideen, so gesehen – nomen est omen – bei den sogenannten „Regionären“. Im Interview mit den „Regionären“ zeigt sich, dass auch diese Gruppe Handlungsbedarf sieht – und zwar in der eigenen Region. Es ist eben nicht hüben wie drüben. Es geht auch nicht darum, dass Linz nicht Chicago werden darf. Es geht den „Regionären“ noch viel, viel schlichter darum, dass die Stadt die Stadt und das Land das Land bleibt. Über den erbitterten Kampf der „Regionären“ gegen die „Mühlviertlerisierung von Linz“ hat NEWS bereits im Februar berichtet.

Ein Bodensatz solcher Abgrenzungsbedürfnisse existiert offenbar allerorts. Eine andere Gruppe, die Rede ist von den „Identitären“, hat eine bösartige Störaktion an der Uni Wien in sozialen Medien und auf gut Deutsch im Gesichtsbuch, damit legitimiert, dass die Tat eine „ästhetische Intervention“ sei und suggeriert die nationalsozialistische Blut- und Bodensymbolik als künstlerisches Stilmittel. Jeder kann sich heute wie in einem Selbstbedienungsladen alles nehmen, was es an Code und Strategie so braucht. Es gibt ja auch die Nipsters, die als Neo-Nazis den Bio-Biedermeier-Style der Hipsters für sich reklamiert haben. Nichts ist wie es scheint, andererseits ist alles wie es ist. „Eine blaue Kornblume ist einfach eine schöne Blume“, ist sich der Flugzeugtechniker, Chemtrail-Verschwörungsaspirant und Bundespräsidentschaftskandidat Norbert Hofer von der „sozialen Heimatpartei“ sicher. Die Kronen Zeitung titelt Anfang August: „Ruck nach rechts. Regierung lässt der Strache-FPÖ kaum noch Luft“ und behauptet, dass sich „seit Längerem ein Rechtsruck der Regierung abzeichnet“. Anlass dieser Schlagzeile war allerdings etwa nicht die Flüchtlingspolitik der österreichischen Regierung und ein vermeintlich damit zusammenhängender Rechtsruck, sondern die klar formulierte Positionierung der Regierung gegen den türkischen Weg in die Diktatur, was dadurch angezeigt ist, dass diese innerhalb kürzester Zeit die freie Presse abgeschafft und den Rechtsstaat ausgehebelt hat. Strache (Opposition), so verkürzt es die Krone, freut sich jedenfalls, dass Kern (Regierung) ihn kopiert. Nun stehen alle rechts. Aber wer ist wer? Auch in der regionären Bewegung weiß man: Es ist alles gefährlich Unübersichtlich geworden. Was also tun? Endlich Grenzen setzen!

Stadtmauer her, Brücke weg

Die KUPF, die es schließlich wissen muss, glaubt auch an das regional Gute, Wahre und Schöne eines begrenzten Konzepts und hat die „regionäre Bewegung“ durch den KUPF Innovationstopf fördern lassen. Die Jurierung des regionären Konzepts fand im Frühjahr statt, wo sich die Regionären im Untergrund aber längst formiert hatten. Die Regionären nutzten die Gunst der Stunde und legten den Grundstein ihrer Bewegung schon im Februar mit dem Abriss der Eisenbahnbrücke zusammen und traten auf der Baustelle als Luther-Blissett-Donald-Trump-Formation in Erscheinung. Weitere Aktivitäten setzten die Regionären bei den Demonstrationen „Lichter für Österreich“ aus dem Umfeld der Identitären, die eine giftige Mischung aus unlogischer Dogmatik, rechter Polemik und kruden Verschwörungstheorien hochkochen. Den Regionären war bei den Demos bald klar, dass selbst die Polizei ihre liebe Not hat: Wer ist hier wer? Wer ist Demonstrant und wer Gegendemonstrant? Exakt bei dieser Unklarheit wollen die Regionären ansetzen. Sie treten für noch mehr Grenzen in den Köpfen und im Stadtraum ein! Die Trennung von Stadt und Land durch das Schleifen der Eisenbahnbrücke war ein erster sichtbarer Erfolg; auch die alte Stadtmauer wieder hochzuziehen, wäre aus Sicht der Regionären eine sinnvolle städtebauliche Intervention, um die Stadt vor einer Invasion von außen zu schützen. Während die Identitären mit dem Identitätsbegriff kämpfen („Identitär kommt von Identität“) haben die Regionären längst politische Forderungen gesetzt, die sich durch fortlaufende und erweiterte Grenzziehungen viel effektiver realisieren lassen. Während die Identitären den „Großen Austausch“ ideologisch beklagen, haben die Regionären schon konkrete Vorschläge für eine „urbane Identität“. Während die Identitären gegen einen Prozess arbeiten, der kein Naturschicksal ist und wo die Österreicher durch geringe Geburtenrate und Masseneinwanderung vom Aussterben bedroht sind, verfolgen die Regionären die Vision einer Welt mit noch mehr Grenzen. Während die Identitären im Rettungsversuch der „österreichischen Rasse“ selbst vor linken Sprachcodes nicht Halt machen: „Wir schaffen Orte der Gegenkultur, identitäre Freiräume und Strukturen der Reconquista!“, handeln die Regionären pragmatisch und wollen Zäune und Mauern zwischen Stadt und Land errichten, wo sich doch ein jeder in die urbanen Sicherheitszonen zurückziehen soll. Stadt muss Stadt, Land muss Land bleiben: Schöne, neue Welt der wirklichen Einfalt.

Konferenz der Begrenzten

Die Stadt als Region, die es noch weiter zu begrenzen gilt. Wo ist der Spaß, wo der Ernst? Die Regionären überhöhen die um sich greifende und begrenzte Identitäts-Mimikry und entlarven diese gefährlichen Tendenzen mit den Mitteln der Kommunikationsguerilla; diese deckt einerseits die Macht und die Funktionsweise der Massenmedien auf, andererseits konterkariert sie destruktive Politiken oft durch Persiflage. Heute werden solche verkehrte Taktiken, wie die Desinformation, neben klassischen auch an sozialen Medien angewandt. Notwendig und aktuell ist das auch, weil die freie Presse von den Rechten zusehends durch das Unwort das Jahres 2014, nämlich im Begriff der „Lügenpresse“, ad absurdum geführt wird. Dem arbeitet die „regionäre Bewegung“ mit Fake und Satire entgegen, um so die reaktionären gesellschaftlichen Kräfte zu entlarven und zu entstellen. Die Regionären ermitteln die Grenzen zwischen Wahrheit und Täuschung, die Grenzen zwischen Theater und Alltag, die Grenzen zwischen ernstem Protest und spaßiger Rebellion. Bei der Konferenz der Begrenzen, die am 14. und 15. Oktober 2016 in der KAPU stattfindet, steht die Präsentation der „regionären Bewegung“ im Zentrum. In unterschiedlichen Formaten wird aufgezeigt, welche Erfahrungen die Regionären im Laufe des Jahres mit ihren begrenzten Aktionen gemacht haben und was sich an den „Grenzen der Satire“ aufgetan hat. Auch darum – so die Regionären – soll es im Jubiläumsjahr von DADA auf der „Konferenz der Begrenzten“ gehen.

 

Eine Anmeldung zur „Konferenz der Begrenzen“ ist möglich unter rb_linz@gmx.at.

„Herausschälen, bis wir halbwegs zufrieden sind“

Mit Ende dieser Spielzeit kehrt Schauspielchef Gerhard Willert der Bühne des Linzer Landestheaters den Rücken und wird im Herbst durch den deutschen Regisseur Stephan Suschke abgelöst. Willert hat mit seinem Schauspielprogramm und seinen eigenen 55 Inszenierungen dem Linzer Theater eine unverwechselbare Note verliehen und das Theaterpublikum auch polarisiert.

Ein Jahr lang will sich Gerhard Willert nach Ende dieser Spielzeit einen Luxus gönnen, den er seit Beginn seiner Funktion in Linz 1998 kaum kannte: Ruhe und Entspannung, um Pläne für die Zukunft zu schmieden. Willert ist in der Nähe von Regensburg geboren und inszenierte unter anderem in Cardiff/Wales, München und Hamburg. 1993 wird er am Schauspielhaus Wien engagiert, für seine Inszenierung von Philip Ridleys Disney-Killer wird er mit der Kainz-Medaille ausgezeichnet. Als Schauspielchef und Regisseur in Linz habe ich Willert als leidenschaftlichen Theatermenschen kennengelernt, der manchmal wahre Theatererlebnisse auf die Bühne gebracht hat. Zu unserem Gespräch treffen wir uns in der Theaterkantine. Während eines verspäteten Mittagessens plant Willert mit seiner Assistentin die nächsten Tage, beide müssen umdisponieren und jonglieren, da dem Autor Christoph Nußbaumeder in seinem Stück Das Wasser im Meer, Willerts letzter Inszenierung in Linz, noch eine „Figur zugewachsen ist.“ Aus dem subjektiven Blickwinkel einer Theaterbesucherin, die seine Inszenierungen geschätzt hat, habe ich anschließend ein – vielleicht nicht objektives – Interview mit Gerhard Willert geführt.

Du siehst dich selbst als einen Theaterjunkie, was tut ein „Süchtiger“, wenn man ihm seinen Stoff nicht mehr gibt, also in diesem Fall die Bühne wegzieht?

Ich ziehe sie mir ja selber weg. Ich möchte jetzt mit dem Intendantenwechsel und bevor ich mich wieder neu orientiere noch in Linz bleiben, ruhiger treten und die Zeit nutzen, um zu lesen und zu schreiben.

Wirst du denn, um bei dem Bild zu bleiben, nicht bald deinen Stoff vermissen?

Ich denke spätestens im Herbst, wenn die Saison wieder beginnt, werde ich die Proben vermissen. Aber nicht allzu sehr, denn wenn ich jetzt schon an einem anderen Ort die neue Spielzeit hätte programmieren müssen, wäre das mit meiner Aufgabe in Linz nicht kompatibel gewesen. Inszenieren kann ich ja, auch ohne Direktor zu sein. Ich strebe jedoch wieder eine Leitungsposition an, allerdings frühestens ab der Spielzeit 2017/18. Ich lass mir Zeit, schließlich will alles gut vorbereitet sein. Bis dahin bleibe ich lieber hier als – wie so viele – nach Berlin oder München zu ziehen.

Hättest du gerne deinen Vertrag verlängert oder siehst du den Intendantenwechsel und deinen damit verbundenen Abschied aus Linz als willkommene Zäsur in deinem Leben?

Es ist eindeutig eine willkommene Zäsur. Das Landestheater hat sich durch das Neue Musiktheater verändert, ich meine das deskriptiv, nicht wertend. Es sind nicht mehr die Arbeitsbedingungen da, die mich interessieren. Da ich selbst keine Lösung für das Dilemma finde, ist es so das Beste. Das ist der Grund meiner Trennung vom Landestheater. Ich hätte außerdem ohnehin nie gedacht, dass ich so lange bleiben würde. Wenn mir jemand vor 18 Jahren gesagt hätte, dass ich 2016 noch immer hier sein werde, hätte ich ihm den Vogel gezeigt.

Wenn du an deine 18-jährige Zeit als Schauspielchef des Landestheaters zurückdenkst, was ist dir in erster Linie gelungen?

Vor sehr vielen Jahren gab mir der große Kollege Patrice Chéreau den Rat: Mach dir keine Gedanken über deinen Stil, das sollen andere tun. Auf deine Frage bezogen heißt das: wenn ich mich jetzt mit einer mittlerweile geflügelten Redewendung frage: „Wos woar mei Leistung?“, so würde ich zum einen sagen Stilpluralismus statt Monokultur, zum anderen aber und vor allem ist es das maximal emanzipierte Ensemble. Ich habe versucht, flache Hierarchien zu schaffen.

Was hättest du noch gerne umgesetzt?

Prinzipiell fällt mir inhaltlich dahingehend nichts ein, außer dass ich einige Stücke noch gerne gemacht hätte, oder um Shakespeares Zettel aus dem Sommernachtstraum zu zitieren: „Lasst mich den Löwen auch noch spielen.“ Baulich betrachtet hätte ich natürlich gerne das renovierte Schauspielhaus, das ich mitgeplant habe, eröffnet, und als kleine intime Spielstätte die Alte Tischlerei. Das eine hat das Denkmalamt verhindert, das andere unser neuer kaufmännischer Direktor. Aber bof … c’est la vie … Und ich habe letztes Jahr das Landestheater in das europäische Theaternetzwerk ETC überführt. Konkret profitieren davon werden jetzt meine Nachfolger, der Hermann und der Stephan, und das ist auch gut so.

Könntest du dich in Zukunft auch in einem anderen Beruf sehen, Gerhard Willert als Autor …

Ja, als Autor durchaus. Allerdings ohne das Theater aufzugeben.

Interessant, denn ich habe Autor eigentlich spontan und beispielhaft genannt.

Da ist dir wohl instinktiv das Richtige eingefallen. Doch, doch, literarisch zu arbeiten würde mich durchaus reizen, aber dazu fehlte mir neben dem Job bisher der Atem, übersetzen ging gerade noch. Ich war diesbezüglich manchmal neidisch auf Joël Pommerat, der beide Berufe zu verbinden weiß. (Anm.: französischer Schriftsteller und Regisseur, den Gerhard Willert für den deutschsprachigen Raum entdeckt und von dem er am Linzer Landestheater vier Stücke inszeniert hat.)

Könntest du dir vorstellen, Stücke zu schreiben?

Sagen wir so: Textsorten. Ich finde zu sagen, ich schreibe ein Stück ist bereits ein falscher Ansatz. Man muss prozesshaft arbeiten, die involvierte Energie muss die ihr adäquaten Formen finden. Wenn das dann aufgeführt wird, ist es ein Stück.

Als Schauspieldirektor eines großen Hauses verfügt man über eine nicht zu unterschätzende Machtfülle, wie bist du damit umgegangen?

Als ich nach Linz kam, war ich mir bewusst, was auch diesbezüglich auf mich zukommen wird. Aber man muss es in der Relation sehen. Seien wir ehrlich, das bisserl Macht über hundert Leute, was ist das schon? Ich bin fast sicher, dass ich da nicht gefährdet bin. Ich habe mich intensiv mit Michel Focault beschäftigt, auch andere Literatur zum Thema gelesen, ich hatte also eine Basis.

Ich hatte bereits Anfang der 1990-er Jahre das Angebot, Schauspielchef zu werden, da hat es mich noch nicht interessiert. Erste Leitungserfahrung hatte ich im Schauspielhaus Wien. Mich hat es an vielen Theatern genervt, wie mit Macht umgegangen wird, da gab es feindliche Lager, viele fühlten sich unterdrückt, die Direktoren agierten manchmal sehr willkürlich, die Regisseure standen in einem Konkurrenzverhältnis zueinander. Ich wollte ein freundschaftliches, kollegiales Klima. Von dieser Mission war ich erfüllt, als ich hierher kam, und es ist mir gelungen, sie umzusetzen.

Muss denn das nicht zwangsläufig Illusion bleiben, denn sobald Menschen miteinander arbeiten, entsteht doch Konkurrenz und daraus resultierend Konflikte. Ist Freundschaft für ein sachliches berufliches Klima nicht sogar eher hinderlich?

Das glaub ich ganz und gar nicht … und die jüngeren Erkenntnisse der Neurowissenschaften bestätigen meine Erfahrung … der Fisch stinkt vom Kopf her. Man kann durchaus mit Schauspielerinnen und Schauspielern arbeiten, mit denen man auch gut befreundet ist. Für mich war das noch nie ein Hindernis, im Gegenteil. Wenn ich einen Menschen sehr gut kenne, kann ich mir viele Worte sparen, ich weiß, wo ich anknüpfen muss, ich erinnere ihn an Situationen, die wir gemeinsam erlebt haben, und derjenige weiß dann genau, was ich meine.

Du hast, wenn ich mich zurück erinnere, öfters Stücke gewählt, die die orientierungslose westliche Gesellschaft des beginnenden neuen Jahrhunderts in den Mittelpunkt rücken, vor allem bei den Inszenierungen von Joël Pommerat, den du sehr schätzt. Gibt es deiner Meinung nach Themen, die aus politischen oder aktuellen Gründen auf die Bühne müssen oder muss dies nicht Aufgabe des Theaters sein? (Anm.: Willert hat beispielsweise knappe drei Monate nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 mit einer spontanen Änderung reagiert und das Stück Drei Wochen nach dem Paradies auf den Spielplan gesetzt.)

Klar, ich lebe ja in der Zeit, das hat alles mit uns zu tun. Doch wir finden die aktuellen Bezüge nicht nur in zeitgenössischen Stücken, wir finden sie auch beim Parasiten Tartuffe, der als Figur sehr aktuell ist, obwohl Molière ihn vor 350 Jahren geschrieben hat. (Anm.: Tartuffe ist noch bis 7. Juli in Willerts Inszenierung in den Kammerspielen zu sehen.)

Du hast, wie gerade angesprochen, einige Stücke gewählt, die sich am Puls der Zeit bewegen. Es gibt andererseits auch die Auffassung, gerade in politisch brisanten Zeiten sollte man in der Kunst Gegenpositionen aufbauen, nicht im Sinne des sogenannten Wahren, Guten und Schönen natürlich, aber dennoch eine Gegenwelt, die neue Räume der Phantasie eröffnet. Wie stehst du dazu?

Sowohl als auch, in der Ausschließlichkeit des einen oder anderen finde ich mich nicht wieder, für mich schließen sich die beiden Positionen nicht aus, sie lassen sich vereinen.

„Auf den Bühnen wagt man keine Grenzgänge mehr. Der Erfolgsdruck entmachtet die Phantasie“, schrieb der mittlerweile verstorbene Schauspieler Peter Kern bereits vor einigen Jahren in der FAZ. Teilst du sein hartes Urteil, hattest du in Linz manchmal den Eindruck, dass der Erfolgsdruck deine Phantasie entmachten könnte?

Nein gar nicht, ich kann diese Haltung nicht teilen. Den Theatern geht’s ja nicht schlecht im Allgemeinen, die meisten sind gut besucht und ich sehe auch sehr viele tolle Stücke. Die in den letzten etwa fünfzehn Jahren entstandenen Missstände liegen primär darin, dass die Subventionen bei nicht wenigen Häusern über das künstlerisch vertretbare Maß zurückgefahren wurden.

Das Theater Bremen beispielsweise hat mittlerweile bei gleichem Output nur noch 19 SchauspielerInnen statt 28 wie früher (wir in Linz haben immer noch 28). Es wurden außerdem aus finanziellen Gründen nur noch junge Schauspielerinnen und Schauspieler engagiert. Wenn Schauspieler wie am Fließband von einer Rolle zur nächsten durch die Spielzeit gehetzt werden, sind sie bald leer und ausgebrannt. Das kann keine Perspektive sein. Aber andererseits: Ich verfolge beispielsweise mit großer Freude die Arbeit von Falk Richter, der einst mein Assistent war. Das ist auch eine Freude, wenn eine Hoffnung, die man in jemanden steckt, aufgeht. Und ein toller Autor ist er auch noch geworden.

Was erwartest du von einer Schauspielerin, einem Schauspieler, mit der/dem du arbeiten möchtest?

Vom Handwerk müssen wir nicht reden, ich gehe davon aus, dass sie ihr Handwerk beherrschen. Mich interessiert an SchauspielerInnen, wie sie denken, ich mag intelligente Schauspielerinnen und Schauspieler, sie sollen sich einbringen, sich nicht verstellen, die spezifische Sensualität eines Textes für sich entdecken. Wobei das Denken und das Fühlen für mich als unbeirrbarer Anhänger von Diderot natürlich untrennbar verbunden sind …

Die sogenannten Figuren, die Schauspieler darzustellen haben, werden schon seit langem in Frage gestellt. Auch in Linz waren Stücke zu sehen, in denen keine Figuren im eigentlichen Sinne verkörpert, sondern eher Stimmen in Szene gesetzt wurden. Einige deiner Inszenierungen haben mich an Partituren erinnert, wenn ich an Das Gipfeltreffen vor acht Jahren denke. Wie schwierig ist die Erarbeitung mit den Schauspielern unter diesen Voraussetzungen?

Der Figurenbegriff ist ja überhaupt schwierig. Ich mag in diesem Zusammenhang eine Geschichte, die man sich über Michelangelo erzählt, recht gerne. Demnach soll er, als er für eine seiner Statuen gelobt wurde, geantwortet haben, er habe die Statue nicht im herkömmlichen Sinne geschaffen oder gemacht, er habe lediglich Überflüssiges aus dem Marmorblock entfernt. So ist es auch im Theater, man entfernt Überflüssiges, bis sich das herausschält, womit man halbwegs zufrieden ist. Es ist ein ständiger Prozess.

Das erfordert allerdings viel Zeit, die Bereitschaft zum Experiment und zur ständigen Auseinandersetzung mit dem Stück, der Regiearbeit und den einzelnen Schauspielerinnen und Schauspielern.

Ja, aber anders will ich es nicht und wollen es auch meine Mitarbeiter nicht. Ich finde, ein Regisseur, der „vom Blatt weg“ inszeniert, ist faul. Das ist nicht mein Ding, wir proben sieben bis acht Wochen lang. Die Zeit dürfen und müssen wir nützen.

Ich kenne Künstlerinnen und Künstler, die lange unter einer schlechten Kritik leiden, wie gehst du damit um?

Da steh ich mittlerweile drüber. Es ist ja die Frage, wer will oder kann wo hinhören und -sehen. Das Niveau von Kritik ist ja weitgehend zu einer Geschmackskritik verkommen, das ist mittlerweile leider austauschbar, das gilt für die Oberösterreichischen Nachrichten genauso wie den Mannheimer Morgen. Wir haben hauptsächlich eine peopleisation.

Um ein aktuelles Beispiel heranzuziehen, es war schon erstaunlich, dass keiner der Kritiker bemerkt hat, dass ich bei Tartuffe laufend Bildzitate verwendet und mit ihnen gespielt habe, warum und wie ich sie eingesetzt habe und was sie an dieser oder jener Stelle aussagen.

Sind die „lebendigen, wilden Theaterzeiten“ deiner Meinung nach vorbei, wenn ich beispielsweise an Peter Zadek oder Hans Gratzer denke, mit dem du auch intensiv gearbeitet hast?

Diese wilden Jahre waren schon eine besondere Zeit, es waren die 68-er und die Folgezeit. Die Regisseure sind mit der Devise „Wir brechen Sehgewohnheiten auf“ angetreten. Der Nachkriegsmief wurde weggeblasen, es wurde das erste Mal der Faschismus thematisiert. Es war enorm turbulent und lebendig, aber diese Art von Aufgeregtheit geht natürlich nicht immer. Schon gar nicht in Zeiten der Post-Histoire und des „anything goes“. Doch heute erweitert sich das Spektrum wieder. Milo Rau ist spannend, um einen Namen zu nennen, er interessiert mich. Aber auch die leiseren Töne zwischen Crimp und Lagarce und Pommerat und Thomas Arzt und Thomas Köck usw. werden wieder gehört …

Du hast dich in Linz mit einer Inszenierung eines zeitgenössischen, damals jungen Autors, nämlich Franzobel vorgestellt, und du verbeugst dich jetzt gewissermaßen mit einer Inszenierung eines Stücks eines jungen Autors, nämlich Christoph Nussbaumeder, von dem bereits einiges am Linzer Landestheater zu sehen war. Ist dieser Bogen bewusst gewählt oder einfach Zufall?

Nein, das ist kein Zufall, so was ist bei mir selten zufällig. Ich wollte auch unbedingt wieder mit einer Uraufführung enden. Ich war ja an der Entdeckung von Nußbaumeder maßgeblich beteiligt. In seinem neuen Stück Das Wasser im Meer (Anm.: 13. Mai bis 22. Juni), das er für uns geschrieben hat, erzählt er eine Geschichte, die an King Lear erinnert. Es geht um den 80. Geburtstag eines Heimatvertriebenen, der noch einmal ins Sudetenland, das Land seiner Kindheit zurückkehren will, um dort zu sterben. An seinem Geburtstag verkündet er seinen drei Töchtern, dass jene, die ihm dorthin folge, in seinem Testament besonders berücksichtigt werde. Christoph hat mit diesem Stück nicht nur ein bislang auf den deutschsprachigen Bühnen immer noch weitgehend tabuisiertes Thema angepackt. Er verknüpft es auch mit der aktuellen Flüchtlingsthematik. Sein Text ist für mich wie ein Geschenk. Nicht zuletzt, weil mein eigener Vater aus Mähren stammt.

Welche prägende Erinnerung an Linz wird dich immer begleiten?

Nicht die eine. Das letztlich Prägende sind die Kolleginnen und Kollegen, der Geist, die gute Atmosphäre, die hier herrscht. Ich wollte von Anfang an beweisen, dass es so geht, wie ich es mir vorgestellt habe, und das ist gelungen. Und nicht zuletzt: Das so vielgestaltige Publikum ging unsere verschlungenen Wege mit zunehmender Begeisterung mit. Ich gehe also mit Wehmut, das schon, aber ich gehe froh.

Seebühnen-Superlativ

Im Mikro- und Makrokosmos rund um das Salonschiff Florentine hat sich das „Institut für erweiterte Kunst“ eine neue Seebühne für Linz ausgedacht: Eröffnet wird im Laufe des Sommers. Tanja Brandmayr hat Hannes Langeder getroffen, um mit ihm über das Ereignis zu sprechen. Und hantelt sich über mehrere IFEK-Stationen, bzw. zuerst auch über Langeders Oeuvre zum neuen „Operettenmekka“.

Das „Salonschiff Fräulein Florentine“ ist Linzerinnen und Linzern bestens bekannt. Es ist Nachfolge-Lokalität des „Rothen Krebsen“. Man trat nach dem schlimmen Hochwasser, das das alte Lokal 2014 zerstörte, gleich die Flucht nach vorne an: Seitdem lagern Gastronomie direkt am Wasser und das Schiff Florentine wird außerdem als Veranstaltungsort vom „Institut für erweiterte Kunst“ bespielt. Anlass des Treffens mit Hannes Langeder, einer der drei Köpfe von Florentine und IFEK, neben Sabine Stuller und Bert Zettelmeier, ist die Erweiterung des Schiffs um eine Seebühne. Da man die Seebühne seitens des offiziellen IFEK-Vertreters vollmundig als „neues Operettenmekka“ samt Seefestspielen und Serafin hinausposaunt, soll an dieser Stelle mit vertrauensbildenden Maßnahmen begonnen werden, die die spezielle musikalische Leidenschaft und Befähigung belegt.

Die Linzer Philharmonie

Die Linzer Philharmonie entstand im Jahre 2000 aus den Protestmärschen zu Schwarz/Blau, wo aus geplanten 40 TeilnehmerInnen „plötzlich eher 1000“ wurden, so Hannes Langeder. Die Philharmonie war ein künstlerisches Statement, das den Donauwalzer Die schöne blaue Donau im Programm hatte, natürlich schräge Töne inklusive. Sie wuchs im Laufe der Jahre an teilnehmenden Personen und an Repertoire. Man nahm andere Anlässe, etwa die Einführung der Studiengebühren, um sein Programm zu erweitern, wofür Mozarts Requiem passend erschien, inkludierte bald einen Chor und ein Ballett, stellte etwa innerhalb eines Monats, also in einer Art rapiden Operettenglückseligkeit Die Fledermaus auf die Bühne. Wobei zu keinem Zeitpunkt das „richtige“ Spielen angesagt war, sondern man war im Gegenteil bestrebt, die Herausforderung ständig voranzutreiben um „nur nicht zu gut zu werden“, sprich: man nahm sich Unmögliches vor um den Dilettantismus am Leben zu halten. Überforderung als Lebenskonzept, Speed kills: Die Linzer Philharmonie bestand jedenfalls bis ins Jahr 2007 – bis zum selben Jahr, in dem Jörg Haider verunglückte, wie Langeder anmerkt. Langeder stellte dann noch eine Münze her, die „Linzer Philharmonikerin“, die damals größte Sammelmünze der Welt, deren Rekord allerdings mittlerweile von den Wiener Philharmonikern und einer kanadischen Münze, die stolze 50 cm Durchmesser aufweist, gebrochen wurde. Deshalb hat Langeder derzeit locker in Planung, das Münz-Rennen wieder aufzunehmen und eine Neuauflage der „Linzer Philharmonikerin“ in Lebensgröße herzustellen, die letzten Endes, nach bisheriger Schätzung, zwischen sechs und zehn Tonnen wiegen würde … und „deshalb auch nicht mehr so leicht zu stehlen sei“. Vielleicht ein passendes, maskottchenhaftes Großschmuckstück für die Seebühne, zu der wir später noch kommen werden.

Einsprengsel Luxuskarossen

Wir nehmen Langeders Sinn für den Wettstreit, sprich beispielhaft das Wettrennen ums größte Münzobjekt mit in dieses Kapitel. Und ich möchte anmerken, dass der Unfalltod Jörg Haiders Hannes Langeder eventuell mehr beschäftigt hat, als er vielleicht zugeben möchte. Jedenfalls kamen nach 2007 für Langeder die schnellen Autos: zuerst der Porsche, dann der Ferrari (und dazwischen noch ein Luxusmobil, was aber hier zu weit führen würde). Nun ist die Story über die Luxuskarossen, zum Beispiel dem Fahrradi Farfalla allseits recht gut bekannt: Der Fahrradi ist ein nachgebauter Ferrari, allerdings ausgehöhlt und als technologisches Ersatz-Wunderwerk-Innenleben mit einem per-pedes-Tretantrieb versehen. Dazu ist derzeit Hannes Langeders Teilnahme mit dem Fahrradi bei der weltweit größten Automesse, der IAA in Frankfurt, als dokumentierender Ausstellungbeitrag im Linzer Salzamt zu sehen. Was aber hier mitgenommen werden soll, ist, dass Langeders Interesse darin besteht, aus dem direkten Kunstkontext immer wieder hinauszuweisen, etwa, indem Geschichten über die Kunst auf der internationalen Automesse oder auch bei Top Gear erzählt werden, oder umgekehrt, in einem Rückfluss in die Kunst dann Geschichten übers Autofahren oder, wie Hannes Langeder anmerkt, über einen „Superlativ der Unvernunft“ zu bringen. Wesentlich dabei ist die künstlerische Strategie der Mimikry – also der Nachahmung und der Täuschung – die nicht nur das Objekt selbst betrifft, also das schnelle, sexuell konnotierte, prestigebeladene Auto den Fahrradi im Betrieb zu einem gemächlichen, charmanten und insgesamt gefahrloseren Objekt macht, das bestaunt wie belächelt durch die Straßen manövriert ist, sondern die Kommunikation über das Auto selbst. Hier wurden die camouflageartig gewendeten Bedeutungsebenen des Extraordinären und Gewöhnlichen großzügig von der internationalen Presse aufgenommen, was konkret heißt, dass der Fahrradi von USA bis Asien, von ZDF bis internationale Luxusmessen großzügigst rezipiert wurde, und mit dem Internet fangen wir hier gar nicht an. Bemerkenswert bei der ganzen Sache ist das Lernen über die Medien, das mit Langeder gesprochen, ungefähr so vonstatten geht: eine gute Geschichte erzählen, auf Anfrage drei schnelle Fakten liefern, und dann die Sache ihren eigenen Weg gehen lassen, was sie sowieso macht, denn ab hier ist nichts mehr kontrollierbar. Rückkoppelnd auf die Seebühne: Hier wurde dementsprechend angewendet, und die Ankündigung des Hypes wurde bereits selbst zum Projekt und zur guten Geschichte, die allerdings über die Medien erzählt, die gute Geschichten bringen müssen, zum Beispiel über Seefestspiele: Die Eröffnung wurde angekündigt, samt Teilnahme von Harald Serafin. In einem Hochglanz-Lifestyle-Magazin, das wir hier nicht nennen müssen. Und wir nehmen außerdem mit in die nächsten Kapitel: den Sinn für die Komik eines Superlativs der Unvernunft, für eine künstlerische Mimikry, für surreale Größen- und Bedeutungsverschiebungen.

Die Kunsthalle

Die Kunsthalle Linz, die zum einen am Florentine-Anlegeplatz eine 24-hours-open-Kunstbespielung im öffentlichen Raum darstellt, zum anderen mit zwei weiteren White-Cube-Modellen mobil durch Europa unterwegs ist, stellt im Gegensatz zum Superlativ der Unvernunft eine Art geschrumpftes Maximum an Möglichkeiten dar (und dann natürlich wieder die Eröffnung eines größeren Denk- und Handlungsraums). In ihrer Miniaturisierung des eigentlichen Kunst-White-Cubes bildet die Kunsthalle sämtliche Prozesse und Verhaltensweisen im System Kunst ab – zum Beispiel: der Raum und die jeweilige Ausstellung wird kuratiert, Künstlerinnen werden beauftragt, eine Schau wird im Raumkonzept umgesetzt, angekündigt, vor zahlreichem Publikum mit einem Redner, einer Rednerin eröffnet, etc. Man kann also sagen, dass die Kunst, die in der Kunsthalle Linz in einem Würfel mit Seitenlänge von etwa 40 cm der „kleinste Teil“ ist – während es um eine Handhabung des kleinen Raums als großer Raum geht, samt der Rituale, die regulär vonstattengehen. So gesehen erzählt die Kunsthalle Linz die Geschichte vom Ritual der Kunst – und macht ganz nebenbei vier bis fünf Ausstellungen pro Jahr. Zuletzt war Eva Kadlec mit ihrer Schau „Teen Spirit“ zu sehen. Was die derzeitigen Kuratorinnen Claudia Keil und David Wittinghofer für heuer noch auf dem Plan haben, sei auf den Netzseiten der Kunsthalle nachzulesen oder direkt auf der Donaulände herauszufinden. Jedenfalls ist außerdem auch die „Kunsthalle Linz Export“ derzeit im Salzamt zu sehen, und hier zeichnen besonders Julia Hartig und Marie Therese Luger für das IFEK verantwortlich.

Aber zurück zur Mimikry, beziehungsweise zum Spiel mit den Verschiebungen von Größen und Bedeutungen: Es ist nur konsequent, dass das Spiel der Größenverhältnisse selbst Teil des Kunstwürfels geworden ist – so hat man in einem bereits vergangenen Projekt das komplette, miniaturisierte Gebäude des MoMAs zum Kunstobjekt der Kunsthalle gemacht, und das ganze Museum selbst im Querschnitt nach vorne geöffnet, mit seiner damals im MoMA laufenden Ausstellung präsentiert. Die Kunsthalle Linz also als ebenso charmante wie kritische Erzählung, über das große Ganze, aber zum Beispiel auch über die nicht unwesentlichen Details. Etwa darüber, dass im regulären, großen, bedeutsamen Kunstbetrieb oft keine Honorare gezahlt werden (was meint: Null Euro) und man hier zumindest in einer Art ökonomischen Gegenkonzept zum regulären Betrieb Honorare im zweistelligen Bereich zahlen kann – Anerkennung sozusagen.

Als kritische Stellungnahme kann die Kunsthalle Linz aber auch verstanden werden als Statement über Ausstellungsraum-Gebilde, die selbst künstlerische Strategie sind. Damit soll auch darauf hingewiesen werden, dass in Linz „offensiver Produktions- und Ausstellungsraum fehlt“. Hannes Langeder bezeichnet es als vertane Chance, dass man die Potentiale an den großzügig in Linz vorhandenen bildnerischen Zusammenhängen nicht besser nutzt – und das ist durchaus auch verwertungstechnisch gemeint. Hier würde eine größer angelegte Raumnahme durchaus vielversprechend sein. Dass Raumnahme in der Historie der Kunsthalle ein nicht unwesentlicher Faktor ist, dafür kann als verrücktes Paradoxon fast folgender Gründungsmythos herhalten: So versuchte man als IFEK einst in der Tabakfabrik Fuß zu fassen, ein ehemaliges Fabriksgelände mit 80.000 m² mitten in Linz. Man betrieb dort eine Gastronomie und stand vor dem Problem, dort aber mit der Kunst im vielen Platz keinen Raum zu finden: Die Kunsthalle entstand, damals schon neben dem Gastgarten ausgestellt. Durchaus auch als Raumaneignung. Die wir ins letzte Kapitel mitnehmen.

Die Seebühne

Die Seebühne soll sich im Laufe des Sommers schön langsam an den Ufern der Donau etablieren, sie soll gewisserweise in ihrem flexiblen Modulsystem nach und nach vorhanden sein.

Es sein angemerkt, dass neben der Praxis der künstlerischen Strategien der Mimikry, der Camouflage- oder listigen Troja-Taktik zahlreiche Ausstellungen und Veranstaltungen von Literatur bis Musik auf der Florentine stattfinden. Es sei angemerkt, dass auch eine Seebühne ein Ort der Produktion, Ausstellung und Aufführung sein kann – eine natürliche Tribüne sieht man in Form der Böschung bereits vorhanden. Und zusätzlicher Raum schafft zusätzliche Möglichkeiten, was wiederum sämtliche Wünsche und Bedarfslagen hinsichtlich eines größer und offensiver angelegten Kunstkonzepts aufgreift. Nebenbei pflegt man mit IFEK und auf der Florentine auch die geselligen Formen des Zusammenseins, die potentiell ebenso in einen Außenraum wandern könnten: Es gibt zum Beispiel Barspiele oder eine vitale 20er-Jahre-Swing-Tanzszene, die sich hier regelmäßig trifft.

Die Seebühne befindet sich also in der Phase der Etablierung. Zu diesem Zeitpunkt kann gesagt werden, dass dort alles mögliche passieren kann und wird, was Raumnahme erst möglich macht, wenn Raum vorhanden ist: mindestens ein neues Operettenmekka, Seefestspiele inklusive.

Und die Bühne wäre kein IFEK-Projekt, wenn sie nicht selbst im paradoxen Gegensatz stehen würde: Denn während man seitens IFEK wegen der schrittweisen Etablierung erstmal ein „leises Vorhandensein der Bühne“ sieht, steht dieses leise Betreten der Bühne selbst im merkwürdigen Gegensatz zur spektakelhaften Ankündigung, die ja schon erfolgt ist. Aber immerhin: Mit der richtigen Prominenz im Gepäck steht dem Erfolg nichts im Weg, Namen öffnen schließlich Türen, wie wir wissen. Und, um zu Serafin, den Seefestspielen und zur großen Bühnenkunst zurückzukommen: Patrik Huber scharrt auch schon in den Startlöchern. Wir sind gespannt auf einen Zirkus mehr!

Die schmutzigen Seiten unserer High Tech Welt

Haben wir die Kontrolle über die digitale Infosphäre verloren? Art Meets Radical Openness (AMRO), das Linzer Festival für Kunst, Hacktivismus und Open Source will’s wissen. Anna Masoner war dabei und berichtet.

Verewigte Daten von Audrey Samson. Foto Die Referentin

Verewigte Daten von Audrey Samson. Foto Die Referentin

Alle zwei Jahren kaufen wir uns in Europa oder den US im Schnitt ein neues Smartphone. Und dann kommen bei der einen oder dem anderen je noch diverser Firlefanz wie Tablet, Fitnesstracker oder Computer und Kamera dazu. Dieser Rhythmus kommt nicht nur zustande, weil diese hochgezüchteten Konsumgüter so schnell kaputt gehen – sie werden gekauft, sobald ein neueres, schnelleres, glänzenderes oder batteriestärkeres nachkommt. Wohin dann mit dem an Edelmetallen vollgepackten Schrott? Womöglich auf Müllhalden oder in ganze Müllstadtteile in Afrika, Indien oder China. Aber egal. Hauptsache wir decluttern und machen Platz für Neues. Laut UN haben wir es allein 2014 weltweit auf 46 Millionen Tonnen Elektroschrott gebracht.

Diesen materiellen Schattenseiten unserer digitalen Hochglanzwelten widmete sich das Linzer Community Festival Art Meets Radical Openness. Von der Kulturinitiative servus.at (vor allem von Ushi Reiter) initiiert, will sich AMRO als Treffpunkt rund um die Kultur des Teilens und gemeinschaftlichen Produzierens etablieren. Es zieht Künstler_innen ebenso an wie Entwickler_innen, Hacktivist_innen und Weltverbesser_innen. Mit dem heurigen Titel Waste(d)! sind aber nicht nur die materiellen Manifestationen gemeint, sondern auch die weniger greifbaren. Denn die überflüssig gewordene Hardware ist ja nur der Träger unserer digitalen Wunderwelten, die wir minütlich updaten können, die uns aber zunehmend entgleiten: „Längst haben wir Kontrolle darüber verloren, welche Informationen wir bewusst und unbewusst produzieren. Der Akt des Sicherns, Löschens oder Wiederbelebens von Daten und Information hat sich verselbständigt, ist überwacht, monetarisiert und verbraucht wertvolle natürliche Ressourcen“ heißt es im Programmtext. Kernstück und Startpunkt des Festival ist die Ausstellung „Behind the Smart World“ im Kunstraum Goethestraße, die 17 KünstlerInnenpositionen versammelt.

E-Waste in Afrika

Rußig qualmende Feuerstellen, dazwischen Erwachsene und Kinder die Unförmiges tragen oder heben. Typische Bilder aus Agbogbloshie, einem Stadtteil der Millionenmetropole Accra im westafrikanischen Ghana. Bekannt ist der Slum als riesige Müllhalde, als gigantischer Schrottplatz. Was in Europa, oder in den USA kaputt geht, landet illegalerweise hier: PCs, Festplatten, Smartphones. Sie werden entkernt, mit giftigen Chemikalien behandelt. Denn das Kupfer und andere Metallteile sind viel wert. Agbogbloshie hat jedoch auch als Umschlagplatz für Daten Schlagzeilen gemacht. Internetbetrüger besorgen sich gebrauchte Festplatten, untersuchen sie systematisch auf Programme und persönliche Daten ihrer Vorbesitzer um diese damit zu erpressen.

2014 verbringt das Künsterduo KairUs (Linda Kronman & Andreas Zingerle) einen Monat in Westafrika. Die beiden wollen die brutalen Lebens- und Arbeitsbedingungen vor Ort mit eigenen Augen sehen und herausfinden, wie leicht man in Agbogbloshie an auf Festplatten gelagerten Datenmüll kommt. Es ist sehr leicht, wie sich herausstellt.

Zwei bis drei Euro ist so eine Festplatte auf der Müllhalde wert. Mit 22 Stück im Gepäck kehren die beiden nach Österreich zurück, dort werden die Festplatten gemeinsam mit anderen Künstlern und Datenforensikern untersucht: Dabei stoßen KairUs auf zum Teil sehr private Daten: E-Mails, Passwörter, Kreditkartennummern, Browserhistorie oder private Fotos von Familienfeiern oder Partyselfies. Aus der Beschäftigung mit den Daten ist die Ausstellung „Behind the Smart World“ entstanden. KairUs haben andere Künstler gebeten, sich ebenfalls Gedanken über die mehr als 80 Gigabyte an gefundenen Daten zu machen.

Festplattensound, Datenpaket und Künstlerin mit Gasmaske

Bei Joakim Blattmann wurde aus den Daten eine mehrkanalige Soundinstallation. Er sampelte und verfremdete Ausschnitte von Audio- und Videodateien, die er auf den Ghana Festplatten fand. Martin Reiche verwendete die Daten für die Live-Installation „Shell Performance“. Automatisiert generiert ein Programm immer neue Bilder und Zeichenfolgen aus den vorliegenden Daten.

In der Mitte der Ausstellungsraumes findet sich auf einer Säule ein gelbes Paket, darin eine der Festplatten aus Ghana, deren Besitzer Linda Kronman und Andreas Zingerle ausfindig machen konnten: „Wir kennen den Mann sehr gut, weil wir zwei Jahre lang alle seine Fotos angesehen haben. Wir wissen sehr genau, wo er lebt, in welche Bars er geht und welche Freunde er hat.“

Noch sind sich die beiden Künstler unschlüssig, ob sie das Paket wirklich abschicken sollen. „Wir möchten mit ihm Kontakt aufnehmen um herauszufinden, über welche Umwege diese Festplatte von London nach Westafrika gelangt ist“. Sie wollen dabei niemanden vorführen, vielmehr Spuren nachzeichnen, die wir digital aber auch ganz materiell hinterlassen. Und sie wollen zeigen, wie schwer es ist, unsere Datenspur dauerhaft loszuwerden.

Lieber als ihren e-waste nach Afrika verschiffen zu lassen, hantiert die in Hong Kong lebende Künstlerin Audrey Samson gleich selbst mit giftigen Chemikalien. Sie bietet einen Einbalsamierungsservice für nicht mehr gebrauchte Festplatten und Mobiltelefone an. Vor den Augen ihrer ehemaligen Besitzer gießt sie die nicht mehr benötigte Technik in flüssiges Kunstharz. Die öffentliche Daten-Beerdigung sei laut Künstlerin die einzige sichere Methode um seinen digitalen Fußabdruck loszuwerden. Und auch die schönste. Die obsolete Technik transformiert Audrey Samson in schmucke Lampen, die von der Decke baumeln.

Workshops mit Tactical Tech Collective

„Kennt ihr den Unterschied zwischen http und https?“ Ich platze in einen Workshop des Berliner Aktivisten Kollektivs Tactical Tech Collective. Ling Luther und Fieke Jansen wollen dazu animieren, sensibel mit seinen Daten umzugehen. Auf einem langen Tisch liegen bunte Karten mit denen wir erst mal das Internet ganz plastisch nachbauen. Die internationale AktivstInnentruppe hat sehr viel Erfahrung, auch komplizierte Dinge wie Anonymisierungssoftware und Kryptographie runterzubrechen und ganz alltagsnah zu erklären. Sie trainieren Blogger und Aktivisten auf der ganzen Welt, gern in Ländern wie dem Iran, China und Vietnam. Das Tactical Tech Collective zeigt aber nicht nur, wie man dem Staat das Überwachen erschwert, sondern wie man sein Leben „ent-googelt“ oder seinen Internetbrowser so konfiguriert, dass er nicht unerwünschte Informationen an kommerzielle Datensammler weitergibt. Die beiden Aktivistinnen wollen zeigen, dass Widerstand gegen die allumfassenden Datenerhebung und -analyse nach wie vor möglich ist und der Kampf um Privatsphäre, Netzneutralität, quelloffene Software und Kryptografie kein vergebliches Projekt.

Lästige Bots aus Kunststoff und Silizium

Unter Bots versteht man im Internet kleine Programme, die in sozialen Netzwerken automatisch posten. Spammer nutzen sie gern um lästige Werbung oder um politische Propaganda zu verbreiten. Die Bots des Mediendesigners César Escudero Andaluz sind da schon viel greifbarer. Sie sehen aus wie kinderhandgroße Insekten, die gern auf Tablets herumsitzen. Mit einer Art Rüssel, einem leitfähigen Stück Kunststoff, wischen sie solange drauf herum, bis ihre Batterie aus ist und bewegen sich zufallsgesteuert durch diverse Apps. Sie öffnen und schließen Apps, clicken sich durchs Ebay-Sortiment, machen Fotos oder posten wirres Zeug. Sie erzeugen damit ein Rauschen im System, digitale Spuren, die Tracker und DatenanalytikerInnen auf die falsche Fährte führen sollen. Weil Escudero an einer kleinen, weltumspannenden Armee dieser Interaktionsmaschinen arbeitet, baut er sie aus einfachen elektronischen Bauteilen in Workshops gemeinsam mit anderen. Praktischer Nebeneffekt: wer es vorher noch nicht konnte, lernt dabei, einen Lötkolben verletzungsfrei zu bedienen.

„There is no cloud, just other peoples computers“

An diesen Spruch, den die Free Software Foundation auf T-Shirts und Sticker druckt, muss ich bei der Lecture der beiden italienischen Künstler Alessio Chierico und Vincenzo Estremo denken. Mit einem kleinen Ausflug in italienischen Manierismus und Barock zeigen sie, welchen Rattenschwanz an Bedeutung die Wolkenmetapher im Marketingsprech des Informationszeitalters nach sich zieht. In den Malereien des 18. Jahrhunderts galt die Wolke als Symbol des allgegenwärtigen, allwissenden Gottes. Heute wird damit gezielt verschleiert, dass Daten in riesigen Datenzentren meist US-amerikanischer Firmen gehegt und gepflegt werden. Gigantische Serverfarmen, die an Ort und Stelle eine Menge Energie verbrauchen. Als Nutzer von Clouddiensten geben wir Daten in fremde Hände. Die Kontrolle darüber ist nicht mehr garantiert.

 

Das dreitägige Festival „Art Meets Radical Openness“ ist am 28. Mai zu Ende gegangen. Die Ausstellung „Behind the Smart World“ ist noch bis 10. Juni im KunstRaum Goethestrasse zu sehen.