To be or not to be connected.

Der Film DREAMS REWIRED – DIE MOBILISIERUNG DER TRÄUME war Ende Mai beim Festival „Art Meets Radical Openness“ zu sehen. Der Film erzählt eine atemberaubende Technologiegeschichte, die poetisch wie hypnotisierend Brücken von den Anfängen um 1900 ins Hier und Heute schlägt. Hier ein Interview mit Manu Luksch, eine der drei Regisseurinnen des Films.

Dreams Rewired – Die Mobilisierung der Träume ist eine „atemberaubende Montage filmischer Fundstücke, über die technologischen Entwicklungen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts“. Es sei außerdem zum Film zitiert: „Aus über 200 Spielfilmen, Wochenschauen, wissenschaftlichen und ästhetischen Experimenten entstand eine dicht gewebte und bildgewaltige Erzählung voll mit hellseherischen Momenten, irrwitzigen Details und überraschenden Wendungen“. Nichts weniger als die Tatsache, dass jedes Zeitalter sich selbst für das fortschrittlichste hält, wird in Frage gestellt. Zudem hält der Film neben der großen Technologieerzählung absolut bemerkenswerte „Nebenerzählungen“ parat: Er stellt uns viele Pionierinnen vor, so auch Alice Guy, der der erste Regieposten der Filmgeschichte überhaupt zugesprochen wird. Ein anderer, ins große Ganze verwobener Erzählstrang beleuchtet die Bedeutung des Fernsehens, das als televisuelle Utopie, als „Ideengeber und fantastischer Fluchtpunkt“ älter ist als das Kino. Dass „Broadcasting“, die begriffliche Gleichsetzung zum Fernsehen überhaupt, ursprünglich auf einen Begriff aus der Landwirtschaft zurückgeht, auf ein „Saat streuen“, ist insofern interessant, als dass Broadcasting „Ideensaat ausstreut“. Was wiederum nur eines der sprechenden Details darstellt, die im Film zu sehen sind.

In einer derartig neu aufgerollten Erzählung werden natürlich Brückenschläge zur heutigen medialen Welt virulent. Manu Luksch, in London lebende Regisseurin, ist zum Festival AMRO und seinem diesjährigen Motto „Waste(d)“ angereist und hat im Vorfeld ein Interview zu Dreams Rewired, zu Hintergründen, zu persönlich antreibenden Fragestellungen und ihren weiteren Plänen gegeben.

Du zeichnest für Drehbuch und Regie, gemeinsam mit Martin Reinhart und Thomas Tode. Nun wird mit Archivmaterial eine Technologiegeschichte erzählt. Das verwendete Archivmaterial als „Gedächtnismaterial“ wird im Film großartig und sinnlich erfahrbar – poetisch, hypnotisch, magnetisch zieht der Film seine Betrachterinnen in einen Bildstrom. Ich meine dieses sinnliche Element zur Technologie ist insofern höchst passend, als dass alles mit allem verbunden scheint – die Träume, die Verheißung, die Ängste, also alles Individuelle und Höchstpersönliche, dann wieder die Macht, die Politik, der Kommerz, zudem im größeren Zeitsprung die Vergangenheit, die Zukunft … Wie gestaltete sich eure Arbeit in diesem größtmöglichen kognitiven wie sinnlichen Zusammenhang, in diesem Widerspruch, wo alles miteinander verbunden scheint?

Deine Frage trifft es auf den Punkt – wie lädt man Zuseher auf eine gemeinsame Reise durch eine Geschichte ein, die endlos erscheint? Zeitlich, räumlich und inhaltlich endlos, da der Film unsere Beziehung zu Medientechnologien nicht nur als Infrastruktur und Werkzeug reflektiert, sondern auch als virtuelle Raumerweiterung und als Versuch Zeit zu manipulieren. Thema sind auch die Versprechen jeder Innovation, die Machtspiele im Zusammenhang mit Zugang zu den Medien und Regulierung derselben, und folgerichtig auch das Spiel mit unseren Emotionen – Begeisterung über die ersehnten „super powers“ – etwa Überwindung von Distanz oder Zeitreisen in die Vergangenheit als auch Bedenken über die raschlebigen Veränderungen oder neue Abhängigkeiten.

Aus mir unerklärlichen Gründen sind Technologiegeschichten meist rund um Erfinderpersönlichkeiten strukturiert, und suggerieren eine strikte chronologische Entwicklung. Nehmen wir das Beispiel des Fernsehers – als Erfinder wird John Logie Baird oder Vladimir Kosmich Zworykin genannt, doch vor ihnen konzipierten Paul Nipkow, Karl Braun, Lee de Forest, Boris Rosing, Philo Farnsworth und andere bereits das Fernsehen oder essentielle Bestandteile. Die Vorstellung mithilfe eines Gerätes Geschehnisse in der Ferne mitzuerleben, ist so alt wie die des Hellsehens, und rückte spätestens mit dem Telefon (Hören über Entfernung) in greifbare Nähe. In Literatur finden wir Phantasien, die „elektronische Teleskope“ oder das „Telephonoscope“ beschreiben, wie etwa Albert Robida in „La Vie Electrique“ (1890). Die Jahreszahl des Patents oder der Produktion einer Erfindung bedeutet nicht, dass sie sofort weltweit eingesetzt wird. Ihre Durchsetzung dauerte unterschiedlich lange – es galt nicht nur ein Nord-Süd-Gefälle, sondern auch eine Land-Stadt-Verzögerung zu überbrücken.

Mein Leitfaden, um mich nicht zu „verirren“, war meine zutiefst persönliche Frage an unsere Kommunikations- und Informationstechnologien: die Frage nach dem Einfluss des Smartphones auf unsere Autonomie.

Wir machen damit den Sprung von der Vergangenheit ins Jetzt: Archivmaterial steht natürlich in der Funktion einer „erinnerten Faktensammlung“. Es stellt hier aber auch eine Art kollektives Unbewusstes dar, als vergangene Zukunftsideen, als Träume über ein vergangenes Utopia. Euer Film ist ja auch ein Beitrag zu einer faszinierenden, vergessenen Technologiegeschichte, eine Erinnerung an einen nicht eingelösten Wunschtraum. Es wird an die „idealistischen Ursprünge“ zu Beginn des letzten Jahrhunderts erinnert, um letzten Endes „das Konzept einer medialen Öffnung für das 21. Jahrhundert als positive Lehre aus der Geschichte“ vorzuschlagen. Kannst zum Verlauf von Technologieentwicklung, bzw. zu deren Verwertung etwas sagen?

In seinem Buch „The Master Switch: The Rise and Fall of Information Empires“ (2010), beschreibt Tim Wu seine Sichtweise der Geschichte von Kommunikationsinfrastruktur auf sehr einsichtige Weise. Demnach verläuft die Geschichte in Zyklen – offene, gemeinnützige Strukturen werden mit der Zeit zu konsolidierten und geschlossenen Systemen. Erst wenn eine durchschlagende Innovation das alte System ablöst, kommt es wieder zu einer Öffnung, bis sich Besitzverhältnisse und Regelwerke wieder verfestigen und einengen. Monopolistische Konzerne und Regierungen stecken dabei wohlig unter einer Decke. Silvio Berlusconi und Thaksin Shinawatra sind zwei erschreckende Beispiele von Medienmogulen, die in die Position des Premiers, bzw Ministerpräsidenten gelangten. Die Enthüllungen der Snowden-Dokumente bezeugen denselben spiralenförmigen Verlauf – die weltweit größten Internetkonzerne stehen in enger Beziehung mit der US-Regierung und entziehen hiermit den Regierungskritikern die Kommunikationsinfrastruktur, von der sie abhängig sind.

Zu diesem gegenwärtigen Zeitpunkt sind wir zu einem bestimmten Grad abhängig von der Infrastruktur, die uns das Smartphone zugänglich macht. Um Veränderungen zu bewirken, muss auf gesellschaftlichem Level agiert werden um Forderungen zu formulieren. Dazu müssten wir uns zuerst dem Zangengriff von Abhängigkeit und Komfort, mit dem uns das Smartphone umklammert hält, entwinden. Ich hoffe, dass der Film zum Nachdenken anstößt und die Dringlichkeit vermittelt, dass sich alle an der Gestaltung unserer Medienlandschaft und Dateninfrastruktur beteiligen sollen.

Ich wechsle von Technologie und Politik im engeren Sinn zu emotionaleren Dingen und bin beim Begriff der Verheißung hängen geblieben … das Theremin etwa, das erste immaterielleste, technologische Instrument überhaupt, hat der Filmkomponist Siegried Friedrich an einer Stelle auch im Zusammenhang einer sexuellen Konnotation, also einer sexuellen Versprechung eingesetzt. Was die Rolle der Frauen neben dieser sexuellen Konnotation anbelangt, gibt es außerdem eine andere Verheißung – die der Befreiung: Es wird auch die Rolle der Frauen thematisiert – unter anderem der ersten Regisseurin Alice Guy. Lässt sich hier exemplarisch zur Rolle der Frauen und zu einem emanzipativen Moment etwas sagen?

Die Weltausstellungen rund um die Jahrhundertwende zeigten Pionierarbeiten, Prototypen von Medientechnologien, wie sie im Alltag noch nicht gängig waren – und begeisterten Millionen von Besuchern mit der Aussicht, dass sie in nicht allzu langer Zeit für alle – wirklich alle zur Verfügung stehen würden, nicht nur für Privilegierte, die bis dahin exklusiv in den Genuss von Annehmlichkeiten gekommen waren. Die elektrischen Medien würden infrastrukturellen Fortschritt und neue Möglichkeiten in das Leben von Arbeiterschicht, Migranten, Frauen, – und heute erweiterbar auf Kinder – einbringen.

Die Aufbruchsstimmung in den Städten im Morgenrot der Moderne betraf Frauen auf unterschiedlichste Weise, und in den Archiven kommen sie häufig als selbstbewusste, oft überlegene Akteurinnen vor, die nicht nur als Benutzerinnen die Medien für sich einzusetzen wussten – wie etwa die Protagonistin in Louis Seel’s Animation Wiener Bilderbogen 1 (1926), die über Funkverbindung ihrem untreuen Mann eine Ohrfeige verpasst und sich dann mit ihrem eigenen Liebhaber außerhalb des Äthers in einem Propellerflugzeug vergnügt. Die Frauen kommen aber auch als Pionierinnen vor – wie etwa die Mädchen, die ihre Dörfer an das Kommunikationsnetzwerk der Russischen Revolution anbinden, indem sie gemeinsam Morse- und Rundfunkgeräte bauen, oder eben die Gaumont-Angestellte Alice Guy: als Sekretärin der damaligen Fotofirma besuchte sie das legendäre Screening der Lumière-Brüder. Da sie von Büchern umgeben aufgewachsen war – ihr Vater betrieb ein Buchgeschäft – erkannte sie sofort das Potential des Films Geschichten zu erzählen. Sie fragte ihren Boss, ob sie die Lumière-Kamera, die er erworben hatte, benutzen durfte. Er gestatte ihr nach erledigter Büroarbeit, und natürlich unbezahlt, damit zu arbeiten. Ihrem ersten Film „La Fée aux Choux“ (1896) sollten noch hunderte von Kurzfilmen folgen, die Gaumont verhalfen zu einem der größten Filmverleiher der Zeit zu werden. Da die Produktionen narrativer Filme es nicht mehr erlaubten, dass alle Aufgaben – wie Licht, Kamera, Bühnenbild – vom Filmemacher selbst getragen wurden und Arbeitsteilung am Set mit sich riefen, gilt Alice Guy nicht nur als erste Regisseurin, sondern eine Frau war sozusagen der erste Spielfilmregisseur der Welt überhaupt.

Eine Frage zu eurem Arbeitsprozess: Wie hat sich eure Arbeit gestaltet – eine Arbeit, die auf allen Ebenen, wie in einem Begleittext zum Film zu lesen ist, einerseits aus Affirmation, andererseits aus Widerstand besteht, zumindest in der ästhetischen Weise der Bearbeitung?

Meine Koregisseure Martin Reinhart und Thomas Tode hatten bereits jahrelang in Archiven Europas Filmmaterial recherchiert, das unsere erste Begegnung mit Medientechnologien eingefangen hatte. Das Material konzentrierte sich auf den Zeitraum der 1880er bis 1930er Jahre, da bis dahin alle heute gängigen Medienutopien angedacht, wenn auch nicht unbedingt umgesetzt waren. Es war meine Aufgabe, auf Basis dieses Materials ein Narrativ zu entwickeln – rund um die Utopien, wie diese Technologien unser Leben beeinflussen würden. Es wurden zuerst die raren historischen Filmfundstücke ausgewählt um die Erzählung zu leiten, gleichzeitig entstanden Text und Soundkonzept dazu. Ich wollte weder Text bebildern noch Bilder kommentieren, sondern Aussagen durch die Symbiose von Bild, Text und Sound finden.

Ich meine mich außerdem erinnern zu können, dass Siegfried Friedrich einen Preis für die musikalische Arbeit am Film bekommen hat. Oder auch die wunderbare Tilda Swinton, die die englische Erzählstimme gibt. Wie ist es denn zu dieser Zusammenarbeit gekommen? Aber, vor allem: Wie hat sich denn das Team generell geformt, oder wie hat sich hier die Zusammenarbeit generell gestaltet?

Die Arbeit an Erzählung, Schnitt und Rechteklärung streckte sich über drei Jahre. Während der gesamten Phase arbeitete ich eng mit dem Komponisten Siegfried Friedrich zusammen, als auch dem Co-Autor Mukul Patel. Mit jeder Veränderung des Bildes wurde auch, um Längen, Rhythmus, Stimmung, etc. zu gestalten, Erzähltext und Musik überarbeitet.

Die Verleihung des Deutschen Dokumentarfilmmusikpreis 2016 beim DOK.fest München an Siegfried Friedrich, die Anfang Mai stattfand, freute das gesamte Team von Dreams Rewired besonders. Seine Musik hatte nicht nur die unvorstellbar komplexe Aufgabe, Material aus ca. 200 unterschiedlichen Quellen zu verbinden, sondern auch, den stilistischen Reichtum der Epoche musikalisch zu reflektieren, und die Leseweise der historischen Bilder aus dem Blickwinkel der heutigen Zeit zu unterstützen.

Der Erzähltext wurde nicht nur wegen seines Volumens, sondern auch wegen der unterschiedlichen Stile, von wissenschaftlichen bis hin zu improvisierten Textpassagen, eine Herausforderung. Ich hatte bereits vor einigen Jahren mit Tilda Swinton an einem meiner Filme, FACELESS (2007), gearbeitet, und so hatte ich bereits während des Verfassens des Textes zunehmend ihre Stimme im Hinterkopf. Natürlich war Tilda wieder einmal die ideale Stimme, und wir freuten uns sehr über ihre Zusage.

Die abschließende Frage: Der Film hatte im Frühjahr 2016 Österreich-Kinopremiere, wurde etwa auch schon auf der Diagonale 2015, im Linzer Moviemento gezeigt, und zuletzt bei „Art Meets Radical Openness“, einem Festival vom freien Netzprovider servus. Der Film kann zudem schon eine beträchtliche Anzahl von internationalen Spielorten aufweisen. Wie geht’s denn nun weiter mit Dreams Rewired? Was wünscht du dir für den Film? Und wie geht es für dich persönlich mit deiner Arbeit weiter, wohin gehen die nächsten Schritte oder Projekte?

Dreams Rewired hatte eine exzessive internationale Filmfestivalpräsenz, und in den USA erschien der Film bereits auf DVD und VOD. Es gibt bereits Interesse von akademischer Seite, den Film in Publikationen zu besprechen, und sogar in Curricula zu integrieren. Es gibt auch Interesse aus der Kunstwelt – etwa der National Art Gallery in Washington oder des Neuen Medienkunstfestivals in Seoul, Screenings in ihr Programm aufzunehmen. Ab nächstem Jahr beginnt die Fernsehauswertung – ARTE und 3sat haben bereits zugesagt. Der Film wurde bereits in fünf Sprachen übersetzt, und ich würde mir wünschen, dass er in all diesen Sprachen als DVD oder über VOD zugänglich gemacht werden kann.

Ich stecke bereits tief in den Vorbereitungen für mein nächstes Filmprojekt über das Smart-City-Phänomen: weltweit befinden sich Städte in einer Art Wettrennen um mit ihrer guten Platzierung im City-Ranking Firmen, Investment und Millenials anzulocken. Als schnelle Lösung zur Aufwertung von Standorten bieten IT-Konzerne smart infrastructure, die Vernetzung mit unzähligen Sensoren, an, die es ermöglicht, die Abläufe der Stadt über Echtzeit-Datenanalyse zu überprüfen und im Idealfall Engpässe und Katastrophen vorauszusagen. Genau dieses Potential der Vorhersage auf der Basis von autogenerierten Daten (Big Data) kann auch auf enger definierte Stadtbereiche oder Haushalte angewandt werden. Mögliche Formen des Machtmissbrauches in diesem Bereich sind noch sehr unterbeleuchtet. Mit dem Film möchte ich einen Einstiegspunkt zu diesem Thema anbieten, um eine viel stärkere Beteiligung von Seiten der Bevölkerung zu stimulieren. Schließlich sollen die Erfahrungen und Bedürfnisse der Bewohner die Diskussion um die Zukunft der Stadt prägen, nicht Technologiejargon. In diesem Sinne habe ich eine Webseite gestartet, das SmartCityABC, wo wöchentlich ein Wort aus dem gängigen Smart City Vokabular auf humorvolle Weise entmythologisiert wird. Es war sehr ermutigend, als meine neue Produktion bereits im Vorfeld mit einem Preis ausgezeichnet wurde – dem Artivism Elevate Preis 2015.

 

SmartCityABC

smart.cityabc.xyz

twitter.com/SmartCityABC

Dreams Rewired

www.dreamsrewired.com

www.facebook.com/Dreams.Rewired

AMRO

www.radical-openness.org/programm/2016/ dreams-rewired-mobilisierung-der-tr-ume

www.facebook.com/events/ 1626289567695255

Manu Luksch

www.ambientTV.NET

48 Stunden lang „One Day Home“

Als Teil von „Landschaft oder vom Genuss der Weltoberfläche“ ist ab 24. Juni das Projekt „One Day Home“ in der Landesgalerie Linz zu sehen. Anlässlich dessen trafen sich Manfred Grübl und Clemens Bauder Mitte Mai zu einem Gespräch am Attersee. Im Interview trifft gewissermaßen die schwimmende Insel „One Day Home“ auf einen schwimmenden Berg, der dereinst beim Festival der Regionen zu sehen war.

Im Mittelpunkt der zweiteiligen Aktion „One Day Home“ (2012) von Manfred Grübl und Werner Schrödl stand ein in Wien zusammengezimmertes Haus aus Abbruchholz, das am darauffolgenden Tag in den Attersee gesetzt und auf unterschiedliche Art und Weise bewohnt wurde. Mit einem selbst gebauten Gefährt in der Gestalt eines Berges begaben sich Clemens Bauder, Felix Ganzer und Ella Raidel während des Festivals der Regionen 2015 fast zwei Wochen lang auf eine Expedition am Traunsee. Konträr in der Konzeption endeten beide Aktionen mit einer ähnlichen Bildsequenz: dem Verschwinden des schwimmenden Objektes am Horizont, hinein in die dunkle Nacht.

Starker, dichter Regen bei der heutigen Anreise hat Gedanken an den Aufbau des Berges wach werden lassen. Bei schwierigen Wetterbedingungen wuchs „Der Berg“ wochenlang Dreieck um Dreieck am Wasser in die Höhe. Euer Haus entstand gewissermaßen über Nacht …

Das Projekt „One Day Home“ ist grundsätzlich an das Gecekondu-Gesetz, einem alten osmanisch-islamischen Gewohnheitsrecht, angelehnt. In den informellen Siedlungen in Großstädten wie Istanbul darf ein Haus, das „über Nacht“ auf öffentlichem Grund und Boden errichtet worden ist, nicht mehr abgerissen werden. Diese informellen Bauten dürfen von staatlicher Seite auch nicht abgerissen werden. Werner Schrödl und ich bauten dann tatsächlich 24 Stunden lang durchgehend an unserem Haus. Um 7.00 Uhr Früh kam der LKW und kippte einen Berg aus Abbruchholz auf den Parkplatz. Trotz der geringen Dimension der Wohneinheit und der guten Vorbereitung – ein halbes Jahr, um alles auf den Punkt zu bringen – mussten wir uns ziemlich beeilen um den Hausbau an einem Tag zu schaffen.

Häuslbauen stellt viele Beziehungen auf eine Belastungsprobe. Wie ist es zu der künstlerischen Partnerschaft mit Werner Schrödl gekommen?

Wir beide kennen uns schon lange, waren in derselben Galerie und hatten uns in der Vergangenheit bei Projekten geholfen. Den Gedanken, eine Art von Hausboot zu machen, gab es schon länger. Und wie es beim Hausbauen halt so ist, gibt es einige Konflikte, Höhen und Tiefen. Manche trennen sich nach der Fertigstellung, wir trinken noch immer ein Bier miteinander. Eigentlich mache ich viele Projekte, die ein konzentriertes Arbeiten verlangen, alleine, andere wie „One Day Home“ brauchen aber die Dynamik einer Zusammenarbeit. Ein Haus lässt sich schließlich nur sehr schwer alleine aufstellen.

Für den Bau wurde eine Parkfläche temporär eingenommen. Was waren eure Beweggründe genau an diesem Ort zu bauen? Und warum eigentlich in Wien und nicht gleich am Attersee?

Werner Schrödl und ich wohnen beide in Wien. Wir wollten bei der Bauaktion möglichst viele Leute involvieren und waren gewissermaßen auch auf die Unterstützung unseres Freundeskreises angewiesen. Am Attersee wäre das viel schwieriger gewesen, wir kennen dort niemanden wirklich gut. Mit der Parktasche an der stark frequentierten Alliiertenstraße fanden wir für die Bauaktion einen idealen Ort, der auch groß genug war. Die Urbanität des Platzes – Straßenbahnen, Züge und Autos fahren vorbei – und die vorhandene Infrastruktur – ein Würstelstand, ein Cafe, eine Disco – waren uns sehr wichtig. Und auch das gründerzeitliche Umfeld und die Sichtachse zum Millenium Tower, einer absurden Maschine, die von unten bis oben funktionieren muss.

Mit welchen Reaktionen wart ihr während des Häuslbauens konfrontiert?

Durch die Ankündigung der Aktion in einer Tageszeitung kamen viele Schaulustige. Die Kommunikation war total interessant, hat aber auch viel Zeit im straffen Ablauf geschluckt. Andererseits haben uns auch viele Leute beim Zuschnitt und beim Zimmern geholfen. Im Endeffekt haben sich die Gespräche mit der Unterstützung vieler PassantInnen aufgewogen und waren eigentlich auch der Grund, warum wir das Projekt später ausgedehnt haben. Am Anfang war es für uns im Grunde nur ein Filmprojekt, erst im Zuge der Umsetzung hat sich herauskristallisiert, dass es eigentlich viel weiter gehen kann. In der Kommunikation mit BesucherInnen, aber auch während der Vorbereitung ging es viel um rechtliche Fragen. Was darf wer wann wo? Im Nachhinein gab es ein Interview mit dem Verfassungsexperten Thomas Olechowski vom Hans-Kelsen-Institut, um vor allem über Grundrechte und deren Einforderung zu diskutieren. Der Zehn-Fragen-Antwort-Dialog kommt jetzt in die Ausstellung.

Tiny Houses – kleine, auf das Wesentlichste reduzierte mobile Wohneinheiten – liegen derzeit vor allem in den USA im Trend. Euer Haus wanderte von der temporären Baulücke schließlich auf den Attersee. Welche Veränderungen waren für das Leben am Wasser notwendig?

Damit der Bau an einem Tag bewältigt werden konnte, war unser Haus entsprechend klein konzeptioniert. Das steile Satteldach spielt mit einer ländlichen Tradition, vom Charakter ähnelt es einer simplen Datscha. Es stecken aber viele Ideen im scheinbar normalen, primitiv konstruierten Haus. Das Dach lässt sich zum Beispiel aufklappen und öffnet den Blick nach oben hin zu einem völlig anderen Raumgefühl.

Wie ein Boot auszusehen hat, ist rechtlich nicht genau definiert, einzig steuerbar muss es sein. Am Attersee machten wir das Häuschen mit Blechtonnen als Schwimmkörper seetüchtig und bauten es nach und nach um. Wir nahmen das Dach herunter, kippten eine Seitenfläche als Terrasse heraus und erweiterten das Haus um schwimmende Plattformen – es dehnte sich vergleichbar mit einer Explosionszeichnung aus. Während der Performance wurden die Möbel teilweise zu Beibooten. Ein Kasten muss nicht immer ein Kasten sein, abgedichtet funktioniert er wunderbar. So konnten wir zum Einkauf für das Grillen rudern.

War die Idee, sich als schwimmende Insel am Wasser treiben zu lassen, legal und gratis, gerade dort, wo die Umgebung am schönsten ist, aber Grundstücke am Seeufer kaum noch vorhanden und mittlerweile unleistbar sind, ein Anlass den zweiten Teil der Aktion am Attersee zu machen?

Für Werner Schrödl und mich war es von Anfang an klar, dass es der Attersee sein muss. Einerseits aus persönlichen Gründen – sprich, man arbeitet mit dem, was man aus der Vergangenheit kennt – andererseits verbirgt er gewisse Konflikte, Umfahrungsstraßen werden für Oligarchen gebaut. Vielleicht ist deren Präsenz gut? Es ergeben sich auf jeden Fall Reibungsflächen. Der See als öffentliches Gut sollte von jedem beansprucht werden können. Fast alle Seegrundstücke wurden in den letzten Jahrzehnten verkauft, jedes Hotel hat seinen privaten Badeplatz, der Attersee ist nur mehr an wenigen Stellen öffentlich zugänglich. Der See als Freiraum ist etwas Klasses. Die Ufer sind zwar exklusive verbaut, das Rundherum schaut auf das Wasser, aber der See selbst ist annähernd unbesetzt. Am Wasser herrscht ein anderes Leben.

Auch als wir mit dem Berg auf dem Traunsee von Ufer zu Ufer schipperten, hatten wir das Gefühl, uns freier als gewohnt bewegen zu können, einzig beim Anlegen gab es eine genauere Choreografie. Für uns war es ein Spiel mit dem Auftauchen und Verschwinden auf einer überdimensionalen Bühne. Während unserer Expedition haben wir am See viele neugierige Leute getroffen. Dockte während eurer Performance jemand bei euch an?

Anders als mit dem großen Holzhaufen in Wien sind wir im Trubel am See gar nicht so sehr aufgefallen. Wir trieben einfach inmitten anderer Boote. Natürlich sind uns Kinder hinterher geschwommen, aber wir wohnten quasi einen Tag lang alleine – mit Hundebegleitung. Am Ende verschwand das Haus im Nichts, das war für uns das einzig denkbare, wenngleich fast mystische Ende des Filmprojekts. Der ursprüngliche Gedanke war, dass wir uns nach der Performance entfernen und das Objekt einfach treiben lassen. Nachdem wir aber im Vorfeld mit den Bundesforsten als Seeeigentümer bereits Probleme hatten, war dies nicht mehr möglich. Am nächsten Morgen wurde das Haus herausgehoben und eingelagert, jetzt kommt es in ausgeklappter Form für die Ausstellung wieder in die Stadt zurück.

 

„Aus der Sammlung: Landschaft“ ist ab 24. Juni 2016 in der Landesgalerie zu sehen.

www.landesmuseum.at

Fünf Räume. Zu: „Landschaft oder vom Genuss der Weltoberfläche“

grabt unterm tempel des Gasometers schreibt Sara Ventroni, die Ende Mai in der Galerie MAERZ gelesen hat. Diesen Appell frei interpretierend, gräbt Robert Stähr unter den Tempeln der Einzelausstellungen von „Genuss der Weltoberfläche“ nach ästhetischen Verbindungen – und versieht, ebenso frei interpretierend, jeden dieser Tempel zuerst mit einer Zeile von Ventroni.

Foto aus Nel Gasometro von Sara Ventroni

Foto aus Nel Gasometro von Sara Ventroni

Erster Raum

der Gasometer, der zeit unterstellt, ist nicht vers und nicht sinn und nicht raum

Sara Ventroni: „Im Gasometer“

Sara Ventroni und ihre Übersetzerin Julia Dengg lasen am 20. Mai im Galerieraum der Künstler- und Künstlerinnenvereinigung MAERZ Gedichte aus Ventronis Buch „Im Gasometer“, welches neben Lyrik auch Essays und Storyboards enthält, mithilfe derer die Autorin das architektonische Phänomen und „Relikt der Moderne“ Gasometer gedanklich und metaphorisch umkreist, davon immer wieder abstrahiert und sich auf diese Weise einen Textraum für vielfältige Assoziationen zu (Industrie-) Landschaften und emotionalen „Architekturen“ schafft. Der klangvolle Vortrag der Italienerin kontrastierte mit der beinahe monotonen Lesung der deutschen Übersetzungen ebenso wie die unterschiedlichen „Idiome“ der beiden Sprachen.

Neben Ventroni trug an diesem und dem vorangegangenen Abend eine Reihe weiterer Autorinnen und Autoren unter dem Veranstaltungstitel „Kein Sprung ins Dickicht dringt, kein Huf hinaus“ literarische Texte vor, welche mit dem Thema „Landschaft“ einmal mehr, dann wieder weniger zu tun hatten. Das Spektrum an den beiden von Christian Steinbacher und Florian Huber zusammengestellten Abenden reichte von der Thematisierung realer, geographisch verortbarer Landschaften über Erkundungen von „inneren und äußeren Landschaften des Subjekts“ (Veranstaltungsfolder) bis zu den kurzen Erzählungen Hans Thills, in welchen dieser ebenso launig wie sprachlich präzise Szenen aus imaginären Dörfern entwirft. Das Nebeneinander von Lakonie und – immer wieder „aufblitzender“ – Absurdität verleiht den Texten des Autors, der auch als Herausgeber und Übersetzer arbeitet, einen sympathischen Reiz.

Den Um-Raum der zweitägigen Lesereihe bildet die in den MAERZ-Räumen zu sehende Ausstellung unter dem Titel „restlicht.romantik“. Fast alle gezeigten Arbeiten stehen vor dem Hintergrund romantischer Landschafts- und Naturbetrachtung des 19. Jahrhunderts mit ihrer Perspektive der Idealisierung des Verhältnisses von Mensch und Natur (bis hin zur Verklärung) und deren dunkler, schwerer fassbarer Kehrseite: dem Bedrohlichen, (Alp-) Traumhaften der Welt, Umwelt, welcher wir uns nicht entziehen können.

Sehr schön, gleichsam zweidimensional und doch plastisch erfahrbar wird dieses Ineinander von „Licht und Dunkel“ in dem großformatigen S/W-Bild „Gimme Shelter“ von Peter Hauenschild und Georg Ritter: ein Dickicht, eine Waldlandschaft – Bäume, der Boden dazwischen bedeckt: wovon? Von Steinen? Blättern und Erdreich? Gerade aus ihrer obsessiv anmutenden, millimeterhaft genauen Art der Zeichnung erwächst eine – ästhetisch kalkulierte – Unschärfe der Darstellung, die der Betrachterin/ dem Betrachter großen Spielraum lässt, im Bild eine Anzahl unterschiedlicher, einander überlagernder Bilder zu entdecken: Schutz, Verwüstung, Offenbarung, …

Auf den allerersten Blick ähnlich, auf den zweiten aber unterschiedlich ist der Ansatz von Gerhard Brandl – der die Ausstellung auch kuratiert hat – in seiner Arbeit „lands-cut“, aus welcher zwei Beispiele in der Ausstellung zu sehen sind. Brandl unternimmt photographisch genaue graphische Studien karg wirkender Wald- und Berglandschaften, arbeitet dabei gekonnt den Bezug zwischen der Dreidimensionalität des Dargestellten und der Zweidimensionalität der Bildfläche heraus. Der für seine genuine, mit der Technik photographischer Apparaturen experimentierende Photokünstler Walter Ebenhofer zeigt mit „Mountains indiscrete I und II“ zwei wiederum auf den ersten Blick nicht als solche erkennbare Photomontagen. Die Bruchlinien der Montage, aus wie vielen montierten Elementen sich die beiden Bilder zusammensetzen, ist nicht eindeutig auszumachen. Sie erzeugen vielmehr den Eindruck von hermetischer Abschließung, weisen die Betrachterin/den Betrachter quasi ab.

Ebenhofer, Brandl, Hauenschild/Ritter prägen im „Zusammenspiel“ ihrer gezeigten Arbeiten die Ausstellungssituation im größeren Raum der MAERZ, während im gegenüberliegenden kleineren Raum eine heterogene Ansammlung von Exponaten zu sehen ist, welche neben Malerei, Zeichnung und Photographie auch Video und Installation als Ausdrucksmedien einschließt. Das gewissermaßen „Andere“ der Ausstellung stellt – zurück im großen Raum – Lois Weinbergers „Verlauf“ dar: Der mit dem Einsatz von „natürlichen“ Materialien und Verfallsprozessen namhaft gewordene Künstler entwirft darin einen Plan, ein „poetisch-politisches Netzwerk“, eine … Landschaft von Worten und Begriffen; ob dieses Netzwerk „Hierarchien unterschiedlicher Art in Frage stellt“ (Info-Blatt zur Ausstellung), sei dem Urteil der Betrachterin/des Betrachters überlassen.

Zweiter Raum

an orten unweit von urbanen zentren konzentriert sich alles auf die konstruktion von fixen bildern, posituren.

Sara Ventroni: „Im Gasometer“

In den Räumen des Architekturforums, direkt neben jenen der MAERZ gelegen, wird eine Ausstellung unter dem Titel „erfahrene Landschaft“ gezeigt, welche laut Folder „die Beziehung von Auto, Mensch und Landschaft“ thematisiert. Beide Ausstellungen sind Teil der Kooperation „Landschaft oder vom Genuss der Weltoberfläche“ von StifterHaus, Stadtmuseum Nordico, Landesgalerie sowie eben MAERZ und Afo. Im Unterschied zur klar im Kunst-Kontext verortbaren „restlicht.romantik“-Schau setzen die im Architekturforum gezeigten Arbeiten den Fokus auf Diskursivität und Symbolik.

Tobias Hagleitner, der die Ausstellung nach einer Idee von Gabriele Kaiser konzipiert und gestaltet hat, ist selbst mit mehreren Exponaten dort vertreten. Von symbolischer Wirkmächtigkeit ist seine Rauminstallation „Unter der Wunschmaschine“, in welcher er auf der Innenseite einer Art begehbaren „Baldachins“ Bildmaterial aus der Autowerbung zeigt, um deren einschlägige Mythen und Erzählungen von Raum und Freiheit. Inhaltlich und formal sehr interessant ist die Arbeit „Der ideale Blick“ mit ihrer Kombination von Landschaftsmalerei aus dem 17. bis 19. Jahrhundert (sic!) mit Ansichten aus „Google Street View“. Der ideale wird als ein intentionaler, also von jeweiligen Absichten bestimmter Blick entlarvt, mehr noch: „Die Landschaftsproduktion folgt ganz bestimmten Interessen.“ (Folder)

Eine gleichzeitig dokumentarische und künstlerische Arbeit zeigt Kurt Hörbst. Er hat den Bau der Mühlviertler Schnellstraße „S10“ über mehrere Jahre photodokumentarisch begleitet und neben den massiven Eingriffen in die Landschaft auch die skulpturale Qualität von Felsensprengungen, Hügelabtragungen einerseits, von unfertigen Straßenteilen, Lärmschutzwänden andererseits mit genauem Blick herausgearbeitet. Wie praktisch in der gesamten Ausstellung wird auf die ökologische Dimension des motorisierten Verkehrs und der dafür notwendigen Infrastruktur freilich nicht oder lediglich „versteckt“ Bezug genommen. Natürlich greift der einfache, ideologisch motivierte Gegensatz von „Natur“ und „Kultur“ viel zu kurz; das damit gemeinte Spannungsfeld in einem allgemeinen Kontext der Kulturation aufgehen zu lassen, lässt wiederum die umweltproblematische Seite zu starker Eingriffe in ökologische Kreisläufe – ob nun gewollt oder nicht – in den Hintergrund treten. Bodo Hell hat zur Arbeit von Hörbst einen Begleittext geschrieben, welcher im Buch zum Projekt abgedruckt ist.

Weitere Stationen der Ausstellung im Architekturforum kokettieren mit plakativer Symbolik (M. Jeschaunig), verzichten auf das Symbolische ganz (D. Meindl) oder laden zu einem stationären „road trip“ mit ausgewählter Musik aus einem „Autoradio“ ein (R. Laimer).

Gleichsam das „missing link“ zur Ausstellung im Stadtmuseum Nordico bildet eine als „Gruß von der Alpenfahrt“ titulierte Sammlung (Zusammenstellung: Gerhard Brandl mit Tobias Hagleitner) von Ansichtskarten mit Motiven von durch Gebirgslandschaften führenden Autostraßen. Im Folder zur Ausstellung steht dazu: „Die häufige Darstellung von Gebirgslandschaft und Autostraße auf Ansichtskarten spiegelt die Bedeutung der automobilen Erschließung der Alpen für das kulturelle Selbstverständnis von Gesellschaft wie Individuum.“

Dritter Raum

das eisen von efeu umringt voll efeuknoten die ringe des gasometers.

Sara Ventroni: „Im Gasometer“

Das Linzer Zimmer, ein kleiner Raum im Erdgeschoß des Nordico, beherbergt derzeit eine ebenfalls von Gerhard Brandl zusammengestellte Schau von Ansichtskarten mit Landschaften und Orten aus Oberösterreich und aller Welt. Wiewohl die Ausstellung eine ambitionierte Struktur (drei „Blickrichtungen“) aufweist und eine zeitliche Palette von mehr als hundert Jahren abdeckt, erweckt die konkrete Anordnung der Karten den Eindruck eines insgesamt wenig aussagekräftigen Sammelsuriums von Motiven. Auch die in Schaukästen aufgelegten Künstleransichtskarten vermögen diesen Eindruck nicht entscheidend abzuschwächen.

Vierter Raum

jeden tag auf dem rückweg nehm ich den Gasometer.

Sara Ventroni: „Im Gasometer“

Betritt man den Galerie- und Veranstaltungsraum des StifterHauses durch die Flügeltür, prallt man zurück: Eine efeubewachsene Holzwand versperrt den Weg; sie ist Teil einer eigenwilligen Ausstellungsarchitektur, die den großen Raum für die Dauer der Schau „STIFTER HAUS Seehöhe 255 m. Wanderwege durch Adalbert Stifters Bild-Welt“ neu strukturiert. Laut Folder soll damit eine „improvisierte Galerie“ eingerichtet werden, in welcher „Stifters bildkünstlerische und literarische Landschaftsbilder miteinander in Dialog treten“. Mit seinen an Holzgerüsten lehnenden Gemälden unterschiedlichen Formats und in diese Gerüste eingepassten Schrifttafeln mutet die Raumsituation eher wie eine Mischung aus Künstleratelier und einer gerade im Aufbau befindlichen Ausstellung an.

Die architektonische Gestaltung dieser Ausstellung (Peter Karlhuber) arbeitet einer typischen „Stifter-Stimmung“, verbunden mit dem und charakterisiert durch den typischen Respektabstand vor dem „Genius loci“, wirksam entgegen und schafft so eine davon befreite Aufmerksamkeit für Adalbert Stifter als Künstlerphänomen, als Be-Schreiber und Maler von Landschaften und Menschen, die in diesen leben und mit ihnen „umgehen“ müssen. Inhaltlich (Konzept: Evelyne Polt-Heinzl) ist der Raum in sechs „Wanderwege“ gegliedert, welche nach verschiedenen Kategorien – z. B. „Natur als Forschungsgegenstand“; „Zwischen Idylle und Katastrophe“ – durch Stifters Oeuvre und dessen Facetten führen.

grabt unterm tempel des Gasometers schreibt Sara Ventroni, und wenn wir, diesen Appell frei interpretierend, unter den Tempeln der Einzelausstellungen von „Genuss der Weltoberfläche“ nach ästhetischen Verbindungen graben, ist es zum Beispiel möglich, farbige Landschaftsbilder Stifters neben die Schwarzweiß-Zeichnung von Hauenschild und Ritter zu stellen und beider Spannungsfeld zwischen Idylle und Bedrohung zu genießen; Dorfszenen von Hans Thiel mit Stifters Novellen korrespondieren zu lassen, auch ohne sie – bemüht – ineinander überblenden zu wollen.

„Genuss der Weltoberfläche“ – mag dieser Gesamttitel für die fünf Einzelausstellungen („Eine Ausstellung in 5 Teilen“ trifft den Charakter der Kooperation nicht exakt) kokett, provozierend oder beides gemeint sein – er evoziert das suchende Graben unter dieser Oberfläche, ohne sie aufzureißen oder zu zerstören.

Fünfter Raum: Die Ausstellung „Aus der Sammlung: Landschaft“ ist ab 22. Juni in der Landesgalerie zu sehen.

 

Jeder einzelne Tod ist ein Skandal

Ingo Leindecker prägt seit gut fünfzehn Jahren auf vielfältige Weise die Linzer Kulturszene. Stephan Roiss befragte ihn zu seinem aktuellen Opus Magnum, dem Hörstück TODABLEITER, zum Kunstkollektiv Kompott und zur Bedeutung freier Archive und Medien.

Bereits mit 14 Jahren begann sich Ingo Leindecker bei Radio FRO zu engagieren. Es folgten eine Anstellung, die erfolgreiche Abwicklung zahlreicher Großprojekte und schließlich sogar die interimistische Geschäftsführung. Nebst der individuellen Gestaltungsfreiheit bergen die freien Medien für Leindecker wichtiges politisches Potential: „Sie fördern die freien Meinungsäußerung und demokratisieren die Medienlandschaft.“

Im Jahr 2000 entwickelte Leindecker maßgeblich das Cultural Broadcasting Archive (CBA) mit. Was zuerst nur als Austauschplattform für FRO-Sendungen fungierte, wurde bald zum Gemeinschaftsprojekt aller Freien Radios Österreichs und ist heute offenes Audioforum und Zeitarchiv zugleich. „Das CBA bildet eine breite Palette der zivilgesellschaftlichen Medienproduktion Österreichs ab. Es ist eine Sammlung von Inhalten, die kein Staatsarchiv in diesem Umfang dokumentiert.“ Aus dem Tagesgeschäft von Radio FRO hat sich Leindecker schon vor einigen Jahren zurückgezogen. Das CBA allerdings betreut er weiterhin – seit 2007 gemeinsam mit Thomas Diesenreiter. Die partizipative Konzeption von Archiven und vor allem der freie Umgang mit dem darin gespeicherten Wissen sind Leindecker ein besonderes Anliegen: „Archive machen Information – gleichzeitig aber auch medial vermittelte Geschichte – zugänglich und nutzbar. Sie unterstützen so einen individuellen Aufbau von Wissen und die Zukunft kultureller Vielfalt. Die Veränderungen von Meinungen, Diskursen und Paradigmen werden nachvollziehbar und damit auch die Gegenwart verständlicher gemacht.“ Wenig verwunderlich, dass Leindecker bei der Organisation der ARCHIVIA-Konferenzen federführend ist. Dieses Format lotet unter technischen, (urheber-)rechtlichen und gesellschaftspolitischen Gesichtspunkten den Status Quo Vadis von Online-Archiven aus. Da es auch aus Mitteln des imPULS-Topfes gefördert wurde, kann man sich noch bis 10. 6. im Salzamt einen Eindruck davon machen. Dort wird nämlich eine Auswahl von Projekten vorgestellt, die im Zeitraum von 2012–1014 durch die Sonderförderprogramme der Stadt Linz (nebst imPULS also auch EXPOrt und IMpORT) unterstützt wurden.

Und Ingo Leindecker ist in dieser Ausstellung auch noch ein zweites Mal vertreten: mit seinem Hörstück TODABLEITER. Mit dieser aufwendig produzierten Arbeit diplomierte er an der Kunstuniversität Linz. 2014 veröffentlichte er den TODABLEITER in Form eines Buches mit beigefügter Doppel-CD und präsentiert seine Publikation seither immer wieder an unterschiedlichen Orten. Bis dato zum Beispiel am Institut für Zeitgeschichte in Wien, mehrfach bereits in Linz oder erst kürzlich an der Berliner Humboldt-Universität.

Für das Stück hat Leindecker bald pulsierende, bald dröhnende Kompositionen und düstere Soundscapes angefertigt. Diese Musik stützt ein intensives, transdisziplinäres Geflecht von Stimmen. Über eine Länge von 95 Minuten hinweg bringt TODABLEITER historische Originalaufnahmen aus 1918–1945 mit jüngeren Wortbeiträgen aus recht unterschiedlichen Wissenschaftsgebieten ins Gespräch. Auf der einen Seite des Jahrhunderts sind zahlreiche Unbekannte zu hören, aber auch politische Schlüsselfiguren wie etwa Kaiser Wilhelm II oder Paul von Hindenburg und vor allem eine Reihe von nationalsozialistischen Funktionären – bis hin zu Göring, Goebbels und Hitler. Auf der anderen Seite kommen unter anderem zu Wort: der Neurobiologie Gerhard Roth, der Kommunikationswissenschaftler Paul Watzlawick oder der Sozialpsychologe Arno Gruen. Assoziativ und schlüssig hat Leindecker die Aussagen der unterschiedlichen Sprechpositionen arrangiert, zusammengeschweißt, einander gegenübergestellt. Im vibrierenden Zwischenraum von Klang und Sprache werden schwere Themen verhandelt: der Nationalsozialismus und seine Massenpsychologie, die Sehnsucht nach Neutralisierung der Individualität und nach einer Auflösung in einem gewaltigen Gruppengefühl. Elimination der Freiheit im naturalistischen Wahn. Selbst nichts sein, bloß als Partikel eines Verbundes dienen.

Die Anordnung der zehn Kapitel des Hörstücks folgt lose einem biografischen Schema: Der Bogen spannt sich vom Motiv der Geburt über Themen wie Kindheit, Arbeitswelt und kriegerische Auseinandersetzung bis zum Tod. Der bleibt nicht aus. Der muss unfassbar bleiben. Der kann eben nicht faktisch, sondern bloß imaginär abgeleitet werden. „Jeder einzelne Tod ist ein Skandal, niemand sollte sterben müssen.“ Diese Ansicht teilt Ingo Leindecker mit Elias Canetti, der ebenfalls mehrfach im Stück zu hören ist und dessen Werk „Masse und Macht“ die theoretisch-ästhetische Grundlage für den TODABLEITER lieferte. Davon zeugt recht offenkundig der Untertitel des Hörstücks: „Überleben und Tod, Masse, Macht und Gewalt.“ Auch der Begriff „Todableiter“ ist dem eigenwilligen Wälzer Canettis entnommen. Leindecker möchte einen kleinen Beitrag dazu leisten, dass die Substanz des Werkes neu bewertet wird. Das Buch schloss bei seinem Erscheinen an keinen etablierten Diskurs an, agierte terminologisch isoliert und proto-postmodern im Graubereich von Wissenschaft und Literatur. Die Rezeptionsgeschichte verlief dementsprechend unglücklich.

„Canetti rückt die Sterblichkeit ins Zentrum und macht bewusst, welchen maßgeblichen Anteil sie an der Struktur unseres Lebens und allem Sozialen hat. Die Radikalität, mit der er das tut, fasziniert mich. Hinter jedem – auch noch so harmlosen – Befehl z. B. verbirgt sich für ihn ursprünglich eine Todesdrohung: Das Kind, dem befohlen wird, ist von den befehlenden Eltern existenziell abhängig – genauso wie der Soldat von seinen Befehlshabern eine versteckte Todesdrohung empfängt.“ Canettis Masse und Macht erschien erst 1960, entstand aber in einem Zeitraum von 25 Jahren, stark geprägt von den Erfahrungen des 2. Weltkriegs. Canetti koppelt die Begriffe „Macht“ und „Masse“ an das nackte Überleben. Die Faktizität des Todes wird als Wurzel aller Machtbedürfnisse gesetzt. Der Mensch sucht die Masse um Macht zu erhalten: primär die Macht sich selbst zu schützen und potentielle Gegner*Innen abzuwehren, sie zu überragen, in letzter Konsequenz zu vernichten. Nach Gegenwartsbezügen muss Leindecker nicht lange suchen: „Wenn ich mir z. B. die sogenannten Identitären ansehe, deren offenbar verzweifelte ProtagonistInnen bei ihren Auftritten ein Banner mit der Aufschrift „unsterblich“ vor sich hertragen, dann reicht im Sinne Canettis dieses eine Wort aus, um diese sogenannte „Bewegung“ als totalitär zu entlarven. Mit Canetti gesprochen kommuniziert sie damit den ultimativen Machtanspruch, letztlich den Wunsch nach dem Überleben aller anderen bis in alle irdische Ewigkeit. Das ursprünglich religiöse Heilsversprechen wird in dieser Variante wieder vom Jenseits ins Diesseits verschoben, was einem bekannt und gefährlich vorkommen muss.“ Desiderat der Stunde wäre somit die Einübung einer paradoxen, aber zutiefst lebensbejahenden Haltung: ein Revoltieren gegen den Tod bei gleichzeitigem Bewusstsein, dass alle Versuche den Tod tatsächlich aufzuheben zum Scheitern verurteilt sind und sich ins Wahnhafte gesteigert radikal gegen das Leben kehren.

Ingo Leindecker bedient sich in seinen künstlerischen Arbeiten vor allem der Medien „Sound“ und „Installation“. Entweder Solo oder im Kollektiv Kompott, das von Studierenden gegründet wurde, die von klassischen Ausstellungsformaten und White Cubes gelangweilt waren. Den aktuellen Kern vom Kompott bilden – nebst Leindecker selbst – Kristina Kornmüller, Petra Moser Ulrich Fohler und Thomas Kluckner. „Wir haben uns lange Zeit auf Leerstände konzentriert und sie mit eher kleinteiligen Arbeiten bespielt.“ Unter anderem führte Kompott Interventionen in einem halb eingerichteten Stundenhotel in Brüssel, einem Musterhauspark in Haid und einer still gelegten Fabrik in Lissabon durch. Das Interesse an ungenützten Räumlichkeiten ist nicht verschwunden, aber in den letzten Jahren etwas in den Hintergrund gerückt. Jüngst gestaltete man das Ortszentrum der Gemeinde Lichtenberg mit. Der entsprechende Platz wurde mit Steinen in unterschiedlichen Grautönen gepflastert, die miteinander eine Wolkenformation ergeben. „Das ganze Projekt hat weniger einen politischen, mehr einen ästhetisch-identitätsstiftenden Auftrag erfüllt. Das wurde von künstlerischer Seite auch hin und wieder kritisiert.“ Dem neuesten Kompott-Vorhaben mangelt es sicherlich nicht an politischen Konnotationen: „Inhaltlich interessieren wir uns seit mehreren Jahren für die Entwicklung Europas und besonders für die Verschiebung der Außengrenzen. Momentan arbeiten wir an einem zweiteiligen Projekt im Kosovo: Wir werden kulturell und künstlerisch aktive Personen aus dem Kosovo zu Gesprächen und Präsentationen nach Linz einladen und in Zusammenarbeit mit KünstlerInnen von dort dann eine Gemeinschaftsarbeit in Priština realisieren.“

Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Der Wolf ist ein Rudeltier.

 

Zweifacher Bezug zur Ausstellung LinzImPULS, LinzIMpORT, LinzEXPOrt: Ingo Leindecker ist dort mit TODABLEITER vertreten, ebenso ist das hier besprochene Radio FRO-Projekt ARCHIVIA zu sehen. Salzamt Linz, noch bis 10. 06. 2016

Präsentation „TODABLEITER“: Freies Theater Innsbruck, 1. 10. 2016

www.fro.at/ingol

todableiter.servus.at

kmptt.net

Robot sucks …

Zwar nicht ganz wirklich Modern Dance, aber dennoch eine großartige, völlig andere Art von Ballett: Die Roboter-Ballett-Projekte von Walter Schalter hat sich Christian Wellmann angesehen.

Walter Schalter ist äußerst umtriebig, der Künstler und Musiker studiert Mediengestaltung, arbeitet im Brotberuf als Systemadministrator und unterrichtet Informatik an der HBLA Lentia, zudem Volkswirt, Gründungsmitglied von Backlab, ehemals Regie-Assistent am Linzer Landestheater. All diese Eckpfeiler laufen schier selbstverständlich in seinen Roboter-Ballett-Projekten zusammen. Verfremdungstechniken – bei Gebrauchsgegenständen – wie bei Duchamp kommen zum Einsatz. Wer das noch nicht leibhaftig gesehen hat – wie zum Beispiel das „Penis Ballett“, „Automatic Worker Ballet“ – den bitte ich, NUN den unten angeführten Link zu den Videos zu klicken, – LESESTOPP HIER –. Die Clickfaulen unter euch mögen ihre Aufmerksamkeit auf das den Text umschmückende Bildmaterial lenken.

Es handelt sich um Staubsauger-Roboter, kurz: Saugroboter, zumeist mit Figuren versehen, die als Ballett in einer Installationssituation dahingleiten, aufgrund der Einfachheit ergibt sich eine gewisse Komik und Poesie. Herumirrende Automatismen, nur scheinbar zufällig getrieben, deren Kalkül in ihren festgelegten Bahnen nicht sofort erkennbar ist. Sind sie gar verselbstständigt? Den Begriff Ballett verwendet Schalter folgendermaßen: „Weil der Humor im Titel drinnen steckt. Logarithmus ist der Inbegriff von Willkür. Etwas Zufallsgesteuertes, dass man das als Ballett bezeichnet, finde ich extrem lustig. Ballett ist ein sehr aufgeladener Begriff, ein Teil der Hochkultur. Mehr kann man einer Kunstform nicht schaden, dass man sie in die Hochkultur aufnimmt. Ballett lebt ja auch jenseits dieses Begriffs. Bei mir ist das sarkastisch beladen.“

Das Reizwort Ballett als muffiger Putzfetzen, um damit Ausscheidungen der Hochkultur wegzufegen? Ich lasse ausnahmsweise den Künstler und Erfinder dieses bestens funktionierenden Spektakels beschreiben, wie es zur Idee kam: „Dass ich etwas mit Staubsaugern machen will, da bin ich zum ersten Mal drauf gekommen, wie sich mein ältester Sohn einen solchen automatischen Staubsauger gekauft und mir stolz gezeigt hat, wie toll der ist. Er hat auf den Boden geäschert, der Staubsauger hat das aber nur verteilt, nicht weggesaugt. Immer wenn etwas so gründlich nicht funktioniert, hat das etwas Komisches. Das nächste Mal ist es mir eingefallen, als wir 2014 den „Mad Circus“ im Central Linz veranstalteten, den wir KünstlerInnen von Backlab organisiert und kuratiert haben. Da war mein Beitrag das Staubsauger-Ballett. Und da hab ich gelernt, mit dieser Entfremdungstechnik von Robotern, die sich autonom in einem Raum bewegen, wie das funktioniert und wirkt. Die Sujets, die ich verwende, müssen alle irgendwie zueinander in Bezug stehen. Was geholfen hat, ist, dass die Figuren nicht fotorealistisch waren, sondern einen gewissen Abstraktionsgrad aufgewiesen haben. Da hab ich gesehen: Das funktioniert, das hat eine unheimliche Poesie – mit diesem relativ primitiven Algorithmus. Es ist von Vorteil, weil diese Roboter ein Massenprodukt sind, und du für verhältnismäßig wenig Geld viel Sensorik und Motorik bekommst, sonst wäre das unerschwinglich.“

Handlungsballett mit Choreografie, Bühnenbild, Kostüme, Bewegungen im Raum – es ist alles vorhanden, was ein „klassisches“ Ballett definiert. Wenn auch die Gestik und Mimik der „Pappkameraden“ stets gleich bleiben, formt die Betrachtung dieser Figuren ein Bild im Kopf, das durch seine scheinbar schwebenden Bewegungen den Ballett-Begriff elegant neu definiert und an seine Grenzen führt. Modern Dance, im wahrsten Sinne, wenn man so will. Mich erinnert das auch an Uhrwerke oder Glockenspiele, Figuren drehen sich, werfen Schatten. Androide, die sich Gebrauchsgegenständen bemächtigen, um Eindruck in der von technischen Apparaten überschwemmten Menschenseele zu erheischen. Es entstehen humanoide Roboter, die die Abbildung der Natur (des Menschen) mit technischen Mitteln spielerisch ermöglichen. Wie beim „Passion-Ballett“ (2015, STWST): „Ich verwende Roboter für unterschiedliche Projekte. Dieses zweite, „Passions of Christ“, mit religiösen Sujets, und der Doppelung mit zwei Jesussen, einer größer, einer kleiner, ist besonders fies. Die Figuren sind fast wie im Boxring gegeneinander angetreten. Symbole sollen die Bedeutung nehmen, sobald man menschliche Figuren auf die Staubsauger draufgibt, obwohl sie sehr roboterhaft durch den Raum fahren, und sie sich bewegen, bekommt das etwas Menschliches, von dem ich nicht erwartet habe, dass das so stark wirkt.“

Ein weiteres Projekt ist Kritik an der OÖ. Landesregierung: Am „Wurst vom Hund-Ball“ (2016) kurvten sechs unterschiedlich geformte Penisse, ausgekleidet mit Leuchtdioden, mit den bewährten Staubboliden durch einen Raum der STWST. Das Publikum konnte die Lichter mit einer Fernbedienung steuern. Das grafischste Projekt Schalters ist ein Stinkefinger Richtung Pfründe-absichernder Regierung, die sich im Luxus schaumbadet, keine Frau dabeizuhaben. Oder bei der Ausstellung „Remix“ in der Tabakfabrik („Automatic Worker Ballet“), wo eine Arbeiterfamilie durch sozialistische, propagandistische Darstellung gezeigt wurde. „Die sozialistische Utopie, die ich dargestellt habe, das Bild hat sich sozusagen permanent remixt, indem die Figuren neue Postionen im Raum zueinander eingenommen haben. In Kombination mit Schatten bräuchte man nur einen Text dazu geben und fertig wäre die Filmszene“, so Schalter. Wichtig ist, dass diese Projekte alle neue Situationen schaffen, nichts ist wiederholbar, es muss zur Location passen.

Lieblingsprojekt mit Staubsauger, der „Nihilator“: „Das ist ein Staubsauger, der so modifiziert ist, dass er einsaugt und auch gleich wieder rausbläst. In Anlehnung an eine Kurzgeschichte von Kurt Kusenberg („Nihilit“): Ein Erfinder erfindet einen Klebstoff, der sinnlos ist, für nichts zu gebrauchen – damit er einen Sinn ergibt, schafft er einen Stoff, auf dem dieser Klebstoff klebt. Diese selbstreferentiellen Systeme sind so Dinge, die selbstverstärkend funktionieren. Ich bin Volkswirt, darum finde ich dieses Konzept interessant, das schlüssigste, das ich gemacht habe. Es wäre schön, wenn man den mit einer Atombatterie nützen könnte… Meine Installationen mit Robotern sind alle bis auf den „Nihilator“ eigentlich nur sehr schwer wiederholbar, da raumgebunden.“

Das nächste Projekt wird mit Tanzrobotern, erstmals mit Open-Source-Staubsaugern, die frei programmierbar sind, bestritten. Sie können u.a. auf Musik reagieren, und werden eventuell eine Modenschau zeigen. Aktuelle Robotermode. Auch wird bald, Projekte können sich bei Walter Schalter über Jahre ziehen, ein Video zu einer alten Nummer („Katze du bist schön“) fertiggestellt. Als Musiker tritt er unter Schalter auf, und eher ungern alleine auf der Bühne („Notebook-Auftritte sind so unmusikalisch… ich möchte auf der Bühne schwitzen“), zu mehrt unter „Nagelstudio“. Auch in Projekte von Backlab ist er noch verwickelt, das Kreativlabor will keine Vereinsmeierei, und sieht sich als freundschaftliches Gebilde, in dem Leute gut miteinander arbeiten können, sich kreativ austauschen können. Und hier schließt sich irgendwie der Kreis: sein eigenes Umfeld kreieren, wo sonst nur Roboter-Wesen das Sagen hätten…

„Man muss die Natur des Menschen lernen um sich zur Technik abzugrenzen. Künstliche Intelligenz steht seit Jahrzehnten still. Wichtig ist, was kann eine Maschine leisten, was nicht. Man ist viel zu sehr auf Faszination von High Tech, Rechenleistung, usw. fokussiert.“

 

www.dorftv.at/channel/schalter

Ein Buch ist ein Buch ist ein Buch ist ein

Im „Salon für Kunstbuch“ ist es Buch, Ware, Objekt, Material, Raum, Projektionsfläche und Sammlerstück. Daniela Fürst hat den Salon-Betreiber Bernhard Cella besucht und berichtet über die objekthafte Materialität und arrangierte Nachbarschaft von Büchern.

Schon 2007 machte sich der Wiener Künstler Bernhard Cella Gedanken zum Medium Buch, das – so wie er fand – in der Kunstwelt bloß ein Randdasein fristete und das zu Unrecht. Diese Überlegungen brachten ihn auf die Idee, sein eigenes Atelier in das Modell einer Buchhandlung umzubauen. Mit diesem konzeptkünstlerischen Ansatz wollte er seinem Interesse am Buch als künstlerisches Material nachgehen. In den ersten Jahren des „Salon für Kunstbuch“ war für Cella auffällig, dass ihm immer wieder Künstlerbücher in die Hände fielen, die keine ISBN-Nummer hatten. Er reagierte darauf und rief, während eines Amerikaaufenthalts 2009, mittels einer Poster-Performance dazu auf, ihm Publikationen ohne ISBN-Nummer in den Salon nach Wien zu schicken. Rund 500 Titel waren das erstaunliche Ergebnis seines Aufrufs, die meisten davon aus Amerika, Japan und Europa. Was die Titel alle gemein hatten: Sie hatten keine ISBN, waren auf Papier gedruckt und jüngeren Datums. Dieses Material stellte für Cella den Grundstock seiner Sammlung dar, die seitdem kontinuierlich anwächst und mit der er sich laufend künstlerisch auseinandersetzt.

Der „Salon für Kunstbuch“erfüllt für Cella mehrere Funktionen zugleich: er ist das Modell einer Buchhandlung, Verkaufsort, Ausstellungs- und Begegnungsraum und eine künstlerische Intervention an sich. Erst diese Hybridität ermöglicht es ihm, bisherige Bedeutungen und Funktionen aufzuheben und künstlerisch neu zu interpretieren. Der Name „Salon“ passt übrigens auch in seiner historischen Konnotation insofern, als Cella seinen Salon ebenfalls als moderierten Raum versteht, in dem er die gestalterische und kuratorische Aufgabe überhat und den Ort bewusst für Besuchende öffnet, um verschiedenste Formen von Austausch zu ermöglichen.

Über 12.000 Bücher umfasst die Sammlung aktuell. Etwa die Hälfte davon kann gekauft werden und rund ein Fünftel sind ohne ISBN-Werke. Der Großteil sind sogenannte Künstlerbücher, aber auch Kunstbücher, vereinzelt auch philosophische, wissenschaftliche und ganz selten literarische Werke. Eingang in die Sammlung findet – kurz gesagt –, was Bernhard Cella gefällt. Genauer gesagt sind es solche Bücher, die seiner Ansicht nach bestimmte, für ihn interessante Aspekte sichtbar machen: etwa eine konkrete politische Haltung, gestalterische Aspekte, künstlerische Trends oder auch bestimmte Bereiche der Gesellschaft oder Öffentlichkeit, die berührt werden. In einem guten Buch kann er das Substrat, das den oder die AutorIn dazu gebracht hat das Buch zu machen, herauslesen und in Folge in seine eigenen Auseinandersetzungen mit der Sammlung einfließen lassen. Er möchte zudem Antworten finden auf Fragen wie „Welche Themen oder Gestaltungsstile sind aktuell?“ oder „Gibt es geografische Tendenzen?“.

Bernhard Cella arbeitet selbst künstlerisch mit den Büchern, indem er sie sortiert, arrangiert und als Objekte in Beziehung zueinander setzt. Sein Interesse liegt auf den Konstellationen möglicher Beziehungen zwischen den Buchobjekten. Nicht der Inhalt steht hier im Vordergrund, sondern die objekthafte Materialität selbst, die für Cella oft erst rein durch die arrangierte Nachbarschaft mit einer größeren Menge anderer Werke zu Tage tritt. Seit 2010 sind die Bücher nach Farben sortiert, was aber nicht speziellen Trends in der optischen Gestaltung von Buchcovers Rechnung trägt, sondern eine Reaktion Cellas auf den Habitus mancher Gäste war, die schon am Eingang fragen, wo sie die Fotobücher oder die theoretischen Werke finden können. Die Farben setzen die gewohnte Buchsortierung außer Kraft und fungieren als alternatives System oder als „Anarchive“, wie Cella es nennt. Sie unterbrechen die übermächtige Bedeutung von Titeln und Klappentexten und ermöglichen den Betrachtenden eine andere, farbassoziative Art Bücher zu entdecken.

Die Publikation „NO-ISBN on self-publishing“, die 2015 erschienen ist, stellt eine Art Zwischenstand seines Kunstprojektes dar. Basis sind die rund 2000 Bücher aus der Sammlung, die keine International Standard Book Number haben. Die Gründe, warum auf die ISBN verzichtet wird, sind vielschichtig: als bewusster künstlerischer Schritt, der das Medium als Ausdrucksform nutzt und der manchmal auch als kritische Antwort auf die egalitären Museumsbetriebe und deren Kunstkataloge verstanden werden kann; weil es einfach der Art und dem Umfang des Inhalts entspricht oder auch des Publikumskreises, an den man sich richtet; weil es die einzige Möglichkeit ist, zwischen Zensur und System überhaupt publizieren zu können; weil es die zur Verfügung stehenden Ressourcen nicht anders zulassen oder weil das Publizieren zum reinen Selbstzweck geschieht. All das findet sich in Form von Texten, Interviews und Manifesten, gegliedert in fünf Themenbereiche und ergänzt durch eine kurze Mediengeschichte des Buchdrucks und einem Register der analysierten NO-ISBN-Werke im Buch wieder.

Das System der ISBN – im Übrigen vom englischen Geheimdienst in den 1940er Jahren erfunden – dient als internationales Suchsystem vor allem dem klassischen Buchhandel. Im Web wird man aber ebenso schnell und über den einfacher zu merkenden Buchtitel fündig. Das Internet ist in den letzten 20 Jahren zur wichtigsten Informationsplattform avanciert und nimmt seitdem dem Printbereich einen Großteil dieser Aufgabe ab, was zum Wegfall vieler Drucksorten geführt hat. Und wieder einmal wurde dem Buch der Tod prognostiziert. Rasch erkannten aber viele KünstlerInnen das Potential des nun scheinbar „sinnentleerten“ haptischen Buches und endeckten es als neue Spielfläche künstlerischen Ausdrucks und Arbeit. Für Cella kommt noch dazu, dass in fast allen Sparten der Kunst klare Regeln herrschen, alles ist genauestens ausdifferenziert. Nicht so beim Buch, meint er. Dieser bisher wenig beachtete Raum zwischen zwei Buchdeckeln, der im Kunstbereich bisher hauptsächlich als Begleitmedium zu Ausstellungen genutzt wurde, konnte und kann völlig neu interpretiert werden. Und self-publishing bietet zudem noch die Möglichkeit ohne jegliche Filter zu publizieren. Das Buch ist nicht mehr länger bloß Informationsträger, sondern Leinwand, Projektionsfläche, Display, Darstellungs- und Ausstellungsraum geworden.

 

Wer sich für die Sammlung und das Veranstaltungsprogramm des „Salon für Kunstbuch“ interessiert, findet alle Informationen unter www.salon-fuer-kunstbuch.at

Es gibt zudem natürlich einige aktuelle Bücher mit Linz-Bezug im Salon, zum Beispiel „Another Twist“ von Andrea van der Straeten; „Der Käfig ist auf und der Zoo zu“, ein Kunstuniprojekt, ebenso von Andrea van der Straeten herausgegeben; oder „Hans Le Trou – Die letzte Nachricht“ von Johannes Staudinger.

NO-ISBN on self-publishing
Herausgegeben von Bernhard Cella,
Leo Findeisen und Agnes Blaha
Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 2015

Kollektiv konkret: Miteinander Schreiben.

Bei der Leipziger Buchmesse wurden heuer zwei Bücher präsentiert, die beide in Österreich erschienen sind und sich dem kollektiven Arbeiten in der Literatur verschrieben haben. Grund genug, sich Bücher und Kollektiv genauer anzusehen. Über Absurditäten, lustvolles Schreiben, gesellschaftliche Utopien eines Miteinanders und das Kollektiv im Konkreten berichtet Elisabeth Lacher.

„Wenn eine Person für sich alleine einen ganzen Roman schreiben kann, dann könnte man diese Arbeit ja auf mehrere Personen aufteilen. Bei elf Personen wäre das dann ein Elftel Roman. Das müsste doch zu schaffen sein …“. So erzählt einer der Autoren der Schreibtruppe kollektiv roman, welche im April in Linz ihren Debütroman „wollen schon“ präsentierte. Eine Geschichte rund um das Erbe eines Alt-68ers und voller Fragen, was freies Leben und Arbeiten heute bedeuten kann.

Die Geschichte beginnt mit dem Zusammentreffen von Professor Mewald und der jungen Wissenschafterin Hannah Wolmut. Der Professor wirft ihr, stellvertretend für eine ganze Generation an prekarisierten WissensarbeiterInnen vor: „Freiheit ist für euch doch nur ein Propaganda-Begriff. Eine leere Hülse! Ihr wollt in Wirklichkeit gar nicht frei sein, keiner von euch!“ Hannahs Rotwein landet an jenem Abend im Gesicht des Professors. Das nächste Mal, als sie von ihm hört, hat er ihr ein Wiener Seminarschlössl und einen beachtlichen Geldbetrag vererbt. Mit der Auflage, ein freies Institut zu gründen und WissenschafterInnen einzuladen, für drei Jahre dort im Kollektiv zu leben und zu arbeiten. Im weiteren Verlauf der Geschichte liest man dann über diverse Einladungen ans Institut und die Anfahrtsgeschichten der zukünftigen Mitglieder. Die einzelnen AutorInnen entwarfen je ein oder mehrere Mitglieder des Instituts. In Schreibklausuren, Skypekonferenzen und Mailaustausch wurde dann über den Zeitraum von drei Jahren hinweg gemeinsam geschrieben, überarbeitet, Texte verschränkt, eine gemeinsame Sprache gefunden. Und Freunde schrieben und arbeiteten hie und da auch noch mit.

Wie das gehen soll? Eine durchaus berechtigte Frage. Die AutorInnen meinen Unterschiedliches dazu. Zuerst natürlich muss man das miteinander Arbeiten auch wirklich wollen. Die Bereitschaft, selbst geschriebene Textteile der Gemeinschaft zur Verfügung zu stellen, gemeinsame Ideen zu entwickeln, auch mal das Eigene zurückstellen zu können, Ungleichzeitigkeiten auszuhalten; das ist im kollektiven Schreiben unumgänglich. Und dass das Kollektiv bei „wollen schon“ nicht nur als vielversprechende Worthülse am Buchcover prangt, sondern auch wirklich drin ist, das ist erfrischend. Trifft man doch derzeit in Kunst und Kultur allerorts auf die Nonplusultra-Modebegriffe: Kollektiv und Partizipation. Diese zieren zahlreichst Projektbeschreibungen und öffnen Fördertöpfe. Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich das Kollektiv meist als bloße Zusammenarbeit mit klarer Aufgabenverteilung, statt Partizipation findet sich lediglich Interaktion. Eine recht fade Erscheinung, die man dem kollektiv roman sicher nicht nachsagen kann. Und das sei der Truppe hoch angerechnet. Die haben wirklich miteinander geschrieben und produziert. „Manche von uns haben schon zuvor etwas veröffentlicht. Für andere ist es das erste Mal, dass sie an einem Buch schreiben. Aber eines haben wir alle gemeinsam: Schreibend sind wir zusammengekommen. Haben als eine Art Nachbarschaftshilfe für Texte gearbeitet. Und Situationen geschaffen, sowohl literarisch als auch in der Organisation des Schreibens, die ein kollektives Arbeiten überhaupt erst zulassen. Uns war es nicht nur wichtig, gemeinsam ein Buch zu schreiben, wir sehen Zusammenarbeiten und Kollektiv als gesellschaftliche Vision des Miteinanders.“

Eine schöne Vision. Was ist nun über den Inhalt des Romans, den literarischen Gehalt zu sagen? Wer vor dem Einschlafen gerne deutschsprachige Literatur à la Robert Musil, Marlene Streeruwitz oder Ingeborg Bachmann liest: zu diesem Nachtkästchenkollektiv wird und kann sich der Roman „wollen schon“ literarisch nicht dazugesellen. Dazu bräuchte es doch originellere Ergebnisse im Inhalt und etwas weniger linksliberale Selbstironie. Doch soweit die Gruppe zu verstehen ist, war es nicht das Ziel, ein Meisterwerk zu verfassen. Und das Resultat ist auf jeden Fall vorzeigbar. Ein im Kollektiv geschriebener Roman, der für ein lustvolles Miteinander steht und dem verbissenen Leistungsdruck und erfolgshaschenden Gegeneinander unserer Zeit gehörig in die Suppe spuckt.

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„Le Bord de la mer. An den Grenzen der Berge“ wurde von der Wiener Gruppe Vent schreibt Torma herausgegeben. Michael Bodenstein, Andreas Pavlic und Nicole Szolga begaben sich gemeinsam mit den BewohnerInnen von Vent, einem Bergdorf im hinteren Ötztal, auf die Spuren des französischen Schriftstellers Julien Torma. Dieser verschwand 1933 in Vent und gilt seither als verschollen. Falls er überhaupt jemals gelebt hat. Das ist nämlich nicht ganz so sicher. Es gibt immer wieder Quellen, die behaupten, dass Torma eine Erfindung des Instituts für Pataphysik sei.

So wurde Julien Torma zu einem kleinen, literarischen Mythos. Und seit seinem Verschwinden im Jahr 1933 machten sich immer wieder unterschiedliche Personen und Gruppen auf die Suche nach ihm und seinen Spuren. Wer suchet, der findet, heißt es. Das trifft hier aber nur eingeschränkt zu. Denn wer nach Torma suchet, der findet sehr viel; nur keine klaren Antworten oder belegbare Fakten. Diese sind jedoch, pataphysisch gedacht, auch gar nicht so wichtig. Ist die Pataphysik doch jene absurdistische Wissenschaft, welche Gedanken, Ideen und Vorstellungen in ihrer realen Existenz gleichwertig begreift wie naturwissenschaftlich belegbar Existentes. Der Begründer der Pataphysik war Alfred Jarry, welcher um die vorletzte Jahrhundertwende lebte. Und tatsächlich und nachgewiesenerweise als Person existierte. Genauso wie einige prominente Anhänger und Mitglieder des Collège de Pataphysique. Unter anderem Jean Dubuffet und Marcel Duchamp.

Wenig überraschend sind die Überschneidungen von Pataphysik mit Surrealismus und Dada. Sehr überraschend ist die Herangehensweise der Gruppe Vent schreibt Torma. Zu Beginn wurde über Existenz, beziehungsweise Nichtexistenz von Julien Torma noch einmal kräftig nachgeforscht, und das dürfte der Gruppe doch einige Nerven gekostet haben. So erzählt Nicole Szolga, dass eines Tages, als schon einiges an Recherchematerial zur Pataphysik und zu Julien Torma zusammengetragen war, Andreas Pavlic plötzlich wild schreiend vom Computer aufsprang: „Der hat vielleicht wirklich nicht gelebt, der Torma!“ Was für ein Dilemma, denn auch der Literaturwissenschafter der Gruppe, Michael Bodenstein, meint nach intensiverer Auseinandersetzung mit Tormas Gedichten, dass diese lediglich so wirken sollen, als wären sie aus den 1920er Jahren. Tatsächlich würde er die Entstehungszeit der Gedichte in den 1950er Jahren verorten.

Doch einen Mythos, hat man einmal Feuer gefangen, wird man halt so schnell nicht mehr los. So machten sich Michael Bodenstein, Andreas Pavlic und Nicole Szolga auf ins Tiroler Vent. Im Gepäck den Gedichtband „Le bord de la mer“ von Julien Torma, um die Gedichte in kollektiver Übersetzungsarbeit gemeinsam mit den VenterInnen vom Französischen ins Deutsche zu übertragen. An den Übersetzungsabenden in Vent war es übrigens keine Voraussetzung, die französische Sprache zu beherrschen. Und Deutsch durfte sich auch gerne mal mit dem Ötztalerischen vermischen. „Die Tatsache, dass weder wir noch die VenterInnen mit Sicherheit wussten, ob Tormas Gedichte „echt“ sind, hat zu einer entspannten und spielerischen gemeinsamen Übersetzungsarbeit beigetragen. Uns und den DorfbewohnerInnen ging es nicht – wie sonst beim Übersetzen – um Genauigkeit und Perfektion, sondern um eine gemeinsame Annäherung an Sprache und Dichtung.“

Das alles hört sich etwas irre an? Ja, vielleicht. Aber wer das kleine Buch „Le bord de la mer. An den Grenzen der Berge“ in Händen hält, wird feststellen, dass die Ergebnisse nicht nur spannend und kurzweilig zu lesen sind, sondern die grafischen Gestaltungen der Künstlerin Nicole Szolga so stimmig und schön gemacht sind, dass man es gerne durchblättert und darin liest.

Was ist nun übers kollektive Schreiben und Übersetzen zum Abschluss zu sagen? Ist das sozialromantische Bild des einsamen Dichters und Denkers, der einsamen Dichterin und Denkerin nun endgültig über Bord zu werfen? Ich bin mir nicht sicher. Auf jeden Fall aber sind mit „wollen schon“ und „Le bord de la mer. An den Grenzen der Berge“ zwei unterschiedliche und durchaus spannende literarische Projekte in Buchform erschienen. Worin sich alle Beteiligten einig sind: Es ist lustvoller, gemeinsam zu schreiben. Es ist produktiver, wenn man der Isolation des Schreibens oder Übersetzens entrissen ist. So kündigt kollektiv roman eine Fortsetzung der literarischen Arbeit an. Und wer weiß, vielleicht gelingt der sympathischen Schreibtruppe dann auch eine inhaltliche Schärfung der Erzählung. Und betrachtet man das Ganze pataphysisch, so ist sowieso immer alles möglich. Bleibt nur zu hoffen, dass weder Vent schreibt Torma noch kollektiv roman in den nächsten Jahren als verschollen anzusehen sind.

 

Aus „wollen schon“ hat das Schreibkollektiv bereits im April in der Alten Welt gelesen.

Ahoi, Julien Torma in Linz!
Am 24. Juni 2016 um 20 Uhr präsentiert die Gruppe „Vent schreibt Torma“ in einer Crossover-Lesung das Buch „Le bord de la mer. An den Grenzen der Berge.“ Bei freiem Eintritt auf dem Salonschiff Fräulein Florentine.

kollektiv roman
„wollen schon“
268 Seiten, 17,95 Euro, zaglossus Verlag
Mitglieder des kollektiv roman: Natalie Deewan, Florian Haderer, Heide Hammer, Alexandra König, Katja Langmaier, Sonja Mönkedieck, Fanny Müller-Uri, VezaQuinhones-Hall, Thomas Schmidinger, Eva Schörkhuber, Kurto Wendt

Vent schreibt Torma
„Le bord de la mer. An den Grenzen der Berge“
80 Seiten mit DVD, 10 Euro,
ventschreibttorma@gmail.com
Vent schreibt Torma sind: Michael Bodenstein, Andreas Pavlic, Nicole Szolga und BewohnerInnen des Tiroler Bergdorfs Vent

11,73 km² Musik

Wir nehmen das alljährliche Oheim-Open-Air zum Anlass, einen Blick auf die Musikszene der Gemeinde zu werfen: In gegenseitiger Befruchtung mit kulturellen Initiativen entwickelte sich in der ältesten Marktgemeinde des Mühlviertels eine außergewöhnliche Dichte an musikalischen Formationen der unterschiedlichsten Stile. Eine exemplarische Annäherung von Daniel Steiner.

Ottensheim hat neben sanftem Tourismus, einer eigenen Brauerei, einer weltmeisterschaftstauglichen Regattastrecke, Drahtseilbrücke, einem überdurchschnittlichen Anteil an Grün-WählerInnen, einem tollen Open Air, auch noch eine wahrlich bemerkenswerte Musikszene zu bieten. Eine Gemeinsamkeit der musikalischen Projekte dieses Orts ist mit Sicherheit die Freude am Experiment, die sich in unorthodoxen Stilkombinationen, gewagten Outfits bei Auftritten oder in unkonventionellen Instrumentierungen manifestiert. So kann man etwa bei Auftritten der Blouson Brothers die Musiker mit Nudelsieb am Kopf, in Windeln und mit rosa gefärbtem Charlie-Chaplin-Bart am Kontrabass oder an der Ziehharmonika erleben. Musikalisch schenken einem die vier Herrn nichts, spielen eine wüst-anarchische Version von Austropop, an der Stefan Weber bestimmt seine Freude hätte. Eingängige Refrains mit kabarettistischen Texten werden immer wieder durch atonale Attacken und aberwitzige Tempowechsel durchbrochen.

Ein weiteres Merkmal dieser Szene stellen die häufigen personellen Überschneidungen zwischen den einzelnen Bands beziehungsweise Projekten dar. Einerseits wenig überraschend bei einer Gemeinde mit nicht ganz 5000 EinwohnerInnen, anderseits durch die große musikalische Bandbreite der ProtagonistInnen doch bemerkenswert. So findet man etwa Andreas Fuchshuber und Peter Knollmüller, die Rhythmussektion der Blouson Brothers, auch an Schlagzeug und Bass bei Romanovstra wieder, diesmal unverkleidet, um nicht zu sagen beinahe seriös. Die Band um den aus Rumänien nach Ottensheim gezogenen Sänger Nicu Stoica hat sich ganz dem Balkan-Pop verschrieben und hat musikalisches Material aus Ungarn, Rumänien und Bulgarien im Programm. Die achtköpfige Formation (neben den bereits erwähnten: der Schauspieler und Musiker Paul Hofmann, die Multiinstrumentalisten Günther Wagner und Christian Gratt, der Saxofonist Georg Schwantner sowie die Sängerin Karina Fedko) eröffnete heuer das Linz-Fest und trotzte dabei den schwierigen Witterungsbedingungen problemlos, der Tanzbarkeitsfaktor der Gruppe ist einfach zu groß.

Natürlich findet sich in den Reihen von Romanovstra ein weiterer Bezugspunkt zu anderen musikalischen Projekten aus der Kommune an der Donau, personalisiert durch Christian „Gigi“ Gratt. Und derer gibt es viele: Tumido etwa, ein Duo mit dem aus dem benachbarten St. Martin stammenden Schlagzeuger Bernhard Breuer, das sich einer sehr speziellen Version von Drum and Bass gewidmet hat und dabei mit Elementen von Noiserock und Industrial spielt, die Improjazzgruppe Braaz (gemeinsam mit Werner Zangele, Marcus Huemer und Martin Flotzinger), oder das psychedelische, in trashig-futuristischen Kostümen auftretende, Quintett Ni. Dann wären da noch, die mit Elementen der Volks- wie Popmusik arbeitende Band Drumski und nicht zuletzt Gigis Gogos, eine Big Band, in der Gratt alle seine musikalischen Seelen zu vereinen scheint: Jazzer, Noiserocker und Reggaemusiker bilden das 13-köpfige Orchester, so treffen Free-Jazz-Parts auf rockige Riffs, werden wiederum von brachialen Noiseparts abgelöst, statische Bässe flirten mit jazzigen Bläserakkorden und orientalischen Melodien, auch afrikanische Rhythmen finden ihren Weg in das musikalische Konvolut von Gigis Gogos. Zwei Schlagzeuge, ein Percussion-Set, zwei E-Bässe und ein Kontrabass bilden die Basis. Komplettiert wird das Ganze von drei Gitarristen und drei Bläsern.

Doch es geht auch noch größer! Selbstredend ist Christian Gratt auch beim GIS Orchestra (Go for Improvised Sounds Orchestra) federführend beteiligt. Das GIS Orchestra ist ein mit dem KUPF-Innovationstopf 2014 ausgezeichnetes Gemeinschaftsprojekt der Kulturvereine KomA („Kultur ohne momentanen Aufenthalt“/Ottensheim) und waschaecht (Wels). Das Orchester arbeitet mit dem Prinzip der dirigierten Improvisation, anhand einer Reihe von vorab vereinbarten akustischen Signalen wird das Zusammenspiel der etwa 20-köpfigen Besetzung koordiniert. Die jeweils dirigierende Person wird so zum Leiter des musikalischen Prozesses, sie gibt den Grundriss und die Dynamik vor, während die MusikerInnen die definierten Freiräume mit ihrem Spiel gestalten. Durch das GIS Orchestra soll eine niederschwellige Plattform für an Improvisation Interessierte und experimentierfreudige MusikerInnen entstehen, die sowohl Profis als auch AmateurInnen offen steht.

Natürlich erhebt diese Aufzählung von musikalischen Projekten aus Ottensheim keinen Anspruch auf Vollständigkeit, trotzdem werde ich mich hiermit bei allen nicht erwähnten Bands, Projekten und MusikerInnen entschuldigen. Abschließend möchte ich noch auf den Artikel „Mit Bach und Krach“ von Stephan Roiss bezüglich der Violinistin Irene Kepl aus der Referentin #1 vom September 2015 verweisen. Sie stammt – wie könnte es anders sein – ebenfalls aus Ottensheim.

Die hellen Seiten der Arbeit

Beate Rathmayr, Claudia Dworschak und Gerhard Brandl zeigen ihren Film SUPERSUMMATIV im Rahmen der Local-Artist-Schiene von Crossing Europe. Ein KünstlerInnenfilm, der das Prädikat unspektakulär verdient.

 

Auch wenn im 45-minütigen Werk SUPERSUMMATIV kurz die Selbstvermarktung zur Sprache kommt, also der Fetisch Arbeit kurz angesprochen wird, geht es nicht um die dunklen Seiten der Kunst – Stichwort Prekariat, Selbstausbeutung, Existenzangst –, sondern um den eigentlichen Schaffensprozess, der im Film zur Aussage kondensiert, nach den eigenen Vorstellungen und Möglichkeiten zu handeln. Beate Rathmayr, selbst Künstlerin und eine der Filme-Macherinnen, zum Ansatz, verschiedene künstlerische Positionen und unterschiedliche Arbeitsansätze abzubilden: „Es gibt keine Eindeutigkeiten, was richtig und was falsch ist. Es geht um Entscheidungen – und die sind hier alle richtig“.

SUPERSUMMATIV, eine Arbeit, die 39 Kunstschaffende ansammelt, um sie nicht nur zu dem zu machen, was das sprichwörtliche „Mehr“ als die Summe seiner einzelnen Teile ist, sondern sozusagen zu einem „Supermehr“ werden lässt, greift dabei auf einen Klassiker des zeitgenössischen Diskurswordings zurück: auf das Kollektiv – und die Frage, wie sich Zusammengehörigkeit in einer Zeit und Sparte, die dem Individualismus geradezu obligatorisch frönt, thematisieren lässt. Wiederum konkreter ist der „Haufen“ von 39 Leuten der allergrößte Teil der Neuzugänge der Galerie Maerz der letzten zehn Jahre. Und interessanterweise haben die drei MacherInnen – ebenfalls Maerzmitglieder – eine filmische Sichtbarmachung gewählt, die herzlich wenig mit den üblichen Darstellungen der klassischen Dokumentation zu tun hat. So werden die Personen selbst visuell größtenteils ausgespart, man sieht sie höchst selten frontal, eher schon in der Ferne oder angeschnitten an einem Platz ihrer Wahl. Ebenso großzügig ausgespart die Werke, wobei diese natürlich auch hin und wieder ins Bild rutschen. Die Stimmen sind nicht zuordenbar, die auditive Ebene des Gedankenstroms zieht sich vermischt geschnitten und als eigenständige Ebene durch den Film – unter anderem angeregt durch die gegebenen Begriffe „Raum“ (als Denkraum) und „Haufen“ (als Frage: Was ist Teil der künstlerischen Position, als erlaubte nicht-strenge Ordnung). Claudia Dworschak zum gewählten Format der 1-minütigen visuellen Selbstdarstellung und zu künstlerischen Referenzen: „Es gibt diese Minutenformate, da sind sicher Bezüge möglich. Aber bei uns geht es im Grunde ums miteinander Produzieren, ums Partizipative, Kollektive.“

Erkenntniswert über Person, Werk und Marktwert schiebt der Film ganz lässig beiseite. Anstelle dessen rückt ein Denk- und Bildstrom ins Zentrum, der minimalistisch nach und nach gezeichnet wird; und die Qualität des Gemeinsamen, aber auch des Unspektakulären, Spontanen mit dem Prädikat besonders wertvoll versieht – und so basaler zwischenmenschlicher Eigenschaften wie Austausch, Interesse, Aufmerksamkeit und Empathie. Damit auch der Ausblick auf einen anderen Film, den Claudia Dworschak als Teil eines anderen Kollektivs derzeit gestaltet und noch fertiggestellt: In Zusammenarbeit mit Flüchtlingen entsteht seit mehreren Monaten ein Film, der nun bei Crossing Europe als Eröffnungsfilm gezeigt wird: „Mein Name ist. Ich bin.“
Crossing Europe: 20.–25. April, Watch out for all Details.

Welcome Wellness, Goodbye Wittgenstein!

Braucht es die Unterscheidung zwischen Kunst und Wissenschaft? Waren Künstler und Künstlerinnen nicht immer schon Wissenschafter? Sollte die Wissenschaft nicht als Kunst betrachtet werden?  Anlässlich des im April stattfindenden Projekts [hu:mmmm] hat Michael Franz Woels den Musiker und Künstler Andre Zogholy von qujOchÖ getroffen.

Foto Clemens Bauder

Foto Clemens Bauder

Andre Zogholy ist einer von zehn „nicht pathologischen Schizos“ der Linzer Initiative für experimentelle Kunst- und Kulturarbeit qujOchÖ, die unter der akronym anmutenden Buchstabenfolge seit der Jahrtausendwende mit thaumaturgischem Gespür mittels „undisziplinierter“ Aktivitäten im Soziotop Kunst und Wissenschaft wildern, befeuert durch eine intensive Auseinandersetzung mit Phänomenen wie Wirtschaftskriminalität, Magnetismus, Wellnesszonen oder Verschwörungstheorien. „Mich interessiert weniger die Beantwortung der Frage, was Artistic Research ist, sondern eher die Frage, wie man das, was wir aus einem Selbstverständnis heraus machen, ausstellen, vermitteln und kuratieren kann“, erklärt der Musiker, Künstler und Kurator Andre Zogholy.

Seit 2004 gibt es die eigene qujOchÖ Betriebsstätte quitch, die man nicht wie das Wort Kitsch, sondern eher wie den ersten Teil des Kompositums Quietschente ausspricht. Die Ateliergemeinschaft ist nahe am Wasser, das bei einem der größeren Projekte heuer eine bedeutende Rolle spielen wird, am Palais Zollamt mit gepflegter, desavouierender NIMBY-Attitüde und noch näher am Fuße des Lentosmuseum gelegen, und im Hinterhof übrigens mit einem verwertungsunlogischen Moorbecken als Anti-Urban-Gardening-Statement ausgerüstet. Zur Zeit besteht das 2001 gegründete, als Kulturverein organisierte Kollektiv aus zehn linzbasierten LöterInnen der Nahtstellen zwischen Kunst, Gesellschaft und Politik und beschreibt sich selbst so: „qujOchÖ agiert an den Schnittstellen von Kunst, Politik, Gesellschaft und Wissenschaft. qujOchÖ ist mannigfaltig, heterogen, untaggable und gänzlich undiszipliniert. qujOchÖ verwendet Alles und Nichts, zeigt, installiert, interveniert, lärmt, baut, diskutiert und verbindet.
qujOchÖ macht alles aus Liebe und Überzeugung.“

Wie die Elemente dieses Artist Statements erlebbar gemacht werden können, daran tüftelt zurzeit das 3-Mann Organisations- und Kuratierungscoreteam Clemens Bauder, Andreas Reichl und Andre Zogholy. Mit dem Ein- und Abtauchen, dem Phänomen der Immersion, beschäftigt sich eines der aktuellen Projekte von qujOchÖ mit dem klingenden Namen [hu:mmmm]. Im Englischen bedeutet „to hum“ soviel wie: Mit der menschlichen Stimme einen Drone erzeugen. Die vier m dienen dazu, dem Wortlogo auch ein hinterfragendes Moment (hmmmm?) zu geben. Mit [hu:mmmm] wird Anfang April die Wellnessoase Hummelhof in Linz mit ambienten Beschallungen, Live-Konzerten, Vorträgen und Installationen künstlerisch verfremdet. Als theoretisches Fundament dient der von dem französischen Philosophen Michel Foucault verwendete Begriff der Heterotopien. In der medizinischen Diagnose versteht man darunter ein disloziertes Gewebe. Michel Foucault entdeckte mithilfe seiner gesellschaftstheoretischen Brille aber auch Heterotopien außerhalb des Körpers, er sprach von „De l’espace autres“, von anderen Räumen, und versuchte in den 1960ern dieses Konzept exemplarisch zu verdeutlichen beziehungsweise systematisch – diese Beschreibung nennt er Heterotopologie – zu fassen.

Als Beispiele dienen Foucault neben dem menschlichen Körper noch das Schiff als Heterotop par excellence, dann das Spiegelbild, die Sauna, Klinken, Gefängnisse, Friedhöfe, Theater, Kinos, Gärten, Museen, Bibliotheken, Feriendörfer, Festwiesen, Motels, Bordelle und auf einer größeren Maßstabsebene Kolonien. Er unterscheidet zwischen Krisen-, Abweichungs-, Illusions- und Kompensationsheterotopien, Heterotopien können zeitlich begrenzt existieren (wie die eintägige Veranstaltung von qujOchÖ im Areal des Hummelhofbads), als auch die individuelle Zeitwahrnehmung beeinflussen (Immersionserlebnisse während dieses Events). „Das Heterotopiekonzept ist sehr abstrakt und in der Rezeption werden die Grundsätze oft wie mathematische Axiome behandelt“, bekennt Andre, der unter dem Label „Auditive Heterotopologien“ die Kunst- und Wissenschafts-Obsessionen „spacial turn“ und „acoustic turn“ experimentell beforscht. Das Hummelhofbad fungiert nun sozusagen als Forschungslabor, die Veranstaltung mit dem Arbeitsuntertitel „Auditive Wellness Heterotopologien“ wird weitere empirische Erkenntnisse zur Funktionalität von Sounds im Spannungsfeld von Selbstgouvernementalität, Architektur und bildender Kunst, Neurologie und experimenteller Physik kondensieren.

Seit Monaten wird intensiv vor Ort und mit der Linz AG zusammengearbeitet. Es werden Impuls-Response-Vermessungen mittels Luftballonzerplatzungen in den unterschiedlichen Räumlichkeiten durchgeführt, und die akustischen Messwerte kommen auch wieder den Bäderbetreibern zugute, denn, so Andre: „Ganz wichtig ist es uns, dass man nicht als Invasor auftritt und die Badegäste, die Bademeister und Arbeiterinnen zwangsbeglückt, sondern sie alle sollen von Anfang an mit ins Boot geholt werden.“ Auch machtanalytische Aspekte à la Foucault sind für das Wellness-Architektur-Klang Forschungsprojekt, das am Samstag, den 9. April auf vier Stimulanzebenen – Kompositionen, Vorträge, Konzerte und Installationen – erfahrbar sein wird, relevant.

Denn so wie die Verordnung von Stille eine Machtgeste darstellt, ist auch „kein Sound unschuldig“. Die Selbst-Gouvernementalität, also die Technik des Sich-Selbstregierens und der Selbst-Optimierung sind ein weiterer programmatischer Eckpfeiler von [hu:mmmm]. Und beim Thema der Selbst-Optimierung ist man dann auch schnell im dampfigen Bereich der Wellnesszonen angelangt: „Diese Wellnesszonen haben ja die Funktion, möglichst schnell einen Erholungseffekt zu erzielen, damit du danach wieder fit bist für deinen Job, deine Projekte, deine Selbstausbeutung und die familiären Verpflichtungen.“

Wie ein ayurvedischer Stirnölguss oder eine Binaural-Beats-Berauschung wirkt wiederum der glänzende Namedropping-Schwall dieser ephemeren Sound-Badeveranstaltung der etwas anderen Art: Es wird Schizophones, Kompositionen von Andreas Kurz, Wolfgang Fuchs, Lena Leblhuber, Christina Nemec, Richard Eigner, We Will Fail, Billy Roisz, Julien Ottavi, Ilpo Väisänen, Sam Auinger, Tanja Brüggemann Stepien, Jeff Bridges (Sleeping Tapes) zu hören geben. Live zu begutachten dann die wasserdichten Acts Fennesz und Abby Lee Tee. Vorträge im Bademantel geben David Toop (Leseempfehlung: Ocean of Sound), Karin Harrasser, Thomas Macho und Badeeventmeister Andre Zogholy himself. Installationen in den diversen, akustisch extrem unterschiedlichen Räumlichkeiten werden unter anderem von Sun Obwegeser, Richard Eigner, Julia Tazreiter, die Faxen, Ingo Randolf, Davide Bevilacqua, sowie dem Kuratierungsteam Bauder-Reichl-Zogholy beigesteuert.

Ein weiteres größeres Projekt von qujOchÖ nennt sich „Goodbye Wittgenstein“, ein Austauschprogramm mit Off-Spaces in Birmingham. Nachdem der österreichische Philosoph Ludwig Wittgenstein in seiner Jugendzeit einige Jahre in Linz verbrachte, lebte er auch eine Zeit lang in Birmingham und ebendort hat er auch die Grundlagen für das posthum erschienene „Notes on Logic“ geschrieben. Ludwig Wittgenstein hatte dort einen Liebhaber, und daher wird die interstädtische Linz-Birmingham-Kooperation einerseits eine Verknüpfung auf diskursiver Ebene, andererseits auf künstlerischer Ebene eine mit dem Themenkomplex gay/queer herstellen. Ende Juli, Anfang August wird qujOchÖ vor Ort in Birmingham sein, Interventionen und Präsentationen stehen am Programm. Im November kommen die Birminghamer dann nach Linz. Darunter auch Mike Johnston von Plone. „Diese ursprünglich als Duo agierende Band war einer meiner Lieblingsacts in den 1990er Jahren, Mike Johnston hat danach Philosophie studiert und sich intensiv mit Wittgenstein auseinandergesetzt“, zeigt sich Andre begeistert über diese Synergie.

Übrigens für alle, die sich fragen, ob beziehungsweise wie man das Wort qujOchÖ ausprechen könnte, hier die Lautschrift: [k’u:jo:xø:]. Und für alle, die es noch nicht wissen beziehungsweise glauben wollen, darunter versteht man das Paarungsverhalten von peruanischen Pfeilgiftfröschen.

 

www.zogholy.net/auditive-heterotopias-brief-outline
www.quer-magazin.at/home/12-2014/291
qujochoe.org/about