Gratwanderungen

Anna Mitgutschs neuer Roman „Die Annäherung“ ist, und damit folgt sie der Tradition ihres bisherigen Werkes, ein komplexes Buch mit vielen unterschiedlichen Facetten. In ihrem zehnten Roman thematisiert die in Linz lebende Autorin viele Bereiche, ohne die Homogenität ihrer Geschichte zu gefährden.

Foto: © Bogenberger/autorenfotos.com

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Es ist ein Buch über die nie geglückte Auseinandersetzung zwischen der Kriegsgeneration und den Nachgeborenen, über das Altern eines Mannes, die Liebe zu seiner Pflegerin und die von Hindernissen begleitete Annäherung der Tochter an ihn, den Vater. Sie möchte nicht nur seine Liebe gewinnen, sie will auch das Leben des wortkargen Mannes kennenlernen, ihn verstehen; verstehen bedeutet für sie auch, sich dem „Loch in seiner Biografie“ zu nähern, die Frage zu klären, ob sich ihr Vater als Wehrmachtsangehöriger schuldig gemacht hat.
Einige Autorinnen und Autoren  – unter anderem Peter Henisch, Christoph Meckel, Martin Pollack, Per Leo – haben bereits die NS-Vergangenheit eines fiktiven oder realen Verwandten in den Mittelpunkt eines literarischen Textes gestellt.
Anna Mitgutschs fiktive Protagonistin Frieda, eine Historikerin, kann trotz ihres beruflichen Wissens das „Loch in der Biografie“ ihres Vaters, nie gänzlich ausfüllen, sondern muss sich begnügen es zu umkreisen. Anna Mitgutsch lässt bisweilen, und das ist eine besondere Qualität des mehrperspektivisch erzählten Romans, die Ereignisse in der Schwebe. Und genau dieser Ansatz reizt auch die Autorin: Sie faszinieren die Leerstellen, das Annähern an Fragen, ohne sie auflösen zu können. Silvana Steinbacher hat sich mit Anna Mitgutsch über ihr beeindruckendes Buch unterhalten.

Die Verbrechen des Nationalsozialismus, die Shoah, Schuld, Erinnern und Vergessen sind immer wiederkehrende Motive in deinem Werk.
Viele Autorinnen und Autoren haben sich bereits literarisch an der Vergangenheit ihrer Väter während der NS-Zeit abgearbeitet. War es für dich herausfordernd dich diesem Sujet literarisch zu nähern?
Das ist mein Lebensthema seit meiner Schulzeit. Wenn man meinen literarischen Werdegang betrachtet, so klingt diese Thematik ja bereits in meinem ersten Roman „Die Züchtigung“ an.
In meinem neuen Roman „Die Annäherung“ steht ein Mann mit über neunzig Jahren im Mittelpunkt, sein Leben umfasst also fast ein Jahrhundert. Über dieses Leben zu schreiben, ohne auf den Nationalsozialismus einzugehen, das geht nicht.

Bei der sogenannten Väterliteratur habe ich eine Veränderung des Ansatzes beobachtet. Der Grundtenor der 68-Literaten war hauptsächlich ein anklagender, jetzt, mehrere Jahrzehnte später wird der Wunsch spürbar die Väter oder Großvätergeneration zu verstehen oder zumindest sich in sie hineinversetzen zu können. Ist das deiner Meinung nach hauptsächlich durch die zeitliche Distanz erklärbar?
Ich kenne die Literatur der jüngeren Generation nicht. Was mich betrifft, bringt wohl das Älterwerden die Einsicht mit sich, dass im Leben Schwarz-Weiß-Zeichnungen selten der Realität entsprechen. Grauschattierungen herauszuarbeiten ist viel reizvoller.

Bei einigen Romanen, die ich zu dieser Thematik gelesen habe, beispielsweise Martin Pollacks „Der Tote im Bunker“ steht die reale Figur des Vaters im Mittelpunkt. Bei dieser Figur gibt es keinen Zweifel an seiner Schuld.
In deinem Roman ist der Ausgangspunkt ein anderer. Die fiktive Figur Frieda kann die Frage der Schuld ihres Vaters nicht klären, kann ihre dringliche Frage nie eindeutig beantworten und muss dieses Faktum schließlich akzeptieren.
Ja, das war mir sehr wichtig. Ich kenne viele Väterbücher meiner Generation, darin werden die Väter entweder als Verbrecher und Monster dargestellt, oder es schimmert dieser Beschwichtigungsgestus durch, sie hätten ohnehin keine nennenswerten Verbrechen begangen. Für mich als Schriftstellerin sind beide Ansätze unbefriedigend, denn solche Eindeutigkeiten gibt es ja nur in den ausgewiesenen Fällen der Kriegsverbrecher. Es existieren ganze Bibliotheken historischer Forschung zur NS-Zeit und zu den Verbrechen der Wehrmacht. Mir geht es um die Spurensuche nach der Wahrheit aus unterschiedlichen Blickwinkeln, der Kriegsgeneration und der Nachgeborenen, der Nachkommen der Opfer und der Täter, und wie sich jedes Mal der Wahrheitsanspruch verändert und die Fakten manchmal zur Unkenntlichkeit uminterpretiert wurden. Erinnerung mit Fakten zur Deckung zu bringen ist ein schwieriges Unterfangen und letztlich unmöglich, denn schon in dem Augenblick, in dem etwas passiert, beginnt die Interpretation, man verändert die Fakten, so wie man sie haben möchte, und glaubt schließlich an diese Version. Erinnern ist immer ein Interpretieren, Auswählen, neu Zusammenstellen, auch das Vergessen gehört dazu, das absichtliche und das unbewusste, um eine Fiktion zu schaffen, die man dann für die Wahrheit hält oder sie dafür ausgibt.

Thema deines neuen Romans „Die Annäherung“ ist nicht nur die Recherche der Tochter nach der NS-Vergangenheit des Vaters, dieses Buch schildert auch sehr eindrücklich das letzte Lebensjahr eines alten Mannes, die Strapazen des Alters, die Liebe des greisen Mannes zu seiner Pflegerin und sehr wesentlich eine komplexe Vater-Tochterbeziehung. Der Versuch ihrer Annäherung führt schließlich zu einer Konkurrenz mit einer jungen Krankenpflegerin, deren Anwesenheit es dem über 90jährigen Mann ermöglicht noch einmal Lebendigkeit und einen Funken Erotik in sich zu spüren.
Er erfährt durch die Zuwendung der jungen Ukrainerin ein letztes Glück. Ich glaube, Glück hat immer auch eine erotische Komponente. Diese junge Pflegerin ist zwar eine bezahlte Pflegekraft, aber sie ist großzügig, sie gibt ihm Zuneigung und Zärtlichkeit, sie hört zu und gibt ihm eine Zuwendung, die über das hinausgeht, was er bezahlen könnte. In der kurzen Zeit, die die junge Frau in seinem Haus ist, kommt sie ihm näher, als ihm seine Tochter jemals gekommen ist. Frieda, die sich ihr Leben lang nach der Liebe ihres Vaters sehnte, erkennt, dass sie mit den falschen Mitteln um sie gekämpft hat. Schließlich gibt sie seiner Bitte auch nach, in die Ukraine zu fahren, um die junge Frau zu ihm zurückzubringen, was ja in der unausgesprochenen Konkurrenzsituation zwischen den beiden auch ein Akt der Selbstverleugnung ist.

Sprechen wir noch über die gegenwärtige Situation, ich beobachte seit einigen Jahren in meiner näheren Umwelt vermehrt offenen Antisemitismus. Antisemitismus habe ich atmosphärisch immer wahrgenommen, aber verschämter, eher hinter vorgehaltener Hand. Aufgefallen ist mir, dass dieser offene Antisemitismus mit teils haarsträubenden Theorien, unter anderem jener die Juden wären schuld oder zumindest mitverantwortlich an der Finanzkrise, untermauert wird. Beobachtest du diese fatale Entwicklung auch?
Diesbezügliche Verschwörungstheorien habe ich schon anlässlich von 9/11 gehört, der Mossad stehe dahinter, hieß es da, auch nach den Anschlägen in Paris, an der Finanzkrise sind angeblich auch die Juden schuld. Der neue Antisemitismus erscheint mir besonders gefährlich, denn er ist ein Zusammenfluss zwischen rechts und links. Da ist zunächst der alte christliche Antisemitismus, der, wenn auch schwach, weiterwirkt, dann der völkische Antisemitismus der Rechten. Sehr deutlich spürbar ist in letzter Zeit der linke Antisemitismus und historisch gesehen relativ neu, doch besonders hemmungslos und gefährlich, der islamistische Antisemitismus, durch den in Europa längst als absurd abgetane Anschuldigungen wie die der angeblichen Ritualmorde wieder hervorgekramt werden.

Fürchtest du die rechten Strömungen, die derzeit verstärkt wahrzunehmen und auch antisemitisch sind, nicht auch?
Der Antisemitismus der Rechten wird vermutlich nicht mehr die Macht und Bösartigkeit entwickeln können, die zur Shoah geführt haben. In dieser Beziehung wird er in der Zukunft eher marginal bleiben.

Marginal?
Ich sehe es so: Geschichte wiederholt sich nicht auf die gleiche Art und Weise, sie wiederholt sich in verschiedenen Erscheinungsformen. Heute tritt der Antisemitismus in veränderter Form auf. Natürlich sind auch die Rechten antisemitisch, aber aus jüdischer Sicht sind sie nicht die größte Gefahr, sie sind für die Gesellschaft als geschichtliches Phänomen wiedererkennbar und daher leichter neutralisierbar.

Kommen wir noch zu deinem Leben als Schriftstellerin, zum Prozess des Schreibens. Was ist für dich reizvoll am literarischen Schaffen?
Mich interessieren Zwischentöne, Gratwanderungen, Leerstellen. Figuren, die nicht auflösbar und ihrer Zeit voraus sind, reizen mich, sich einem Geheimnis zu nähern, ohne es lösen zu können.
In diesem Buch ist es der Balanceakt zwischen Schuld und Schuldlosigkeit, Fragen, die nicht zu beantworten sind, Figuren, die ihre Gefühle nicht zum Ausdruck bringen können, die nicht zueinanderfinden trotz aller Liebe, Menschen, die trotz aller Sehnsucht einsam bleiben.

Diesbezüglich liegst du momentan aber nicht im „Trend“, wie mir scheint. Ich habe den Eindruck, dass bei der erzählenden Literatur zunehmend die Handlungsabläufe erklärt, nachvollziehbar, fast didaktisch aufgefächert werden sollten. Das ist zumindest mein Eindruck. Siehst du das auch so?
Ja absolut, alles muss logisch und didaktisch sein. Menschliche Beziehungen sind aber nicht logisch. Lebenshilfe ist auch nicht Aufgabe der Literatur. Viele Kritiker und Leser legen an Romanfiguren ihre eigenen Maßstäbe an, wie man sich verhalten soll, sie weisen streng Romanfiguren neurotisches Verhalten nach und erklären das Buch für schlecht, wenn die Figuren nicht ihren Idealen entsprechen. Besonders schwachsinnig finde ich die Frage: Was will uns der Autor oder die Autorin sagen? Wenn ich eine Botschaft habe, schreibe ich einen Essay oder eine Stellungnahme. Ich habe keine didaktischen Absichten und will niemanden belehren. Ich gebe dem Leser auch keine Lesehilfen. Als Leserin fasziniert mich Komplexität, das nicht Auflösbare.

 

Anna Mitgutsch „Die Annäherung“
Roman, München (Luchterhand)
Seit 08. März erhältlich

Lesungstermine
30. 03. Alte Schmiede, Wien
31. 03. Stifterhaus Linz
28. 04. Literaturhaus Salzburg
02. 06. Literaturhaus Graz

Windowpane

 

 

Joe Kessler war bereits im Vorfeld einer der ersten Gäste des NEXTCOMIC Festivals.
www.nextcomic.org

 

Der britische Comic Artist stellt während des NEXTCOMIC Festivals mit Alice Socal (I) im Atelierhaus Salzamt aus. Eröffnungsabend im Salzamt im Rahmen von kristallin #31 am 11. März.  www.linz.at/kultur/salzamt.asp

 

Einer von vielen Comic-KünstlerInnen des Festivals NEXTCOMIC, das tout Linz bespielt. Die Referentin hat den Cartoonisten und Art Director von Breakdown Press aus dem Line up ausgewählt.  joe-kessler.tumblr.com

Lust is a Force

Die Lust als höhere Gewalt ist in Julian Rosefeldts filmischer Arbeit Deep Gold noch bis April in der Landesgalerie Linz anzusehen. Die gleichnamige Ausstellung stellt Fragen nach radikal konstruierter Realität – ältere und neuere feministische Referenzen inklusive.

Filmstill aus „Deep Gold“, 2013/14, © Julian Rosefeldt, by Courtesy Barbara Gross Galerie München und ARNDT Berlin / Singapore, VG Bild-Kunst

Filmstill aus „Deep Gold“, 2013/14, © Julian Rosefeldt, by Courtesy Barbara Gross Galerie München und ARNDT Berlin / Singapore, VG Bild-Kunst

Der Protagonist, ein bürgerlicher Mann in schwarzem Anzug, lässt als Frau Holle Federn aus einem Fenster auf die Straße schneien. Bevor er sich aus selbigem Fenster stürzt. Und sich am Boden der Straße wiederfindet: mit geöffneten Augen und gar nicht tot. So der vermeintliche Beginn in Julian Rosefeldts Film Deep Gold. Der den Protagonisten weiter begleitet in einer Art Verlorenheit inmitten surrealer Szenarien wie küssende Selbstmordattentäter, Femen-Aktivistinnen und einem Zeppelin mit der Aufschrift S.C.U.M. Ein radikales feministisches Manifest von Valerie Solanas aus dem Jahr 1968. Das S.C.U.M. Manifesto, das für eine Vernichtung des männlichen Geschlechts durch die Frau plädiert, wurde in dem Jahr veröffentlicht, als die Autorin in der New Yorker Pop-Art-Factory dreimal auf Andy Warhol schoss.

Während in Deep Gold der Protagonist Gaston Modot staunend den Zeppelin beobachtet, stolpert er weiter die Straße entlang und wird in Richtung einer Bar mit der Aufschrift Deep Gold getrieben. Inmitten des burlesken Bühnenszenariums erfährt er, völlig überfordert, unter anderem die Darbietungen einer mit zig Brüsten behängten Peaches und einer, von einem Transvestiten dargestellten Josephine Baker, während um ihn herum ungeniert die Lust und bürgerliche Amoralität gefeiert wird. Doch anstatt in die Feier der Extravaganz und Fleischlichkeit einzutauchen, stellt Gaston der Lust und dem Exzess seine eigene Melancholie und sein Entsetzen gegenüber. Um nach einer kurzen Ohnmacht zurück auf die trostlose Straße zu kehren.

Es gibt kein Entrinnen für ihn. Der postmortale Alptraum des Protagonisten geht weiter, und auch als Zuseher und Zuseherin entkommt man, in einem endlosen Loop des gezeigten Films, dem Gefühl der Tristesse und Ausweglosigkeit nicht. In eine Welt geworfen, die Gaston Modot nichts zu bieten hat, inmitten einer unwirtlichen und unwirklichen Umgebung, nimmt er in scheinbarer Verzweiflung ein Gewehr in die Hand und erschießt einen beliebig ausgewählten Passanten auf offener Straße. Doch auch die Gewalt scheint, genau wie die exzessive Lust, keine Lösung zu sein und verändert nichts. So bleibt der Tote einfach auf der Straße liegen. Das Morden ist hier legitim und ohne Konsequenz. Genauso wie die nackten Spaziergänger auf der Straße. Die Handlungen des Einzelnen bleiben unbeachtet und dadurch unbedeutend.

In einer anderen Szene realisiert der Protagonist, Teil einer schaurigen Inszenierung zu sein. Geht er doch durch ein Tor und befindet sich plötzlich inmitten des Filmsets, in dem sich die Häuser an der Straße als Filmkulisse enttarnen. Dort flickt eine Frau ein Kostüm für die Bühnenauftritte in der Bar Deep Gold, Bierbänke wie ein Dixi-Klo stehen für die Crew bereit. Doch auch die Dekonstruktion des Erlebten und die Aufdeckung der Umgebung als Inszenierung verändert nichts für den verlorenen Gaston. Das Dahinter stellt sich als noch furchtbarer dar als das Davor. Hier arbeitet alles für die Aufrechterhaltung der Szenerie. So taumelt Gaston zurück auf die Straße und landet letztendlich vor dem Schaufenster eines Spielzeugwarengeschäftes. Ein Augenblick kindlicher Geborgenheit in Unschuld, ein nostalgisches Gefühl aus vergangenen Zeiten wird erahnbar. Die Sehnsucht nach Ruhe und Frieden wächst beim Anblick des verschneiten Spielzeugschlosses im Schaufenster. Bis der Blick scheinbar zufällig das im unteren Bereich des Spielzeugladens ausgestellte Modellfahrzeug streift, und wie ein kalter Schauer durchfährt einen die Aufschrift auf dem Spielzeug: Lust is a force. Ein Entkommen gibt es also nicht, auch nicht mit der Lust, die Deep Gold als roter Faden und als gewaltsame Kraft durchzieht. Unentrinnbar bietet sie das anscheinend einzig Lebendige. Doch auch das nur im schillernden Rausch einer 20er-Jahre-Bar, die im selben Maße für Verlorenheit steht wie die trostlose Straße, aus der man sie betritt.

Gedreht wurde Deep Gold 2013/14 vom deutschen Filmkünstler Julian Rosefeldt in den Babelsberger Filmstudios in Berlin. Anlass war eine Einladung Rosefeldts für das Projekt Der Stachel des Skorpions. Ein Cadavreexquis nach Luis Buñuels „L’Âge d’Or“ des Museums Villa Stuck in München und dem Institut Mathildenhöhe Darmstadt. Auf Initiative des Künstlerduos M+M wurden insgesamt sechs filmische Positionen an der Schnittstelle bildende Kunst/Film geschaffen, die Bezug auf Luis Buñuels Filmklassiker „L’Âge d’Or“ aus dem Jahr 1930 nehmen. „L’Âge d’Or“ gilt als einer der zentralen Filme des Surrealismus und unterwanderte in damals skandalösen Bildern das gesellschaftliche Establishment, die bürgerliche Moral und die Wertvorstellungen der katholischen Kirche. Julian Rosefeldt bezieht sich in seiner Arbeit Deep Gold auf das immer wieder getrennte Liebespaar aus „L’Âge d’Or“, das sich seiner Lust nicht hingeben kann. Am Schluss des Films entscheidet sich die Geliebte plötzlich für einen anderen Mann, woraufhin der Liebhaber in rasender Wut den Verstand verliert und Kissen zerstört, um die Federn aus dem Fenster zu werfen. Hier setzt Rosefeldt an und beginnt seine eigene Erzählung. Hier nimmt Deep Gold seinen Anfang und zeigt als erste Aufnahme die Hände eines von Beginn an verlassenen und alleine gelassenen Protagonisten Gaston Modot, die voller Federn sind. Übrigens ist der Name des Protagonisten auch dem Klassiker entlehnt. In „L’Âge d’Or“ spielte der französische Filmschauspieler Gaston Modot die Rolle des Liebhabers.

Rosefeldt eröffnet in Deep Gold ein Szenarium der Konsequenzlosigkeit. Die Bar Deep Gold ist ein Rausch aus Fleischlichkeit, Dekadenz, Feier, Lust, Nacktheit. In einem surrealen (T)raum steht das Schillernde dieser Burlesque-Bar einer tristen Außenwelt gegenüber. Der Protagonist gilt von Anfang an als verloren: Der versuchte Selbstmord gelingt nicht und lässt ihn in einer Umgebung zurück, die auf den Zuschauer, die Zuschauerin zwar wie ein alptraumhaftes Gebilde einer verzerrten Realität wirkt, und dennoch werden auf fast gruselige Art und Weise Bezugsrahmen zu zeitgenössischen Themen der Gesellschaft hergestellt. Nehme man nur den lasziv an einer Straßenmauer lehnenden Mann, der ungeniert romantisch und scheinbar harmlos eine Frau küsst. Unter seiner offenen Jacke ist jedoch deutlich eine angebrachte Bombe mit Zünduhr zu sehen. Nehme man weiters die zahlreichen Anspielungen auf die jüngere Geschichte des Feminismus, mit den Femen-Aktivistinnen auf einer Barrikade im öffentlichen Raum oder der Auftritt der Musikerin Peaches in der Bar. Es bleibt dem Zuschauer, der Zuschauerin nicht erspart, die Verlorenheit und Irritation des Films in die heutige Zeit und das, was uns umgibt, zu übersetzen.

Im Wappensaal der Landesgalerie Linz ist neben Deep Gold auch eine frühere Arbeit des Künstlers zu sehen: Die Fünf-Kanal-Film-Installation American Night. Julian Rosefeldt gehört zu den derzeit gefragtesten zeitgenössischen Filmkünstlern. So ist er bis Juli 2016 mit seinem neuesten Film Manifesto, in dem die australische Schauspielerin Cate Blanchett in verschiedenen Rollen Texte aus Künstlermanifesten des 20. Jahrhunderts vorträgt, auch im Berliner Museum Hamburger Bahnhof in einer Einzelschau zu sehen.

 

Deep Gold läuft noch bis 24. April in der Landesgalerie Linz.

Ausstellungsbezogene Veranstaltung
Der Künstler Julian Rosefeldt wird am Sonntag, den 24. April 2016 um 11.00 h zum Filmgespräch in der Landesgalerie Linz anwesend sein.

Das dunkle Dokuversum …

… der Filmemacherin Helena Třeštíková kommt bald ins Kino: Tschechisches Filmschaffen beim Crossing Europe Filmfestival in Linz. Die Prager Filmemacherin ist heuer Tribute-Stargast. Pamela Neuwirth hat vorab Einblick in vier ihrer Dokumentarfilme genommen – und absichtlich das Ende ausgespart. Es besteht also garantiert kein Spoiler-Alarm für die LeserInnen der Filme-zu-Ende-gesehen-Kino-Vorschau. Ganz im Gegenteil: Es gibt stattdessen persönliche, fragmentarische Bilder zum Film jeweils am Ende.

Renè
(90 Minuten, CZ 2008)

Mit „Liebe Helena“ wird Renè jeden Brief beginnen. „Liebe Helena“ schreibt er weit über eine Dekade an die Filmemacherin, die dieses Leben begleitet, das sich trotz der vordergründigen Verbrecher-Biografie erst langsam entfaltet. Renè ist der große Verlierer ohne doppelten Boden, dessen Geschichte ohne den gesellschaftlichen Hintergrund unverständlich bleibt. Wer ist Renè, außer ein Berufsverbrecher, den er auf den ersten Blick verkörpert? Die klassischen Codes der Gefängnistätowierungen überziehen die Haut, wobei das mächtige „Fuck Off People“ an der Kehle des Helden platziert, nie Code war, sondern immer Ansage ist. Seine Antwort auf die Härten der Justiz, auf die Umbrüche einer Gesellschaft vom Kommunismus in eine kapitalistische Gesellschaft, auf ein Gefüge, indem er relativ wenige Chancen aufgefunden hat. Es war der sprichwörtliche Rand der Gesellschaft, an den man ihn ohne große Wahl und Mittel gestellt hatte. Die Kamera begleitet Renè, der seine kleineren und größeren kriminellen Vergehen in unterschiedlichen Gefängnissen absitzt. Helena Třeštíková zeichnet eine Anatomie der Einsamkeit auf: begleitet seine Prozesse vor Gericht, Gefängniszellen, leere Gänge, die immer gleiche Wiederholung panoptischer Architektur. Als Renè während eines raren Moments in Freiheit mehrere Wohnungen ausraubt, darunter auch die von Třeštíková, brechen nach der schlimmen Episode Kontakt und Langzeitfilmprojekt nicht ab. Und Renè schreibt, wieder: „Liebe Helena“. Und wir erleben, wie aus René Plášil ein Schreibender wird. Es ist ein Schreiben, das aus der Härte kommt. Schreiben am Klo. Dass dieses Schreiben von sentimentalen Melodien der Schlagersängerinnen, die im Staatsfernsehen flimmern, zersetzt wird, verleiht dem Film eine Brüchigkeit, die den Einstieg in die Tiefe seines Leidens und seine Kreativität erlaubt.

Der eiserne Vorhang ist Geschichte, Google wird erfunden, Mobiltelefone kommen auf den Markt, dann war da noch 9/11 und die ersten Facebook-Profile werden ins Internet gestellt. Das tat sich, während René nur wenige, kleine Zeitfenster in Freiheit erlebte.

Marcela
(82 Minuten, CZ 2006)

Ohne das Filmende zu kennen, soll hier verraten werden, dass der Film mit einer schon älteren Marcela eröffnet wird. Sie sitzt im Zug und lässt Stationen ihres Lebens Revue passieren. Reflektiert; und mit Marcelas Erzählstimme kommen die privaten Filmaufnahmen ins Bild, sie sind vom Alter im Farbton schon leicht ocker, eben wie sie der Onkel Konrad auch aufgenommen hätte bei den Familienfeiern. Festgehalten werden die fröhlichen Rituale der Hochzeit von Marcela und Jiri. Das erste Kind. Sonnige Tage an der Trabrennbahn. Marcela und Jiri, das vermählte Paar bespricht vor der Kamera ihre Probleme mit dem Wohnen, wo die Jungen sehr lange bei den Alten wohnen bleiben, wo sich die Parteien eines Wohnblocks für gewöhnlich die Toiletten teilen. Schlaglichter in das sozialistische bürokratische System. Die Kamera bleibt bei Marcela, als diese sich von Jiri trennt. Wieder Schlaglichter auf die Beengtheit der Wohnsituation. Unterbrochen dann nur vom harten Klang der Bürokratie, wenn das Gericht die Scheidung von Marcela und Jiri mit lauten Tastenschlägen protokolliert. Gefolgt vom harten Klang des Protokolls, wenn beide vor Gericht um das Sorgerecht des Kindes streiten. Die Sozialreportage tritt spätestens hier deutlich zu Tage. Marcela übersteht einen längeren Krankenhausaufenthalt. Sie nimmt eine Stelle bei der Post an. Und sie verlässt immer seltener die Wohnung, auf die sie jahrelang gewartet hat. Marcela verfällt phasenweise in Agonie – aber da ist noch das Kind. Als die Kamera Marcela und Jiri später beim gemeinsamen Gespräch am Küchentisch filmt, geht es hin und her, wie beim Tennis, wenn das geschiedene Paar die Ursachen seines Scheiterns erörtert. Wo Marcela ein etwas resigniertes „Like we used to say: It’s fate, isn’t it?“ in den Raum stellt. Wir haben uns, wie erwähnt, das Filmende für das Crossing Europe Filmfestival aufgespart. Der Film lief schon längst im tschechischen Staatsfernsehen.

Die Sozialreportage erzählt von Vogerl-Tanz, Erwachsenwerden und den Fallstricken des sozialistisch organisierten Wohnmodelles.

Mallory
(90 Minuten, CZ 2015)

Mallory ist eine Expertin, die Spezialistin der Straße. Dort, auf der Straße, wird sie einmal nachts auf der Brücke einen berühmten tschechischen Schauspieler treffen mit dem sie stundenlang durch den Regen wandert. Er ist es, dem sie nach einer langen Zeit einen Brief schreiben wird. Sie erzählt ihm, wie wichtig ihr zufälliges Treffen, damals in dieser einen Nacht war, wo sie – Mallory – den Tiefpunkt erreicht hatte. Sie wird nicht enden wie viele ihrer Gefährten, deren Grab sie besuchen wird, die Ex-Drummer in Metal-Bands, die Männer, denen sie nachweint (und die das wirklich nicht verdient haben). Helena Třeštíková begleitet auch dieses Leben über viele Jahre, dokumentiert das Leben Mallorys auf der Straße, wie sie im Autowrack wohnt, zeichnet die zahlreichen Versuche vom Heroin wegzukommen auf. Mallory fällt nicht noch tiefer, sondern findet im bürokratischen Labyrinth von Sozialhilfe und Arbeitsamt ihren Weg, obwohl sie dort wie alle anderen eine Nummer ist und hören wird, dass sie mit 40 Jahren zu alt ist. Dann drückt sie wieder die Schulbank, es sind bizarre Szenen, wenn Mallory in anderen Worten lernt, was sie längst weiß. Vor dem Hintergrund des Protests der Subkulturen der späten 1980er Jahre in der zusammenbrechenden Tschechoslowakei, entspinnt Třeštíková ein Kaleidoskop der Straße.

Mallory ist ein Name, der wie eine Melodie klingt. Diese tönt zwar im Leben der Heldin durchwegs dissonant, wird sich aber mit ihr doch immer für Momente in die Lüfte erheben.

Katka
(90 Minuten, CZ 2010)

Was Tereza einmal über Katka denken wird, wissen wir nicht. Aber wir wissen, es war Katkas Traum ein Kind zu haben und selbst Mutter zu sein. Es ist ein großer Traum, der zwischen Kingdom Heroin, den Entzugskliniken und den bewohnten Abrisshäusern und verlassenen Zuggleisen Wirklichkeit wird und wenig überraschend zum Alptraum gerät. Die Kamera trifft Katka schon als Teenager, da schreibt sie noch, weil sie über ihre Kindheit nicht reden will. Sie geht als junge Frau nach Prag. Jeder neue Schuss bedeutet ein lebensgefährliches Risiko und trotzdem bleibt sie dabei, kommt mit ihren Männern Ladis und Roman von den Drogen nicht los. Am Anfang sind es noch kleine Diebestouren in der Stadt, das ist ein richtiger Brotberuf fürs Heroin, werktags 9 to 5. Als Teile der Reportage über Katka einmal im tschechischen Fernsehen zu sehen sind, wird sie danach auf der Straße erkannt; ihr selbst scheint zu dem Zeitpunkt bereits längst alles entglitten zu sein. Es folgt später dann doch noch der Weg in die Prostitution, um den cold turkey unter allen Umständen zu vermeiden. Hepatitis A und B werden bei ihr getestet. Auch ihre vielen Versuche in Ämtern doch noch irgendeine Chance zu bekommen, scheitern. Es sind ihre angestrengten Einsätze für einen Plan, der Katka selbst unbekannt ist. Katka träumt mit 25 Jahren ihren Traum, der hört ja nie auf, sagt sie der Kamera.

Im Laufe der Jahre sehen wir wieder und wieder Katkas schönes Gesicht in Spiegeln, die immer kleiner, brüchiger und zersprungener werden. 

Egalitäre Tafel, reinen Tisch machen

Nach der Vorlage von Marlene Streeruwitz „Das wird mir alles nicht passieren … Wie bleibe ich FeministIn“ wird im Mai im Posthof das gleichnamige Stück von theaternyx* gezeigt. Ein Vorgeschmack auf die Inszenierung – beziehungsweise: Claudia Seigmann im Interview über den Geschmack der postdramatischen Drastik in unser aller Leben.

Bild: theaternyx*

Bild: theaternyx*

Wie der zugrunde liegende und titelgebende Text von Marlene Streeruwitz behandelt das neue Stück von theaternyx* Lebensentwürfe und Biographien zwischen Anpassung und Autonomie. In jeder Biographie werden andere Schranken der Unfreiheit berührt. Das Projekt befragt jenseits dogmatischer Festlegungen die Möglichkeiten von Emanzipation, siedelt es geradezu egalitär in einer Situation der Einladung oder des gemeinsamen Essens und Trinkens an. Mit Claudia Seigmann arbeitet Claudia Dworschak an der Inszenierung, die die vorgestellten Fragen zwischen Selbstbestimmung und Ernüchterung auf unser aller Leben erweitern möchte.

Eine erste Frage zum bekannten, auch von nyx verwendeten Dohnal-Zitat: „Die Vision des Feminismus ist nicht eine ‚weibliche Zukunft‘. Es ist eine menschliche Zukunft. Ohne Rollenzwänge, ohne Macht- und Gewaltverhältnisse, ohne Männerbündelei und Weiblichkeitswahn“. Vielleicht ein paar Worte zum abgelehnten Weiblichkeitswahn oder auch im Sinne: „Feminism is for everybody?“
Es geht eben nicht um eine spezielle Art von Weiblichkeit, sondern um den emanzipatorischen Kern in all unseren Biographien. Die Erzählungen betreffen beide Geschlechter. Es geht um den emanzipatorischen Motor und um Fragestellungen, um die Zwänge in der Gesellschaft, in der wir leben, um die Frage, wie sich die Lebensentwürfe ausgehen. Auch im Buch von Marlene Streeruwitz geht es sozusagen querbeet, um die Geschichten von Frauen wie Männern, Alt-ÖsterreicherInnen und Neo-Österreichern. Es geht für alle um Abhängigkeiten und Zwänge, der Motor ist immer ein emanzipatorischer. Und die Frage ist: Wie geht sich ein gutes Leben aus? Es geht um Selbstbestimmtheit und Empowerment, ohne einen Preis zu bezahlen, der zu hoch ist. Dies betrifft zwar mit ihrem beruflichen Alltag oder der Kindererziehung wiederum mehr Frauen als Männer – aber auch den türkischstämmigen, jungen Mann, der in Buch und Stück vorkommt. Auch für ihn geht es um so viel Autonomie wie möglich. Oder das andere Beispiel eine Geschichte einer jungen Frau, die ihr gesamtes Erbe in ein Lokal steckt, was ein hoher Einsatz ist, ein Wagnis. Wir kennen ja alle diese Geschichten. Speziell bei diesem Beispiel geht es sich aber nicht aus, mit dem Lokal ist das Erbe weg, natürlich war die junge Frau nicht bei sich angestellt, und am Ende stellt sie sich die Frage: Heirate ich nun doch und bekomme ich Kinder? Eine Frage, die für sie noch offen steht, diese Rolle steht manchen noch zur Verfügung. Also: Es geht um Autonomie und Abhängigkeit. Und es geht um eine Erweiterung auf unser aller Biographie. Bei Marlene Streeruwitz wird da so scharf beobachtet, dass man auf eigene Erfahrungen rückschließen kann. Das ist das Besondere. Und dann entstehen die Fragen, auf die es keine schnellen Antworten gibt.

Die angesprochenen Zwänge entbehren nicht einer gewissen Drastik?
Die Drastik bindet an die eigene Biographie an. Mit dem Stück „eine einfache geschichte“ habe ich letztes Jahr etwa Teile meiner eigenen Geschichte verarbeitet, als Tochter meiner eigenen Mutter. Es ging um Alleinerzieherinnenschaft, ein Mütter- und Frauenbild der 60er und 70er Jahre, es ging und geht immer noch um ein permanent schlechtes Gewissen. Darüber hinaus geht es im neuen Projekt um ungleiche Bezahlung, Altersarmut und andere Fragen nach Selbstbestimmung, die nicht leicht zu beantworten sind. Die Realität ist drastisch. Von solchen Bildern handelt unter anderem auch die Lentos-Schau Rabenmütter.

Der Titel „Das wird mir alles nicht passieren … Wie bleibe ich FeministIn“ trägt den Faktor Zeit in sich. Handelt es sich bei diesen Ernüchterungen um ein persönliches Älterwerden oder um eine Gesellschaft, die die Frage „Wie bleibe ich FeministIn“ neu stellen muss, weil sie wieder konservativ und restriktiv geworden ist?
Die Gesellschaft ist grundsätzlich so angelegt, dass es keine einfachen Antworten geben kann. Auch hier muss man weiter aufmachen, weg vom Stück, auf unser aller Leben. Und man kann dann nur sagen, dass die Antworten außerhalb unseres aktuellen Gesellschaftsmodells liegen, Backlash und Konservativismus hin oder her. Die Voraussetzungen sind so verschieden, was etwa nur Fragen von Karriere oder Kinderbetreuung anbelangt, dass von nichts selbstverständlich ausgegangen werden kann. Würde es eine Grundversorgung geben, die den Kampf ums eigentliche Überleben entschärfen würde, die Fragen der Miete, oder der Butter aufs Brot, dann wäre es anders. Würde es Optionen dazu geben. Es ist die Frage, wie utopisch eine Grundversorgung tatsächlich ist, wenn zunehmend die Technologie die Arbeit erledigt, oder eine gewisse Schicht immer reicher und reicher wird. Es werden ja Gewinne gemacht, die nur nicht umverteilt werden. Das ist die eigentliche Empörung: Sie liegt darin, dass nichts selbstverständlich ist, was die Beseitigung der Ungleichgewichte anbelangt, dass man immer noch, immer wieder, noch mehr mit diesen Ungleichgewichten konfrontiert ist.

Zum Stück selbst. Es handelt sich um ausgewählte Biographien von Frauen und Männern. Wie in der Vorlage sind diese Biographien voller Brüche, etwas funktioniert nicht. Die Geschichten scheinen, auch wegen ihres fehlenden Dogmatismus, an einem Weitererzählen interessiert. Du hast nun im Vorgespräch erwähnt, und auch vorhin ist das kurz angeklungen, dass du, wenn du die Geschichten auf der Bühne weitererzählen hättest sollen, eine neue, ganz andere Welt erfinden hättest müssen. Dennoch ist ein Stück immer auch eine Weiterführung der Thematik eines Buches und damit stelle ich dir auch die Frage nach der persönlichen Intention, bzw. auch die Frage danach, was theaternyx* dem Buch hinzufügt?
Ja, mit einer tatsächlichen Weitererzählung hätte ich, mehr oder weniger, eine neue Welt erfinden müssen. Es ist also keine Weitererzählung. Beim Stück handelt es sich um eine Uraufführung des Buches von Marlene Streeruwitz. Es handelt sich dabei um Themen, die mich auch betreffen. Es gab ein langes Hinfühlen zu Marlene Streeruwitz’ Werk, ein Hinfühlen, das so eine Art künstlerischen Prozess überhaupt ermöglicht, und einen entsprechenden Dialog mit Marlene Streeruwitz zuvor. Die Thematik passt für theaternyx* gut, weil nyx viel in Richtung soziale Skulptur und Öffnung in andere Bühnenformate arbeitet – mit dem dahinterliegenden Anliegen: Wie bekommt man Menschen in einen anderen Kontakt als über die herkömmliche Weise der Unterteilung in Agierende und Publikum? Wie kann man ZuseherInnen anders ins Geschehen hereinholen? Es geht sicher einerseits um Inhalte, hier bedeutet das eben, dass wir alle Biographien dieser Art haben – wo es um den Preis für Autonomie geht. Andererseits geht es aber auch um eine andere Form des Erzählens. Mit einem anderen Format gebe ich also eine andere Form hinzu – dass wir alle auf einer Ebene sind und neben den performten Biographien auch mit der eigenen Lebensgeschichte anwesend sind.

Das Bildsujet, das bereits existiert, erinnert an eine Tafel. Kann gesagt werden, dass es sich sozusagen um eine egalitäre Situation handelt, eine Tafel, an der alle mit ähnlichen Biographien Platz nehmen? Und an der dann mit der Aussage „Das wird mir alles nicht passieren“ reiner Tisch gemacht wird?
Ja genau, das ist gut zusammengefasst.

Was bedeutet diese egalitärere Situation nun hinsichtlich dessen, dass das Publikum mit seinen Biographien anwesend sein soll?
Man hat die Biographie ja eh immer dabei. Es ist aber schön, wenn es gelingt, ein Erleben möglich zu machen, wenn das Stück mit dem Publikum und dessen Biographie in Beziehung treten kann, mit jeder, mit jedem Einzelnen. Dazu wird es eine Einladung geben. Verfahren der Einladung, die konkret Entscheidungen, Fragestellungen bedeuten, die alle darauf abzielen, Stück, Akteure, Situation und Publikum miteinander in Beziehung zu bringen. Wir hatten das früher auch schon etwa bei unserer Produktion „wer bin ich?“, wo es um Linz und LinzerInnen ging (Anm: in vier Teilen, zuletzt im Nordico, 2012). Wir suchen nun mit diesem Stück korrespondierende Grundatmosphären und Gesten. Und wir laden ja auch zum gemeinsamen Essen ein, das bringt Zeit zum Austausch und zum Anknüpfen an die eigene Geschichte.

Wer ist eigentlich „wir“ bei nyx – generell und speziell hier?
nyx sind im Normalfall Markus Zett und ich. Im speziellen Fall dieses Stücks entwickelt Claudia Dworschak Inszenierung und Konzept des Stücks mit. Claudia Dworschak ist unter anderem Videokünstlerin und Performerin bei den Freundinnen der Kunst.

Zurück zur Form, zum Theaterverständnis von nyx, das ich mal ganz salopp als völlig spektakelfrei benennen möchte – ein Theater jenseits des Schnürboden- und Effektzaubers.
nyx arbeitet oft an Grenzbereichen, genreübergreifend, sucht andere Formen, ist an sozialen Skulpturen interessiert. Auch das Verlassen des herkömmlichen Theaterraums war jahrelang Programm, was ganz andere Aufmerksamkeiten und Wahrnehmungen erzeugt, zum Beispiel bei „Dunkle Geschäfte“ (Anm: Spielraum war der Welser Innenstadtraum, 2011). Der Blick verändert sich durch andere Formen. Auch beim neuen Stück liegt unser Interesse fern der Theatertrickkiste. Es geht um subtile Erfahrungen. Der Mensch, der fiktive Geschichten erzählt, wird anders sichtbar, er erzählt eine drastische Geschichte, aber undramatisch. Für die beteiligten Performerinnen ist es zudem ungewöhnlich und fordernd, wenn es keine Rollen gibt, die Schutz bieten. Die Performerinnen verstecken sich nicht hinter einer Rolle, sondern erzählen, so wie das eben bei Tisch passiert, Lebensgeschichten von anderen. Dadurch, dass sie nicht in eine Rolle schlüpfen, stellen sich die Fragen nach Repräsentation und Identität anders: Welcher Teil der fiktiven Biografie könnte nahe am gelebten Leben der Erzählerin liegen? Welcher Teil der Erfindung hat Entsprechungen im eigenen Leben der Zuhörenden? Auch wenn hier drastische Geschichten erzählt werden, geschieht das in der Form sehr undramatisch, als Tischgespräch. Und ich frage mich in der Arbeit gerade, was das anstoßen kann, welche Grundstimmung es dafür braucht. Es stellt sich die Frage eines bestimmten Geschmacks dieses Stückes.

Die Texte sind nicht festgeschrieben?
Das versuchen wir in der Probenarbeit gerade zu bestimmen, wie viel Freiheit es mit den Erzählungen braucht und welche Interaktionen mit den Zuhörenden möglich sind.

Du hast eben gesagt, dass die PerformerInnen eine drastische Geschichte erzählen, aber undramatisch. Damit die Abschlussfrage zu eurer Version des postdramatischen Theaters: Wenn das Drama nicht mehr dramatisch ist, was entsteht dann?
Für mich persönlich eine andere Form der Berührung, eine andere Form des Angesprochenseins. Eine bestimmte Form des Platzlassens holt mich mehr in ein Stück. Und es bringt mehr inspirierende und kreative Erlebnisse.

Aufführungen: Das wird mir alles nicht passieren … Wie bleibe ich FeministIn,
Posthof, am 18., 20., 21. und 22. Mai
theaternyx.at

Claudia Seigmann ist außerdem in dieser Ausgabe Teil des professionellen Publikums – siehe Professionelles Publikum.

WTF is Live Art?

Theresa Gindlstrasser hat das Fabrikanten-Projekt Hotel Obscura und die dazugehörige Filmdoku gesehen, die auch beim diesjährigen Crossing Europe Filmfestival läuft.

Eine Frau mit Trolley und honighellen Haaren fährt eine Rolltreppe nach oben. Die Frau heißt Elise Terranova, ist Künstlerin, lebt in Kopenhagen und Berlin. Die Kamera begleitet sie am Weg zum magdas Hotel in Wien. In der letzten Szene steht sie dann in einem dunkelblauen Gang und drückt eine rote Rose gegen die Kamera. Schwarz. Aus. Credits. Anatol Bogendorfer hat für das, oder von dem, Mega-(EU-geförderten-) Projekt „Hotel Obscura“ eine 18-minütige Filmdoku gemacht. Seit 2014 propagieren Die Fabrikanten (AT), Triage (AU), Mezzanine Spectacles (FR) und Ohi Pezoume (GR) unter diesem Titel Live-Art als Möglichkeit intimer Begegnungen.

Was im Februar 2015 im Hotel Wolfinger am Hauptplatz Linz schon probiert worden war, wurde im Herbst desselben Jahres ins besagte magdas Hotel nach Wien verlegt. Dort dann waren es insgesamt 20 internationale Kunstschaffende, die jeweils eine Publikumsperson in ein Hotelzimmer zur one-to-one Performance einluden. Wie verschieden die dafür gewählten Rahmenbedingungen und wie divers die dadurch zustande gekommenen Begegnungen zwischen artist und audience aussehen können, dem geht die Filmdoku nach. Und vermittelt dergestalt einen sachten Überblick über die Gesamtveranstaltung, den eine Publikumsperson beim Live-Event so nicht hätte haben können.

„Ein gewisses Niveau an Offenheit“, so der ebenfalls beteiligte Künstler Mario Sinnhofer, müsse das Publikum mitbringen. Denn der Zutritt zu einem Zimmer im „Hotel Obscura“ erfolgt über das Prinzip Pralinenschachtel-weißt-du-nie-was-du-kriegst. Und dann stehen sich Publikumsperson und kunstschaffende Person für 15 Minuten gegenüber. Das ist aufregend. Das ist vor allem jedes Mal anders, weil bei dieser Form von Live-Art mehr ein Rahmen denn eine feststehende Choreographie geboten wird. Was dann Performance genannt werden könnte, besteht in der intimen Begegnung zwischen den Menschen. „Wie tun wir miteinander?“, so formuliert Wolfgang Preisinger von den Fabrikanten die zentrale Frage.

Die Filmdoku versammelt Interviews mit Beteiligten, Begegnungssequenzen in den Hotelzimmern und obskures, also fragwürdig-verlockendes, Bildmaterial vom magdas Hotel. Die Premiere war im Januar dieses Jahres im Rahmen von raw matters im Schikaneder Kino in Wien. In Linz wird der Film im Rahmen vom Crossing Europe zu sehen sein. Was vor allem in den Interviews anklingt, nämlich die Frage „WTF is Live Art“, treiben die Fabrikanten auch in einem weiteren Projekt voran. In einer Videosammlung unter demselben Titel (zu finden auf youtube) stellen sich Kunstschaffende, Kuratierende und noch allerlei andere dieser Problemstellung. Und? What the fuck is live art?

Nun, Elise Terranova zum Beispiel dekoriert die Menschen, stilisiert sie zu totenbetthaften Ikonen. Und lässt anschließend dasselbe an sich vollziehen. „Ich glaube, die Leute sind entwaffnet, wenn sie dich dekorieren.“ Schließlich fassen wir fremden Menschen, außer vielleicht im Frisurenladen, nicht so häufig ins Haar. Die Zärtlichkeit solcher Gesten motiviert eine Zärtlichkeit im Gespräch. Und wer sich so schnell nahe kommt, spricht schnell mal über Tod und Leben. Das Projekt „Hotel Obscura“ neigt sich seinerseits einem erstmaligen Ende zu. Nach Stationen in Tours und Melbourne soll es im März 2016 ein abschließendes Treffen in Berlin geben.

Mind the first Article

Time’s Up wurde bereits in der Referentin #1 vorgestellt. Nun präsentiert die Linzer Intitiative die damals bereits in Planung befindliche Installation „Mind the Map“ im März in Prag. Das Projekt konzentriert sich auf die aktuelle Asyl- und Migrationspolitik, insbesondere auf die Migrationsströme im Mittelmeer. Tina Auer von Time’s Up gibt Antworten über die explorative Installation.

Time’s Up benennt die Ausstellungssituation von „Mind The Map“ als explorative Installation. Diese folgt einer fiktiven Biographie von Christine Kollan, die, laut Time’s Up-Text, „versehentlich Flüchtlinge unterstützt und außerplanmäßige Firmenerbin wird“. Die Installation bespricht verschiedene Ebenen der Auswirkungen des europäischen Ansatzes mit Flucht und Migration, beziehungsweise „wie diese in unser Leben und Verhalten rückwirken“. „Mind the Map“ ist Teil des europaweiten Projekts „Future Fabulators“, und ist, nach einer Präsentation im Herbst in Nantes nun im Frühjahr in Prag zu sehen.

Zuerst eine Frage zur fiktiven Person Christine Kollan, an deren Schicksal ein Erzählstrang aufgebaut ist: Sie scheint irgendwie versehentlich in Migrationsströme geraten und wird währenddessen außerplanmäßig Firmenerbin. Ein ungewöhnliches Setting, in dem es möglich ist, aufeinanderprallende Welten sichtbar zu machen? Ich beziehe mich auf zwei Nachrichtensituationen (siehe Bilder), wo plötzlich über die Firmenerbin Christine Kollan berichtet wird – und wahrscheinlich dann unvermeidlicherweise über Migration. Frage dazu: Wer ist die fiktive Person Christine Kollan, was „kann“ sie, bzw: Was bringt der Faktor Fiktion in diesem Setting?
Wir brauchen Christine Kollan. Wir (be)nutzen ihre Historie, ihre gegenwärtigen Erlebnisse, ihre Denke, Zweifel, Ängste und Sehnsüchte – allesamt gediehen aus Faktenextrakten verwoben mit blanker Fiktion – und gewinnen dadurch Freiheiten und Spielräume, um uns den tatsächlichen Begebenheiten von Migration und Fluchtbewegungen zu nähern und auf eine Weise einzuarbeiten, die uns angemessen erscheint. Angemessen in dem Sinne, als dass wir uns durchaus bewusst waren und sind, dass wir, während wir die Geschichte über Flüchtende konzipieren, in „Sicherheit“, fernab von Grauen, Perspektivlosigkeit, Not und Schrecken sitzen.

Christine erlaubt uns (als AutorInnen und vielleicht auch als BesucherIn) eine Perspektive, die eine bestimmte „Nähe“ zu unseren eigenen Lebenssituationen birgt. Nicht dass wir etwa finanzstarke Industriellenabkömmlinge wären oder sich ein imposant großes Segelboot in unserem Besitz befinden würde, mit dem wir bevorzugt das Mittelmeer kreuzen. Aber als wir begonnen haben, die Thematik um flüchtende Menschen für eine künstlerische Arbeit aufzugreifen, als wir uns entschieden haben, ein individuelles Erlebnis in diesem Kontext zu „verzimmern“, herrschte schnell Einigkeit, dass wir uns die Perspektive Flüchtender nicht erlauben dürfen. Dies wäre – aus der „wohligen“ Position aus der wir die Erlebnisse skizzieren – alles zwischen anmaßend, zynisch und überheblich. Keine(r) von uns musste je den Mut und die Risikobereitschaft aufbringen, welche die Menschen, die sich für die Flucht entscheiden, an den Tag legen. Keine(r) von uns erlebte oder verspürte je die Notwendigkeit aus Perspektivlosigkeit, aus Verzweiflung oder Todesangst den jeweiligen Lebensmittelpunkt verlassen zu müssen. Allesamt befinden wir uns in der privilegierten Position einen Reisepass zu besitzen, der – wenn überhaupt nötig – Visumanträge für fremde Länder zu einem rein formalen Akt macht und uns nie – bisher zumindest – auch nur ein einziges Mal die Einreise in eines der gewünschten Länder verunmöglichte.

Damit konkret zum Raumsetting, zur explorativen Installation. Sie scheint erzählerische, und um es wörtlich zu sagen, erforschende und kundschaftende Wege zu schlagen. Wo werden die BesucherInnen durchgeschleust, welche Zusammenhänge und künstlerischen Mittel waren euch wichtig, um diese explorativen Routen anzulegen, und warum? Tina, du schreibst in deinem Blog (Anm.: Link siehe unten) von niederschmetternden Berichten von NGOs, die sich auf eine „ausschließlich auf sicherheitsrelevante und wirtschaftliche Faktoren bezogene Grenzpolitik unter Ausschluss von humanitären Aspekten und Missachtung der Menschenrechte“ entwickeln hat können. Vielleicht die Frage auch dahingehend, wie hier mit einer Komplexität der Fakten hinsichtlich explorativen Routen umgegangen wird.
Erfahr-, erleb- und erforschbar sind verschiedene Ebenen – eine Methode, die wir immer wieder anwenden bei unseren „begehbaren Erzählungen“. Begründet auch darin, als dass alle BesucherInnen unterschiedliche Zeitfenster für das Erforschen der Geschichte zur Verfügung haben. Insofern bemühen wir uns immer um eine „Oberflächenebene“ – vergleichbar vielleicht mit dem filmischen Mittel des Establishing Shots. Ohne spezifische Aufmerksamkeit werden inhaltliche, zeitliche und auch „genre-spezifische“ Eckpfeiler der Story transportiert. Vertiefende, vernetzende und detaillierte Inhalte bedürfen in Folge dann einer ausgeprägteren Zuwendung der BesucherInnen. Wichtiges, ebenfalls wiederkehrendes Mittel in unseren Arbeiten ist die Immersion, das „Einnehmen“ der BesucherIn. Hierbei kommen alle Medien zum Tragen, die je nach Situation zielführend sind. Diese reichen exemplarisch von atmosphärischen Licht- und Tonlandschaften über architektonische Eingriffe und bewusster Requisitenverwendung (und deren spezifischer Produktion) bis hin zur Platzierung fingierter Nachrichtenberichte (Online- und oder Druck, sowie Radio und Fernsehen), privater Korrespondenz oder persönlicher Aufzeichnungen der Protagonisten.

„Mind The Map“ im Konkreten erlaubt zu allererst Einblick in Christines Leben – episodisch und zeitlich geordnet sind relevante Ereignisse ihres Lebens „verzimmert“. Beginnend mit einer flüchtigen Hinführung zur gesamten Situation, welche das von Leichtigkeit und Müßiggang geprägte Leben Christines einleitet. Symbolisiert durch den Nachbau eines Segelboot-Decks samt exemplarischer Ausstattung und akustischer Umgebung dann die Hilfestellung Christines der in Seenot geratenen Menschen. Dann die Anschuldigung der Schlepperei in Folge, verkörpert durch eine möglichst realitätsnahe Replikation einer Gefängniszelle verschmolzen mit einem Grenzzaun – aufgebrochen und zum Über-/Eintritt einladend – um vom Unfalltod ihrer Familie zu erfahren und um im (ebenfalls repräsentierten) Büro des Familienbetriebes zu landen um dort den vergangenen, den gegenwärtigen und zukünftigen Verlauf von Christines Lebens zu rezipieren und mit ihr gemeinsam sozusagen nach einer möglichen Entscheidung für ihr weiteres Leben zu suchen.

Die Komplexität der Fakten haben wir beispielsweise in den von uns als „Transitzonen“ bezeichneten Wegen zwischen „Christines Episoden“ eingearbeitet. Sie bergen exemplarisch reale Fakten, Zahlen, Bilder und Stimmen über und von Flüchtlingen und MigrantInnen. Weitgehend unkommentiert, haptisch und raumfüllend, werden Zitate und Bilder an Wände und Bodenflächen, Zahlen und Orte von Vermissten und Toten auf Gummibootreste projiziert und illustriert. Integrativ spiegeln sich verschiedene Fakten natürlich auch in sämtlichen Erfahrungen Christines wider. In fingierten Nachrichtenbeiträgen zum Beispiel oder in den geführten Verhören und auch in ihrem Tagebuch, das in immer wieder aktualisierter Form in der Installation mehrmals aufliegt.

In deinem Blog, den ich vorhin bereits erwähnt habe, steht außerdem einleitend: „Als ich kürzlich mit einem angehenden Historiker über die Situation der europäischen Asyl- und Migrationspolitik sprach, im Besonderen über die Sicherung der EU-Außengrenzen, merkte dieser an, dass, wird die Lage in ein bis zwei Dekaden historisch betrachtet und verortet, er davon ausgeht, dass die Gräuel- und Gewalttaten, die sich seit den 1980-ern bis heute zunehmend zuspitzen, auf der selben Ebene wie verschiedene im Heute bekannte Kriegsverbrechen verhandelt werden würden.“ Jetzt ist es so, dass du diesen Blogeintrag bereits im August 2014 gemacht hast – und ich sage das deshalb, weil zu diesen Migrationsströmen, die ja aus einem ohnehin massiven und elenden sozialen Ungleichgewicht resultieren, noch durch Kriegsflüchtlinge „überlagert“ wurden – ich meine jetzt hinsichtlich der Wahrnehmung erst so richtig spürbar wurde für den populären Mainstream in Europa. Wie habt ihr das im Zuge eurer Beschäftigung wahrgenommen, überholen sich da nicht die Ereignisse? Was ist euch im Kern wichtig?
Das mag nun äußerst pathetisch und möglicherweise fernab von einer Antwort auf deine Frage sein, aber mir kommt unverzüglich der erste Artikel der Menschenrechtskonventionen in den Kopf. „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.“ Und in diesem Sinne erlaube ich mir zu behaupten: Nein, die Ereignisse – zumindest im Grunde – überholen sich nicht.

Aber selbstverständlich variieren und verändern sich Parameter im weltpolitischen Geschehen, erzielen andere, neue, adaptierte Wirkungen, lösen auf allen Seiten sich wandelnde Reaktionen aus. Das haben wir im Verlauf der Er- und Ausarbeitung von „Mind The Map“ freilich wahrgenommen – und auch weit über diese Produktionsphase hinaus (und aktuelle „Wandlungsbeispiele“, alleine die österreichische Regierung betreffend, beginne ich nicht einmal aufzuzählen!)

Trotz alledem, die individuelle Herausforderung an jede(n) einzelne(n) von uns, die wir in den wohlhabenderen Industrieländern geboren sind, so meine ich, bleibt dieselbe. Eine, die eben jede(r) für sich zu bearbeiten hat – abgesehen von notwendigen kollektiven Konzepten einer Weltengemeinschaft. Fragen danach zum Beispiel, welche Haltung samt daraus resultierender Konsequenzen und Aktionen, kann und will jede(r) eigenständig in diesem Räderwerk einnehmen. Dies könnte eine mögliche Deutungsart, vielleicht ein Kern für und von „Mind The Map“ sein – zumindest die Hinführung zu diesen Fragen. Ein Versuch, sich nicht mit dem Banalen, dem Offensichtlichen oder gar dem Falschen zufrieden zu geben, sondern sich in die Lage anderer Menschen zu versetzen und plumpen Populismus sowie irreführender Hetze entgegenzutreten.

Was erlebt ihr vor Ort, ich meine, „Mind the Map“ wurde ja auch im Herbst bereits in Nantes gezeigt. Gibt es da einen informativen oder künstlerischen „Rückfluss“ – oder einfacher gesagt: Welche Reaktionen erlebt ihr?
Die Ausstellung im Le Lieu Unique in Nantes, FR, bot die großartige Gelegenheit, bedingt durch die ständige Anwesenheit von äußerst interessierten AusstellungsbetreuerInnen, einer umfangreichen Sammlung von Reaktionen. Die Bandbreite war (das kennen wir auch von anderen „begehbaren Erzählungen“) ziemlich facettenreich. Erwähnenswert bei MTM im Speziellen erscheint die Wahrnehmung, dass viele
BesucherInnen von einer „reale Tatsachendarstellung“ überzeugt waren und Christine Kollan dadurch zu einer „wahrhaften Figur“ wurde, über welche viele BesucherInnen auch weiterführende Information einholen wollten. Prinzipiell gab es großes Interesse – alleinig die BesucherInnenzahl war eine große Überraschung für uns, aber auch der Verweildauer der einzelnen BesucherInnen zeigte, dass die Geschichte als gesamtes Aufmerksamkeit und Neugierde weckte.

Hier noch die obligatorische, aber sehr gerne gestellte abschließende Frage: Whats next bei Time’s Up? Und, ich greife mit der Abschlussfrage ein Wort auf, das du zweimal verwendet hast: Was verzimmert ihr als nächstes?
Ui, ein wenig liegt mir ein „zu viel“ auf den Lippen – aber das würde dann ein negatives Bild zeichnen, das liegt mir gänzlich fern, da ja die Freude am Denken und Tun nach wie vor ungebrochen ist. Aber in der Tat sind wir neben der weiteren Vermittlung und einhergehenden Adaptionen von „Mind The Map“ auch inmitten der Konstruktion einer neuen begehbaren Erzählung. Einer „Climate Fiction“ diesmal, aufbauend auf einem „Near Future Scenario“ im Zuge des paneuropäischen Projektes Changing Weathers. Inszeniert wird eine mögliche Zukunftsvision, in der einschneidende Umwelt- und Wasserverschmutzungen zu essentiellen Veränderungen im Bereich Mobilität, Transport und Warenhandel führten. Auswirkungen dieser unübersehbaren Trends sollen exemplarisch in stofflich, materialisierter Weise, sinnlich – haptisch greif- und (er-)fassbar in einen Raum gelegt, ausgebreitet und eingeschrieben, also „verzimmert“ im Raum, im Zimmer dargestellt und neuerlich als explorative Installation veröffentlicht werden. Ja, und nicht sang- und klanglos an uns vorüberziehen lassen wollen wir unser 20-jähriges Jubiläum – dieses gilt es irgendwann, oder auch durchgängig zwischen Herbst 2016 und Sommer 2017 zu begehen. Und von den beiden, in den nächsten Wochen zu erwartenden Bescheiden bezüglich zwei weiterer Projekte auf EU-Ebene reden wir dann wieder von Angesicht zu Angesicht – bei einem nächsten Gespräch 😉

timesup.org/MindTheMap
„Mind the Map“ wird im März in Prag beim Austrian Cultural Forum im Rahmen der East Doc Platform präsentiert.
timesup.org/mtm-prague
timesup.org/talk/pn/prague
https://loosediary.wordpress.com/2014/08/06/ mind-the-map-es-bleibt-polemisch

Man atmet ja auch dabei.

Text und Bild im „Raum Lentos“: Das Kunstmuseum hat an Teresa Präauer das kuratorische Konzept herangetragen, mit der Zahl Sieben umzugehen. Norbert Trawöger hat Teresa Präauer getroffen.

Foto Teresa Präauer, Bildschirme nennen etwas einen blöden Spruch.

Foto Teresa Präauer, Bildschirme nennen etwas einen blöden Spruch.

Sieben Tage hat die Woche, der Wolf sieben Geißlein und Schneewittchen sieben Zwerge. Sieben Weltwunder kennt die Antike. Sieben ist die „Millersche Zahl“, die besagt, dass ein Mensch gleichzeitig nur bis zu sieben Informationseinheiten in seinem Kurzzeitgedächtnis auffassen kann. In der biblischen „Offenbarung“ hält der Erschaffer, der Schöpfer sieben Sterne in der rechten Hand. Eine schöne Vorstellung, die Teresa Präauer „haptisch-komisch“ fand. Präauer lebt in Wien, schreibt und zeichnet. Wie können Sie Schreiben und Zeichnen zugleich, wird sie gelegentlich gefragt: „Man atmet ja auch dabei“, hält sie entgegen. Der Mensch ist imstande gleichzeitig zu essen und zu atmen. Man müsse sich entscheiden, hat die Künstlerin früher oft gehört. Das absolute Gegenteil trifft für ihren Weg zu, die Dinge kommen immer mehr zusammen. Es fasziniert sie Arbeiten für Museen zu machen, die sehr textlastig sind. Eben im Wissen um die bildnerischen Mittel: „Bildanalyse, das kann ich wirklich“. Präauer hat in Berlin, Salzburg und Wien Germanistik und Malerei studiert. 2012 erhielt sie den aspekte-Literaturpreis für das beste deutschsprachige Prosadebüt, ihren Roman „Für den Herrscher aus Übersee“ (2012). Ihr zweiter Roman „Johnny und Jean“ wurde 2015 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert und im gleichen Jahr las sie beim Bachmannpreis.

Das Kunstmuseum Lentos hat an sie das kuratorisches Konzept, mit der Zahl Sieben umzugehen, herangetragen. Umgehen heißt, ein Kunstwerk zu schaffen. Ihre Arbeit zeigt sich ab 17. März an der Längsseite des Kunstmuseums. Für die Vorbeigehenden, von Innen nach Außen. „Stars“ ist ein Stück für 7 Monitore, die mit Text und reduzierten grafischen Elementen bespielt werden. Es beginnt schwarz und endet schwarz, wiederholt sich im Loop, denkt nach über Anfang und Ende, Schwarz und Weiß, Tag und Nacht, das Universum und den Sternenhimmel. Präauer bringt ihre Bildschirme zum Sprechen, auch darüber, dass sie Bildschirme sind. Sie denken das Symbol Sieben mit. Sie unterhalten sich darüber, geben einander Regieanweisungen, liefern sich Schlagabtäusche, formieren gemeinsam ein Wort oder nennen etwas einen blöden Spruch. „Dies ist ein Touchscreen. Wenn du ihn berührst, fließt Champagner aus den Wolken.“ Der Screen ist weder berührbar, noch zu einer Reaktion fähig. Es ist ein augenzwinkerndes Umgehen mit der Tatsache, dass unsere Welt von Bildschirmen bestimmt wird, die uns obendrein eine Multifunktionalität suggerieren. Sie können aber ganz vieles nicht. „Das Handy kann mich nicht gut in Ruhe lassen“, sagt die Künstlerin. Unsere Interaktionsfähigkeit scheint uns unbegrenzt und ist doch oft nur Ersatz- und Scheinhandlung. Der Bildschirm ist vorgelagert vor die Welt. Manche Menschen sehen Wunderschönes nur mehr durch den Rahmen des Schirms, der abschirmt: „Sie haben nie das bloße Auge auf was gerichtet“. Genau Schauen hat Präauer durchs Malereistudium gelernt: „Ich bin richtig bildergeil. Ein altes Fotoalbum, das regt mich so auf“. Es bringt sie in Erregung, Aufregung, auch fürs Schreiben. Es hilft konkret zu bleiben.

„Ich bin jemand der die Form, diese Einschränkung liebt, diese aber dann austricksen will“.
Präauer legt sich gern ins Bett des Prokrustes, eine Bettstatt, die für den Riesen viel zu klein ist. Die kreative Leistung, die durch Einschränkung notwendig wird, interessiert sie unglaublich. Sie liebt es konzeptuell und dennoch sinnlich zu arbeiten. Das Poetische und das Analytische spielen immer zusammen. „Stars“ hat sie in einer bestimmten Taktung den sieben Sprechern zugeschrieben. Vielleicht ist es eine Partitur: „Ich habe das im Ohr und habe die unterschiedlichen Sprecher im Ohr“. „Stars“, die Sterne und die Stars. Sieben Sterne können für die Unendlichkeit des Sternenhimmels stehen. Auf Deckengewölben alter Kirchen finden sich geometrische Sternenhimmel, die erst gar nicht so tun als wären sie ein wirklicher Himmel. Sie bilden sich gar nichts auf die Illusion ein, sondern schaffen ein neues Muster, das symbolisch für etwas steht und nicht auf Abbildung aus ist. Wir brauchen uns gar nichts auf unseren subjektiven Standpunkt einzubilden, von dem aus wir den Sternenhimmel sehen, zeichnen. Dieser ist ohnehin von jedem Punkt der Erde anders. Präauer interessiert Kunst zu machen, die berührt, aber gleichzeitig sagt, pass ein bisschen auf. Lass dich reinfallen in die Arbeit, aber da kommt wer, der sagt ganz so ist es nicht. Und letztlich sind Sterne das, womit nicht nur Autorinnen und Autoren im Internet bewertet werden. Sterne auf Amazon heißen, das Buch ist gut oder eben scheiße. Absurd! Präauer hat sich als Reaktion auf diese Online-Bewertungen gedacht, dann sagt doch gleich: „Der Sternenhimmel bekommt von mir ein Like, die Erde zwei, das Gras drei und so weiter. Dann macht doch genauso weiter, ihr Bewerter“.

Es wird auch Nacht ums Lentos sein. Sternenhimmel, die Donau, der Champagner fließt. Man atmet ja auch dabei.

 

RAUM LENTOS
Teresa Präauer
STARS, 2016
Ein Stück für sieben Bildschirme
18. März bis 5. Juni 2016

Mit der magischen Zahl Sieben als Ausgangspunkt unternimmt Teresa Präauer mit uns eine Reise ins System der Sterne. Die präzise gestaltete Textintervention, montiert auf sieben Bildschirmen am Schnittpunkt zwischen öffentlichem und musealem Raum, interagiert und kommuniziert mit den Betrachterinnen und Betrachtern, führt aber im selben Moment einen Dialog mit sich selbst. Es formt sich ein vorwitziges autopoietisches System, das zwischen direkter Ansprache, Diskussion und deskriptiven Passagen auch grafische Referenzen bietet.
Kurator: Magnus Hofmüller

Zuspruch in Schwarz

Maja Osojnik legt nach 14 Bandalben ihre erste Soloplatte vor. Die Wahlwienerin wird ihr herausragendes Album „Let Them Grow“ auch in Linz präsentieren. Stephan Roiss führte ein Interview mit ihr.

Formal betrachtet bringt das Album das Format „Song“ ins Gespräch mit zeitgenössischen Kompositionsverfahren, Soundart und Musique Concrete. Osojniks Stimme schwebt und stampft durch dunkle, warme Klangszenerien, in denen ein verstimmtes Klavier und elektronische Sequenzen genauso Platz finden wie dekonstruierte Drumsounds, field recordings und ein Glockenspiel. Die gebürtige Slowenin (*1976) beherrscht ihr Handwerk souverän. Die vorwiegend düstere Atmosphäre berührt und befeuert gleichermaßen. Die Stücke sind offenherzig und fragil, zugleich aber aufrecht, elegant und stark. Selten zeugt ein Album von einem derart würdevollen Umgang mit menschlichen Abgründen und Gebrochenheiten. Große Worte gebieten große Vorsicht. Aber scheiß der Hund eine Kafka drauf: Eine Platte muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.

Nach all diesen Jahren Arbeit im Verbund mit anderen (z. B. bei Rdeča Raketa, Maja Osojnik Band oder Broken.Heart. Collector): Wieso nun eine Soloplatte?
Ich hatte das Bedürfnis nach Rückzug. Ich wollte schauen, was passiert, wenn ich auf mich allein gestellt bin. Wenn Du gemeinsam gestaltest, musst du oft viel erklären. Du musst begründen, wieso du etwas so oder so machen willst. Wenn Du allein bist, ist das erstmal eine Befreiung. Du bist nur mit dir selbst im Dialog. Aber genau das kann auch schwierig werden. Es gibt keinen Spiegel, nur deine eigenen Reflexionen. Ich hatte immer wieder Phasen, in denen ich mir Austausch und Feedback gewünscht habe. Zugleich wollte ich aber diesen neuen intimen Raum nicht zu rasch wieder verlassen.

Ein paar Leute hast du aber zur Mitarbeit an deiner Platte eingeladen – „sampled artists“, wie du sie nennst.
Manu Mayr, Matija Schellander, Tamara Wilhelm und Patrick Wurzwallner sind keine Gastmusiker*innen im herkömmlichen Sinn. Sie haben mir ihre Sounds zur Verfügung gestellt. Sie haben Spuren eingespielt, die ich zerschnitten, editiert, verfremdet habe. Sie agieren auf der Platte quasi als „field recording people“.

Wie setzt du das Album live um?
Ich will nicht einfach wiedergeben, was auf der Platte konserviert ist. Das Set soll lebendig bleiben. Ich verwende die Songs des Albums als Ausgangsmaterial und improvisiere damit, reagiere auf die jeweiligen Gegebenheiten und lasse sie in die Musik einfließen. Es gibt dabei Konzepte, aber eben auch viel Freiraum. Das Ergebnis nähert sich manchmal mehr, manchmal weniger den aufgenommenen Stücken an. Es gibt allerdings nicht nur ein Soloprogramm. Ich spiele und interpretiere das Material auch im Duo mit dem Drummer Patrick Wurzwallner und in einer großen Besetzung („All.The.Terms.We.Are“), zu der ich Manu Mayr, Raumschiff Englmayr, Lukas König, Matija Schellander und Audrey Chen eingeladen habe.

Deine Texte werfen viele Fragen nach Machtverhältnissen und Identität auf.
Sie spiegeln Erfahrungen. Das Album ist ausgesprochen persönlich, zugleich – oder gerade deswegen – steckt viel Politisches in den Texten. Die alltägliche Umgebung, die gegenwärtige Politik, Medien, eine zunehmende Virtualisierung des Lebens, der Konsumwahn und die neoliberale Scheiße, der wir täglich ausgeliefert sind: all das provoziert Emotionen und Fragezeichen. Ich bin involviert, keine bloße Beobachterin. Nicht nur, aber z. B. auch aus queerfeministischer und migrantischer Perspektive. Die Texte sind komprimierte Gedanken, sie bilden eine Art „dystopic diary“ der letzten beiden Jahre. Ich sehe die Platte allerdings nicht nur als Anklage. Bei aller Düsternis steckt z. B. auch viel Sarkasmus und Humor in ihr. Bei „I was dying“ zum Beispiel, stelle ich mir mein eigenes Begräbnis vor. Ich liege in einem Sarg, stecke dabei aber in einem Hot-Dog-Kostüm.

Wie schätzt du – vor allem in den musikalischen Gefilden, in denen du dich bewegst – die Lage von Frauen bzw. Nicht-Heteronorm-Männern ein? Wie viel direkte oder strukturelle Diskriminierung nimmst du wahr?
In meinem ganz nahen Umfeld sind wir, denke ich, ziemlich aufgeklärt. Wir begegnen einander als Menschen, oder auch Nicht-Menschen, als Außerirdische von mir aus, jedenfalls gleichgestellt.
In anderen Kontexten passieren manchmal immer noch haarsträubende oder irrwitzige Dinge: Da beugen sich schon mal drei Tontechniker über mein Equipment und fragen sich eine Viertelstunde lang, ob das Mädchen alles richtig verkabelt hat, bis sie draufkommen, dass der Mainmix auf „Mute“ gestellt war. Gesellschaftlich ist Diskriminierung nach wie vor stark vorhanden. Wenn ich das aktuelle politische Geschehen betrachte, bekomme ich leider den Eindruck, dass wir gerade erst einen Schritt auf etwas Schöneres hin gemacht haben und jetzt wieder zwei zurückgehen. Nicht nur, was Chauvinismus und Homophobie betrifft. Erkämpfte Rechte können erschreckend schnell wieder abgesprochen und entzogen werden.

Du hast immer wieder auch in Linz zu tun. Abgesehen von den Konzerten, die du hier spielst, warst du z. B. in der Jury des imPULS-Innovationstopfes oder hast vor kurzem eine Klanginstallation im Lentos gezeigt. Was ist dein Eindruck der hiesigen Sub-/Kulturszene?
Für mich ist Linz eigentlich eine super Stadt. Es passiert viel. Es gibt spannende Locations wie die Kapu, die Stadtwerkstatt oder auch das Lentos. Und tolle Festivals wie das Crossing Europe. Auch in der Umgebung gibt es großartige Initiativen. Beispielsweise in Ottensheim, Wels oder Ulrichsberg. Das ist ein richtiger creative pot mit extrem viel Potential. Es kommen viele fantastische Musiker*innen aus der Gegend. Aber ich habe den Eindruck, dass die Stadt bzw. das Land, das nicht wirklich checken. Das trägt wohl oft dazu bei, dass ein Exodus passiert, der unter anderen Bedingungen nicht stattfinden würde.

 

Maja Osojnik – Let Them Grow
Doppel Vinyl (rock is hell) & CD (unrecords)

mo.klingt.org
maja.klingt.org
www.rockishell.com
www.unrecords.me

Präsentationen in Linz:
27. 04. Stadtwerkstatt (mit Patrick Wurzwallner)
04. 06. Kapu (Solo)

Nicht nichts tun

Im April wird im Rahmen der Tanztage im Posthof die „Kurze Abhandlung über das Nichts“ gezeigt. Theresa Gindlstrasser hat im Vorfeld die Tänzerin und Performerin Iris Heitzinger zu Verweigerungsgeste und Absichtslosigkeit befragt und beginnt mit einer längeren Einleitung zum knallenden Nichts.


Die deutsche Sprache bietet bekanntlich viel Möglichkeit zur Substantivierung. Da wird zum Beispiel aus „laufen“ die „Lauferei“, oder irgendjemand ist plötzlich auf dem „Laufenden“. Da kann überhaupt sehr vieles per „-heit“ und „-keit“ und „-ung“ Abstrakta seiner selbst sein. Und obwohl „das Gute, das Wahre und das Schöne“ weder in der Philosophie, noch in der Politik oder Kunst, streitlose Konzepte sind, verstehen wir in der deutschen Sprache in diesen Begriffen sicher nicht nichts. Sondern zumindest streitbare Konzepte. Nicht nichts verstehen wir auch dann, wenn die Rede vom „Nichts“ ist. Eine solche Rede vollführt ja auch den allerfaszinierendsten Knalleffekt der an sich schon so faszinierend knallenden Substantivierungs-Geste. Aus „nichts“ ist urplötzlich „das Nichts“, also zumindest irgendwie „Etwas“ geworden, und das Existenzversprechen, das Substantive (aka alles, was du angreifen kannst) auf uns ausüben, wird Verdammnis zur Positivität.

Weil: Es wäre doch so schön, der Welt ein gellendes „NEIN“ entgegenzuwerfen. Und zwar ein so krass gellendes „NEIN“, dass die Welt daraus nicht noch wieder zumindest irgendwie „Etwas“ machen könnte. Und es wäre so gut, dem Kunstbetrieb als Künstlerin ein gellendes „SO NICHT“ entgegenzuproduzieren. Und zwar ein so krass gellendes „SO NICHT“, dass eine Vereinnahmung durch den Kunstbetrieb gänzlich ausgeschlossen wäre. Aporien des Alltags sind das, und wir begegnen ihnen in der Politik genauso wie in der Kunst. „O Menschheit!“, könnten wir dann seufzen. So seufzt jedenfalls der Notar am Ende der Erzählung „Bartleby der Schreiber“ von Hermann Melville. Und der hat bekanntlich viel Anlass zum Seufzen. Einer seiner Angestellten, der besagte Schreiber, entzieht sich der Verwertungspositivität mittels faszinierend knallender Geste: „I would prefer not to“ sagt er und arbeitet nicht mehr. Oder, entzieht sich dieser Verwertungspositivität nicht, bringt vielmehr die gesamte Szenerie in Unsicherheit.

In der Kunst gibt es viele Versuche, solcherlei ähnlich faszinierend knallende Gesten zu finden, die eine Unsicherheit der Verwertungspositivität anregen mögen. All time best Beispiel: „4’33’’“ von John Cage. In den 4 Minuten 33 Sekunden passiert nicht nichts, passiert Stille, passiert Geräuschkulisse und passiert eine Verunsicherung über den Existenzstatus des Kunstwerkes. Ob das jetzt nichts oder vielmehr Nichts gewesen wäre, diese Frage stellte sich auch bei „Regie 2“ von Monster Truck. Ende 2015 wurde diese Produktion im Rahmen des No-Limits-Festivals in Berlin gezeigt. Das Performance-Kollektiv war schon in vorangegangenen Arbeiten an der Verunsicherung des Regie-Begriffs interessiert gewesen. Dort dann wurde das Publikum, in Erwartung einer Monster-Truck-Produktion, mit einem Bus in ein ganz anderes Theater gefahren und in eine dortige Inszenierung gesetzt.

Iris Heitzinger, die 2005 ihre Tanzausbildung an der Anton Bruckner Privatuniversität abgeschlossen hat, wird im Rahmen der Tanz Tage 2016 im Posthof Linz ihr Stück, oder ihr Experiment wie sie sagt, mit dem Titel „Kurze Abhandlung über das Nichts“ zeigen. Die Produktion, die aber nicht so sehr wiederholbares Bühnenprodukt und vielmehr paradoxe Versuchsanordnung ist, wurde von Heitzinger in Barcelona entwickelt und ebendort uraufgeführt. Mit dem Aufkommen der in Spanien nicht nur sogenannten, sondern wirklich erlebten Wirtschaftskrise, wurden auch die Fördermittel für Kunst und Kultur nicht mehr ausgegeben. Protestiert gegen diesen Umstand haben aber fast ausschließlich die Kunstschaffenden selber, nicht das sogenannte Publikum. Die „Kurze Abhandlung über das Nichts“ antwortet auf besagte Schieflage in zweierlei Hinsicht. Zum einen übt sich Heitzinger darin, in einer knallenden Verweigerungsgeste. Und zum anderen wird das Publikum zu Mit-Agierenden des Abends.

Verweigert wird hier der Bühnenvertrag. So nennt Heitzinger die Erwartungshaltung, eine Produktion sei ein Fertiges, Konsumierbares – das vor einem Publikum nur noch ausgetragen werden muss. Diesen Bühnenvertrag unterläuft „Kurze Abhandlung über das Nichts“, indem Heitzinger den Raum ohne Plan und vor allem, versuchtermaßen zumindest, ohne Erwartungshaltung betritt. Das Publikum wird über die paradoxe Versuchsanordnung in Kenntnis gesetzt. Die Tänzerin wird sich bewegen, wird aber, sagt sie, „jeden Plan, den ich habe, nicht umsetzen“. Wird also immer genau nicht „Etwas“ tun, sondern tänzerisch nichts tun, tanzender weise „das Nichts“ versuchen. Dass sie dabei nicht nichts tut, sondern ganz im Gegenteil versucht, den Raum der Bewegungsmöglichkeiten offen für Zufall zu halten, kommentiert Heitzinger auch selber. In diesen Kommentaren vermag sich das Publikum selbst und den gemeinsamen Raum als einen Ereigniskontext wahrzunehmen.

Improvisation und versuchte Absichtslosigkeit als Geste gegen die Verwertungspositivität einer auf Profit ausgerichteten Kulturindustrie. Und der Versuch, das Publikum nah an das Geschehen heranzuholen, so antwortet die „Kurze Abhandlung über das Nichts“ auf ein erlebtes Desinteresse von Politik und Publikum an der Kunst. Schließlich, so Heitzinger, sei die Kunst doch ein Ort der Zukunfts-Visionen und -Versuche, insofern unbedingt förderungswürdig und dauernd für das Publikum zu öffnen. Die „Kurze Abhandlung über das Nichts“ ist für Heitzinger insgesamt eine Folge jahrelanger Auseinandersetzung mit den Bedingungen von Kunstproduktion. Als einen praktischen Referenzpunkt für ihre Arbeit nennt sie die Improvisations-Konzerte des Pianisten Keith Jarrett. Seine Solokonzerte aus den 70er Jahren, allen voran „The Köln Concert“, sind auch in zunächst absichtslosen Tonfolgen entstanden um sich dann zu einem Stück zu verdichten. Improvisation kann, so Heitzinger, längst vorhandene Perlen von „Etwas“ aus dem „Nichts“ bergen. Wer plant, rechnet mit einer Zukunft und mit ihren Eventualitäten. Wer sich in Absichtslosigkeit übt, versucht sich selbst als Material der Möglichkeiten gehen zu lassen.

Ein theoretischer Referenzpunkt für Heitzinger um diese Art die Zukunft zu denken ist eine Überlegung von Jacques Derrida. Der Unterschied zwischen la futur, als einer erfassbaren, vielleicht planbaren Zukunft, und dem l’avenir, also dem Kommenden, das unversehens auf uns trifft. So versucht die Choreografin und Tänzerin offen zu sein für was da auch immer kommen möge. Und nimmt sich dergestalt als Körper inmitten von Unsicherheit und Verletzbarkeit wahr. Die Hoffnung besteht, dass über dieses öffentliche Austragen der eigenen Ausgesetztheit eine Verbindung zum Publikum entsteht. Und während sie also etwas gibt (eine Bewegung), das sie eigentlich nicht hat (zumindest nicht im Sinne eines vorgestellten Plans) sollen Performerin und Publikum aufeinandertreffen und sich in der je eigenen Verletzbarkeit erkennen. Damit wäre am Ende die Substantivierung umgekehrt. Was „nichts“ war, wurde „das Nichts“ und tritt dann wieder als „nichts“ in Erscheinung, wenn wir sehen, dass wir zwar nicht nichts tun können, trotzdem aber oft aus nichts was wird.

 

Posthof Tanztage, Fr. 08. 04. 2016, 20.00 h
Iris Heitzinger, Kurze Abhandlung über das Nichts
Außerdem an diesem Abend:
Cie. Animus, Blick in die Tiefe
www.posthof.at