ahoi joella!

Herbert Bayer (1900–1985) gilt als Inbegriff des modernen, universellen Künstlertyps. Mit der Schau Herbert & Joella Bayer rückt das Lentos sein Bayer-Archiv in den Mittelpunkt, das zu den größten Sammlungen dieses aus Oberösterreich stammenden Universalkünstlers in Europa zählt – und beleuchtet das gemeinsame Wirken mit seiner Frau Joella. Florian Huber gibt eine Vorschau auf die Ausstellung, die Ende September eröffnet.

1932 fertigt der 1900 in Haag am Hausruck und 1985 im kalifornischen Montecito verstorbene Herbert Bayer ein Selbstporträt, das heute zu den Ikonen der Fotogeschichte zählt. „Der Künstler reflektiert ganz selbstverständlich sowohl das Sichtbare als auch das Unsichtbare, er ist der Spiegel, in dem man sieht, was ohne ihn unsichtbar bliebe. Er dient als ein Medium, das mit großer Sensibilität eine Umwelt wahrnimmt und durch sein Talent Gesehenes und Erlebtes auszudrücken und zu übermitteln vermag“, bemerkt Bayer 1967. Das zerstückelte Porträt des Künstlers als junger Mann verkörpert exemplarisch den mit der Moderne verbundenen Orientierungsverlust und seine Herausforderungen für den künstlerischen Schaffensprozess: „Das Mosaik unserer Bildaussagen setzt sich heute aus vielen fragmentarischen Behauptungen von großer Vielfalt und Gegensätzlichkeit zusammen. Eine umfassende Konzeption bei der Suche nach Wahrheit und Ordnung lässt sich in der Kunst insgesamt nicht feststellen, die Erprobung aller visuellen Möglichkeiten könnte aber zu einer neuen Synthese und damit zur Entwicklung sinnvoller bildnerischer Ausdrucksformen führen.“ Dementsprechend zeichnet sich Bayers Werk seit jeher durch eine enorme Diversität der künstlerischen Mittel aus, „denn der Antrieb des Künstlers liegt nicht in seinen früheren Leistungen, sondern im Gedanken des ,Werdens‘ und im schöpferischen Akt selbst.“

Von diesem Anspruch zeugt auch eine aktuelle Ausstellung im Lentos Kunstmuseum Linz, das mit über 200 Werken über eine der international bedeutendsten Bayer-Sammlungen verfügt. Dieser Umstand verdankt sich nicht zuletzt dem Engagement des früheren Museumsdirektors Peter Baum (*1939) und mehrerer Stiftungen Herbert Bayers und seiner zweiten Ehefrau Joella (1907–2004), die in der von Elisabeth Nowak-Thaller kuratierten Retrospektive bereits im Titel adressiert wird. Während die letzte, umfassende Bayer-Schau des Lentos (ahoi herbert!; 2009) sein Werk vor allem im Kontext einer Kultur- und Kunstgeschichte der Moderne verortete, verdeutlicht die aktuelle Präsentation die herausragende Bedeutung von Bayers familiärem Umfeld und seiner Liebesbeziehungen für das berufliches Fortkommen und seinen Nachruhm. Joella Bayer erschloss dem Universalkünstler durch ihre vorangegangene Ehe mit dem prominenten, amerikanischen Galeristen und Kunsthändler Julien Levy (1906–1981) ein neues, auch zahlungskräftiges Publikum und wirkte zudem als Managerin, Promoterin und wichtige Beraterin des Künstlers. Darüber hinaus widmet sich die von Nicole Six und Paul Petritsch gestaltete Schau auch seiner ersten Ehe mit der Fotografin Irene Bayer-Hecht (1898–1991), die Bayer zu eigenen Arbeiten inspirierte und zugleich als Dokumentaristin seines umfängliches Oeuvres fungierte, sowie seiner Beziehung zum Weimarer Bauhaus in Gestalt seiner mehrere Jahre andauernden Liaison mit Ise Gropius (1897–1983).

Die Ausstellung zeigt dabei nicht nur Gemälde, Fotografien und Skulpturen aus allen Schaffensphasen Bayers, sondern führt anhand neuer Materialien auch seine Tätigkeit als Typograph, Designer, Architekt und Landschaftsgestalter vor Augen. Ein besonderer Schwerpunkt gilt dabei Bayers Pionierarbeiten auf dem Gebiet der Ausstellungsgestaltung sowie Werbe- und Gebrauchsgrafik, denen er ab 1925 als Leiter der Werkstatt für Druck und Reklame des Bauhaus Dessau und ab 1928 als künstlerischer Leiter der Werbeagentur Studio Dorland in Berlin nachging. Ab 1933 gestaltete Bayer auch mehrere Ausstellungen für das NS-Regime wie „Deutsches Volk – Deutsche Arbeit“ oder „Das Wunder des Lebens“, deren modernes Erscheinungsbild zentrale Inhalte nationalsozialistischer Ideologie wie Volksgemeinschaft, Rassenhygiene oder Antisemitismus vermitteln und popularisieren half. Trotzdem wurden 1937 mindestens zwei Werke Bayers für die Ausstellung „Entartete Kunst“ beschlagnahmt, was ihn gemeinsam mit dem so genannten Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich 1938 zur Ausreise in die USA bewog. Auch in der neuen Umgebung konnte Bayer seine bereits zum damaligen Zeitpunkt beachtliche Karriere als international gefragter Designer fortsetzen, was sich nicht zuletzt den Bemühungen von Joella verdankte. Angesichts der vorangegangenen Kollaboration mit dem NS-Regime irritieren besonders offizielle Aufträge für Ausstellungen für das US Office of War in den Jahren 1942 und 1943 oder der Umstand, dass Bayers sein ästhetisches Programm offenbar weitgehend unabhängig von seinen jeweiligen Auftraggeber*innen oder politisch-ideologischen Erwägungen verfolgte, wie die neue Ausstellung durch die Gegenüberstellung der Arbeiten der Zwischenkriegszeit und der amerikanischen Jahre sichtbar werden lässt. Obwohl Bayer etwa mit seinen Architekturarbeiten im kalifornischen Aspen auch Prominenz als Landschaftsplaner und innovativer Gestalter des öffentlichen Raums erlangte, mangelte es ihm, der sich „in erster Linie als Maler“ verstanden wissen wollte, womöglich an kritischem Bewusstsein für die gesellschaftspolitische Dimension seiner künstlerischen Arbeit. Auch andere Arbeiten für den öffentlichen Raum, wie etwa der 1977 für das Forum Metall in Linz entstandene Brunnen vor dem Brucknerhaus stehen in merkwürdigem Gegensatz zu seiner weitgehenden Indifferenz gegenüber den revolutionären Ansprüchen und pädagogischen Visionen, die etwa seine engen Weggefährt*innen aus Bauhaus-Tagen wie Ise und Walter Gropius (1883–1969) oder Annie (1899–1994) und Josef Albers (1888–1976) in Theorie und Praxis verfolgten.

Nicht zuletzt in diesem Zusammenhang lohnt der genaue Blick auf Joella Bayer, den die Ausstellung ermöglicht. Schließlich war ihre Mutter Mina Loy (1882–1966) nicht nur eine von Gertrude Stein (1874–1946) oder T. S. Eliot (1888–1965) geschätzte Dichterin, die mit ihrem 1914 entstandenen und zu Lebzeiten unveröffentlichten Feminist Manifesto einen Schlüsseltext der Frauenbewegung hinterließ. Welchen konkreten Einfluss die als Künstlerin und Intellektuelle mit dem italienischen Futurismus und dem französischen Surrealismus eng verbundene ausübte, zählt zu den möglichen Fragestellungen künftiger Bayer-Forschung, die das Lentos nicht nur mit der aktuellen Retrospektive anregt. Anlässlich der Ausstellung wurde der Bayer-Bestand des Museums digital erschlossen und steht nun auch auf der Website allen Interessierten zu Recherchezwecken zur Verfügung. Darüber hinaus bietet eine internationale besetzte, wissenschaftliche Konferenz im Oktober auch Anlass zur Diskussion neuer Forschungsansätze, was den mit Bayers Kunst verbundenen Akteur*innen und Werken hoffentlich auch in Oberösterreich zu nachhaltiger Sichtbarkeit verhelfen wird.

Lentos Kunstmuseum
Herbert & Joella Bayer
Eröffnung: Do, 29. Sept, 19 h
Von 30. Sept 2022 bis 8. Jänner 2023

Bayer-Symposium:
Freitag, 07. Okt, 10:00–13:00 h
Mit Vorträgen u. a. von Gwen Chanzit, James Merle Thomas, Lynda Resnick, Patrick Rössler, Nicole Six und Paul Petritsch, Bernhard Widder, Irene Wögerer.
www.lentos.at

Zur Ausstellung 2009 ist ein Katalog erschienen:
ahoi herbert! – bayer und die moderne
Lentos Kunstmuseum Linz
ISBN: 978-3-900000-06-6
Verlag Bibliothek der Provinz

Museum under de/construction.

Die Ausstellung What the fem? Feministische Interventionen & Positionen 1950 –2022 lässt sich auf ein kuratorisches Experiment ein und fragt: Was, wenn eine Ausstellung nicht zur Vernissage, sondern zur Finissage fertiggestellt ist? Kuratorin Klaudia Kreslehner und Karin Schneider, Leiterin der Kunstvermittlung, über den Arbeitsprozess an der im November im Nordico eröffnenden Ausstellung What the fem?

Was, wenn eine Ausstellung einen Prozess initiiert und sich dafür interessiert, diesen auch zu zeigen? Und wie geht man damit um, wenn immer neue Fragen und neue Diskussionen auftauchen? Interessant im Fall von What the fem? ist, dass die Idee, Kuratieren auch als partizipativen Prozess zu sehen, nicht wie in anderen Ausstellungen von unserer Seite initiiert wurde. Vielmehr wurde uns erst in der Auseinandersetzung mit feministischen Aktivist*innen und Initiativen klar, wie notwendig dieser ist. Damit zeigt sich hier eine generelle Einsicht: Prozessuales, kollektives, partizipatives oder offenes Arbeiten an konfliktbeladenen Themen ist die Basis dafür, diese Themen überhaupt durchdringen zu können. Wir stehen am Anfang, in diese Richtung zu denken und wir teilen hier diese Gedanken aus der ersten Reflexion der Debatten der letzten Monate heraus. Es könnte sein, dass wir hier Erfahrungen machen, die Auswirkungen auf das Selbstverständnis eines Stadtmuseums und die Vorstellung des Kuratierens haben. Da es sich hier um echte Lernerfahrungen unsererseits handelt, beinhalten diese auch Momente der Erschütterung, Selbstbefragung und des Ver-lernens. Wir halten dies für produktiv, ohne den Ausgang zu kennen. Eine vom Stadtmuseum ausgehende Ausstellung über Feminismus in Linz bedeutet auch, politische Kämpfe, deren Konflikte und Selbstverständnisse zum Thema zu machen, nicht nur deren Geschichte, sondern vor allem deren Gegenwart. Damit ist die Frage, wer die Geschichte(n) und Gegenwart dieser Aktivismen erzählt und wie sie erzählt werden, faktisch bereits Thema der Ausstellung. Als wir die ersten Rechercheanfragen an feministische Aktivist*innen in Linz stellten, fanden wir uns in Gesprächssituationen wieder, die uns in unserer gängigen Museumspraxis herausforderten.
In diesen Auseinandersetzungen verstanden wir immer klarer, wie problematisch es gerade bei diesem Thema ist, dass es eine „Stimme der Kuratorin“ gibt, die über andere erzählt und sich selbst nicht zeigen und definieren muss; während jene, die gezeigt werden, wenig Mitsprache dahingehend haben, wie dies geschieht. Diese Sicht einer Trennung zwischen Forschungs-„Subjekt“ und Forschungs-„Objekt“ steht schon lange zur Diskussion, aber mit „Feminismus“ haben wir uns ein Thema vorgenommen, das die radikale Befragung dieser Trennung in seinem direkten Selbstverständnis eingeschrieben hat1. Ähnliches gilt für Fragen der Parteilichkeit: es kann keine sinnvolle Ausstellung zum Feminismus gemacht werden, ohne klar gegen Sexismen und Rassismen Stellung zu nehmen. Nun können und wollen wir nicht so tun, als wären wir ohne die oft auch konfrontative Auseinandersetzung mit feministischen Aktivist*innen auf den Punkt gekommen, an dem wir jetzt sind. Die Institution Museum, deren Teil wir sind, führt eine Geschichte des Ein- und Ausschlusses mit sich, der sich auch entlang von Race-Class-Gender-Kriterien konstituiert. Dies zeigt sich z. B. in Sammlungspolitiken, die über Jahrzehnte das Schaffen von Frauen z. B. als Künstler*innen ignorierten. Es zeigt sich in den Archiven2 und Ausstellungsprogrammen eines Stadtmuseums, in welche in die Stadt migrierte, geflüchtete sowie aus der Stadt vertriebene Menschen und deren Geschichten oft nicht vorkommen und damit „Stadt“ als einseitig beschrieben wird. Es zeigt sich in hierarchischen Strukturen von Museen, ihrer tendenziellen Schwerfälligkeit und Abgeschlossenheit, der Tatsache, dass kaum Menschen mit Flucht und Migrationserfahrungen sowie ihr Wissen in den wissenschaftlichen und leitenden Bereichen von Museen vertreten sind. Wer in einem Museum arbeitet, ist selbst auch Teil der Struktur und ihrer Geschichte. Gleichzeitig sind Museen auch Orte, die Möglichkeiten der Auseinandersetzungen mit genau diesen Fragen bieten können. Daher war und ist es uns wichtig, die Stimme der Kuratorin, die Stimme der Institution zu zeigen, als eine mit eben spezifischen Interessen, Möglichkeiten, Erblasten und Begrenzungen. An der Reibung zwischen Aktivismus und Institution, an dieser Nahtstelle können interessante Dinge geschehen, so hoffen wir. Wir erzeugen daher ein Ausstellungsdisplay, das versucht, sichtbar zu machen, dass wir sprechen und unterbrochen wurden; dass es uns wichtig war, auch in den Modus des Zuhörens zu kommen; und dass wir uns in diesen Prozessen und ihren Reflexionen immer klarer darüber wurden, dass es für die Geschichte, die erzählt wird, einen Unterschied macht, wer spricht. Für meine kuratorische Position bedeutet dies: eine weiße3 Frau mit einer festen Anstellung im Museum. Wie weit können wir aus dieser Position heraus überhaupt einen Blick auf Ein- und Ausschlüsse, auch im Feminismus selbst, aber auch im eigenen Feld der Kulturarbeit, wahrnehmen?4 Mit diesen Fragen wird noch klarer, dass wir uns – wie alle andern auch – in einer Blase befinden und daraus heraus agieren. Die jeweilige Sozialisierung und topographische Voraussetzung des Individuums prägt die Wahrnehmung, der eigene kleine Wirkungskreis wird zum zentralen Weltgeschehen. Ungleich verteilt bleiben jedoch die Möglichkeiten, diese partikularen Sichtweisen als „Welt“ zu behaupten und ein Museum mit diesen Behauptungen zu bespielen. Lassen wir uns gegenseitig nicht herausfordern, so bleibt dieses Weltwissen falsch und werden (oft auch unsichtbare, als selbstverständlich angenommene) Machtverhältnisse reproduziert.

Interessant ist auch, dass all diese Fragen aufbrechen in einer Zeit, in der auch klassische Frauenpolitik und Feminismus selbst aufgrund ihrer weißen Ausschlüsse von PoC5 kritisiert werden und die zumindest tendenzielle Reduktion von Feminismus auf die biologische Definition von Frau* durch die Kritiken der LGBTQI+ Communities in den Blick kommen. Auch die Kritiken von PoC-Feministinnen an Ausschlussmechanismus des weißen Mittelschichtsfeminismus sind nicht neu6. Daher kann keine (gute) Ausstellung gemacht werden, die hinter deren Setzungen zurückfällt. Das kann ein Museumsteam nicht alleine machen, dafür braucht es Zeit der Auseinandersetzung und Kooperation.

Dass wir dennoch zunächst den üblichen Weg des Recherchierens und Kuratierens versuchten, weil es wirkte, als wäre es der direktere Weg, hat ebenfalls mit unserer Position zu tun, mit unserem Ort, von dem her wir sprechen und auf die Welt schauen, wen wir kennen, wen wir am „Schirm“ haben, welches Wissen wir als relevant erachten – und was eben nicht. Unsere Denk- und Fantasiebegrenzungen wurden und werden befeuert durch die gegebene Begrenzung der zeitlichen, personellen und finanziellen Ressourcen, welche unserer Arbeit heute zur Verfügung stehen. Auch oder gerade mittelgroße Museen wie die der Stadt Linz agieren heute unter dem Druck von Budget- und Personalkürzungen und Besucher*innenzahlen. Dies tut gelassenen, kollektiven, konfliktfreudigen Denk- und Gestaltungsprozessen nicht gerade gut. Wenn es sich während des sehr begrenzten Zeitrahmens der Recherche nun zeigt, dass hier der „alte Weg“ des Ausstellungsmachens einfach nicht mehr angebracht ist und eine Adaptierung notwendig ist, fordert das nicht nur die Kuratorin und die Vermittlung – es betrifft den ganzen Museumsapparat. Es sind intern intensive Gespräche nötig, um Strukturen zu hinterfragen und um neue Möglichkeiten zu schaffen. Das Miteinander-Reden und sich Austauschen über solche Vorgänge öffnet Türen in bisher unbetretene Räume. Community Out­reach bewirkt so in diesem Fall auch Museum Inreach. Und all dies braucht Zeit. Und Geduld. Und Hartnäckigkeit. Nichts, das sich einfach „bis zur Eröffnung“ bewerkstelligen lässt.

Lehrstellen, Interventionen, Nahtstellen, Sollbruchlinien
In diesem Prozess und mit derartigen Überlegungen unterfüttert, wurde nun, sozusagen aus dem Museum heraus, folgendes Konzept erarbeitet: Der Auftakt der Ausstellung, der Stand zur Eröffnung am 10. November 2022, wird von der Stimme der Kuratorin bestimmt sein, ihrem Wissen, ihrer Recherche, ihrem Netzwerk, ihrem Blick und von ihrem Kernteam. So wie immer. Aber es werden die diesem Blick inhärenten Leerstellen sichtbar gemacht, wie blinde Flecken und unbeackerte Felder auf der Landkarte – als Symbol für eine neu gewonnene Erkenntnis des Nicht-Wissens, der Offenheit für jene Stimmen, Aktionen, Gruppen, Themen, die sich mit der Stimme der Institution in Reibung begeben oder Fragen und Statements einbringen, die gezeigt werden müssen. Andere Haltungen, Ergänzungen und/ oder Richtigstellungen. Es ist eben nicht fertig, da dies auch aktuell gelebte Geschichte und unmittelbar stattfindender Diskurs ist. Es ist eine Zeit, in der die komfortablen Bubbles, in denen wir leben, aufplatzen. Damit sehen wir uns mit neuen Realitäten und manchmal unbequemen Tatsachen, Ansichten, Meinungen, Haltungen, Gesprächsgepflogenheiten konfrontiert. Genau dies wollen wir zeigen, gehen damit in Kontakt.

Damit hoffen wir, auch Feminismus als permanenten Auseinandersetzungsprozess zeigen zu können. Zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses, also während des Schreibens dieses Textes und noch während der Ausstellungsvorbereitungen im Sommer, ist noch nicht klar, in welcher konkreten Form genau mit den unterschiedlichen Initiativen und Aktivist*innen, die den Prozess angestoßen haben, dieser stattfindet.
Etwa im Monatsrhythmus wird sich die Ausstellung jedenfalls verändern, soll wachsen, wird die Konfliktlinien pointieren. Es ist den Ausstellungsbesucher:innen daher anzuraten, regelmäßig ins Museum zu kommen und zu sehen, was sich verändert hat, und was What the Fem? auch im Austausch einer Museums-Institution mit aktivistischen feministischen Initiativen bedeuten kann.

1 Vergl. dazu als eines der Gründungsdokumente deutschen akademischen Feminismus der zweiten Frauenbewegung die „Postulate“ von Maria Mies “ www.frauen-forum.biz/wp-content/uploads/2019/08/Methodische-Postulate-zur-Frauenforschung.pdf

2 Vergl. www.migrationsammeln.info/inhalt/migrationsgeschichten-erz%C3%A4hlen (Angesehen am 19. 08. 2022)

3 Wir verwenden weiß hier kursiv geschrieben, da es nicht (zwingend) auf eine Hautfarbe verweist, sondern auf eine privilegierte Position.

4 Es handelt sich in diesem Fall übrigens um die erste angestellte, weibliche Kuratorin in der Geschichte des Nordico Stadtmuseums.

5 People of Colour ist eine Selbstbezeichnung für Menschen, die diesen privilegierten Status nicht einnehmen, dazu zählen auch z. B. Migrant*innen, Minderheiten, Menschen aus dem Globalen Süden.

6 Hill Collins, Patricia (1991) Black Feminist Thought: Knowledge, Consciousness and the Politics of Empowerment. New York. hooks, bell (1996/ Orig. 1990) Sehnsucht und Widerstand. Kultur, Ethnie und Geschlecht (Orig. „Yearning“). Berlin Lorde, Audre (1984) Sister Outsider. Trumansburg/New York. Meulenbelt, Anja (1988) Scheidelinien. Über Sexismus, Rassismus, Klassismus. Reinbek.

Ausstellung
„What the fem? Feministische Interventionen & Positionen 1950 –2022“
Nordico Stadtmuseum Linz
Eröffnung: 10. November 2022
Dauer: 11. November 2022 – 28. Mai 2023
Idee, Konzept, Kuration: Klaudia Kreslehner
Vermittlung & Diskurs: Karin Schneider & Gabi Kainberger
Ausstellungsgestaltung: MOOI Design; Letitia Lehner & Sarah Feilmayr
www.nordico.at

Gleichberechtigung durch Lesen!

Das Konzept ist einfach erklärt: Die Gruppe trifft sich alle zwei Monate zum Austausch und zur Diskussion. Die Terminfindung wird online abgewickelt, das Datum so gewählt, dass die Mehrheit dabei sein kann. Der Ort für das Treffen wird immer neu bestimmt. Neue Menschen für die Gruppe kommen über Mund­propaganda dazu. Was vielleicht Züge einer Selbsthilfegruppe hat, ist in Wahrheit viel mehr. Es ist der feministische Buchclub in Linz. Conny Erber stellt ihn vor.

Foto Conny Erber

Hanna Herbst, Journalistin und Autorin des Buches „Feministin sagt man nicht“, stellte dieses im Dezember 2018 im Linzer Kepler Salon vor. Sie sprach über ihre persönlichen Erfahrungen, die sie literarisch festgehalten hat, über ihre Ansichten und Meinungen zum Feminismus und auch darüber, was jeder Mensch zu einer feministischeren Welt beitragen kann. „Es gibt, glaub ich, unendlich viele Sachen, die man machen kann. […] Man kann feministische Lesekreise gründen. […] Und dann tolle Bücher kaufen, von den letzten 100 Jahren, von tollen Menschen.“
(Zitat Hanna Herbst, Kepler Salon, 2018)

Hanna Herbsts Worte haben nach diesem Abend Anklang gefunden und waren der Anstoß für die Gründung des feministischen Buchclubs Linz. Das Anliegen war und ist auch heute noch, sich mit Literatur von Frauen und Männer zum Thema Feminismus zu beschäftigen und diese im Kollektiv zu diskutieren. JJ Bola spricht über Feminismus in seinem Buch so: „Feminismus wird oft als antimännliche Ideologie eingeordnet, als eine Bewegung, die Männer auslöschen will, und sie als inhärentes Problem der Gesellschaft darstellt. In Feminism is for Everybody schreibt bell hooks: In einfachen Worten: Feminismus ist eine Bewegung, die den Sexismus, die sexistische Ausbeutung und die Unterdrückung beenden will.“ (Bola, S. 86). Der Austausch auf Augenhöhe und besonders das Nachwirken der Diskussionen über verschiedenste Lebensrealitäten und Sichtweisen über genau diesen Feminismus als Bewegung, machen diese Buchclubtreffen nachhaltig.

Aber ist ein Buchclub noch eine zeitgemäße Form, um zu diskutieren und sich auszutauschen; ein Buch überhaupt noch ein angemessenes Medium, um Lebensrealitäten, Erfahrungen und Wissen in Bezug auf Feminismus zu generieren?
Die AutorInnen Frank Wegner und Katha­rina Raabe geben in ihrem Buch „Warum Lesen – Mindestens 24 Gründe“ mittels Tex­ten und Kurzbeiträgen von LyrikerInnen, SchriftstellerInnen, SoziologInnen, wie Jürgen Habermas, Annie Ernaux, Hartmut Rosa, Friederike Mayröcker und vielen mehr, Gründe an, warum das Lesen an sich erfahrungsorientiert ist und viele Ebenen anspricht. Für die Schriftstellerin Annie Ernaux ist Lesen deshalb „die freieste kulturelle Tätigkeit, die es gibt“, denn man kann dabei interaktionsentlastet nachdenken, nachlesen oder vor- und zurückblättern. Sie betont, wie das Lesen ihre Biografie nachhaltig und radikal beeinflusste. Es veränderte ihr soziales Umfeld und führte zu einer Distanzierung von Eltern und Herkunftsmilieu, was sie lange als Verrat wahrnahm. Aber es ermöglichte auch die Begegnung mit anderen, denn „Lesen trennt und verbindet“.

Die gleiche Erfahrung wurde auch im feministischen Buchclub Linz gemacht. Das Buch, das beim nächsten Treffen besprochen und diskutiert wird, wird meistens durch kollektive Abstimmung gewählt. Buchvorschläge sind immer willkommen und erwünscht, sofern sie inhaltlich den Kriterien entsprechen. Bei der Auswahl der Bücher geht es um feministische Lebensrealitäten und Erfahrungen, aus denen die Menschen im Buchclub ihre eigene Wirklichkeit reflektieren und neu ordnen können, fremde Wirklichkeiten erfahren und darin eintauchen können. Nachdenken, Diskutieren und, wie Annie Ernaux auch schreibt, dieses Nachlesen und Vor- und Zurückblättern, macht die Auseinandersetzung mit feministischer Literatur besonders. Es geht auch darum, dass die Motivation zur Gestaltung, zum Tun und Verwirklichen durch Bücher eine große Anziehungskraft hat und Veränderung schafft. So schreibt auch Chimamanda Ngozi Adichie in ihrem Buch „Mehr Feminismus. Ein Manifest und vier Stories“: „Das Geschlecht ist überall auf der Welt von Bedeutung. Ich möchte, dass wir anfangen, von einer anderen Welt zu träumen und Pläne zu schmieden. Für eine gerechtere Welt. Für eine Welt voll glücklicherer Männer und Frauen, die ihr wahres Selbst nicht verbergen müssen.“ (siehe Adichie, 2018, S. 19). Und es liegt an uns, und genauso auch an einem feministischen Buchclub, diese Welt glücklicher zu machen und Pläne zu schmieden.

Geschmiedet wurde auch am Gedanken, den feministischen Buchclub auszuweiten und besser zu vermarkten und zu promoten. Feministische Literatur soll Wellen schlagen und ein vielseitiges Publikum ansprechen. Nur mit einer starken Masse kann Veränderung passieren. Diesem Ansatz kann man auf jeden Fall schon etwas abgewinnen und dieser Vorgehensweise Zustimmung entgegenbringen. Nur ist das nicht der Kern, das Herzstück vom feministischen Buchclub Linz. Es soll keine Massenabfertigung und kein Massenevent sein, kein oberflächliches Austauschen von homogenen Meinungen. Der feministische Buchclub möchte unterschiedlichste Positionen aus der Literatur gewinnen und dementsprechend verwerten. Ein gutes Beispiel ist dafür das Buch „female positions“, in dem angeführt wird: „In female positions wird nicht eine Geschichte erzählt, sondern 20 Positionen in Form von Analysen, Erlebnissen, Erfahrungen, Sehnsüchten und Veränderungsansätzen bilden das Hier und Jetzt aus weiblicher Sicht ab – 20 Blickwinkel zur Verortung von Geschlechtergerechtigkeit, keinen Anspruch auf Ausschließlichkeit – aber sehr wohl den Anspruch auf ihre Einzigartigkeit stellen.“ (female positions, S. 9)

Die Einzigartigkeit ist auch im Buchclub selbst zu finden – nämlich durch den individuellen Zugang zur Literatur und die Ansprüche, die daran geknüpft werden. Bei der Diskussion über das gelesene Buch wird dann ersichtlich, wo der Fokus gelegt wurde, welche Passagen zum Nachdenken angeregt haben, wie das Gesamtwerk wahrgenommen wurde. Und genau dieser Aspekt ist es auch, der den Wert eines Buchclubs ausmacht, auch heutzutage. Die Diskussion untereinander und die Auseinandersetzung mit Literatur haben einen ungemeinen Mehrwert. Nicht nur für die Menschen, die das Buch gelesen und diskutiert haben, sondern auch für deren soziales Umfeld. Mit jedem Buch, mit jedem gelesenen Satz, mit jeder Diskussion darüber, steigt die Selbstermächtigung. Es ist beobachtbar, dass durch die Literatur der Horizont erweitert wird und vieles im Alltag, genau durch diese Literatur, verändert wird. Seit der Buchbesprechung von „Feminist City“ von Leslie Kern, die über Städte und Stadtplanung schreibt und aufzeigt, wie Frauen dadurch benachteiligt werden, wird auch die eigene Stadt anders wahrgenommen und analysiert. Gleichzeitig wird auch das eigene Verhalten in Frage gestellt bzw. werden Muster durchbrochen und auch Ansprüche und Erwartungen in Hinblick auf die Gleichstellung der Geschlechter gestellt. Leslie Kern schreibt über die Stadt: „Eine feministische Stadt müsste eine Stadt sein, in der Hindernisse – physische und soziale – abgebaut werden, in der alle Körper willkommen und versorgt sind. In einer feministischen Stadt stünde die Fürsorge im Zentrum, nicht, weil Frauen weiterhin vornehmlich dafür verantwortlich sein sollten, sondern, weil die Stadt das Potenzial hat, die Sorgearbeit gleichmäßiger zu verteilen. Eine feministische Stadt müsste auf die kreativen Mittel setzen, die Frauen immer genutzt haben, um sich gegenseitig zu unterstützen, und Wege finden, um diese Unterstützung in das Gewebe der Stadt selbst einzuarbeiten.“ (siehe Kern, S. 63) Solche Aussagen und Textpassagen regen zur Veränderung an.

Durch den Buchclub und die Auseinandersetzung mit Literatur und deren unterschiedlichen Positionen werden auch die Geschlechterrollen hinterfragt und auf individueller Ebene teilweise auch verändert. „Das Problem mit Geschlechterrollen ist, dass sie uns vorschreiben, wie wir sein sollen, statt anzuerkennen, wie wir sind. Man stelle sich nur vor, wie viel glücklicher wir wären, wie viel freier, so zu sein, wie wir sind, wenn es diese belastenden Erwartungen nicht gäbe.“ (siehe Adichie, 2018, S. 25)

Die Frage, ob ein feministischer Buchclub auch nachhaltig gesellschaftlich verändern kann und starre Strukturen aufbrechen oder sogar Paradigmenwechsel vornehmen kann, ist vielleicht eine Sache des Blickwinkels. Ist es bereits nachhaltig, wenn im Diskurs mit einzelnen Personen der Schritt für eine gleichberechtigte und gleichgestellte Welt getan wird – „Am Ende verspricht Alan doch noch, keiner Frau mehr auf den Hintern zu hauen. Die Journalistin zieht Bilanz: Alan war der Einzige, bei dem sie Erfolg hatte. Es brauchte 120 Minuten, um einen Mann davon zu überzeugen, dass er aufhört, Frauen zu belästigen.“ (Schutzbach, S. 54). Oder kann man erst von Nachhaltigkeit und Veränderung sprechen, wenn Gesetzestexte überarbeitet und rechtliche Schritte eingeleitet werden. Eine Frau, die 2018 auch im Kepler Salon war, hat auf diese Frage, die ebenfalls dort gestellt wurde, nur geantwortet: „Ob es etwas bewirkt oder verändert, wissen wir nicht, aber es verändert uns.“

So ist es auch mit dem feministischen Buch­club und den Erfahrungen, die wir damit machen: Sie verändern uns. Sie verändern unser Umfeld. Sie verändern unsere Wahrnehmung. Und sie verändern auch die Kreise, die wir ziehen.

Alle Menschen, die ebenfalls größere Kreise ziehen möchten, sind herzlich willkommen im feministischen Buchclub Linz.

Quellen:
Adichie, Chimamanda Ngozi: Mehr Feminismus! Ein Manifest und vier Stories. Frankfurt am Main: Fischer, 2018
Bolla, JJ: Sei kein Mann. Warum Männlichkeit ein Albtraum für Jungs ist. München: hanserblau, 2021
Banglmayr, Daniela; Baumann, Susanne; Hoch­holzer, Sandra (Hrsg.): female positions. Linz: 2022
Kern, Lesie: Feminist City. Münster: Unrast-Verlag, 2020
Kepler Salon, Aufzeichnung mit Hanna Herbst: www.dorftv.at/video/30568
Schutzbach, Franziska: Die Erschöpfung der Frauen. München: Droemer Verlag, 2021

Wer sich für den feministischen Buchclub interessiert: corneliaerber@hotmail.com

GEN UGG EKR IEGT

In ihrer Salzamt-Residency diesen Juli hat Gesine Grundmann die beiden Arbeiten GENUGGEKRIEGT und OI hergestellt. Die Donau verbindet. Eine Textbotschaft an einem Ende – und ein Beton-Ei als skulpturale Verlängerung des Forum Metalls am anderen Ende: Gesine Grundmann mit einem Text über ihre Arbeiten. Und das Arbeiten an den Arbeiten.

Mit ihren Werken, die sich primär der Skulptur und der Installation zuordnen lassen, aber auch Verfahren der Malerei, der Fotografie und von Schrift und Text einbeziehen, befragt Gesine Grundmann unsere zivilisatorische Umgebung. Sie ist Bildhauerin und Konzeptkünstlerin und mit ihren Beiträgen im weitergehenden Sinne Archäologin und Soziologin. Bei aller intentionalen Verschiedenheit der einzelnen Arbeiten nimmt sie durchgehend die Rolle der zupackenden Beobachterin ein, die ihre Sujets sozusagen seziert und in ihrer Verfasstheit definiert, in der Umsetzung aber noch ein Anderes anspricht. (…)

(…) Zugleich interessiert sie sich für das Potential von Material: wie eines, so wie es bei ihr auftritt, vorgibt, ein anderes zu sein. Ihr Spektrum umfasst Eisen, Bronze, Granit und Marmor, Holz und Wolle, Keramik und Acrystal, Wellpolyester und Styropor, Karton: also „klassische“, handwerklich zu bearbeitende und dabei mitunter störrische Naturmaterialien wie auch neue, chemisch gewonnene Stoffe vornehmlich für die industrielle Weiterverarbeitung. Folglich erprobt Grundmann ganz unterschiedliche Verfahren des Zugriffs auf diese, auch als Recherche und Experiment. (…)“
Zitat: Thomas Hirsch, aus: Eigentlich (Auf Augenhöhe)

Als Künstlerin interessiere ich mich für die Materialität, die uns täglich umgibt, und deren ableitbare Eigenschaften (ebenso Geräusche und Klänge), die ich in meiner Kunst konzeptionell nutze. Daher geht es mir um das Spannungsfeld von Konzeption und Materialität. In den so entstehenden Arbeiten manifestieren sich stets widerstreitende kunsttheoretisch-philosophische Ansätze und poetische Wendungen. G. G.

Ursprünglich sollte mein Aufenthalt im Salzamt im April 2021 sein, wurde dann aber verschoben, weil zu dem Zeitpunkt die Corona-Inzidenz so hoch war. Das hat mir ganz gut gepasst, denn den März 2021 hatte ich schon in den Lichtenberg-Studios in Berlin verbracht, wo ich eine temporäre Intervention im Außenraum realisiert hatte; ein 12 Meter langes Banner mit der Aufschrift POLITICAL WELLNESS, dort aber illegal angebracht im 4. Stock an der Fassade eines leerstehenden Plattenbaus in einem abgesperrten Areal zu einer belebten T-Kreuzung.

Für die Residency in Linz hatte ich bereits eine Arbeit im Außenraum angedacht. Das ursprüngliche Vorhaben fand ich dann aber, nicht zuletzt vor Ort, nicht mehr adäquat. So wusste ich bei meinem Eintreffen in Linz noch nicht genau, was ich dort machen würde.
Ein paar Arbeiten, mit denen ich in meinem Atelier nicht weiterkam und eine Auswahl an Material und Werkzeugen für Eventuelles hatte ich dabei.
Die besten Dinge passieren immer „neben­her“ und so sorge ich gerne dafür, dass mög­lichst „nebenher“ etwas passieren kann. Da ich als Künstlerin mit Deleuze eine gewisse Begeisterung für das Außen hege, habe ich mich über die Freiheit gefreut, das ursprüngliche Projekt ändern zu können. Die Vorstellung ist das, was man schon kennt, und durch das Außen kommt immer etwas Neues hinzu. Oft habe ich erfahren, dass durch diese Unvorhersehbarkeiten meine Vorhaben willkommene Zusatzkonnotationen erhalten haben und vitaler wurden. Auf diese Weise bin ich froh, wenn ich erst einmal kommen und dann etwas entwickeln kann.

Nach ausgiebigem Streunen durch Linz und Umgebung, Besuchen von Ausstellungen, Ausstellungsräumen und Museen in Linz und Wien, auf dem Pöstlingberg und der Voestalpine Stahlwelt, in den Lagern Gusen und Mauthausen, sowie den Gesprä­chen mit Kolleg*innen und Ansprechpartne­r*in­nen vor Ort, hat sich das Ei am Winterhafen als Arbeitsvorhaben herauskristallisiert. Die Schablone zum Drehen des „Beton“-Eies hatte ich mir mitgebracht für den Fall, dass ich die bereits angedachte Außenversion einer schon realisierten In­nenversion in Linz ausarbeiten wollen würde.

Den Donaustrand habe ich wegen seiner Klarheit (bez. der weitgehenden Abwesenheit von Stadtmobiliar) und seiner friedlichen Atmosphäre (und auch seiner Besucher) gewählt. Sozusagen in skulpturaler Verlängerung zum Forum Metall, dessen Arbeiten dauerhaft und in ähnlichen Abständen zueinander installiert sind, wollte ich hier das temporäre Ei in die landschaftliche Situation schmiegen. Um die Oberfläche zu verdichten, aber auch um dem Ei eine synchrone Ambivalenz zu verschaffen, habe ich es in ein Kunststoffnetz eingesponnen, das einem Boots-Bojen- oder einem Orangennetz ähnlich ist. Das Netz hatte ich von Anfang an mitgedacht.

Die Größe des Eies korrespondiert ziemlich gut mit der des menschlichen Körpers, es hat die Größe eines mittleren menschlichen Körpers, mehr oder weniger verdichtet (das Volumen eines großen Rumpfes oder das Volumen eines kleinen Körpers). Man nimmt sofort eine körperliche Beziehung zu ihm auf und setzt es mit dem eigenen Körper in Verbindung. Außerdem hat es gute Sitzhöhe und Stabilität. Anlehnen kann man sich ebenfalls gut.
Die klassische Form des Eies fügt sich in die Landschaft ein und hebt sich ebenso von ihr ab. Das Ei als Potenz von Unausweichlichem, von Zukünftigem oder/und von Harmonie. Durch das umflechtende Netz bekommt es eine zeitgenössische Kon­notation, eine Verdichtung der Oberfläche und Absurdität/Ambivalenz.
Was dort mit dem Ei passiert, entzieht sich meiner Kontrolle und meinem Wissen. Natürlich würde mich interessieren, ob und wie es hin und her gerollt wird, wie lange das Netz drum herum hält, ob jemand das Ei haben, transportieren oder schwimmen lassen möchte … (Ich hatte keine Zeit auszuprobieren, ob es schwimmt oder untergeht), oder es einfach ein Donau­strand-Ei wird/bleibt und wie lange es hält. Vielleicht werde ich in das nächste Ei zur Befriedigung meines Interesses einen Peilsender einbauen.

Die andere Arbeit befand sich ca. zweieinhalb Kilometer flussaufwärts. Die Donau verband kurzzeitig die beiden Arbeiten real. Das Transparent/Banner/die Zeichnung GEN UGG EKR IEGT zerlegt die beiden Wörter (genug gekriegt) in vier Zeilen, entstanden durch Auslassungen innerhalb eines schwarzen Körpers, der fast an die Ränder der Bauzaunplane/des Bildträgers stößt und vielleicht etwas bedrohliches Ungestümes hat.

Die Zeichnung GEN UGG EKR IEGT (ca. DIN A2) gab es bereits seit ein paar Wochen. An unterschiedlichen Tagen wurde sie wiederholt. Das Anliegen, sie auf einer mitgebrachten Bauzaunfolie in den Au­ßen­raum zu tragen, entstand erst mit der Arbeit am Ei. Ich wollte die besondere Lage des Ateliers nutzen, um den auf der Donau Vorbeifahrenden eine Nachricht zu senden. Da wir Text im öffentlichen Raum meist in gedruckter oder digitaler Form begegnen, war es mir wichtig, diese ambivalente Botschaft nicht drucken zu lassen, sondern selbst auf die Plane zu malen/zeichnen.

Das Transparent hing dort 2 Tage (vom 28.–30. Juli). Das Ei habe ich mithilfe meines Ateliernachbarn am Abend des 29. Julis zum Donaustrand am Winterhafen gefahren.

GENUGGEKRIEGT könnte einerseits bedeuten, dass nun genug Krieg geführt wurde – man denkt vielleicht sofort an die russischen Angriffe auf die Ukraine, andererseits könnte man auch an die etymologische Herkunft des Wortes ‚Krieg’, nämlich ‚kriegen’ denken. Das Begehren/Haben/Wollen, das besonders in der westlichen Kultur verankert ist. Weitere Assoziierungen und Allusionen von Gesellschaftssystem und psychischer Fragilität, Innen/Außen etc. sind zugelassen.

* Textzitat: Dr. Thomas Hirsch „Eigentlich (Auf Augenhöhe)“, in: Hirsch, Dr. T. (Hrsg.) „GESINE GRUNDMANN – GOLDENE ACHT“, Bönen, 2017, Seite 15 ff.

www.gesinegrundmann.com
www.120den.de

Hans Eichhorn: Aus Paris

Im März 2010 verbringt Hans Eichhorn, unterstützt durch ein Stipendium der Stadt Linz vier Wochen in Paris. Er arbeitet intensiv an seinem Projekt Pariser Bildpostpassagen, und schickt literarische Notate aus Paris ans StifterHaus in Linz. Florian Huber über den Autor Hans Eichhorn, dem aktuell eine Ausstellung im Stifterhaus gewidmet ist.

Mit „A-i“ oder „E-i“, fragt die Verkäuferin, bevor sie meine Angaben in den Computer tippt. Es ist die vierte Linzer Buchhandlung, in der ich vergeblich versuche, spontan eine Publikation des 1956 in Vöcklabruck geborenen und 2020 allzu früh verstorbenen Autors und Berufsfischers Hans Eichhorn zu erwerben. Umso erfreulicher ist, dass das Linzer StifterHaus dem Dichter, der über Jahrzehnte auch die oberösterreichische Literaturszene prägte, seine jüngste, von Gerhard Spring und Gerold Tagwerker gestaltete Ausstellung sowie eine von Claudia Lehner mit einem kenntnisreichen Vorwort versehene Publikation gewidmet hat. „Hans Eichhorn: Aus Paris“ versammelt über hundert, vom Autor aus Papierabfällen gefertigte und an die Leiterin des Literaturhauses Regina Pintar adressierte Postkarten im Format 20×30 cm, die nicht nur persönliche Erlebnisse und Lektüren anlässlich eines vierwöchigen Parisaufenthalts im Jahr 2010 rekapitulieren. Vielmehr gestatten die Bild-Text-Collagen auch Einblicke in ein Lebenswerk, das neben Lyrik auch Prosa, szenische Texten und zahlreiche bildkünstlerische Arbeiten umfasst. Die allen Unternehmungen Eichhorns zugrundeliegende Poetik skizziert bereits der Titel seiner ersten Buchpublikation, des Gedichtbands Das Zimmer als voller Bauch aus dem Jahr 1993. Der Überfülle der Gedanken und Geschehnisse begegnet der Dichter mit großem Formbewusstsein und dem genauen Blick auf das vermeintlich Naheliegende und Alltägliche seiner unmittelbaren Umgebung, „bis nichts mehr sich auf irgendetwas bezieht, der reinste Strich, die reinste Farbe und alles schon gehabt“, wie auf der Rückseite der 36. Postkarte aus Paris zu lesen steht. Die unhintergehbare Differenz zwischen den Dingen und ihrer Bezeichnung, zwischen Sagen und Zeigen, Erfahren und Beschreiben lässt diesen Anspruch freilich ins Utopische abgleiten, wie auch die erneute Lektüre von Eichhorns Prosa Der Ruf. Die Reise. Das Wasser aus dem Jahr 1996 hervorhebt: „Schon nach kurzer Zeit die Verkrampfung, daß die Begriffe sehr schnell das Gesehene zuschütten, weil bloß ein Sandkorn irgendwo oder ein Tropfen im Ozean, müßte also beginnen, wie besessen dagegen anzugehen, während mit jedem MEHR gleichzeitig das Ausgelöschtsein wächst. Vielleicht deshalb diese Gier nach Gegenständen, gestapelt, aufgebaut als zwingende Argumente, scheinbarer Realismus aus dem Ungenügen heraus, doch immer bloß vom Akt vergeblicher Erkenntnis zu berichten oder Hervorzerren der Begriffshülsen, daß sich, wie in ausgelegten Netzen, irgendeinmal darin Wirklichkeit verfangen möge, um ihrer auch habhaft zu werden.“

Der „Gier nach Gegenständen“ korrespondieren Eichhorns Pariser Notate, wie etwa die Illustration auf der Vorderseite der 36. Postkarte erkennen lässt. Zu sehen ist eine abstrakte Figur in Weiß, darunter und daneben Fragmente einer gedruckten Konzerteinladung, die dem Dichter als Malgrund diente. Die Übermalung bekräftigt, dass jedes Schreiben ein Fortschreiben fremder Gedanken und Erfahrungen ist, von denen die Literatur lediglich eine Ahnung zu vermitteln vermag: „Éluard, Apollinaire, Beckett, die Lektüre hat einen eigenen Parisraum herabgelesen, der jetzt angesichts verfallener Stein- und Betonhaufen auf den Friedhöfen nichts damit gemein hat, bloß das Traumgerippe scheppernd meint.“ (Postkarte 69).

Womöglich deshalb trägt die poetische Sehnsucht nach der Entgrenzung von Objekt und Subjekt, einer Einheit von Körper und Geist bei Eichhorn bisweilen mystische Züge: „[D]ie Place de la République als der Anhaltspunkt, schon einige Male umgangen und als sei das Umgehen bereits eine Einverleibung, ein Insistieren: ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.“ (Postkarte 38). In der Verbindung von Gehen und Schreiben, Lektüre und (Lebens-)Erfahrung rücken aber auch zwangsläufig Fragen nach der eigenen Sprechhaltung in den Fokus: „Und wenn ich mir dabei im und mit dem Schreiben über die Schultern schaue, so möchte ich die Sätze mit der Rückwärtstaste sofort wieder löschen.“ (Postkarte 94). In die Skepsis mischen sich wiederholt Überlegungen zur Reichweite des eigenen Tuns, wie auf Postkarte 58: „in der boulangerie an der Place de la République Baguettes gekauft. Wen, wo, was wird das interessieren, falle ich mir ins Wort und so steht aufgeschrieben, das Ins-Wort-Fallen, das Baguette-Kaufen, das Interessieren, und wieder ist Essenszeit.“

Dabei konfrontiert der Autor Eichhorn das Banale des Alltags mit den hohen Ansprüchen der modernen (Dicht-)Kunst, indem er den verschwenderischen Reichtum der Stadt in seiner Wahrnehmung mit Ironie versieht. Wohl nicht ganz zufällig erinnert Postkarte 115 an eine Bildidee von Marcel Duchamp: „Mona Lisa und ihr Lächeln auf einigen von da Vincis Frauengesichtern, so als hätten sie sich eben spiegelbildlich mit Schnurrbart gesehen.“ Die erdrückende Last der Pariser Kultur- und Literaturgeschichte macht letztlich einer Gelassenheit Platz, die sich unmittelbar auf die Betrachter*innen von Eichhorns Bildnotaten übertragen soll, wie Postkarte 49 verdeutlicht: „was, wenn die Karten nicht ankommen? Sie kommen an! Und wenn sie doch nicht ankommen? Dann kommen Sie doch nicht an.“

Ausstellung
Hans Eichhorn: Aus Paris
StifterHaus, noch bis 15. November
stifterhaus.at/programm/ausstellungen

„Es ist vieles zerbrochen, woran ich immer geglaubt habe“

Ekaterina kocht regelmäßig für 60 UkrainerInnen, Galina stellt das Ziel über die einzelnen Schicksale. Kira spricht von einer versäumten Chance des Westens und Alexei hofft auf eine Art Roadmap. Silvana Stein­bacher hat sich einen Nachmittag mit vier in Linz lebenden RussInnen unterhalten. Dieser Text abseits eines objektiven Anspruchs oder repräsentativen Querschnitts russischen Denkens spiegelt eine Stimmung, die wohl einige teilen: Nämlich jene zwischen Verzweiflung, Ratlosigkeit und ein wenig Hoffnung.

„Stell dir vor du lebst in Frankreich und Österreich beginnt einen brutalen Krieg gegen Italien. Die geflüchteten ItalienerInnen in deiner Nähe würdest du sicher auch unterstützen.“
Mit diesem Vergleich veranschaulicht mir die in Linz lebende Russin Ekaterina Vassilieva, warum sie regelmäßig für 60 UkrainerInnen kocht. Die Malerin ist die Einzige, die an diesem Nachmittag unter ihrem richtigen Namen sprechen will. Ekaterina besuchte Linz erstmals 1996, sie war zu einer Ausstellung eingeladen und blieb kurze Zeit später der Liebe wegen, wie es so schön heißt.
Galina, Kira und Alexei, so sollen sie in diesem Text heißen, möchten anonym bleiben. Das Ehepaar Kira und Alexei kam Mitte der 1990er Jahre nach Linz. Alexei versuchte sich davor in seiner Heimat als Wissenschaftler beruflich zu etablieren, doch er musste bald feststellen, dass er aufgrund des Zerfalls der sowjetischen Strukturen finanziell nicht überleben konnte, wie er sich erinnert. Galina lebt erst seit einigen Jahren in Österreich. Sie ist mit fast 80 Jahren die älteste meiner GesprächspartnerInnen. Die Atmosphäre an ihrem Arbeitsplatz und in ihrer Heimat wurden für sie unerträglich, und so entschloss sie sich noch mit 73 Jahren ihr Land zu verlassen. Seitdem versucht sie in Linz, wo auch ihre Verwandten leben, so etwas wie ein neues Zuhause zu finden.

Schock und Zäsur
Galina: „Am 24. Februar 2022 ist für mich eine Welt zusammengebrochen, es war außerhalb meines Vorstellungsvermögens, dass meine Heimat, in der ich fast mein ganzes Leben verbracht habe, ein anderes Land angreifen könnte.“
Es darf keinen Krieg geben, Hauptsache, es gibt keinen Krieg – mit dieser Art Mantra ist ihre Generation aufgewachsen. Dieser Vision, auf die sich die russische Regierung immer wieder berief, vertraute ein Großteil des Volkes. Die Gesellschaft war geprägt durch den Großen Vaterländischen Krieg, wie in Russland der Kampf der Sowjetunion gegen Hitlerdeutschland von 1941 bis 1945 bezeichnet wird. Galina hat tief daran geglaubt, dass für die pazifistisch erzogenen Kinder ihrer Generation, wie sie meinte, Krieg kein Thema mehr wäre, insofern erschüttert sie die Tatsache, dass so viele Menschen diesen Krieg gutheißen. „Für mich ist in den vergangenen Monaten vieles zerbrochen, woran ich immer geglaubt habe.“

Für Ekaterina und Alexei hingegen baute sich der Schock langsamer auf. Beide ahnten schon Wochen bis Monate vor Kriegsbeginn, dass Putin angreifen würde.
Ekaterina: „Nach der Annexion der Krim vor acht Jahren wollte ich offiziell keine Russin mehr bleiben und meine Staatsbürgerschaft ändern. Das war eine Zäsur für mich.“
Alexei: „Ich habe seit Ende des vergangenen Jahres einen möglichen Krieg befürchtet. Mein Land ist ruiniert, Russland kann man für einige Jahrzehnte abschreiben. Das waren meine ersten Gedanken.“
Kira: „Für mich war es ein Horrorgefühl, ich wollte es bis zuletzt nicht glauben, es ist wohl ein Massenphänomen, ein Festhal­ten an der Hoffnung gegen jede Vernunft.“
Einige ÖsterreicherInnen vertreten auch die Meinung, die Ukraine hätte sich viel an Leid erspart, wenn die Angegriffenen Luhansk und Donezk sofort abgetreten hätten, werfe ich als Außenstehende dieses Nachmittags ein. Alle vier schütteln den Kopf. Nichts hätte sich dadurch verändert, die Gebietsansprüche Putins hätten sich fortgesetzt.

Ich möchte, nachdem es sich bei diesem Text vor allem um einen subjektiven Bericht über vier in Linz lebende RussInnen handelt, auch die Atmosphäre des entsprechenden Nachmittags beschreiben.
Wir sitzen im Atelier von Ekaterina und ihrem Ehemann, dem Maler Ewald Walser, der mir auch seine Bilder zeigt, die die vergangenen Monate entstanden sind. Ekaterina arbeitet schon seit einiger Zeit kaum als Künstlerin, sie informiert sich über den Krieg, ist im Austausch mit ihren russischen Bekannten und FreundInnen, und die meiste Zeit des Tages ist der Vorbereitung der Mahlzeiten gewidmet.
An diesem Nachmittag diskutieren die vier lebhaft, manchmal sprechen zwei oder drei von ihnen auf einmal, weil der eine dem anderen widersprechen oder das Gesagte ergänzen möchte. Oft übersetzt Kira Galina, deren Deutschkenntnisse noch nicht gut genug für eine schnelle Unterhaltung sind. Ekaterina bietet zu trinken und zu essen an.
Und das liefert mir das Stichwort, bevor ich weiter frage.

Ekaterina kochte, wie erwähnt, für 60 UkrainerInnen. Und das kam so: Als der Help-Point für ukrainische Flüchtlinge Anfang März dieses Jahres am Linzer Bahnhof eingerichtet wurde, meldeten sich Ekaterina und Kira als Übersetzerinnen. Ekaterina entschloss sich auch zu kochen, immer Borschtsch und meistens auch ein Hauptgericht. Sie bereitete die Mahlzeiten in ihrer eigenen Küche zu, gesponsert wurde ihr Projekt von einigen in der Stadt ansässigen Clubs. Wie haben es die UkrainerInnen aufgenommen, dass ihnen eine Russin Essen bringt? Ekaterina war berührt von der Dankbarkeit der Flüchtlinge, die kaum in Worte zu fassen ist, Nationalitäten waren nie ein Thema.
Ekaterina: „Russland und Ukraine haben schließlich eine gemeinsame Kultur.“
Mittlerweile können sich die meisten ukrainischen Flüchtlinge in einer Unterkunft selbst verpflegen.

Sanktionen
Galina: „Ich sehe das Ergebnis, nicht das Individuelle. Alles ist gerechtfertigt, wenn dadurch der Krieg aufgehalten werden kann, auch Sanktionen. Die einzelnen Schicksale stehen für mich dabei nicht im Vordergrund, sondern das Ziel, das Ganze.“
Alexei: „Wirtschaftliche Sanktionen ja, insofern als sie die Militärmaschinerie hemmen, kulturelle aber eher nein. Die russische Seele hat das Bedürfnis, geliebt zu werden. Wenn Kultur- und Sportveranstaltungen abgesagt werden, wird die Sicht der Ablehnung durch das Ausland bestätigt, was dem Regime in die Hände spielt. Die Sanktionen hätten schon viel früher einsetzen müssen, der Westen hat schließlich Jahrzehnte lang gute Geschäfte mit Russland gemacht, und damit den Putinismus wirtschaftlich gestärkt und politisch legitimiert, was das Gefühl der Ungerechtigkeit und Hilflosigkeit in den demokratischen Kreisen der russischen Gesellschaft erhöht hat – eine furchtbare Heuchelei.“

Selenskyi
Ich bin überrascht. Die Person Wolodymyr Selenskyi ist an diesem Nachmittag schnell abgehakt.
Alle vier: „Er macht seine Sache gut, schließlich ist er ein Quereinsteiger und hat sich seit Beginn des Krieges entwickelt. Natürlich sind ihm auch Fehler passiert. Die Verklärung zum Helden ist übertrieben, auch wissen wir vieles nicht, was hinter den Kulissen passiert.“

Perspektiven
Wie könnten die Perspektiven aussehen, frage ich schließlich, und plötzlich herrscht Schweigen am Tisch, was in dieser lebhaften Runde höchst selten passierte. Das war zu erwarten, stellte ich doch eine der schwierigsten Fragen überhaupt. Alexei, der vielleicht pragmatischste meiner GesprächspartnerInnen, belegt meine Frage nach der Wahrscheinlichkeit eines geballten Aufstands in Russland mit nüchternen Zahlen. Die Politikwissenschaftlerin Erica Chenoweth entdeckte das Gesetz der 3,5 Prozent. Dieser Prozentsatz gilt als magische Zahl, ab der die Politik in Alarmbereitschaft versetzt wird. In Moskau, um ein Beispiel heranzuziehen, wohnen 12 Millionen Menschen, demnach müssten mehr als 400.000 Menschen auf die Straße gehen, was höchst unwahrscheinlich ist.
Ekaterina: „Nach wie vor zählt die Obrigkeitshörigkeit in weiten Kreisen des Volkes.“
Alexei: „Die Geschichte zwischen Russland und dem Westen ist auch von Versäumnissen und politischen Fehlern des Westens gekennzeichnet. Zwischen 1995 und 2005 hätte man Russland ins europäische Boot holen können.
Vielleicht sollte der Westen jetzt ein zukunftsorientiertes positives Programm anbieten, das für die Russen attraktiver ist als die derzeitige archaische nationalistische Agenda, etwa eine Roadmap (Anm.: ein Plan für jede Art von Strategien oder Zielen) für die europäische Integration Russlands, so etwas würde in entscheidenden Großstädten gut ankommen.“
Kira: „Meine Hoffnung besteht darin, dass Putin nicht ewig lebt, was nachher passiert, ist fraglich. Optimistisch bin ich nicht.“

Und so endet dieser Nachmittag, ganz wie erwartet, mit vielen Fragezeichen und wenigen positiven Visionen: Ein Nachmittag ohne ExpertInnen, aber … Kira: „Wir stützen doch alle unsere Meinung auf Expertenanalysen.“

Als ich das Atelier von Ekaterina und Ewald verlasse, denke ich, dass ich nun mit vier RussInnen eines Landes mit 145,45 Millionen Einwohnern gesprochen und dennoch einiges erfahren habe. Vier andere und es wäre ein anderer Text geworden oder auch nicht. Ein ganzheitlicher Eindruck lässt sich nicht gewinnen. Vor einigen Wochen habe ich mich lange mit einer seit vielen Jahren in Österreich lebenden Ukrainerin unterhalten. Interessanterweise deckt sich ihre Haltung in vielen Bereichen mit jenen von Galina, Kira, Alexei und Ekaterina.

SPENDENAUFRUF
Wer Ekaterina und ihre privat organisierte Hilfe mit einer Spende unterstützen möchte, möge einen Betrag auf folgendes Konto überweisen. Verwendungszweck: Borschtsch.
Ekaterina Walser-Vassilieva
AT561200010037266516
BKAUATWW

Das selbstoptimierte chi-mashie

Vom chinesischen Fluidum über amerikanische Kunststoffbehälter, weg von der Performance-Maschine hin zum humorig-kritischen Brei: Gerlinde Roidinger im Gespräch mit Julia Hartig und Teresa Fellinger über Entstehung, Arbeitsansätze und Entwicklung des Performance-Duos chi-mashie und das Durchhalten in den darstellenden Künsten.

The Go-Getter: Parties sind die Antwort. Foto Robert Puteanu

Als Performance-Duo chi-mashie agiert ihr beide – Julia Hartig und Teresa Fellinger – gemeinsam. Welche künstlerischen Inhalte stehen hinter dem Namen chi-mashie und wie ist dieser und eure Zusammenarbeit entstanden?
chi-mashie: Gemeinsam ergründen wir beide verschiedene Facetten des Lebens in einer patriarchal geprägten, vom Kapitalismus durchwachsenen Welt. Wir gehen auf unterschiedliche Orte ein und kreieren gemeinsam mit dem Publikum Situationen, die zwar oft einen Hang zum Absurden erkennen lassen, aber immer einen wahren Kern haben. Unsere Arbeit basiert auf umfangreichen Recherchen. Die Handlung unserer Stücke ergibt sich aus dem Collagieren von Fakten, die auf eindringliche, oft humorvolle Weise dargestellt werden.
Teresa Fellinger: So beschäftigen wir uns zum Beispiel mit der „Selbstoptimierungsindustrie“, der Lebensgeschichte der Erfinderin der Tupperware-Partys oder mit aktueller Arbeitsmarktpolitik.
Julia Hartig: Unsere Zusammenarbeit hat sich durch unsere damalige WG-Situation ergeben. Unser erstes Projekt haben wir in 1,5 Wochen auf die Beine gestellt und dabei haben wir einen anderen, leichteren Zugang, als wir ihn im Studium gelernt haben, für uns entdeckt. Außerdem haben wir gesehen, dass wir als Projektpartnerinnen total „matchen“. Davon wollten wir mehr.
Genau genommen ist unser Name durch den Tippfehler eines Veranstalters entstanden. Wir haben mit einer so genannten „chi-machine“ performed. Daraus wurde „chi-machie“ und wir haben dann noch „mashie“ daraus gemacht, abgeleitet von „mashed“ (Anm. Red., engl.: zerdrückt, zerstampft).
Die Begriffe „chi“ und „machine/mashie“ empfanden wir als krassen Gegensatz und genau darum geht es uns auch. Diese Mischung aus Komfort, Humor, „Wellness-Charakter“, Lebensenergie und Unbehagen, Repetition, Durchhalten, den Schein aufrechterhalten, letztendlich auch Zerstörung ist eine Strategie, die wir verfolgen.  

Welcher Kontext/welche Vorgeschichte hat euch zur Performance geführt und wie definiert ihr für euch den alles- und nichtssagenden Begriff Performance?
TF: Ursprünglich haben wir beide Bildende Kunst studiert. In der Klasse „Experimentelle Gestaltung“ lag der Schwerpunkt auf konzeptbasierter Arbeit. Das merkt man auch in unseren Stücken.
JH: Nach dem Studium habe ich eine Tanzausbildung absolviert und mich intensiv mit Choreografie und verschiedenen Performance- und Schauspiel-Methoden beschäftigt.
TF: Ich habe dann irgendwann begonnen, Installationen zu inszenieren, die das Publikum miteinbeziehen. Da habe ich entdeckt, welchen Reiz es für mich hat, nicht nur einfach jemandem etwas vorzusetzen, sondern eine gemeinsame Erfahrung zu schaffen.
Beide haben wir schon vor unserer Zusammenarbeit verschiedenste Felder des weiten „Genres“ Performance betreten. Für uns war es das direkte Feedback und die Kommunikation – ja, manchmal fast Komplizenschaft mit dem Publikum, die uns überzeugt hat; etwas, das wir in Ausstellungssituationen nicht oft erlebt haben.
JH: Performance ist einerseits ein sehr dankbarer Begriff, weil er für „alles andere“, was nicht genau Theater, nicht genau Bildende Kunst, nicht genau Tanz ist, verwendet werden kann; andererseits muss man ihn halt wirklich oft erklären. Der Begriff hat sich auch stark verändert bzw. erweitert, also von seiner Verankerung in der Tradition der Bildenden Kunst zu einem Cross-over mit mittlerweile zahlreichen Untergenres.

Welche Hindernisse fordern euch in eurer Arbeit und auf welchen lässt sich aufbauen?
JH: Ein Hindernis könnte sein, manchmal nicht mehr genau zu wissen, wo wir eigentlich hingehören. Das macht sich z. B. bei Förderanträgen bemerkbar, bei denen wir entscheiden müssen, ob wir für Bildende oder Darstellende Kunst einreichen. Die Produktionsbedingungen sind nicht immer einfach und irgendwie ist nie so viel Zeit da, wie wir eigentlich bräuchten.
TF: Wir machen alles zu zweit, von der Recherche über das Schreiben der Stücke und das Erarbeiten der Performance, der Kostüme, des Bühnenbildes sowie auch die Öffentlichkeitsarbeit, Förderanträge, Budgetierung usw. Das kann manchmal mühsam sein, andererseits stoßen wir während solcher Prozesse auch immer wieder auf Dinge, die sich in unsere Stücke einflechten lassen. 

Wie schafft ihr es, künstlerische Prozesse von Anfang bis Ende, also von der Idee bis zur Präsentation und Reflexion, zu ermöglichen und wie lässt sich Kunstproduktion für euch im aktuellen Gesellschaftskontext realisieren?
JH: Wir starten immer mit persönlichen Beobachtungen wie z. B. auch bei unserem aktuellen Stück Elevator Pitch. Die Teilnahme an einem AMS-Kurs war eine große Inspiration. Danach recherchieren und beobachten wir, teils sehr lange. Meist haben wir dann eine große Sammlung an Found Footage.
TF: Dann kommt die Phase des Ausprobierens, Erforschens von Gesten, Textfetzen, Aneignen von spezifischem Vokabular und Handlungen; Dinge in neue Kontexte setzen, alles über den Haufen werfen, neu anfangen, reduzieren, nachfragen, hinterfragen, darüber sprechen, manchmal auch etwas liegen lassen.
JH: Danach haben wir einzelne Bausteine/Szenen, die wir aneinanderreihen. Fertig werden ist so eine Sache. Oft wachsen unsere Projekte noch weiter. Z. B. hatte die Performance The Go-Getter zuerst eine Länge von 25 Minuten, mittlerweile dauert sie 35 Minuten und wir möchten noch auf 50–60 Minuten erweitern. Es gibt noch so viel Material, das wir verarbeiten wollen. Wie weit wir kommen, hängt oft auch mit den Produktionsbedingungen zusammen.

Welches Setting der Präsentation habt ihr für die Performance The Go-Getter gewählt und welches Feedback hat euch bisher von Seiten des Publikums erreicht?
TF: The Go-Getter ist eine Auseinandersetzung mit dem Konzept der Tupper-Party. Angelehnt an den Ablauf einer klassischen Tupper-Party greifen wir Verkaufs- und Unterhaltungstechniken von sogenannten Tupper-Ladies auf und kehren neben der beeindruckenden Lebensgeschichte der Verkaufspionierin Brownie Wise auch allerhand überraschende Fakten über die Firma Tupperware unter dem Teppich hervor. Auf der einen Seite bewegen wir uns so also in einem Setting, von dem wahrscheinlich jede:r zumindest schon einmal gehört hat, auf der anderen Seite setzen wir die Sache aber in ein ungewohntes Licht und lassen so Aspekte mitschwingen, die auf einer Tupper-Party bestimmt nicht zu finden sind. Wir erzählen die Geschichte durchaus witzig, es kann einem aber auch das Lachen im Hals stecken bleiben. 
JH: Mit dieser Arbeit können wir auf verschiedene Formate eingehen: Vom herkömmlichen Bühnensetting über museale Räume bis zum privaten Wohnzimmer; sogar eine Luxusloft in einer Senior:in­nen­residenz war einmal dabei. The Go-Getter ist eine Performance, die bestimmt sehr viel Aufmerksamkeit erfordert, weil auf so vielen Ebenen agiert und erzählt wird. Wir sind immer wieder überrascht, wenn wir nach der Performance vom Publikum hören, dass es danach so viel mehr über die Firmengeschichte weiß und selbst noch weiter recherchieren möchte. Was wir auch häufig hören, ist, wie überraschend es ist, dass alles, was wir darbieten, auf Funden, Recherchen und Fakten basiert und wir nichts davon frei erfunden haben. Das liegt wahrscheinlich daran, dass manches so schräg ist, dass es kaum zu glauben ist.

Worauf richtet ihr den Fokus in eurer aktuellen Arbeit Elevator Pitch und welche Aspekte dürfen dabei inhaltlich für euch keinesfalls fehlen? Welche Themen lasst ihr bewusst außen vor?
TF: Das Stück Elevator Pitch schöpft aus der Bild- und Sprachwelt des Assessment Centers. Dabei bedienen wir uns sowohl am Vokabular der Marketing-Industrie und Selbstoptimierungs-Ratgeber als auch am Jargon der Arbeitsmarktpolitik – und wir stellen uns vor allem viele Fragen: Haben wir genug? Sind wir genug? Tun wir genug? Können wir genug? Wissen wir genug? Muss es erst einmal schlechter werden, bevor es besser wird? Und was hat ein Marshmallow mit unserem Erfolg zu tun? Wie weit wollen wir gehen, wenn unsere Persönlichkeit als unser Kapital gilt? Woran messen wir unsere Erfolge? Wo bleiben unsere Bedürfnisse? Und wie weit lassen wir uns vereinnahmen, bis es uns letztendlich reicht? 
JH: Wir thematisieren mit diesem Projekt unter anderem Algorithmen, die auf vielen Ebenen stark diskriminierend sind. Gerade da muss man vorsichtig sein und sich seiner eigenen Privilegien bewusst werden.

Was ist das Besondere/Sehenswerte an euren Performances?
TF: Eine Publikumsstimme hat es so formuliert: „Politische Message geschickt ver­packt mit großer Menge an Humor.“

Julia Hartig und Teresa Fellinger werden im Herbst unter anderem bei der diesjährigen VIENNA ART WEEK / „Challenging Orders“ vertreten sein, mit „The Go-Getter“.
Details tba. 
www.chimashie.net

Klimawandel: Anleitung zum (Un)Glücklichsein

Der Klimawandel ist nicht zu stoppen. Es stellt sich nur die Frage, um wieviel Grad sich die Welt in den nächsten Jahren erwärmen wird. Die Gesellschaft bekommt das Resultat von Industrialisierung und Kolonialismus beispielslos und mit unglaublicher Wucht zu spüren. Wie wird die Umwelt aussehen? Können wir Auswege finden? Wird sich die nächste Generation krisenresistenter und demnach resilienter ausrichten? Gerade wegen des globales Problems argumentiert Christoph Wiesmayr für ein umso konsequenteres lokales Agieren – und stellt exemplarisch das Modell der Tiny Forests vor.

Es vergeht kaum ein Tag, ohne dass Medien von Krisen auf unserem Planeten berichten. In meiner Jugend war Tschernobyl, der Jugoslawienkrieg, später der Irakkrieg präsent. Heutzutage fühlt man sich von der Flut an gleichzeitig stattfindenden Krisen ohnmächtig, hilflos und die Lage scheint aussichtslos. Die „Generation Greta“ verkündet ihren Unmut auf der Straße, sie mischt sich ins politische Geschehen ein, prägt einen nachhaltigen Lebensstil und fordert mehr als nur das ernüchternde Blabla der Regierungen ein. Gerade diese Generation ist es, die Probleme nicht mehr vor sich herschieben kann und die Lösungen finden muss.

Don’t panic!
Die Gesellschaft sollte sich nicht in Gut und Böse spalten lassen. Die größten zivilisatorischen Errungenschaften sind aus einem breiten Gemeinschaftsverständnis entstanden. Doch wie im Alltag ethisch korrekt handeln? Wer zieht wo die Grenze? Gibt es berufliche Aussichten und Aufgaben, die mein ethisches und nachhaltiges Lebensmodell unterstützen? Finde ich überhaupt Arbeit in meiner Umgebung, die diese Werte authentisch vorlebt? Wie versorge ich mich im Alltag, was koche ich heute? Brauche ich unbedingt ein Auto? Komme ich auch ohne Flugzeug ans Urlaubsziel? Und endet es mit der Frage, ob man eine Bio-Banane noch ohne Bedenken genießen darf?

Verzicht – einfach weglassen?
Entschleunigung kann man lernen. Ich kann mich noch gut erinnern, als ich 2006 den Fernseher aus dem studentischen Wohnzimmer samt meinem fahrenden Untersatz losgeworden bin. Anstelle des Autos habe ich die Zeit im Zug genießen können, trotz längerer Fahrzeit. Lesen und Arbeiten, seine Gedanken schlichten und dabei das Auge auf die vorbeiziehenden Bergkulissen des Pyhrn-Priel oder ins schöne Enntstal schweifen lassen. Auf die vielen Tunnelabschnitte von Linz nach Graz und das ewige Herumkurven um den Wohnblock, bis man endlich den einen freien Parkplatz bekommt, konnte ich leicht verzichten. Wenn ich aus dem Zug aussteige, fühle ich mich meistens erholt. Nach einer Autofahrt gerädert.

Die Frage ist; was tritt an Stelle des Verzichts!?
Streamen ist das neue Fernsehen. Wir lügen uns an, wenn wir großartig verkünden, dass wir den Fernseher samt schwachsinningen Fernsehprogramm und Werbung losgeworden sind. Im gleichen Moment ertappen wir uns dabei, dass wir eigentlich nur in ein anderes Konsumverhalten abgebogen sind – und die Abhängigkeiten verlagert wurden. Ohne Smartphone und der digitalen Cloud wären wohl viele von uns nicht mehr lebensfähig. Die Covid-Pandemie hat uns ans Zuhause gefesselt und es wurde auf das so genannte Home-Office umgestellt. Peter Weibel feiert in seinem Essay vom April 2020, dass endlich die Zeit der Telegesellschaft zum „Alltag“ geworden ist: „Wir sind endgültig in die digitale Welt umgezogen. Als ich in den 1990er-Jahren für virtuelle Welten und Online-Kommunikation votierte, stand ich auf verlorenem Posten. Meine erste Ausstellung im ZKM 1999 hieß net_condition und trug den Untertitel Kunst/Politik im Online-Universum. Ich war damals ein einsamer Rufer in der Wüste des Realen. Heute ist diese Wüste überbevölkert.“1

Entwurzelte Gesellschaft.
Unser Planet wird digitalisiert, die reale Umwelt um uns ist verbaut und die Stadtlandschaft verschandelt. Wer geht da noch gerne in unseren Städten spazieren, wo Fußgänger und Radfahrer keinen Platz haben und Steinwüsten die Stadt dominieren und überhitzen. Kein Wunder, dass viele in die digitale Blase abrutschen und für die nötigen und sinnstiftenden Handlungen im „Real-Life“ keine Zeit zu sein scheint. Wo gibt es noch Platz in der Stadt für Natur und die damit verbundenen sinnlichen Erfahrungen. Für mich ist die „Telegesellschaft“ eine entseelte und sinnentleerte Gesellschaft, die Flucht in eine Parallelwelt ein lebensfremdes Modell. Ich verstehe dies als Weckruf, um sich wieder mit seiner Umwelt und konkret mit dem Boden, auf dem wir stehen, zu verbinden! Die direkte Kommunikation mit unserer Umwelt muss wieder erlernt werden!

Die Natur einverleiben – Die Kunst und die Lust, den Genuss am Leben nicht zu verlieren.
Mit ihrer Organisation der Linzer Biene betreut Katja Hintersteiner und ihr Team Bienenvölker auf mehreren Standorten in der Stadt. Seit 2013 wird von ihr auch bei uns am Hollabererhof wieder Honig produziert. Honigverkostungen von den diversen Standorten stehen immer wieder auf ihrer Agenda. Das Bemerkenswerte daran ist, dass in fast allen Fällen bei den anonymen Testverfahren der Honig vom eigenen Standort am besten schmeckt! Laut ihren Aussagen scheint der Geruchssinn ein wesentlicher Faktor dafür zu sein. Ein Beweis für mich, dass wir mit allen Sinnen, mit unserer vertrauten Natur, bewusst oder auch unbewusst in Verbindung stehen (können).

Tiny Forests – Neue Wurzeln braucht die Stadt.
Diese und weitere sinnstiftende Erfahrungen aus dem Garten haben mich dazu bewogen, seit 2020 das Projekt Klimaoase mit meinem Verein Schwemmland am Hollabererhof zu entwickeln und ein breiteres Programm für umweltbewußtseinsbildende Maßnahmen auch der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Im Zentrum des Gartens wurde ein Tiny Forest auf 200 Quadratmetern angelegt. Zuvor war die Fläche noch als Gemüseacker genutzt. Mit fachlicher Unterstützung von Peter Sommer wurden 2021 regionale Au-Gehölze, darunter diverse Weidensorten angesetzt.

Was sind Tiny Forests?
Tiny Forests sind urbane Mikrowäldchen und wurden vom japanischen Botaniker und Professor Miyawaki in den 1970er-Jahren erfunden. Die dicht bepflanzen Wälder verweisen auf eine hohe Artendiversität und können schon ab der Größe eines Tennisplatzes gedeihen. Bekannt als Miyawaki-Wälder, wachsen die Bäume schneller und absorbieren mehr CO2 als Plantagen, die für Holz angebaut werden.

Gegen Versiegelung.
Der Tiny Forest in der Klimaoase ist ein aktiver Beitrag gegen weitere Versiegelung der letzten Auboden-Habitate im Gebiet. Der sedimentreiche Donau-Auboden am Standort bot die Grundlage für fruchtbare Gemüsegärten meiner Familie. Dieser musste aber immer wieder mit organischem Dünger vermengt werden. Ein Tiny Forest macht das durch seine Waldkreislaufproduktion automatisch, verbessert dadurch die Bodenqualität und speichert CO2 in den Boden ein. Durch die Wurzelbildung werden verdichtete Erdschichten durchbrochen, der Wasserhaushalt verbessert und es wird die Aktivität von Bodenlebewesen gefördert.

Klimatische Verbesserung.
Die Klimaoase und der neue Tiny Forest tragen zur Verbesserung des Stadtklimas bei. Durch zusätzliche Beschattung und CO2- sowie wasserspeichernde Fähigkeiten des Bodens kühlen die Mikrowäldchen den Standort und produzieren wertvollen Sauerstoff.

Aktive Nutzung.
Der Überschuss der diversen Weidenarten wird in Zukunft für Workshops im Garten direkt genutzt. Einsatzmöglichkeiten dafür sind vielseitig; für Weidenzaunbau, als Unterkonstruktion für Lehmwände oder Material für Weidenflechtkurse. Auch Tee kann aus der Weidenrinde gewonnen werden, er hat aspirinartige Wirkung. Durch die Verwendung der Weiden vor Ort können unter fachlicher Begleitung traditionelle Handwerksmethoden wiederbelebt und weiterentwickelt werden.

Big Forest vs Tiny Forest.
Großflächige Waldbrände und Borkenkäferbefall setzen den Wäldern weltweit zu. Tiny Forests bringen durch ihre überschaubare Größe den Wald näher in die Stadt und somit zu den Menschen. Man kann in nächster Nähe die Funktion eines Waldes erleben und anschaulich verstehen lernen. Tiny Forests ermöglichen eine verbesserte Aufenthaltsqualität in den Städten. Das Mikro-Auwäldchen in der Klimaoase ist außerdem eine Referenz an die verschwundene Lustenau im Linzer Industriegebiet und steht generell für das biodynamische System Auwald, welches nachweislich ein widerstandsfähiges System in Zeiten des Klimawandels darstellt.

1 Peter Weibel, Der Standard, 5. April 2020: www.derstandard.at/story/2000116482357/virus-viralitaet-virtualitaetder-globalisierung-geht-die-luft-aus

Veranstaltungen im September:
17. und 18. September 2022: „Korbsalix“-Workshop
24. und 25. September 2022: Lehmbau-Workshop

Workshop-Angebot und mehr auf:  schwemmland.net

Lesestoff der Mut macht:

• Harris C. M. Tiddens; Wurzeln für die lebende Stadt.
Wie wir die Eigenverantwortung von Stadtteilen stärken können und warum diese mehr Wertschätzung verdienen.

• Klaus Hubelmann, Eric Albrecht; Generation Greta
Was bewegt Hunderttausende Jugendlicher, auf die Straße zu gehen? Welche Werte, Ziele und Vorstellungen haben sie für ihr Leben und die Zukunft unserer Gesellschaft? Wie denkt die Generation Greta über Einwanderung, Heimat, Europa, soziale Gerechtigkeit, Bildung und Ausbildung, Partnerschaft und sexuelle Identität?

• Bernd Sommer, Harald Welzer; Trans­formationsdesign
Wege in eine zukunftsfähige Moderne.

• Verein Schwemmland, TREIB.GUT#7; Boden wieder gut machen.
Das Projekt der Klimaoase im Linzer Osten wird vorgestellt

Echtzeitverlag; diverse Kochbücher; Marcella Hazan, Julia Child, Fergus Henderson, ….
Kochbücher sind Sehnsuchtsbücher. Sie leisten erste Hilfe und fordern unsere Fantasie heraus. Sie sind Dokumente des guten Geschmacks, dessen Nachweis in der Küche erbracht wird.

• John Gray; Katzen und der Sinn des Lebens.
Wie wird man glücklich? Wie ist man gut? Wie wird man geliebt? Philosophen beschäftigen seit Jahrtausenden immer mit den gleichen Fragen. Vielleicht hätten sie sich einfach mal in eine Katze hineinversetzen sollen. …

Er liebte die raue Realität …

… und fand in ihr seine Poetik: Zum 25. Todestag des tschechischen Schriftstellers Bohumil Hrabal (1914–1997) hat sich Richard Wall nach Prag aufgemacht.

Eigentlich wollte ich mit dem Nachtzug nach Paris, doch mein Terminkalender bot mir nicht die Lücke einer freien Woche, die ich für eine Reise zur Metropole an der Seine für das mindeste hielt, und so fuhr ich im Frühlicht des letzten Maitages auf der Summerauerbahnstrecke mit einem Schnell­zug der České dráhy gen Norden um einen Toten zu besuchen, in Prag, an der Moldau. Dort gibt es auch ein Paris. Allerdings mit 2 Häkchen (Háček): Paříž. Ein mondänes Jugendstil-Hotel, in dem Bohumil Hrabals Frau Eliška gearbeitet hat und deren Erzählungen von ihrem Arbeitsplatz ihren Mann zum erfolgreichen, von Jiří Menzel verfilmten Roman Ich habe den englischen König bedient, inspiriert hat. Den 2020 verstorbenen Regisseur werden zumindest Cineasten kennen. Doch wer war Bohumil Hrabal?

Als der ungekrönte König der čechišen Prosa im Februar 1997 aus dem 5. Stock der Prager orthopädischen Klinik fiel, in der er wegen seiner Gelenkprobleme auf Behandlung lag, ward eine Legende geboren. Er, der Katzenfreund, sei beim Taubenfüttern aus dem Fenster gefallen. Ein Unfall. So die offizielle Version. Doch bald tauchten Zweifel auf.
Spürte er, dass ihm nicht mehr zu helfen war?
Was sollte er noch ohne seine geliebte, 1986 verstorbene Frau Eliška?
Katzen – so sehr er sie auch mochte – sind auf die Dauer doch keine Gesprächspartner.

1963 debütierte Hrabal, der jahrzehntelang Gedichte für die Schublade schrieb, bevor er sich der Prosa zuwandte, mit dem Titel Perlička na dně / Das Perlchen auf dem Grund. Sein Erfolg – er war bereits fünfzig – lag im frischen und lebendigen Ton begründet; der (absurde) Humor, Schwejk’scher Anarchismus und eine existentielle Leichtigkeit in seiner Prosa erwiesen sich als willkommene Gegenstimme zum steifen sozialistischen Realismus, den viele Künstler und Schriftsteller in diesen Jahren aufzubrechen begannen. Die Erzählung Bafler beginnt so:

„Auf dem Bänkchen vor der Zementfabrik saßen alte Männer, schrien einander an, packten einer den andern beim Revers, maulten sich gegenseitig die Ohren voll.
Es schneite Zementstaub; die ganze Gegend, Häuser und Gärten, war mit feingemahlenem Kalkstein bedeckt.
Ich ging in die verstaubten Felder hinaus. Unter einem einsamen Birnbaum schnitt ein winziger Mann mit der Sichel das Gras.
‚Sagen Sie, was sind das für Schreihälse dort bei der Pförtnerbude?‘
‚Die am Haupttor? Das sind unserer Rentner‘, antwortete er.
Und sichelte weiter.
‚Schön alt sind die‘, sagte ich.
‚Gelt? In ein paar Jährchen sitze ich auch dort.‘
‚Wenn Sie es nur erleben!‘
‚Aber ja. Die Landschaft hier ist sehr gesund.“

Das erste, was ich, wie viele meiner Generation, von Hrabal gehört hatte, war der Monolog Tanzstunden für Erwachsene und Fortgeschrittene, gelesen von Helmut Qualtinger. Die Prosa basiert auf Erzählungen seines Onkels Pepin. Damit wurde Hrabal, 1914 in Brünn geboren, auch in Österreich bekannt. Nach dem gewaltsamen Ende des Prager Frühlings durfte er jahrelang in der Tschechoslowakei nicht publizieren, doch seine Bücher konnten, in den Übersetzungen von Franz Peter Künzel und Susanna Roth, nach und nach bei Suhrkamp erscheinen.

Während der Roman Ich habe den englischen König bedient von Jiří Menzel erst 2006, also nach dem Tod von Hrabal, verfilmt wurde, wagte sich der junge Menzel bereits 1965 an die Verfilmung von Reise nach Sondervorschrift – Zuglauf überwacht. 1968 wurde der Film unter dem Titel Liebe nach Fahrplan mit dem Oskar für den besten ausländischen Film ausgezeichnet. Hintergrund der Erzählung ist die zu Ende gehende Herrschaft der Nazis im Protektorat: „Tiefflieger brachten den Verkehr so durcheinander, dass die Morgenzüge mittags fuhren, die Mittagszüge abends und die Abendzüge nachts, so dass es manchmal geschah, dass am Nachmittag der Zug fahrplanmäßig ankam, auf die Minute genau, aber nur, weil das der vier Stunden verspätete Personenzug vom Vormittag war.“
In der angespannten militärischen Lage verkehren jedoch nicht nur Züge in einem problematischen Rhythmus; auch im Verhalten zwischen den Geschlechtern, namentlich zwischen dem Fahrdienstleiter Hubička und der Telegraphistin Zdenička Svatá (Svata=Heilige) kommt es zu einem kurios-erotischen Vorfall, der von den Vorgesetzten genüsslich protokolliert werden musste.
Die Prosa geht auf Erlebnisse zurück, die Hrabal im Dienst der staatlichen Eisenbahn hatte. Nach Abschluss des Jurastudiums arbeitete er als Versicherungsagent, danach vier Jahre in der Eisenhütte Poldi in Kladno. Am Leben der Mitmenschen Anteil zu nehmen, war für ihn selbstverständlich, deshalb machte ihm manuelle Arbeit nichts aus: „Wenn in dem Hüttenwerk andere leben können, warum nicht auch ich?“ Tonnenweise schaufelte er Eisenerz, Mangan und Chrom für das Schmelzverfahren in den Martinöfen auf klapprige Kastenwagen. Bei der Arbeit wiederholte er Sätze aus Büchern von Dostojewskij oder von Dali, dessen Buch Die Eroberung des Irrationalen eine zeitlang seine Bibel war. Je komplizierter das Gelesene war, umso besser, meinte er einmal; ganze Sätze wehten vor seinen Augen wie Fahnen, und er überprüfte, ob dieser oder jener geheimnisvolle Satz auf die Wirklichkeit passte und ob er etwas über sie auszusagen hatte.

Ein schwerer Arbeitsunfall – als sich bei einer Kranhavarie ein Rad von der Rolle losriss, wurde Hrabal am Kopf getroffen und schwer verletzt – beendete seine Arbeit im Stahlwerk.
Nach acht Monaten Rehabilitation in Sanatorien arbeitete er von 1954 bis 1958 in einer Altpapiersammelstelle in der Spálená Gasse in der Prager Neustadt. Ein Teil des angelieferten „Altpapiers“ bestand aus Büchern der Weltliteratur, mit denen er seine Bibliothek bereicherte.

Seine erste Wohnung in Prag fand er 1948 am Altstädter Ring. Doch das Leben im Zentrum der Altstadt behagte ihm nicht, und so zog er bald an die Peripherie in die Gasse Na Hrázi, Am Damm, nach Libeň, wo er bis 1973 wohnte. Eigentlich bestand die Wohnung nur aus einer ehemalige Schmiedewerkstatt. Wasser und WC im Hof; für Luxus hatte Hrabal nie etwas übrig. Hier lebte er mit seiner Frau Eliška Plevová. Erst 1973 zogen sie in eine Neubauwohnung nach Prag-Kobylisy, doch Hrabal hielt sich schreibend und durch den Wald streifend lieber in seiner Hütte in Kersko bei Nymburk auf, die sie 1965 gekauft hatten.
Durch Verlängerung der Metrolinie verschwand 1988 die Gasse in Libeň samt dem Haus, in dem Hrabal ein Vierteljahrhundert lang lebte. Unweit seiner ehemaligen Bleibe entstand die Station Palmovska.

Diese war gleich noch am Tag meiner Ankunft in Prag mein Ziel. Aus dem Untergrund ins milde Nachmittagslicht eines Mai­tages tretend, empfing mich ein schmaler Platz, halb Wiese, halb Asphalt. Die Straße dahinter trägt noch immer den Namen Am Damm /Na Hrázi. Dreht man sich um, hat man eine Betonmauer vor sich mit dem zwei Jahre nach dem Tod des Meisters von der Künstlerin Tatiana Svatošova gemalten Wandbild. Ein respektables Werk und eine liebenswürdige Hommage in einer Malweise, die an Pop-Art erinnert.
Es zeigt den „Schellenober, der mit der Schelle in der Hand unter der Sonne spaziert“ (so beschrieb Hrabal sich selber), überlebensgroß, Hände in den Hosentaschen. Wir stehen uns gegenüber, ich suche seinen Blick, doch der seine geht über mich hinweg auf die wenigen noch einstöckigen Häuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite.
Neben ihm überlebensgroße Katzen, schablonenhaft; individuell jedoch in Diagonalen die Katzenköpfchen mit Namen; dazwischen Zitate aus seinem Werk, an die Wand applizierte Schilder und andere Materialien aus den Ruinen der Häuser. Etwa in der Mitte des Wandbilds wie aufgeblasen seine Perkeo, mit der er schreibend sein Wesen ergründete, eine deutsche Schreibmaschine, die nicht über Sonderzeichen wie das Häkchen verfügte. Die Mauer abschreitend beginnt in meinem Kopf eine Zeitreise; ich vergegenwärtige die alten Bilder und Erzählungen; Passagen aus seiner autobiographischen Trilogie mit den Titeln Hochzeiten im Haus, Vita nuova und Baulücken. Seine Selbstbefragung mündete in eine formale Antwort: Er erzählte über sich aus der Perspektive seiner Frau. Mit Hilfe dieses Spiegels gelang es ihm, auch seine Widersprüche, Schwächen und Laster, zur Sprache zu bringen. Manchmal sei er erstaunt vor dem geschriebenen Text gesessen und verwundert gewesen, über das, was er alles über sich erfahren hatte. Um nicht immer in der feuchten Wohnung zu sitzen, pflegte er an sonnigen Tagen auf das Dach des Schuppens im Hof zu steigen. Er saß auf einem Hocker, die Kofferschreibmaschine stellte er auf einen Sessel vor sich. Die Sessel und Hockerbeine waren so beschnitten, dass sie die Pultdachschräge ausglichen. Dann ließ er stundenlang seine Maschine rattern und schrieb sich in eine Art Trance hinein. Von den Surrealisten und vom letzten Kapitel im Ulysses von Joyce inspiriert ließ er seinen „Bewusstseinsstrom“ ungehindert fließen …
Gegen Ende der Mauer, hin zu einer Reihe vierstöckiger Wohnhäuser, das Raster eines riesigen Bücherregals mit den Namen jener Autoren, die für seinen Entwicklung bedeutend waren; auf den als Stäbe gemalten Buchrücken Namen wie Seneca, Platon, Lao Tse, Rabelais, Isaak Babel, Karl Jaspers, James Joyce, T. S. Eliot, Bruno Schulz, Jaroslav Hašek, Vitězslav Nezval, u. v. m.
Am unteren Ende der Mauer auf einem Fleckerl Grün ein Gedenkstein. Er erinnert an das Gasthaus U Vaništů, von dem er und seine Freunde – vor allem der Dichter und Musiker Karel Marysko und der Maler Vladimír Boudník – das Bier zu holen pflegten.

Um meinen Durst zu löschen – es war Abend geworden – zog es mich in die Altstadt. In dieser gibt es nach wie vor ein Gasthaus, in dem fast nur Prager anzutreffen sind: U Zlatého Tygra. Die Lieblingsgaststätte von Hrabal, seine „Universität“. In der kurzen Prosa, Wer ich bin, heißt es: „… manchmal sitze ich da und schweige verstockt, überhaupt gebe ich beim ersten Bier ganz klar zu verstehen, dass es mir unangenehm ist, irgendwelche Fragen zu beantworten, so sehr freue ich mich auf das erste Bier, und es dauert eine gewisse Weile, bis ich mich an diese tyrannisch laute Kneipe gewöhne …“
An den Tischen unter dem Tonnengewölbe war kein Platz frei, kaum eine Hand hätte zwischen die Schultern der dichtgedrängten Trinker gepasst. Vor ihnen volle und halbvolle Biergläser, darüber durch die bierfeuchte Luft fuchtelnde Arme, schreiende Münder. Die Phon-Stärke unter dem Gewölbe dürfte auch 25 Jahre nach dem Abgang des Dichters nicht geringer geworden sein.
Am hinteren Ende des Gewölbes, wusste ich, liegt ein etwas höher gelegener Raum, in dem sich noch ein Tisch befindet. Hier saßen drei Männer. Am schmalen Ende des Tisches war noch Platz. Ich unterbrach ihr Gespräch und fragte höflich, ob bei ihnen noch frei sei. Ja, kein Problem. Als das nächste Mal der Kellner ums Eck lugte, rief ich „jedno pivo, prosím!“. Unsicher, ob er meine Bestellung registriert hatte, ließ ich meinen Blick über die bebilderten Wände gleiten. Mein Gesicht schließlich zur Wand hinter mir drehend, sah ich, dass über meinem Kopf ein Porträtfoto von Hrabal hing. Und zwar nicht irgendeines, sondern ein sehr bekanntes von Hana Hamplová. Nachdem ich einige Schlucke getrunken, kam ich doch mit einem der drei ins Gespräch. Zuallererst durfte ich ihn mit meiner Herkunft vertraut machen: „Horní Rakousko!“ Ob ich wegen Hrabal gekommen sei?
Nun kam die Offenbarung: Wo ich sitze, so der Prager lächelnd, habe auch Hrabal des Öfteren gesessen. Ein Cousin habe ihm dies einmal verraten. Ich meinte, dass dies kein Zufall sein könne, dass ausgerechnet an diesem Tisch noch dieser Platz frei gewesen sei. Die drei lächelten freundlich und wandten sich wieder ihren Themen zu.

Der Anarchosyndikalismus

Die Referentin bringt seit mehreren Heften eine Serie über frühe soziale Bewegungen und emanzipatorische Entwicklungen. Über die revolutionäre Gewerkschaftsbewegung des Anarchosyndikalismus, von seiner Entstehung vor etwa 100 Jahren bis zu seiner Renaissance in den letzten Jahren schreibt Hans Huber.

Vor einhundert Jahren existierte international eine revolutionäre Gewerkschaftsbewegung, die heute kaum mehr bekannt ist. Die Rede ist vom Anarchosyndikalismus. Seine Hochblüte erlebte dieser in der Zwischenkriegszeit, doch Faschismus und Zweiter Weltkrieg ließen von der einstigen Massenbewegung nur mehr kümmerliche Reste über. Was zeichnete diese Gewerkschaften aus und weshalb erlebt die Idee des Anarchosyndikalismus in den letzten Jahren eine Renaissance?

Von der Geburt des Syndikalismus …
Wenn heute von der Gewerkschaft die Rede ist, so sind damit im deutschsprachigen Raum die großen Einheitsgewerkschaften gemeint. Der ÖGB vereint verschiedene politische Fraktionen und verhandelt als eine Gewerkschaft sozialpartnerschaftlich mit den Verbänden der Arbeitgeber. Solche Gewerkschaften bilden in Europa jedoch die Ausnahme – in anderen Ländern wie Frankreich und Spanien existieren Richtungsgewerkschaften mit unterschiedlichen weltanschaulichen oder parteipolitischen Ausrichtungen.

In Frankreich entstand Ende des 19. Jahrhunderts auch der Syndikalismus. Dieser verwarf die Grundidee der damaligen zersplitterten sozialistischen Parteien, mittels Wahlen die Lebenssituation der Arbeiter*innen zu verbessern und zum Sozialismus zu gelangen. Stattdessen sollte der Klassenkampf unmittelbar im ökonomischen Bereich durch die Gewerkschaften geführt werden – mittels „direkter Aktion“, also z. B. Streik, Boykott oder Sabotage. Neben dem „Kampf ums tägliche Brot“ mit dem Ziel von sofortigen Verbesserungen – also z. B. Verkürzung der Arbeitszeit oder Lohnerhöhungen – verfolgte der Syndikalismus darüber hinaus das Ziel einer sozialen Revolution.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts formte sich schließlich als eigene Strömung der Anarchosyndikalismus aus. Seine Theorien basieren auf den Vorstellungen des anarchistischen Sozialismus, während sich die Organisationsform an den revolutionären Syndikalismus anlehnt. Im Unterschied zu Parteisozialist*innen jeglicher Couleur verwerfen Anarchosyndi­kalis­t*in­nen die Idee, den Sozialismus „staatlich von oben herab“ einzuführen. Denn Verstaatlichung der Wirtschaft kann „nur zur schlimmsten Form der Ausbeutung, zum Staatskapitalismus, nie aber zum Sozialismus führen“ (Prinzipienerklärung des Syndikalismus, 1919). Statt zentralistischer Lenkung von Wirtschaft und Gesellschaft durch den sozialistischen (Einparteien-)Staat erstreben Anarchosyndikalist*innen einen libertären Sozialismus, der föderalistisch von unten nach oben organisiert sein soll. Die Gewerkschaft bildet dabei das Kampfinstrument zur Verbesserung der aktuellen Lebenssituation sowie zur Übernahme der Produktionsmittel in der sozialen Revolution und gleichzeitig auch die Basis der Organisation der neuen sozialistischen Wirtschaft.

… über die anarchosyndika­listischen Gewerkschafts­internationale …
In den 1920er-Jahren schlossen sich Gewerkschaften mehrerer Kontinente von Argentinien über die USA und Europa bis Japan in einer diesen Zielsetzungen verpflichteten Gewerkschaftsinternationalen zusammen. Die „Internationale Arbeiter Assoziation“ (IAA) vereinte in ihrer Blütezeit vier Millionen Mitglieder.

Auch in Deutschland erlebte der Anarchosyndikalismus nach dem ersten Weltkrieg einen Aufschwung: die aus der „Freien Vereinigung deutscher Gewerkschaften“ hervorgegangene anarchosyndikalistische „Freie Arbeiter Union Deutschlands (FAUD)“ zählte Anfang der 1920er-Jahre über 125.000 Mitglieder mit Hochburgen in den Bergbauregionen des Ruhrgebiets und einzelnen Industriestädten. In ihrer 1919 angenommen Prinzipienerklärung heißt es: „Die Syndikalisten (…) sind prinzipielle Gegner jeder Monopolwirtschaft. Sie erstreben die Vergesellschaftung (…) aller sozialen Reichtümer.“.

Die FAUD beteiligte sich an zahlreichen Streiks und stellte im Ruhraufstand 1920 (Märzrevolution) einen Teil der „Roten Ruhrarmee“. Von 1923 bis 1932 schrumpfte sie schließlich auf einige tausend Mitglieder – die Reste der unter dem Nationalsozialismus illegal weiteragierenden Organisation wurden 1936/37 von der Gestapo zerschlagen und in mehreren Prozessen vor dem Volksgerichtshof abgeurteilt.

In Österreich standen Anarchismus und Anarchosyndikalismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Schatten der starken Sozialdemokratie. Zwar gab es kleine anarchosyndikalistische Gewerkschaften und Propagandagruppierungen, über eine Gesamtmitgliederzahl von 2.000 kamen diese jedoch nicht hinaus.

… zur sozialen Revolution in Spanien 1936
Das Land mit der stärksten anarchosyndikalistischen Massenbewegung stellte Spanien in der Mitte der 1930er-Jahre dar. Die Confederation National de Trabajo (CNT) verfügte zu diesem Zeitpunkt über eine Million Mitglieder. Als 1936 rechte Generäle gegen die Linksregierung putschten, folgte bereits in den ersten Tagen des Spanischen Bürgerkriegs eine soziale Revolution in weiten Teilen Kataloniens und Andalusiens: die CNT übernahm die Kontrolle über zahlreiche Betriebe, richtete Agrarkollektive ein und versuchte ihre Vorstellung eines libertären Sozialismus umzusetzen. Die gesellschaftlichen Umwälzungen beschränkten sich dabei nicht auf den wirtschaftlichen Bereich, sondern erfassten auch die Schulen, das Gesundheitswesen oder die „Geschlechterfrage“. So organisierten sich etwa 20.000 Frauen bei den anarchistisch-feministischen „Mujeres Libres“.

Gemäß den föderalistischen Vorstellungen im Anarchismus wiesen vor allem die Agrarkollektive unterschiedlichste kollektivistische und kommunistische Formen auf: manche Dörfer und Kleinstädte schafften das Geld ab, andere entlohnten nach Familie, wieder andere individuell. Und in vielen Dörfern existierten neben dem Kollektiv individuelle Bewirtschaftungsformen für jene weiter, die sich dem Kollektiv nicht anschließen wollten. Ein komplexes System lokaler und überregionaler Vernetzung sorgte für die Rohstoff- und Materialbeschaffung und die Verteilung der produzierten Produkte – ein libertärer Sozialismus von unten nach oben konträr zur zentralistischen Staatsverwaltung in der Sowjetunion.

George Orwell, der in Spanien in der marxistisch-antistalinistischen P.O.U.M. bewaffnet gegen den Faschismus gekämpft hatte, beschrieb diesen libertären Sozialismus in „Spanische Erfahrungen“ so: „Die normale Klasseneinteilung der Gesellschaft war in einem Umfang verschwunden, wie man es sich in der geldgeschwängerten Luft Englands fast nicht vorstellen kann. Niemand lebte dort (Aragon, Anm.) außer den Bauern und uns selbst, und niemand hatte einen Herrn über sich. (…) Ich weiß sehr genau, wie es heute zum guten Ton gehört zu verleugnen, daß der Sozialismus etwas mit Gleichheit zu tun hat. In jedem Land der Welt ist ein ungeheurer Schwärm Parteibonzen und schlauer, kleiner Professoren beschäftigt zu „beweisen“, daß Sozialismus nichts anderes bedeutet als planwirtschaftlicher Staatskapitalismus (…). Aber zum Glück gibt es daneben auch eine Version des Sozialismus, die sich hiervon gewaltig unterscheidet.“

Doch innerhalb der republikanischen Gebiete erwuchs dieser Revolution ein erstarkender Gegner:
Die an Stalin orientierte Kommunistische Partei PCE entwickelte sich „zur Verfechterin des Privateigentums und der Interessen des Mittelstandes.“ (Walther L. Bernecker) Sie nutzte ihren stark wachsenden Einfluss in der Volksfrontregierung, unterdrückte ab Mai 1937 P.O.U.M und CNT und zerschlug zahlreiche Landkollektive. Auf die Niederlage der Revolution folgte 1939 die Niederlage der Linken im spanischen Bürgerkrieg.

Vom Niedergang bis zum Neuaufleben des Anarchosyndikalismus heute
War der Höhepunkt der meisten (anarcho)syndikalistischen Gewerkschaften in den 1920er-Jahren erreicht, so befanden sich die übriggebliebenen Reste nach dem Zweiten Weltkrieg im Niedergang. Der Historiker Marcel van der Linden beschreibt drei Wege ihrer weiteren Entwicklung:
a) das Festhalten an den ihren Prinzipien und darauffolgende Marginalisierung
b) Änderung ihres Kurses und Anpassung an neue Bedingungen – und somit die Aufgabe syndikalistischer Prinzipien
c) Auflösung oder Aufgehen in einer nicht-syndikalistischen Gewerkschaft

Von einzelnen lokalen Ausnahmen wie der SAC in Schweden oder dem Wiederaufleben der CNT in Spanien Anfang der 1970er-Jahre abgesehen, existierte der (Anarcho)Syndikalismus hauptsächlich noch als Ideengemeinschaft, aber nicht mehr als wahrnehmbare gewerkschaftliche Kraft.

Seit den 1990er-Jahren ist eine Trendwende und ein internationales Wiederaufleben anarchosyndikalistischer Ideen bemerkbar. Neu gegründete oder erstarkte Gewerkschaften mit (anarcho)syndikalistischer Prägung finden sich vor allem in jenen prekarisierten Bereichen, die von herkömmlichen Gewerkschaften vernachlässigt werden. So konnte etwa die 1977 wiedergegründete Freie Arbeiter*innen Union (FAU) in Deutschland in den vergangenen Jahren verstärkt an gewerkschaftlichem Profil gewinnen und damit auch ihre Mitgliederzahl deutlich steigern – heute sind wieder über 1.300 Menschen in Deutschland Mitglied in einer anarchosyndikalistischen Gewerkschaft. Neben zahlreichen kleineren Auseinandersetzungen z. B. um Lohnzahlungen machte sie mit ihrem Einsatz für rumänische Bauarbeiter in Berlin („Mall of Shame“), mit der Unterstützung eines wilden Streiks von 150 Erntehelfer*innen bei Bonn 2020 oder mit der Organisierung von Arbeitskämpfen von Fahrradkurier*innen von sich reden. Die spanische CNT-Abspaltung CGT verfügt heute über 80.000 Mitglieder und ist z. B. auch in feministischen Kämpfen (Frauenstreik) aktiv.

In Österreich existieren derzeit mit dem Wiener Arbeiter*innen Syndikat (WAS) und den Wobblies (IWW) zwei kleine Gewerkschaftsgruppen, die sich auf anarchosyndikalistische bzw. syndikalistische Traditionslinien beziehen. In den vergangenen Jahren konnte dabei das WAS in (Lohn)Auseinandersetzungen mehrere Erfolge erzielen. Ihre modernen Kämpfe „ums tägliche Brot“ reihen sich ein in das Wiederaufleben einer sozialrevolutionären Gewerkschaftsbewegung, die nach dem Zweiten Weltkrieg fast in Vergessenheit geriet.

Die Serie in der Referentin ist auf Anregung von Andreas Gautsch bzw. der Gruppe Anarchismusforschung entstanden, siehe auch: anarchismusforschung.org