Das Raumschiff, …

… ein Projekt von Studenten der Kunstuniversität Linz, eröffnet nach langer Pause am 3. März wieder seine Pforten. Was ist nun das Raumschiff und wie sieht die anvisierte Entwicklung aus?

Bild Raumschiff

Bild Raumschiff

Gegründet wurde das Raumschiff bereits 2013. Nach diversen Schwierigkeiten bei der Anmietung der alten Räumlichkeiten am Brückenkopfgebäude/Hauptplatz, konnte nun an anderer Stelle ein langfristiger Mietvertrag mit der Stadt ausgehandelt werden. Die Idee, als Experimentierfeld für junge KünstlerInnen, und gleichsam als Begegnungszone für studentisches Publikum wie auch Laufkundschaft, AbsolventInnen, KollegInnen aus anderen Institutionen und interessierter Kreativ-Crowd zu gelten, wird fortgeführt.

In der neuen Location am Pfarrplatz 18 steht insgesamt eine Ausstellungsfläche von 170 Quadratmetern inklusive Innenhof zur Verfügung. Davon ein Verkaufsraum mit 50 Quadratmetern, der über einen eigenen Zugang verfügt. Der Verkaufsraum wird jungen KünstlerInnen auf Anfrage zeitlich begrenzt zur Selbstverwaltung überantwortet; auf diese Weise hat jeder Interessent die Möglichkeit, seine Werke und Projekte einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Sichtbar machen! ist die populäre Devise mit kulturpolitischer Durchschlagskraft und die persönliche Anwesenheit der Künstler ist ausdrücklich erwünscht.

Da das Projekt von einem Verein betrieben wird und keinen Einschränkungen seitens universitärer oder politischer Institutionen unterliegt, ist der Raum als geöffnet im weiten Sinn zu betrachten, wodurch das Raumschiff als sozialer und kultureller Schwellenraum eine Sonderstellung unter den stadtinternen Veranstaltungszentren einnimmt. Und das ist Raumschiff in erster Linie: Ein Veranstaltungsraum, der in gewisser Weise niederschwellige Zugänge pflegt, was sowohl in der Umsetzung ein schnelles, spontanes Agieren als auch den Kontakt zu einem erweiterten Kreis von Mitwirkenden oder Publikum anbelangt. Das Augenmerk liegt auf interdisziplinärer Zusammenarbeit abseits hierarchischer Strukturen. Vorzugsweise werden Gruppenausstellungen abgehalten, die nicht auf den universitären Rahmen reduziert sind und für potentielle Diskursführung abseits eines etablierten Ausstellungswesens sorgen sollen. Das Programm bleibt dabei nicht auf bildende Kunst beschränkt. Performative Inszenierungen werden ebenso gerne angenommen, wie musikalische Auftritte oder Lesungen. Auch Workshops können abgehalten werden und wer Angebote bereit hält, sollte sich melden. Wenn auch der Ausstellungsraum als Verkaufsraum genutzt werden kann, wird bei Veranstaltungen kein Eintritt verlangt, der Verein gründet nur was Mietkosten betrifft auf Subventionierung, der Betrieb wird durch Spenden aufrechterhalten.

In der Vergangenheit sind bereits eine Vielzahl gewöhnlicher und ungewöhnlicher Veranstaltungen realisiert worden. Bei einem Rückblick sieht man die Behandlung gesellschaftspolitisch relevanter Themen („Speed Integrationing“) neben der Abhaltung konventioneller Zeichenkurse für jedermann oder der Vorführung eines sogenannten Nähmaschinenkonzertes angesiedelt. Zeitgenössische Entwicklungen in Kultur und Gesellschaft, regional bis international, sollen nach wie vor im Raumschiff ihre künstlerische Entsprechung finden. Die pluralistische Schiene wird weitergeführt und auch bereits etablierte Projekte gehen in die nächste Runde.

Zum Beispiel Kinophilia, eine Zusammenkunft von Film-Interessierten über mehrere Tage, an denen unter spontaner Gruppenbildung verschiedene Kurzfilmprojekte umgesetzt und präsentiert werden können. Weiters das Ausstellungsformat random access, das die willkürliche Positionierung des eigenen Werkes im Ausstellungsraum erlaubt. Die Frage nach „richtiger“ Hängung eines Bildes wird hier ebenso konsequent unterlaufen, wie die Kuratorentätigkeit, was den pluralistischen Impetus des Vereins unterstreicht. Durch das Zusammenspiel individueller Positionierungsstrategien wird der Raum schließlich gefüllt, was zu unvorhersehbarer Struktur in der Werkanordnung führt und letztlich eine Ausstellung entstehen lässt, deren Erscheinungsbild unvorhersehbar bleibt. Durch dieses Projekt kann die Ideologie, durch die das Raumschiff getragen wird, am ehesten greifbar werden. Da Kreativität quer durch eine Menge von Berufsparten als obligat angesehen und institutionalisiert wird, mag es passend erscheinen, Eigendynamik zuzulassen. Dem Zufallsmoment im künstlerischen Produktionsprozess wird auf diese Weise der nötige Raum gegeben.
Zudem findet eine Zusammenarbeit mit etablierten Formaten statt. Demnächst mit dem Next Comic Festival, das seit 2009 zum achten Mal in Folge in Linz und Steyr stattfindet. Eröffnet wird das Festival am 11. März ab 18.00 Uhr, im Raumschiff wird bei der Gelegenheit eine Satellitenausstellung organisiert. Hierbei werden Einsendungen von ComiczeichnerInnen und IllustratorInnen angenommen. Ein Teil der Einsendungen wurde durch eine unabhängige Jury ausgewählt und wird im Lauf des Festivals präsentiert.

Abgesehen von seiner Aufgabe als Experimentier- und Begegnungszone, bietet das Raumschiff die Möglichkeit, sich intern zu engagieren. Die Vielfalt hintergründiger Organisationsstrukturen verlangt nach eigenständiger Initiative und wer aktiv an der Entwicklung zukünftiger Projekte mitarbeiten bzw. sich am Steuern des Schiffes beteiligen möchte, ist herzlich willkommen. Sämtliche Verwaltungstätigkeiten finden auf ehrenamtlicher Basis statt, was für eine Vernetzung in verschiedene Richtungen sorgt. Die Einbettung in den universitären Bereich macht diese Form des Engagements für potentielle AbsolventInnen der Kunstuniversität besonders attraktiv. Grundsätzlich bleibt das Raumschiff, wenn auch aus der Studentenschaft der Kunstuniversität Linz hervorgegangen, in seinem Wirken nicht auf den akademischen Bereich beschränkt.

Hierin mag auch die Schwierigkeit des Projektes liegen, das sich innerhalb einer heterogenen Gesellschaft als Schnittstelle positionieren möchte. Für die Möglichkeit eines Dialoges zwischen Studentenschaft, Professorenschaft, touristischer Laufkundschaft und der Stadtbevölkerung, muss, abgesehen von den jeweiligen Veranstaltungen, auf eine relativ neutrale Atmosphäre zurückgegriffen werden. Um dem gerecht zu werden, wird die Kreisslerei wieder eröffnet, das Café des Raumschiffs. Kommen und bleiben ist möglich und erwünscht, insofern bleibt die Überschneidung von Ausstellungsraum, Verkaufsraum und gastronomischen Raum erhalten und das Raumschiff wird, einmal am Ankerplatz fest vertaut, zum Aufenthaltsraum.

Wer sich selbst einen Eindruck machen möchte, kann das am ehesten beim Eröffnungsfest. Ausstellung ist dabei noch keine geplant, was aber nicht heißt, dass es nichts zu sehen gibt. Die Programmmischung aus Musik und performative art ist noch in der Organisationsphase und man darf gespannt sein, mit welchen Aktionen diese neue Anlaufstelle sich der Stadt präsentiert.

 

Eröffnungsfestivitäten: 03.–06. März

Wem die Zeit für den Besuch der dreitägigen Eröffnung fehlt, dem steht es frei, das Schiff an diesen Tagen zu entern:
Mo, Do, Fr: 16.00–21.00 h
Sa, So: 11.00–16.00 h

Informationen zu Veranstaltungen und Ausschreibungen: www.raum-schiff.at

Platz da!

Feminismus & Krawall am internationalen Frauentag am 8. März 2016

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Platz da! Illustration: Silke Müller

Feminismus & Krawall versteht sich als anti-rassistische, anti-sexistische und gemeinschaftlich handelnde, gleichberechtigende, selbstbestimmende Initiative.

„Wir schaffen Territorien, in denen wir die Auflösung geltender Geschlechter- und Machtverhältnisse üben. Wir reden über: Arbeit(en), Technologien, Liebe, Ökonomien, Politiken, und Körper als Formen des (Un)Möglichen. Wir überlegen uns Strategien, um mit Rassismen, Sexismen, Homophobie, Transphobie und Ausbeutung umzugehen.“ Hinter Feminismus und Krawall stehen 18 Vereine und zahlreiche EinzelkämpferInnen, die das Bündnis ideologisch und/oder aktiv unterstützen. Bei den feministischen Projekten, die mittlerweile das ganze Jahr über stattfinden, sind mindestens 40 Frauen am aktiven Gestaltungs- und Umsetzungsprozess beteiligt. 2014 wurde Feminismus und Krawall mit dem Frauenpreis der Stadt Linz ausgezeichnet. 2015 wurde am Hauptplatz an einer wunderbaren, langen Tafel geredet und gespeist – und heuer, so hört man zumindest, könnte der Umzug etwas mit einem Schiff zu tun haben. Mitgehen bei der Demo! Die Route beginnt am Martin-Luther-Platz und führt über den Taubenmarkt zum Hauptplatz. Abendprogramm in der Stadtwerkstatt.

16.00 h    Treffpunkt Martin-Luther-Platz | Radioballett Platz da!
16.45 h    Start Demo: Platz da! – Wir schleppen ein Schiff – Join & help us!
17.15 h    Hauptplatz: Performances * Interventionen * Musik * Gruppenfoto
20.00 h    Stadtwerkstatt: Femme Brutal (Film!)
22.00 h    Stadtwerkstatt: Protestlabor DJs

Weg mit den Menschen!

Die Installations-, Foto- und Filmkünstlerin Tea Mäkipää ist mit der Ausstellung „Years after Zero“ bis 5. Februar im Kunstraum Goethestraße zu sehen.

Menschen und Tiere – bis einer den anderen wieder frisst. Foto Tea Mäkipää

Menschen und Tiere – bis einer den anderen wieder frisst. Foto Tea Mäkipää

Years after Zero – das klingt ein wenig nach Tabula rasa, steht aber auch für die Werkschau von Tea Mäkipää, die im Kunstraum Goethestraße (fast) mit den 00er-Jahren beginnend präsentiert wird. So werden im Hauptraum Mäkipääs Arbeiten größtenteils als dokumentarische Bilder von Projekten der letzten 17 Jahre zu einer Timeline aneinandergereiht: auch als Abbildung der menschlichen Hybris, der Gier und der Arroganz des denkenden, sprechenden und technologieentwickelten Menschen.
Die in den Projekten dargestellte Sehnsucht nach verantwortungsvoller Lebensführung äußert sich als Kampagne, etwa für bedrohte Tierarten. Die lösungsorientierte Hinwendung zu einer anderen Möglichkeit von Natur führt zu Projekten mit ungewöhnlichen Schutzzonen: Tiere wohnen mitunter in mit Pflanzen bewachsenen Auto-Innenräumen: zu wenig Platz sonst fürs Wildlife. Auch wenn es um die Domestizierung des Menschen geht, sieht die Situation nicht rosig aus: Das wilde Leben ist an der Fassade möglich, zum Beispiel in einer „parasitär“ angebrachten Hütte in den luftigen Höhen der Stadthäuser. Das Domus selbst ist – in anderen Projekten – wiederum ein kippendes Konstrukt, manchmal entkernt, bzw. ohne Wände, auf Infor­mations- und Versorgungsströme reduziert. Oder, anderes Projekt: Die Öl-Epoche wird zu Grabe getragen – im Petrol Engine Memorial Park … Insgesamt, das Schicksal jeder neuen Technologie: Die erhoffte Lösung führt in den nächsten Irrtum.
Und immer wieder: Projekte mit oder über Tiere, mit oder über die Natur. Ethik. Dass Menschen, Tiere und Natur in einem hierarchiefreien Miteinander leben, das vermittelt an manchen Stellen schon beinahe surreal anmutende Seligkeit (siehe Abbildung und Titel, „World of Plenty“), und steht wohl als fantastisches Wunschbild gegen die Ungleichheit, Verschärfung, Ausbeutung, Verdrängung der Lebewesen. Dass bei Mäkipää gerne mal auf den Trick des „Augenzwinkerns“ zurückgegrif­fen wird, verschleiert aber großzügig, dass der Ernst hier konfrontativ auftritt. Denn spätestens beim Projekt „Recycled“, das die Wiederverwendung von Grabsteinen thematisiert, auf denen etwa „übermeißelte“ Namen abgelesen werden können, verwischt jeder heitere Individualismus. Ne­benbei geht es um die Information, dass die zeitliche Befristung der Grabstellen zu kurz bemessen ist: Zu wenig Zeit also für den Menschen, um zu verwesen. Doppeldeutige Gefühle entstehen: Von wegen, dass der Mensch selbst im Tod noch immer zu wenig Zeit hat – und wann er endlich ganz weg sein wird. Spätestens jetzt ist klar, dass es um eine ernste Angelegenheit geht.
Im Untergeschoß des Kunstraums eine wichtige Ergänzung durch Objekte, Malereien und Videos. Das Bärenprojekt „Prima Carnivora“ besteht, noch einmal unerwartet gewendet, allerdings aus Malereien und Skulpturen des finnischen Braunbären Juuso und seiner Bärenmutter Tessu, die im Predator Center in Finnland leben. Die Tiere stellen für Tea Mäkipää Kunst her. Ein skurriles Setting, das die ausgestellten Büsten einem Dokumentationsvideo gegenüberstellt, in dem sich die Bären im Gehege insgesamt als freundlich kooperierend, aber dennoch auch als gnadenlose Materialzerkleinerer erweisen. Belustigend dabei der Bezug zu Jonathan Meese, den Tea Mäkipää durch das Setting eingebracht hat: Sie zitiert damit die Arbeitspraxis eines Künstler-Superstars, der, Mäkipää sinngemäß im Gespräch, ebenso nur durch die von seinen zig Angestellten vorgefertigten und aufgestellten Büsten durchgeht – um sie zu „finishen“. Soviel zur Kunst per Prankenhieb – und wie Natur, Kunst, Mensch, Tier im ethischen Spiel zueinander und gegeneinander stehen. Empfehlenswerte und bisher umfassendste Schau der finnischen Künstlerin! Und besides: Nicht nur Kunstbubi Juuso firmiert mit seiner Bärenmutter Tessu aktuell in Linz. Ein Bild vom angesprochenen Meister Meese ist zurzeit in der Lentos-Schau Rabenmütter zu sehen: die „Mutter Meese“. Anderer Kontext, auch sehr gut.

TEA MÄKIPÄÄ – Years After Zero
Die Ausstellung läuft bis 5. Februar 2016.
www.kunstraum.at
www.tea-makipaa.eu

I’m feeling the Impasse

Das Oval Office Linz ist ein kontinuierlich stattfindendes Format mit queer-feministischen Inhalten. Es wird von wechselnden Präsidentinnen und ihren Beraterinnen bespielt. Zuletzt gestaltete die aktuell amtierende Präsidentin Karin Michalski unter dem Motto „Fuck you – I am not feeling it …“ einen Abend. Hier ein Interview mit Karin Michalski über public feelings, selbstgebastelte Kunst und das Bett als Widerstandsort.

F is for Feeling Bad.
The Alphabet of Feeling Bad
is about creating new vocabularies
but sometimes very simple statements
like ‘I feel bad’ are the best way
to describe our feelings.

I is for Impasse.
I often feel like I don’t know what to do
or like I’m stuck.
Being at an Impasse is not always a bad thing.
Sometimes it’s important to dwell in
the space of not knowing what to do.

P is for Public Feelings,
the name of the group I’ve been
working with for some time.
Our goal is to pay attention
to feelings as a shared experience
not a private or individual one.

Als parasitäres queer-feministisches Wanderformat eignet sich das Oval Office Linz laut Eigendefinition „das repräsentative Zentrum der Macht als Hommage ans Weiße Haus“ an. Anstelle des präsidialen und hochoffiziellen Mobiliars und Requisitariums treten allerdings „verworfene, verpasste, vergessene, verdeckte, verwunschene, verlorene, verschmitzte, verdächtige, verschwiegene, verwandelte oder versagte Filmschauen, Diskussionen, Performances, Installationen oder Lesungen“. Zuletzt haben die Oval-Office-Initiatorinnen Karin Bruns, Katrin Köppert, Gerlinde Schmierer und Gitti Vasicek vom Kunstuni-Institut für Medien die Künstlerin, Filmkuratorin und Dozentin Karin Michalski eingeladen, um sie als ihre neue Präsidentin zu inthronisieren: dieses Mal vor feierlich auf Matratzen herumliegendem Publikum. Karin Michalski gestaltete daraufhin einen Abend mit queer-feministischen Positionen zur Fragestellung nach der Politisierung von Gefühlen. Das Interview hat Tan­ja Brandmayr danach per Mail geführt.

Der Titel der Veranstaltung „Fuck you – I am not feeling it …“ ist selbstredend. Der Untertitel „your version of happiness is really problematic for me“ rückt Glücksgefühle in Distanz. Ihr „Alphabet of Feeling Bad“, eine Videoarbeit, die Sie als Künstlerin gemeinsam mit Ann Cvetkovich gemacht haben, listet nun zusätzlich von A bis Z „negative“ Gefühle auf, die die meisten von uns zur Genüge kennen … Trauer, Depression, oder das Stichwort: „P is for Precarity“ – zum Beispiel. Geht es um Benennung als Strategie? Und: Sind bad feelings authentischer als die positiven Gefühle?
Der Titel der Veranstaltung ist ein direktes Zitat aus dem Performance Videofilm „The Alphabet of Feeling Bad“, eine Kollaboration zwischen der Theoretikerin Ann Cvetkovich, der Künstlerin Renate Lorenz und mir, in welchem Begriffe, die eigentlich negativ besetzt sind oder die eher nicht in einem wissenschaftlichen Kontext vorkommen, aufgegriffen und mit einer Kritik zusammengebracht werden. Dabei geht es nicht darum, Gefühle zu bewerten, sondern eher darum, einen Raum zu schaffen, für eine Politisierung von Gefühlen, um gerade auch schlechte Gefühle nicht als individuelles Problem abzutun. In dieser Form des Alphabets werden aber auch politische Ebenen greifbarer, die z. B. „Glück“ als ein engumstecktes Normgefüge beschreiben, in dem eben nur manche Lebensentwürfe und identitäre Zuschreibungen als glücksbringend angesehen und belohnt werden. Sarah Ahmed beschreibt dies u. a. in ihrem Buch „The Promise of Happiness“ (Duke Universitiy Press, 2010) sehr anschaulich. So kommen im „Alphabet of Feeling Bad“ mehrere theoretische Konzepte und Analysen zusammen, wie sie u. a. auch von Heather Love, Lauren Berlant und Judith But­ler vorgeschlagen werden.

Sie haben an diesem Abend auch von „Feel Tanks“ gesprochen, an denen Sie teilgenommen, bzw. die Sie mitorganisiert haben. Können Sie vielleicht kurz umreißen, wie man sich Feel Tanks konkret vorstellen kann?
Feel Tanks sind u. a. ein Wortspiel im Ge­gensatz zu Think Tanks. Es gibt in den USA verschiedene Gruppen, die sich so nennen, wie in Chicago, New York und in Austin/Texas. Das Attraktive für mich an diesen Gruppen ist, dass sie zum einen oft ein offener Zusammenschluss von Akademiker_innen und Künstler_innen sind, die alle ein starkes Interesse daran haben, politisch zu arbeiten. Das heißt, dass sie auch versuchen, andere Formate zu entwerfen, um ein Zusammentreffen auch am Rande des Uni-Betriebs zu ermögli­chen. Dabei geht es nicht nur um die großen politischen Katastrophen und Traumata, sondern auch um die Wirkmacht dieser in alltäglichen Situationen. Und es geht bei „public feelings“ darum, genauer auf die Verhältnisse zu schauen, in denen wir leben und arbeiten und auch darum, Orte zu schaffen, wo eine Thematisierung von Gefühlen möglich ist, die im Kontext von neoliberalen Arbeitsverhältnissen, rassistischen, sexistischen und homophoben Verhältnissen entstehen. In Seminaren und Workshops, die ich an Unis, im Kunstkontext oder auch in Off-Spaces gegeben habe, habe ich versucht, diese Ansätze nachzuvollziehen und eine andere Kommunikation zu ermöglichen, die vielleicht auch eine gewisse „Verletzlichkeit“ (vulnerability) zulässt. Die Wirkung von diesen Seminaren und workshops war in der Regel so, dass viele erleichtert waren, dass endlich auch über politische Fragen so gesprochen werden konnte, dass man sich selber nicht wieder nur als souveränes Subjekt darstellen muss und dass es eben auch Fragen und Irritationen bei vielen gibt, wie in der heutigen Zeit z. B. Kollaborationen gelebt werden könnten.

Die Videoarbeit „The Alphabet of Feeling Bad“ hat wunderbar klar benannt, wie sehr diese individuellen Schwierigkeiten kollektiv relevant sind. Selbstgebastelte Kunst allerdings, das ist ein anderes Thema. Sie haben zwei andere Videobeispiele an diesem Abend gezeigt. In dem einen Video erzählt eine junge Frau, die an einem Kunst-Workshop in einer großen Institution teilgenommen hatte, darüber, dass sie ihre Position als Künstlerin an diesem Ort in Stress versetzte, da sie sich zum einen übermäßig sichtbar fühlte und zum anderen solche Orte geprägt sind von einer klaren Arbeitsteilung: wer im Vordergrund die Institution repräsentiert und wer dagegen die schlechter bezahlten Jobs in der Küche oder als Aufsicht mit wenig Prestige machen muss. Am Ende hat sie ein Objekt hergestellt, das sie selbst als Künstlerin in dieser (Un)sichtbarkeit darstellt, wo sie hinter einer weißen, pappmacheartigen Erweiterung der weißen Wand steht – was grotesk auf mich wirkte. Das andere Videobeispiel zeigte auch eine junge Frau, die, offensichtlich sozial gescheitert, irgendwo draußen bei ihrem Auto stehend, permanent über den Gewinn einer Kreuzfahrt gesprochen hat (die sie allerdings am Ende als für sie eher problematische „version of hapiness“ erkannt hat). Währenddessen hat sie ein absurd-selbstgebasteltes Kunstobjekt nach dem anderen aus dem Kofferraum ausgepackt. Diese Geschichte war zwar ein Fake, die Aussage lässt sich allerdings trotzdem nicht mehr unter dem Begriff „ironisch“ fassen. Dieser „Weirdo“, wie sie sie genannt haben, dessen Leben sich vielleicht auch großteils im Auto abspielt, dessen Kommunikationsmittel zur Welt ihre schlechten Kunstobjekte sind. Und mit dem man sich „dann lieber doch nicht auf ein gemeinsames Projekt einlassen würde wollen“, wie sie angemerkt haben. Ich fand beide Videos großartig, aber beide spielten ein wenig mit der Idee der selbstgebastelten oder sogar schlechten Kunst, finde ich. Die Frage geht nun dahin: Kann nun die Kunst dieses ganze Arsenal an negativen Gefühlen aufnehmen? Kann die Kunst mit ihren Systemen, die ja auch ganz massive Ausschlussmechanismen produzieren, tatsächlich Hoffnungsszenarien aufmachen?
Seit geraumer Zeit versuche ich theoretische und politische Fragestellungen in meiner Arbeit als Künstlerin, aber auch als Film-Kunst-Kuratorin mithilfe von künstlerischen Arbeiten nachvollziehbar zu machen. Dazu gehörte zum einen auch ein Filmprogramm, welches ich für den Schweizer Off-Site Pavillon bei der 54. Biennale in Venedig kuratierte. Zu den Künstler_innen des Programms gehörten hier auch Stanya Kahn und Harry Dodge (beide USA), sowie Emma Wolukau-Wanambwa (GB). Als Thema hatte ich mir den Zustand des „impasse“ gesetzt und fragte mich, welche künstlerische Praxis dann wohl möglich sei. Bei der Videoarbeit „A Short Video About Tate Modern“ geht Emma Wolukau-Wanambwa auf eine Erfahrung ein, die sie bei einem Kunstworkshop an dem bekannten Kunstort Tate Modern in London machte. Ein Ort, der sehr stark die Privilegien-Verteilung in der Kunstwelt widerspiegelt: in der Regel stellen dort weiße Künstler_innen aus oder nehmen an Workshops teil und im Hintergrund arbeiten viele in weniger gut bezahlten und schlechter angesehenen Jobs, die keinen Zugang in das oft auch bürgerliche Kunstmilieu gewährt bekommen. Die Selbstpositionierung und Selbstverortungsmöglichkeiten sind dabei aber auch nicht immer eindeutig; und das ist auch das starke Moment an dieser Videoarbeit, dass die Künstlerin eben eine gewisse Ambivalenz artikuliert im Umgang mit Privilegien im Spannungsfeld von ge­gensätzlich erlebten Mehrheitsverhältnissen und Hierarchien. Und ja, laut der Künstlerin geht es um die Frage von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit an Orten wie der Tate Modern.
Stanya Kahn und Harry Dodge sind ein Künstler_innen-Duo. Sie stellen mit ihrer Arbeit „Winner“ weniger das aus, was oft als „weird“ oder „strange“ gilt, als dass sie viel mehr Normen aufdecken, in denen wir uns bewegen, und das tun sie in einer sehr intelligenten und sarkastischen Wei­se. Was die Protagonistin erzählt (performed von Stanya Kahn) und wie sie auftritt, illustriert, dass es vermeintlich wichtig ist, zu wissen, dass wir uns auf eine gewisse Art zu verhalten haben, um sozial angenommen zu werden. Hält man diese oft auch feinen Linien nicht ein, wird eine_r sehr schnell als seltsam abgestempelt. Doch wenn wir genau zuhören, so artikuliert sie einiges, was viele von uns nachvollziehen können: z. B. einen Preis, den sie bei einer Radioshow gewonnen hat, nicht annehmen zu wollen, weil das vermeintliche Glücksversprechen einer Kreuzfahrt sich oft eher als Albtraum rausstellen kann. Ich muss darüber sehr lachen, weil ich auf keinen Fall auf einem Schiff mit mehreren hunderten Leuten für längere Zeit eingesperrt werden möchte. Ebenso verhält es sich mit den Kunstarbeiten, die sie dem Kamera-Mann (Harry Dodge) und dabei uns präsentiert. All diese absurden Kreationen sind nicht mehr oder weniger Kunst als das, was oft als Kunst bezeichnet wird bzw. stellt sich die Frage, wer das bestimmen will und auch mit welchem Jargon dies dann so tituliert wird.
Das Video verstehe ich als eine spielerische Kritik an dem, wie an Kunsthochschulen und in Ausstellungen über Kunst gesprochen wird. So auch, wer wird als „weirdo“ oder nicht ganz ernst zu nehmend betrachtet und wer nicht. Und dabei bin ich der Meinung, dass die, die so betrachtet werden in sozialen Systemen oft die sind, die sehr berechtigte Verweigerungen vollziehen. Nämlich wie hier den Gewinn einer Kreuzfahrt eher abzulehnen, als sich damit zu identifizieren und öffentlich über den Rundfunk Freude darüber zu spielen. Denn so eine Kreuzfahrt repräsentiert ja oftmals die Strukturen unserer Gesellschaft nur in einem vermeintlichen Mikrokosmos, dem man dann eine gewisse Zeit (eben über die Dauer der Kreuzfahrt) nicht entkommen kann (es sei denn, man schließt sich mit einer gewissen Menge an Vorräten in der Kabine ein …). Es geht also nicht wirklich um „selbstgebastelte Kunst“ meiner Meinung nach, sondern eher um eine sehr kluge und ob seiner vermeintlichen Einfachheit zum Trotz sehr radikalen und komplexen Form der Kritik – bei Emma Wolukau-Wanambwas Video und Installation, als auch bei den Performance-Arbeiten von Stanya Kahn und Harry Dodge.

Kommen wir zum Matratzenlager, auf und in dem ihr Oval Office stattfand, beziehungsweise zum Bett als Ausgangspunkt. Das Bett war ja oft genug auch das Gefängnis der psychisch Kranken, der Menschen im Rückzug, natürlich auch der indisponierten Frauen. O-Ton dieses Oval Office hingegen war, dass es um die Fantasie gehe, quasi vom Matratzenlager weg neue Politikformen zu ermöglichen. Der Kontext ist nun klar: ausbeuterische Arbeitsverhältnisse, Selbstvermarktung, gesellschaftliche Verengung. Die Vor­stellung, wie sie schreiben, gemeinsam „in einer Sackgasse (impasse) zu stecken, nicht zu wissen was tun, nicht weiter zu kommen“, lässt das Bett tatsächlich als kurzfristigen Rückzugsort attraktiv erscheinen. Wie können nun vom Matratzenlager aus „public feelings“ zu Politik werden?
Für mich sind die Beschreibungen zum „impasse“ von Lauren Berlant sehr inspirierend gewesen. Es geht dabei nicht darum, Sackgassen-Gefühle oder ein-sich-schlecht-Fühlen als etwas Positives darzustellen. Doch für mich ist es wichtig, zu lesen/zu hören, dass es auch andere gibt, die ein Bedürfnis nach politischer Involvierung haben und danach, Verhältnisse nicht einfach nur so anzunehmen. Dass es aber auch einige gibt, die eine Irritation erleben, weil es eben nicht einfach ist, sich politisch zu involvieren, da die Formen, die sich dafür anbieten, sehr beschränkt scheinen. Was klassisch als Aktivismus an­gesehen und mit Bildern von Demonstrationen verknüpft wird, kommt für einige aus verschiedensten Gründen nicht in Frage. So entsteht aber auch die Frage, ob nicht auch Passivität eine politische Artikulationsform sein kann. Das Bett verstehe ich dabei nicht nur, aber auch als Bild für den „impasse“, oder um mit Lauren Berlants Worten zu sprechen: eine Art „temporary housing“, eine Unterbrechung, wo genauer hingeschaut werden kann:
“to see what is halting, stuttering, and aching about being in the middle of detaching from a waning fantasy of the good life; and to produce some better ways of mediating the sense of a historical moment that is affectively felt but undefined in the social world that is supposed to provide some comforts belonging, so that it would be possible to imagine a potentialized present that does not reproduce all the conventional collateral damage” (Cruel Optimism, 2011: 263)
Also eigentlich eine Chance, die an uns herantretenden Anforderungen und Fantasien von einem „guten Leben“ zu hinterfragen und eine andere Gegenwart zu imaginieren, die nicht das wiederholt, was uns allen und anderen Schaden zufügt.

Feminism is for everybody – Queerfeminismus auch? Können Sie dem zustimmen oder nicht – und aus welchen Gründen?
Bei queer-feministischen Politiken geht es nicht um eine identitäre Kategorie. Wichtig ist mir selber aber eine Art von Commitment, u. a. einen Blick auf strukturelle Benachteiligungen und Diskriminierungen zu haben – egal an welchem Ort, ob nun bei der Arbeit, im öffentlichen Raum, bei politischen Veranstaltungen oder im Privaten. Strukturen, die eben auch emotionale Einflüsse auf alle haben, die in einer Gesellschaft leben. Davon sind auch Alltagssituationen durchzogen und die verschiedensten sozialen Orte. Hierfür ist es meiner Meinung nach wichtig, eine klare Bereitschaft zu haben, sich mit den Themen zu beschäftigen und nicht nur von theoretischen Konzepten auszugehen. Es geht darum, auch Verantwortung zu übernehmen, wie wir soziale Verhältnisse mitkreieren und um den Versuch, diese zu verändern, dass sie für alle besser lebbar sind.

Kann man demnächst Arbeiten von ihnen sehen – und wo?
Seit Mitte November ist ein Buch frisch herausgekommen mit dem Titel „I is for Impasse, Affektive Queerverbindungen in Theorie_Aktivismus_Kunst“ – eine Kollaboration zwischen mir und vier Wissenschaftlerinnen (Käthe von Bose, Katrin Köppert, Ulrike Klöppel und Pat Treusch) und verschiedensten Künstler_innen und Aktivist_innen (erschienen beim Berliner Verlag bbooks). Dieses Buch beinhaltet u. a. auch ein „impasse archive“ mit künst­lerischen Arbeiten, die das Bett als Ort in unterschiedlichen politischen Kontexten zeigen, sowie auch das „Alphabet of Feeling Bad“ als eine Art Dialogliste und einige sehr spannende Essays.
Und meine Videofilm-Arbeiten werden in den kommenden zwei Monaten an mehreren Orten gezeigt, u. a. „Monika M.“ beim Symposium „women under surveillance“ in Köln (siehe: wus.khm.de) und bei 13 FESTIVALEN in Göteborg oder „The Alphabet of Feeling Bad“ beim öffentlichen Workshop „Political Feeling“ im Flutgraben in Berlin.

I is for Impasse
Affektive Queerverbindungen in Theorie_Aktivismus_Kunst
Herausgeberinnen: Käthe von Bose, Ulrike Klöppel, Katrin Köppert, Karin Michalski & Pat Treusch
Mit Beiträgen von: Ann Cvetkovich, Chris Tedjasukmana, Anja Michaelsen, Jack Halberstam, Flamingo Shadow, Mike Laufenberg, Encarnación Gutiérrez Rodríguez, Henriette Gunkel, Elahe Haschemi Yekani, Beatrice Michaelis, Heather Love, Ins A Kromminga
www.bbooks.de
Berlin 2015, ISBN 978-3-942214-21

Karin Michalski ist Künstlerin, Filmkuratorin und Dozentin in Berlin. Film- und Videoarbeiten: The Alphabet of Feeling Bad (2012 und 2014, die graphische Version von The Alphabet of Feeling Bad, in collaboration with Ann Cvetkovich), Working On It (2008), Pashke und Sofia (2003), Monika M. (2004). Sie ist die Herausgeberin des Kunst-Fanzines: „FEELING BAD – queer pleasures, art & politics“ (2011) und Mitherausgeberin von „I is for Impasse. Affektive Queerverbindungen in Theorie_ Aktivismus_Kunst“ (2015).
www.karinmichalski.de

Brückenschlag zur Erinnerung

Die Linzer Nibelungenbrücke ist eine Hinterlassenschaft der NS-Zeit. Das Projekt brücken:schlag will an Erinnerungsorte führen: Zeitgeschichtliches zur Brücke und an den Donauufern. Christian Pichler sprach mit Initiator Wolfgang Schmutz, der bis 2014 auch an der KZ-Gedenkstätte Mauthausen tätig war.

Beim brücken:schlag-Pilot-Rundgang stand die Testgruppe an der Nibelungenbrücke. Heutige Realität überlagerte sich mit der Realität von 1944. Foto Oberösterreichisches Landesarchiv

Beim brücken:schlag-Pilot-Rundgang stand die Testgruppe an der Nibelungenbrücke. Heutige Realität überlagerte sich mit der Realität von 1944. Foto Oberösterreichisches Landesarchiv

brücken:schlag – Auf Tonspuren durch die Linzer Zeitgeschichte
Zeitgeschichtliche Rundgänge durch die Stadt Linz finden derzeit als klassische Touristenführungen statt, auf Anfrage und vor allem in der ehemaligen Luftschutzanlage „Limonistollen“. Ein permanentes Angebot für den Linzer Stadtraum, das die offene Diskussion mit den Teilnehmenden sucht, fehlt jedoch. Das neu entwickelte Konzept von brücken:schlag verbindet nun Audio-Elemente, sowie Fotomaterial mit einem moderierten Rundgang. Auf dem Weg vom Hauptplatz über die Nibelungenbrücke wird zum Gespräch über die Bedeutung historischer Ereignisse und deren subjektiver Erinnerung eingeladen.
Der Pilot-Rundgang von brücken:schlag fand bereits im Juni mit interessiertem Testpublikum im Rahmen eines Kepler-Salons statt, mit anschließender Diskussion. Das Format wird derzeit weiterentwickelt. Im Artikel werden einige dieser Stationen und inhaltlichen Schwerpunkte nachgezeichnet.

„Wie soll ich die Reise beschreiben? Es würde vielleicht genügen, wenn ich mein einziges Verlangen zu sterben schilderte. Ja, sterben, und nichts anderes. Nicht die Ankunft im Ungewissen; nicht, dass ich die Lukenöffnung, bevor ich die Hosen voll habe, erreiche; nicht, dass ich meinen ständig quälenden Durst lösche; nicht, dass ich an der Reihe bin zu sitzen. Nein, das alles übersteigt mein Wunsch zu sterben. (…) Wir sind in Linz. Außerhalb des Hafens, streng durch SS-Wachmannschaften abgesondert, wie Schwerverbrecher umzingelt, ruhen wir uns von unserer Höllenfahrt auf dem lauen Sand des Donauufers aus. Unsere Knochenbrigade bevölkert kilometerweit, so weit die Augen reichen, das abschüssige Flussgelände. Fernes Glockengeläut gesellt sich zum träumerischen Murmeln der Wellen.“

Auszug aus dem Bericht von Ladislaus Szücs, der im März 1945 via Donau mit anderen Häftlingen aus dem KZ Melk evakuiert wurde. Szücs überlebte noch das KZ Ebensee, das am 7. Mai 1945 befreit wurde. Seine Erinnerungen erschienen 1995 unter dem Titel „Zählappell“.

Ein Foto von 1944, es zeigt Passanten auf der Nibelungenbrücke. Im Bild rechts zu sehen am Geländer hängen Bomben im Abstand weniger Meter. Sehr wahrscheinlich sollte die Brücke im Notfall gesprengt werden, aber anders als Wien wurde Linz kampflos übergeben.

Linzer Hauptplatz am 1. März 1938. Zehntausende jubelten Hitler zu und bestärkten so den zuvor noch Zaudernden, die Ostmark gleich zur Gänze „heim ins Reich“ zu holen. Warum haben die Menschen gejubelt? Wie viele von ihnen waren überzeugte Nationalsozialisten? (Was IST ein Nazi?) An dieser Stelle hakt Wolfgang Schmutz ein, der mit Mitstreiter_innen* „brücken:schlag“ konzipiert hat. Ein Projekt, das Erinnerungskultur mitten in die Stadt rücken soll. Schmutz: „Zurecht wird der Nationalsozialismus als ein Gewaltsystem erinnert, nur wird immer noch wenig beleuchtet, dass der damit einhergehende Profit für die Mehrheitsbevölkerung explizit vermittelt und auch verstanden wurde. Das zu zerlegen und sich von dieser Seite anzunähern, banalisiert gar nichts, es macht es sogar noch schwieriger, den Ereignissen zu begegnen. Was heißt es, wenn die Bevölkerung mehrheitlich massiver Gewalt zustimmt oder diese zulässt, weil sie weiß, worin der Profit liegt?“

Das Jahr 1938. Linz sollte als „Führerstadt“ dem „jüdischen“ Wien Konkurrenz machen. Statt Provinzstadt eine Metropole, die von 100.000 auf 400.000 Einwohner wachsen sollte. Im Linzer Schloss woll­te der Aquarellist seinen Altershintern zur Ruhe setzen, nachdem er die halbe Welt in Brand gesteckt hatte. An der Bahnhofsmeile, nahe dem heutigen Musiktheater, war ein „Führermuseum“ geplant. Im Mai 1938 Spatenstich zur Errichtung der Hermann-Göring-Werke (heute voestalpine). Monumentalbauten entlang der Donau, so der Plan, eine neue große Brücke stand an erster Stelle. Im September 1938 begannen die Bauarbeiten, 1940 war die Brücke in wesentlichen Teilen fertig, weitergebaut wurde bis 1942. Hitler benannte sie Nibelungenbrücke, eine Idiotie des dilettierenden Mythologen: Dem Nibelungenlied gemäß setzten die Nibelungen im bayerischen Mehring über die Donau. Linz wird in dem Epos nicht erwähnt.

Die Nibelungenbrücke. „Als Baustoff für die Nibelungenbrücke kommt unter anderem Granit zum Einsatz, der im nahegelegenen KZ Mauthausen unter brutalsten Bedingungen abgebaut wird.“ Diese Nie­derschrift, Produkt des großartigen Linz09-Projekts „in situ“, war eine Weile auf den Steinplatten der Nibelungenbrücke zu lesen.** Bald verweht, vom Regen weggeschwemmt. Wie viel von der braunen Historie der Brücke will Linz öffentlich machen? (Die Stadt hat ihre NS-Vergangenheit vorbildlich wissenschaftlich aufarbeiten lassen. Das Wissen wäre in Büchern zugänglich.)

War „in situ“ von poetischer Vergänglichkeit, so konfrontiert brücken:schlag mit konkreter historischer Gewalt. Eine anderthalbstündige Wanderung vom Hauptplatz über die Nibelungenbrücke und retour, „auf Tonspuren durch die Linzer Zeitgeschichte“. Eine Tonspur gibt Auskunft: Dreißig Firmen waren am Bau der Nibelungenbrücke beteiligt. Unter ihnen das SS-eigene Unternehmen Deutsche Erd- und Steinwerke, das in Gusen und Mauthausen KZ-Steinbrüche betrieb.

Der brücken:schlag-Pilot wurde am 29. Juni 2015 im Rahmen des Linzer Kepler-Salons präsentiert. Information und Ermunterung zum Dialog, Fragen an die Wandernden: „Was wäre, wenn die Donau vollständig nach den NS-Plänen verbaut worden wäre? Wie sähe es heute hier aus?“ „Was denken Sie, wie haben zivile Bauarbeiter und Passanten auf die Beteiligung der Fremd- und Zwangsarbeiter reagiert?“ Alleine in Urfahr waren rund 500 Wohnungen und Geschäftslokale vom Brückenbau betroffen. Juden wurden zwangsweise enteignet, um im restlichen Stadtgebiet Gebäude für Brückenbaugeschädigte freizubekommen. Exemplarisch führt brücken:schlag die Enteignung der Familie Taussig an: Viktor Taussig, Vorsitzender des Bundes jüdischer Frontkämpfer, eines Vereins der Veteranen des 1. Weltkriegs, besaß das Haus Hauptstraße 63. Es wurde „arisiert“, an die Familie eines Dr. Hain. Die Familie Taussig entkam schließlich in die USA, Ella Taussig hatte außer ihrem Gatten Viktor und den Kindern sämtliche Angehörige im Holocaust verloren. „Welche Handlungsspielräume hatten die beiden Familien? Was wäre gewesen, wenn ein ‚arischer‘ Bürger sich geweigert hätte, jüdischen Besitz als Ersatz zu akzeptieren?“

Interessant auch die Frage: „Warum ist Ihrer Meinung nach heute die mediale Aufmerksamkeit für Kunstrestitution so groß, aber jene für Häuser, Wohnungen und andere geraubte oder abgepresste Besitztümer so gering? Was unterscheidet die Kunst von den anderen Gütern?“ Überschätzte Kunst.

brücken:schlag informiert über Linz-Kunst: Im Zuge des „Sonderauftrag Linz“ wurden beschlagnahmte, angekaufte und geraubte Kunstwerke für das „Führermuseum“ zusammengetragen. Ab 1943 war der Dresdner Kunsthändler Hildebrandt Gurlitt einer der Haupteinkäufer für den Sonderauftrag Linz. Hildebrandt und sein Cousin Wolfgang Gurlitt sahen sich in Frankreich nach Beutekunst um, handelten mit Raub- und „entarteter“ Kunst. Nach Kriegsende, 1946, wurde im Brückenkopfgebäude West die Galerie der Stadt Linz gegründet. Die Basis dafür lieferte die Privatsammlung Wolfgang Gurlitts, die er der Stadt zunächst lieh. Zugleich wurde er zum Leiter der Galerie ernannt, die den Beinamen „Wolfgang-Gurlitt-Museum“ trug. Im Jahr 1956 wurde Gurlitt als Leiter der Galerie abgesetzt, vor allem, weil er seine Interessen als Kunsthändler und Direktor der Galerie nicht sauber trennte. Als auch noch sein Name aus jenem der Galerie verschwinden sollte, klagte Gurlitt die Stadt Linz erfolgreich. Bis 2003, als das Kunstmuseum
Lentos eröffnet wurde, schleppte die Galerie der Stadt Linz den Beinamen „Sammlung Wolfgang Gurlitt“ mit.

Die Frage der Restitutionen wird heute vom Lentos transparent und engagiert gehandhabt. Das dauerte aber in Linz. brücken:schlag nennt als prominentes Beispiel Gustav Klimts Porträt der Ria Munk: Als Direktor der Galerie hatte Gur­litt begonnen, seine Leihgaben der Stadt Linz zu verkaufen. Im Jahr 1952 zweifelte der Magistratsdirektor an der Herkunft des Bildes und vermerkte handschriftlich: „Klimt jüdischer Besitz! Vorbehalt bis Klärung!“ Mehrmals lehnte die Stadt einen Kauf ab, jedoch 1956 erwarb sie das Bild. Gurlitt war vermutlich in Bad Aussee in seinen Besitz gelangt, wo es in der Villa von Aranka Munk, der Mutter der abgebildeten Frau, beschlagnahmt wurde. Aranka Munk wurde 1941 ins Ghetto Lodz deportiert, wo sie bald starb. Die Erben erhielten das Bild 2009 zurückerstattet, mehr als fünfzig Jahre nachdem seine Herkunft erstmals als fragwürdig bezeichnet worden war.

brücken:schlag rührt in Wunden, Linz-Besucher_innen soll offensichtlich mehr als die k.u.k.-Hofbäckerei vermittelt werden. Will das die Stadt? Schmutz: „Diese Frage stelle ich mir nicht. Vielleicht ist das naiv, und wenn man in Kategorien wie Förderungen denkt, ist es das sogar mit Sicherheit. Ich habe dieses Projekt initiiert, weil ich einen Anstoß geben wollte, wie diskursive Geschichtsvermittlung im öffentlichen Raum aussehen könnte. Dankenswerterweise haben alle am Projekt Beteiligten das Risiko der Nicht-Finanzierung mitgetragen.“ Schmutz plädiert für bürgerschaftliches Engagement: „Die noch immer weit verbreitete Forderungen, die Stadt müsse offiziell dieses und jenes tun, ist mir suspekt. Das ist feudal gedacht und läuft dann auch genau darauf hinaus: auf politische Vermarktung und den Anschein von Haltung. Mein Eindruck ist aber, und darauf deutet ja auch die zugehörige Passage im KEP (Linzer Kulturentwicklungsplan, Anm.) hin, dass die Stadt versteht, dass es die Notwendigkeit für solche Angebote zur NS-Geschichte gibt.“

Schmutz hat Erfahrung im Umgang mit, in der Vermittlung von Erinnerungsorten. Der studierte Germanist und Kulturwissenschafter war vier Jahre bis Sommer 2014 an der KZ-Gedenkstätte Mauthausen tätig, in seinem letzten Jahr als pädagogischer Co-Leiter. Warum er den Job letztendlich hinschmiss, ist eine komplexe Geschichte. Aufschluss gibt Wolfgang Schmutz im Essay „Wo die Republik beginnt und endet. Zum erinnerungspolitischen Rahmen für Vermittlung und Gestaltung an der KZ-Gedenkstätte Mauthausen“.*** Zuständig für die Gedenkstätte Mauthausen ist das österreichische Innenministerium, und zwar seit 1947 (am Anfang zum Teil gemeinsam mit dem Land OÖ). Frage: Warum nicht das Wissenschaftsministerium? Oder ein internationales Gremium? Schmutz antwortet mit einer heftigen Kritik, er spricht vom „Zynismus einer doppelten Agenda, den österreichischen Opfermythos mit Widerstandsglorifizierungen zu untermauern“. Tiefes Misstrauen gegen institutionalisierte Erinnerungskultur, Schmutz sagt:

„Die Zuständigkeit des BM.I (Innenministerium, Anm.) ist ein historisches Erbe der unmittelbaren Nachkriegszeit. Ehemalige Funktionshäftlinge waren im Dienst der Staatspolizei und des Innenministeriums mit der Bestandsaufnahme der Verbrechen und der Ausforschung flüchtiger Täter beschäftigt. Bis heute tickt die Gedenkstätte so, und damit ‚österreichisch‘: Das MKÖ (Mauthausen Komitee Österreich, Anm.) hat das Erbe der Widerstandserzählung angetreten, das BM.I sichert die staatliche Deutungshoheit ab, die sich von vorgeblicher Gesamtopferschaft zur Reue gewandelt hat. Der potentielle Erkenntnisgewinn hält sich bei diesen Instrumentalisierungen notgedrungen in Grenzen. Man gesteht sich die jeweiligen Positionen zu und hat sich in diesen auch über die Jahrzehnte angenähert. Es ist eine große Koalition der Geschichtsvereinfachung, von der antifaschistische Gruppierungen und Vertreter_innen der Republik gleichermaßen profitieren. Man erntet Anerkennung, und wenn sie nicht kommt, anerkennt man zumindest die eigene ‚vorzügliche‘ Haltung. Abgesehen davon, dass das gegenüber den Opfern moralisch fragwürdig ist: Mit politischer Gesinnung haben die Verbrechen des Nationalsozialismus und vor allem deren Ausmaß nur begrenzt zu tun.“ Wer sich mit der Thematik vertiefend befassen möchte, dem sei die bereits erwähnte Publikation empfohlen.

*     An brücken:schlag arbeiten neben Wolfgang Schmutz: Christa Memetsheimer, Lisa Maria Neuhuber, Casimir Paltinger, Stephan Rosinger, Thomas Zaglmaier; Gunda Schanderer und Matthias Hack (Audiostimmen), Michael Schweiger (Aufnahme).
**     Eine Ungenauigkeit, vom Autor 2006 mitverantwortet: Granit aus KZ-Produktion wurde verwendet, „wenngleich nur als eine unter vielen Bezugsquellen, und konkret momentan nur für den Sockelbereich des Heinrich-Gleißner-Hauses mit größerer Wahrscheinlichkeit feststellbar“. (vgl. Hermann Raffetseder, „Zwangsarbeit für den Linzer Brückenkopf“, Archiv der Stadt Linz, November 2009)
***     Wolfgang Schmutz: „Wo die Republik beginnt und endet. Zum erinnerungspolitischen Rahmen für Vermittlung und Gestaltung an der KZ-Gedenkstätte Mauthausen“, Essay. Erschienen bei transcript, Herbst 2015.

 

Der im Text erwähnte Beitrag von Wolfgang Schmutz im Buch „Erinnerungsorte in Bewegung“ wird präsentiert:

Dienstag, 15. März 2016, 19.00, depot (Wien)
Erinnerungsorte in Bewegung
Buchpräsentation und Diskussion

Im Übergang zu einer Erinnerung ohne Zeitzeug_innen werden die Orte nationalsozialistischer Verbrechen für die Vermittlung der NS-Vergangenheit immer wichtiger. Materielle und gestalterische Herausforderungen, die sich für die zukünftige Konzeption von KZ-Gedenkstätten und anderer NS-Erinnerungsorte stellen, sind der gemeinsame Referenzpunkt eines neu erschienen Bandes.

Daniela Allmeier, Rudolf Scheuvens, TU Wien
Brigitta Busch, Universität Wien
Inge Manka, Peter Mörtenböck, TU Wien
Wolfgang Schmutz, Erinnerungspädagoge, Linz
Jörg Skriebeleit, KZ-Gedenkstätte Flossenbürg
Nora Sternfeld, Aalto-Universität Helsinki

Daniela Allmeier, Inge Manka, Peter Mörtenböck, Rudolf Scheuvens (Hg.): Erinnerungsorte in Bewegung. Zur Neugestaltung des Gedenkens an Orten nationalsozialistischer Verbrechen. Transcript Verlag, Bielefeld 2016

RANDRANDRANDRAND

Das Architekturforum widmet sich in seinem Herbstschwerpunkt dem Thema Rand – und meint dazu treffend wie lapidar: Anscheinend sind wir umgeben von Rand. Robert Stähr hat die Ausstellung „RAND“ besucht, die noch bis 29. Jänner im Architekturforum Linz läuft. Er folgt einem Blick, der „dorthin geht, wo sich Felder von Architektur und bildender Kunst überschneiden“.

Foto afo

Foto afo

Rand (…) ist keine klar definierte Zone, vielmehr bildet er einen diffusen Raum, der aus den Überlagerungen benachbarter Bereiche entsteht lautet der erste Satz auf dem Infoblatt zur aktuellen Ausstellung im Architekturforum (afo) am Bayer-Platz in Linz. Der Satz könnte auch als Kürzest-Charakterisierung von „Rand“, der Ausstellung selbst, Verwendung finden. Dass diese keine „reine“ Architekturausstellung ist, erschließt sich unmittelbar beim Betreten der beiden Räume im Unter- und Obergeschoss des afo. Benachbarte Bereiche aus Photographie, Plastik, Graphik, Installation sind mit Arbeiten unterschiedlichen Charakters vertreten. Durchaus „genretypisch“ ist das Neben- und Ineinander benachbarter Kontexte wie Architektur, Kunst und Soziologie, welche sich wiederum in jenem der Urbanistik amalgamieren.
Der diffuse Raum der Ausstellung entfaltet sich in einer locker bis zufällig anmutenden Positionierung architektonischer Modelle, Skizzen und Photos, von Hörstationen, Installationen, Tischen mit Plänen, gerahmten Radierungen und „Mixed Media“-Arbeiten in den zwei Räumen, auf Böden und Wänden im Architekturforum. Das Zusammentreffen unterschiedlicher Bereiche generiert neue Bilder postulieren die KuratorInnen Franz Koppelstätter und Dagmar Schink auf dem Infoblatt. Der Eindruck einer gewissen Diffusität zwischen den unterschiedlichen Kontexten verweist auf Chancen und Gefahren dieser Ausstellung: begriffliche Offenheit, unterschiedliche Abstraktionsniveaus einerseits; ein gewisses Maß an Verschwommenheit andererseits.
Es sind Akteurinnen und Akteure aus Architektur, Kunst, Urbanistik, Musik und Kartografie, die Grenzen überschreiten und sie dadurch zu Rändern machen. Ein weiteres Postulat, eher eine Behauptung, welche (zumindest auf den ersten Blick) nicht für alle gezeigten Arbeiten nachvollziehbar ist. Dass eine Relation zwischen Rand und Grenze besteht, bedarf keiner expliziten Betonung. Wie diese aussieht, wodurch die Überschreitung von Grenzen des eigenen Wirkungsbereichs diese zu Rändern – wovon? – werden lässt, auf diese Frage sollen die BesucherInnen der Ausstellung wohl „selbst“ Antworten an den einzelnen Stationen finden.
Einige der gezeigten Arbeiten nehmen direkt auf den Großraum Linz Bezug, einige auf außerurbane Räume und Landschaften; andere wiederum sind – im buchstäblichen Sinne – nicht verortbar. Mehrere Arbeiten thematisieren zudem die aktuelle Migrationsbewegung.
Clemens Bauder und Gregor Graf haben ihre Eindrücke von Begehungen entlang der Peripherie von Linz mittels Skizzen, Fotografien und Texten aufbereitet. Der Titel Von überall quert ein Weg den Rand schafft gemeinsam mit kurzen Texten und Bildern einen interessanten Assoziationsraum. Dem völlig entgegengesetzt hat Michael Heindl Straßen- und Hinweisschilder zu monochromen Farbtafeln verwandelt, indem er abgetragene Signalfarben in die Hintergrundfarbe einmischte.
Rein akustisch arbeitet Melanie Leitner: In drei mittels Kopfhörern abrufbaren Hörstücken schildert sie ihre Beobachtungen während „Spaziergängen“ auf bewusst gewählten Routen durch Pasching/Leonding (Plus City), Sattledt und Kronstorf. Es gelingt ihr, mit präzise gewählten Worten architektonische und räumliche Gegebenheiten zu skizzieren und so der HörerIn/dem Hörer zu vermitteln.
Das von Nina Valerie Kolowratnik und Johannes Pointl an der TU Wien initiierte Projekt Fluchtraum Österreich wird in einer Auswahl von vier Einzelprojekten gezeigt; drei von ihnen thematisieren wiederum Räume (Amtsgebäude, Wohnsituatio­nen, Begegnungsräume) und ihre Bedeutung für MigrantInnen. Sie bedienen sich der Veranschaulichung durch Kartographien und (Bau-)Pläne, welche zum Teil wie für Tischspiele gedacht anmuten, während die Autorinnen von TraunMetropole (eine städteplanerische Untersuchung des Gebietes zwischen Linz und Wels) durch eigens definierte Nutzungskategorien für Räume einen sogenannten Metropole-Bausatz zu entwickeln versuchen. Ränder scheinen hier als Niemandsland zwischen zwei Städten und ihren unmittelbaren Einzugsbereichen interpretiert zu werden.
Weitere Positionen arbeiten mit dem Medium auf den ersten Blick dokumentierender Photographien und Skizzen (A. Seeger, L. Klement, gaupenraub+/-), mit Karton und Beton als symbolisch aufgeladenen Baustoffen (C. Brown) oder mit Bildproportionen operierenden Videoinstallationen (Kluckner/ Müller, Fohler).

Fokus: Magdas Hotel
Magdas Hotel ist ein Beherbergungsbetrieb im zweiten Wiener Gemeindebezirk, dessen Konzept vom Architekturbüro AllesWirdGut gemeinsam mit der Caritas entwickelt wurde. Sozialer Anspruch, Multinationalität, Weltoffenheit und Individualität, welche sich in der Auswahl der Mit­arbeiterInnen wie im Design von Zimmern und Gemeinschaftsräumen zeigen, sind für die Betreiber des Hotels von großer Wichtigkeit. Kulturelle Angebote im „Salon“ und Serviceleistungen wie ein Fahrradverleih ergänzen den Hotelbetrieb.
In der Ausstellung „Rand“ ist das Projekt mit einem Film und einigen Photos vertreten, welche an den Außenwänden des „Kinos“ – quasi beiläufig – hängen. Die Pho­toserie von Paul Kranzler fokussiert auf leichte, selbstverständliche Weise Menschen und Situationen in Magdas Hotel, ohne sie aus- oder gar bloßzustellen, ihre Intimität zu verletzen. Dem schon seit längerer Zeit viel beachteten Künstler gelingt es, mit Hilfe weniger visueller Schlaglichter punktuelle Eindrücke vom Haus und den einander dort begegnenden Menschen (sowie von einem Hund) zu vermitteln.
Im Gegensatz zu den Photos von Kranzler entsteht bei der Betrachtung des Films von Juan Munoz nicht der Eindruck eines sehr persönlichen Portraits, wie auf dem Infoblatt zur Ausstellung behauptet wird. Dieser Film zeigt in Interviews mit Mitarbeitern und Gästen sowie Rundgängen interessante Einblicke in das Hotel; dennoch mutet er im Ganzen doch zu sehr wie ein Werbefilm für und nicht wie eine Dokumentation über diese Institution an, welcher zudem in einer musikalischen „Weichspülung“ gebadet wird. Etwas mehr Distanz des filmischen Blicks hätte eine schlüssigere Korrespondenz mit den Arbeiten Paul Kranzlers ermöglicht.

Fokus: Katharina Anna Loidl – Landschaftsradierungen
Im „traditionellen“ Setting einer Kunstausstellung hängen an der Rückwand im ebenerdigen Raum des Afo eine Anzahl kleinformatiger Graphiken der Künstlerin Katharina Anna Loidl. Die dichte Hängung der einzelnen Arbeiten erzeugt einen seriellen Charakter, welcher auch der bewusst gewählten Ähnlichkeit der Motive (Schweizer Gebirgslandschaften) der Druckgraphiken von Stahlstichen namentlich nicht genannter Künstler aus dem frühen 19. Jahrhundert geschuldet ist. Die zeitlich im Kontext der Romantik verortbaren Graphiken dienten Loidl als Material, das sie mit einer Radiernadel bearbeitet hat, um auf diese Weise andere, darunter (?) liegende Formen freizulegen. Voluminöse Kubaturen in variierenden Ausmaßen erscheinen in der Funktion eines wiederkehrenden Motivs. Ob sich auf diese Weise Bilder und Diskurse der Gegenwart und Zukunftsvisionen (Infoblatt) in das Bildmaterial einschreiben lassen, ist so etwas wie Glaubenssache.
Von einem von der Künstlerin intendierten Verfremdungseffekt zu sprechen, beschriebe die Ästhetik der Serie nicht zutreffend. Vielmehr scheint durch diese Bilder eine nicht präzise verortbare Grenze (oder ein beiderseitiger „Rand“) zu verlaufen: jene zwischen dem Bildideal der Romantik, der als Summe sich harmonisch aneinander fügender Elemente imaginierten Landschaft auf der einen und den vom idealisierenden Blick ausgeblendeten, von Loidl im durchaus wörtlichen Sinn freigelegten Formen, welche weniger einen Bruch mit der Idealisierung als vielmehr die von ihr nicht zu trennende „Nachtseite“ einer nicht im Lot befindlichen Welt visualisieren, auf der anderen Seite. Genau das dürfte die starke Aura der Radierungen schaffen.

Das jeweils dahinter stehende Verständnis von „Rand“, von Grenze wird in den einzelnen Stationen dieser Ausstellung zum Teil klar umrissen, in manchen nur erahnbar. Der Bezugnahme von Dagmar Schink und Franz Koppelstätter auf die gesellschaftlich hochaktuellen Migrationsbewegungen und der Miteinbeziehung entsprechender Projekte liegt sicher das Bekenntnis zu einem wohlwollend-konstruktiven Umgang mit verfolgten, Schutz suchenden Menschen zugrunde.
Ein letztes Zitat aus dem Informationsblatt zur Ausstellung: Kreatives Potential wird frei, wenn sich Menschen begegnen, die für gewöhnlich nichts miteinander zu tun haben. Auch wenn er auf die Entstehung neuer Formen des Zusammenlebens bezogen ist, ist dieses Statement der KuratorInnen sehr wohl auch auf die Unterschiedlichkeit der gezeigten Projekte und Arbeiten sowie der für sie verantwortlichen Menschen anwendbar.

Fr 15. 01. 2016, 15.00 h
afo architekturforum oberösterreich
Rand
Kuratorischer Rundgang mit Franz Koppelstätter und Dagmar Schink
Ausstellungsdauer bis 29. 02. 2016

Auch die Gesellschaft für Kulturpolitik, die gfk, widmet sich in ihrem thematischen Schwerpunkt Ränder derzeit „dem hochaktuellen Thema: ob sie nun geographischer, politischer, botanischer, literarischer oder historischer Natur sind – Ränder sind Orte, Situationen und Gegebenheiten, in denen unterschiedliche Gruppen aufeinan­dertreffen und interagieren. Womöglich Neues produzieren.“
Die gfk hat dazu auch in ihrem letzten Magazin einen Schwerpunkt gesetzt „Ränder. Eine Frage der Kultur“.

anxietytreatmethods.com/ambien
anxietytreatmethods.com/valium

www.gfk-ooe.at

Am Anfang steht die Erfindungskraft.

Wissensproduktion, Strom des Werdens, die Kunst der Übersetzung: Elisabeth Lacher verläuft sich auf transversal.at und trifft in Linz Andrea Hummer, eine der Mitarbeiter_innen und Herausgeber_innen von transversal texts.

Grafik transversal texts

Grafik transversal texts

„Die Publikationsindustrie ist in einer fundamentalen Krise. In ihren letzten Stunden beginnt sie, um sich zu schlagen, und trifft mit ihren Schlägen nur sich selbst. Jedes Stück der potenziell verkäuflichen Ware wird vertraglich mit Copyrights belegt, filetiert und stückweise in Wert gesetzt. Die klassischen Formate der Wissensproduktion und -distribution geraten ins Trudeln, und mit ihnen auch die traditionellen Rituale der Kompetenzbewertung. Die radikale Infragestellung der Autor_innenschaft, massive Angriffe auf die Standards zur Vermessung des Wissens, ausufernde Diskussionen um Plagiarismus verunsichern das Management. So sehr die akademischen Apparate und Kulturindustrien um Anpassungen ringen: mit den neuen medialen Bedingungen bleiben die traditionellen Formen der Wissensproduktion ebenso inkompatibel wie mit zukünftigen eman­zipatorischen Verkettungen des Schreibens, Übersetzens und öffentlichen Verhandelns von Publikationen. Und das, was an Ausschlussmechanismen hegemonial geworden ist – Peer Reviews, Impact Factors, Rankings, rigide Copyright-Regime – bringt einen zunehmenden Druck der Domesti­zierung von Stilen, Formen und Formaten, der Inwertsetzung und Selbstinwertsetzung – und damit die Auslöschung der Erfindungskraft.“
Webjournal Aufstand der Verlegten, 2014
auf www.transversal.at

Andrea, du scheinst im ersten Programm von transversal texts als Herausgeberin von zwei Büchern auf. Eines erschien unter dem Titel „Solidarität als Übersetzung“. Monika Mokre schreibt darin über das Refugee Protest Camp Vienna. Über das zweite Buch von Rubia Salgado „Aus der Praxis im Dissens“ ist in dieser Ausgabe der Referentin eine Buchbesprechung nachzulesen. Beide Bücher kann man im Buchhandel für je 15 Euro erwerben. Gleichzeitig steht ein Download der Bücher als EPUB oder PDF zur Verfügung, und zwar ohne Registrierung und frei von Kosten. Wie ist das möglich? Wie kann transversal texts dem Leser, der Leserin die Bücher derart unkommerziell zur Verfügung stellen?
Die von transversal texts gedruckten Bücher reihen sich in eine mittlerweile 16-jährige Veröffentlichungspraxis des eipcp ein. transversal texts als Produktionsort und Plattform ist ein erweitertes Textprojekt des eipcp – european institute for progressive cultural policies. Das eipcp wurde 1999 in Linz gegründet. Im Gründungsteam waren neben mir auch Raimund Minichbauer und Gerald Raunig, unterstützt von Gabriele Gerbasits von der IG Kultur Österreich. Seit der Gründung geben wir in unregelmäßigen Abständen das Webjournal transversal als multilinguales Jour­nal heraus.
Das erste Journal entstand im Jahr 2000 unter dem Titel ostwärts, kultur!, eine ironische Anspielung auf die damaligen Diskussionen rund um die Osterweiterung der Europäischen Union. Seither erschienen insgesamt 52 Journals, alle davon in mehreren Sprachen und Übersetzungen. Das bislang letzte Journal beschäftigt sich unter dem Titel „Das große Gefängnis“ mit der Situation von illegalisierten Migrant_innen in Europa.
Von Anfang an verfolgten wir als eipcp und transversal texts eine Praxis der Commons, weil uns die breite Streuung von Wissen wichtig ist. Deshalb sind die Buchpreise so niedrig und alle Bücher auch als Gratis-Download erhältlich. Um zu ermöglichen, dass weitere Bücher erscheinen, sind wir trotz allem auf Einnahmen angewiesen. Eine wichtige Einnahmequelle ist dabei der Bücherverkauf, aber auch Spenden oder Fördermitgliedschaften.

Wie lange gibt es transversal texts jetzt als eigenes Projekt, und was war für euch der ausschlaggebende Moment für die Erweiterung vom Webjournal zu einer Plattform?
Es gibt transversal texts nun knapp ein Jahr. Der ausschlaggebende Moment war sicher unsere schon lang anhaltende Unzufriedenheit mit den gängigen Praxen der Publikationsindustrie. Viele von uns sind in der Wissenschaft tätig, lehren an europäischen Universitäten und sind in ihrer wissenschaftlichen Arbeit mit Impact Factors, Peer Reviews, Rankings und untragbaren Copyright-Praxen konfrontiert. Das Webjournal Aufstand der Verlegten beschreibt sehr deutlich unsere Kritik.
transversal texts besteht derzeit aus drei zentralen Formaten. Das Webjournal beschäftigt sich weiterhin mit verschiedensten Themen, die wir für wichtig und interessant halten. Dabei legen wir Wert auf Mehrsprachigkeit – meistens gelingt es uns, in 3 bis 4 Sprachen zu veröffentlichen. Der Blog greift politische Ereignisse, beziehungsweise Fragestellungen auf und versammelt zum Beispiel Texte zur Situation in Griechenland, zur Flüchtlingsbewe­gung oder zur spanischen Podemos. Im Blog werden auch konkrete Aktivitäten wie die Universität der Ignorant_innen von maiz angekündigt. Das dritte Format von transversal texts ist die Buchreihe, in deren erstem Jahr 9 Bücher erschienen sind.

Was kannst du über euren Standpunkt zum Thema Copyright erzählen? Oder vielleicht gleich über das praktizierte Copyleft, denn zu Copyrights bezieht ihr im Journal Aufstand der Verlegten eh ganz klar Stellung.
Die Entwicklung des Internets etablierte eine gesellschaftliche Praxis des „Teilens“ und „Weiterverwendens“ von Inhalten. Wir nutzen diese Praxis, um unsere Arbeit und wichtige politische Themen einer möglichst breiten Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Natürlich lässt sich das nicht vereinbaren mit Copyrights, Downloadeinschränkungen und geschlossenen Mitgliedsbereichen auf Webseiten, für die man zahlen muss. Wir veröffentlichen als transversal texts unsere Inhalte als Copyleft – die Copyleft-Praxis stellt sich klar gegen die Kapitalisierung von Wissen.
Damit der Strom des Teilens jedoch beginnen kann, müssen Texte geschrieben und in gemeinsamer – oftmals unentgeltlicher – Arbeit ausgesucht und redigiert, editiert, übersetzt, gelayoutet, korrigiert, gedruckt und vertrieben werden. Dabei sind wir – wie bereits erwähnt – auf (auch monetäre) Unterstützung und Einnahmen aus dem Buchverkauf angewiesen.

Das heißt, eure Praxis der Commons, wie Copyleft und Open Access funktionieren deshalb, weil engagierte Leute unentgeltlich daran arbeiten?
Ja, aber es ist nicht unbedingt etwas Neues, dass es in breiten Feldern der wissenschaftlichen Arbeit und der Kulturarbeit nicht möglich ist, die eigene Existenz über die Arbeit in diesem Bereich zu sichern. Auch dann nicht, wenn die Projekte auf Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit und internationale Anerkennung treffen.

Leider ein ewiges Trauerspiel. Werdet ihr öffentlich gefördert? Wenn ja, von wem?
Das eipcp als Verein wird von öffentlicher Seite kaum gefördert. Besonders unbefriedigend war die oberösterreichische und Linzer Förderpraxis für das eipcp. Trotz zehnjährigem Vereinssitz in Linz wurden wir hier kaum gefördert. Es war sogar schwierig, die von uns benötigte minimale Co-Finanzierung bei unseren drei aus EU-Mitteln geförderten Projekten zwischen 2002 und 2009 zu erwirken. Deshalb haben wir den Vereinssitz 2009 nach Wien verlegt. Die Stadt Wien fördert uns aktuell mit einem Jahresbetrag von 9000 Euro. Vergleicht man das jedoch mit der Fülle unserer Aktivitäten, erscheint die Summe verschwindend gering. Aber es ist eine Realität, mit der wir seit der Gründung leben und arbeiten. Unser Institut erntet als webbasierte Plattform zwar weltweit Aufmerksamkeit und Anerkennung, aber in Österreich war und ist es schwierig, eine angemessene Förderung zu bekommen.

Und dennoch habt ihr auf transversal.at eine kleine Schatzkammer an Schriften und Informationen für die Öffentlichkeit aufgemacht. Bekommt ihr eigentlich Rückmeldungen, wer aller die Plattform und eure Inhalte nutzt?
Zu den Webjournals bekommen wir aus den verschiedensten Ecken der Welt positive Rückmeldungen. Auch hier in Linz werde ich immer wieder von verschiedensten Personen – ob Künstler_innen, Kulturarbeiter_innen, Aktivist_innen oder Studierende – angesprochen, dass unsere Textproduktion eine wichtige Ressource für ihre Arbeit ist.

Dann möchte ich zuletzt im Namen der Leser_innen sagen: Danke Andrea, für deine Zeit und die Einblicke in transversal texts und das eipcp. Alles Gute für dich und alle, die an transversal texts auch im Jahr 2016 weiterarbeiten. 

eipcp.net
transversal.at
4. 4. 2016, 19.30 h
Aufstand der Verlegten
Kepler Salon, Linz
Stefan Nowotny, Niki Kubaczek und Ruth Sonderegger von transversal texts sprechen über die Todeskämpfe der Publikationsindustrie und den Aufstand der Verlegten.
Eine Veranstaltung des Kepler Salon (kepler-salon.at) in Kooperation mit dem eipcp (eipcp.net).

Wer hat Angst vor Rubia Salgado und MAIZ?

Nicht nur anspruchsvolles Theoriekompendium, sondern eine weitläufige Theorie zur kulturellen Übersetzung, die an verschiedenen Stellen von freier Gedichtform durchzogen ist: Pamela Neuwirth hat das außergewöhnliche Buch von Rubia Salgado gelesen.

Foto Die Referentin

Foto Die Referentin

Äffin in der Kolonie geworden
Äffin in der Metropole geblieben.
Auf Bühnen ist sie gestiegen:
Äffin aus der Kolonie,
Unterhaltung in der Metropole.

Vor dem Spiegel weiß,
androgyn und kein Weib,
liegt die Bühne nicht in Bordellen:
Sie redet vor Aktivist_innen,
Künstler_innen, Intellektuellen.

Die Äffin ist immer einsam,
denn das Bild meistens trügerisch.
Einsam unter ihresgleichen,
die ihr nie gleich sind.

Zu rechnen war von Anfang an mit einem anspruchsvollen Theoriekompendium, das einen Einblick in MAIZ’ widerständige Arbeit erlaubt. Rubia Salgados Buch „Aus der Praxis im Dissens” ist das auch, nur dass die theoretischen Streifzüge neben Briefen, Essays und Interviews zudem von Lyrik durchzogen sind. Das verwundert zunächst bloß dann, wenn man vielleicht für einen Moment vergessen hat, dass Lyrik die wohl künstlerischste Form der Literatur darstellt und sich in aller Regel einer objektiven Schau, Logik oder rationalen Definition entzieht und stattdessen davon lebt, sich in ihrer ganzen Rätselhaftigkeit der Welt zu präsentieren. Man kann das auch (man ist versucht zu sagen: gerade heute) als widerständig interpretieren. Widerstand ist schließlich das große Thema, welches sich als roter Faden durch dieses Buch zieht. So versteht es sich, dass die hier vorliegende Sammlung an Texten, diese Ansammlung an Einblicken in MAIZ’ Denken und Wirken trotz oder wegen der künstlerischen Einbrüche ins Literarische tatsächlich als Instrument dienen kann. Eine Theorie (des Handelns) soweit anzulegen, dass sie wie ein Instrumentarium verwendet werden kann, um politisch-taktisch zu agieren, ist etwas, das naheliegend erschient, aber dennoch nicht so häufig passiert. Dass dies mit den vorliegenden Texten möglich sein kann, ist die schöne Überraschung, mit der die Leserinnen „konfrontiert“ werden. Dieses Instrumentarium als Handbuch zu verwenden, fordert – im Dissens – die Leserinnen zu Abenteuern im Kopf auf: eurozentristische sowie anthropozentristische Denkweisen (folgen Sie einfach den Tieren im Buch) werden zurückgelassen, um gesellschaftliche Konventionen und Naturgesetze radikal neu zu erfinden; das ist dann wie in einem Klartraum.
So gelesen funktioniert „Aus der Praxis im Dissens“ in seiner „unkonventionellen Dokumentation widerständiger Prozesse” als nachvollziehbare Anleitung, wie rassistischen, reaktionären und neoliberalen Politiken entgegnet werden kann. Für das im Juni 2015 von der Soziologin Andrea Hummer im Verlag transversal texts aufgelegte Buch, zeichnen letztlich zwei Au­torinnen verantwortlich: Rubia Salgado und, wie Rubia Salgado selbst betont, MAIZ selbst, jener Linzer und von migrantischen Frauen getragene Verein, der seit seinem Bestehen die Utopie einer sozialen Gleichheit zu entwickeln versucht. Salgado, eine der Gründerinnen des Vereins MAIZ, der nun seit zwanzig Jahren und noch immer notwendigerweise die Stimmen der Migrantinnen vertritt, zeigt das politische Dilemma von Ungleichheit auf, rückt ins Licht, was gewöhnlich im blinden Fleck der gewohnten Verhältnisse verschwindet und verhandelt autonome Möglichkeiten gesellschaftlichen Handelns neu aus.
Aus Sicht der Migrantin leitet sich das Grundmotiv bei Salgado so ab: „Ich, als Migrantin, bin in einer Position, die stark mit Verletzlichkeit zu tun hat, aber der Sprung, die Verweigerung sind notwendig.“
No pasarán! / Eu passarinho!

Der Skandal, das Kollektiv und die Sprache
Der für viele Migrantinnen nach wie vor schwierige Umstand vom Gesetzgeber nicht mit den gleichen Rechten und Pflichten wie die Mehrheitsgesellschaft anerkannt und geschützt zu sein, dieser Skandal, ist für MAIZ der Antrieb, diese Utopie der ethologischen Gleichheit weiterzuentwickeln. Die Verletzlichkeit in etwas Neues, vielleicht etwas Wehrhaftes zu verwandeln, wird im Buch „Aus der Praxis im Dissens“ als die existentialistische Ausgangsposition behandelt, von der aus sich das Kollektiv oder die einzelne Akteurin kreativ an die Verhältnisse nicht anpassen. Die Nicht-Anpassung will ein Resultat aufzeigen, wie man in der Welt partizipiert, dabei aber nicht verpflichtet wird, in Gefügen zu leben, die als nicht sinnvoll und gerecht empfunden werden. So werden von den MAIZ-Frauen innerhalb der sozialen Ungleichheit vitale Positionen ausgelotet, die von Hoffnung, Empörung und Kampf erzählen. Das ist eine große Freiheit. Davor liegen aber Verhandlungen. Dabei stehen die Akteurinnen einem Konsens, beziehungsweise den unfreien Verbindlichkeiten allen Ja-Sagens skeptisch gegenüber. Von MAIZ wird diese Problematik des Konsens noch etwas härter, und auch intern praktiziert, als folgende These auf den Punkt gebracht: „Jede Einstimmigkeit ist dumm“. In dieser demokratischen Grund­haltung und Be­reitschaft zum Ausverhandeln beschäftigen sich die Autorinnen nun weniger mit Ideologien, sondern in erster Linie mit den real vorherrschenden sozialen Lebensbedingungen von Migrantinnen. Das erklärte Ziel ist nach Salgado „die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen von Migrantinnen.“
Das Erlernen der deutschen Sprache spielt hierbei eine zentrale Rolle. Die Sprache wird aber nicht als Mittel des Empowerments und als Ermächtigung an sich begriffen, sondern an ihr wird das dialogische Ausverhandeln probiert und im Prozess des Zweisprach­erwerbs die sichere Distanz zu den politischen Verhältnissen geübt. Solche fein austariert angelegten Kommunikationsformen liegen, wohlgemerkt mit dem Erwerb von, in unserem Fall deutscher Sprache, Lichtjahre entfernt von den aktuell wieder von staatlich-ideologischer Seite geforderten monolingualen Sprachvorschriften.

Das grosse Fressen
Ja, Anthropophagie. / Du wirst mich schlucken.
Nur die Anthropophagie verbindet uns. / Soziologisch. / Wirtschaftlich. /
Philosophisch.
Das Konzept der Anthropophagie als politische Haltung auf beißende Fragen ist einer Kunstströmung der 1920er entlehnt, welche sich geografisch in Südamerika verorten lässt. Dort wurde die Idee des Einverleibens, Verdauens und des Neukreierens in einem subkulturellen künstlerisch-philosophischen Kontext entwickelt. Leicht lässt sich an Ort und Jahreszahl erkennen, dass hier von anti-kolonialistischem Widerstand die Rede ist: Gefressen, einverleibt und verdaut wird in der anthropophagischen Praxis vom Menschen das, was von Menschen als inakzeptabel erachtet wird in der Utopie ethnologischer Redlichkeit. Damals, und soweit das Konzept der Anthropophagie, fraß man im unerhörten Widerstand die Kolonialherren auf, alternativlos.
Doch kann das drastische Konzept der Menschenfresserei in der westlich-zivilisierten Welt noch verstanden werden? Erinnert man sich an MAIZ’ Anfänge finden sich Hinweise, dass die künstlerische Praxis der Anthropophagie noch nicht obsolet ist. Als das damals noch kleine MAIZ erste Versuche einer Anknüpfung an regionale Frauenkollektive unternahm, und als das Ansinnen, Sexarbeiterinnen in die Vereinsarbeit mit einzubeziehen, von den hiesigen Frauenvertreterinnen zuerst nicht, oder nicht ausreichend verstanden wurde, war den Grün­derinnen bald klar, dass die radikal auto­nome Haltung eine Grundsatzentscheidung für die weitere Entwicklung von MAIZ sein musste. Die gemeinsame Arbeit und Kooperative mit Sexarbeiterinnen aus der Karibik in Linz stand also am Beginn. Das Kollektiv wuchs, als die Sexarbeiterinnen befreundete Frauen zu MAIZ führten. Entstanden war somit eine internationale Gruppe von migrantischen Frauen, die sich in post-kolonialen Machtstrukturen wiederfand. Die Verhandlungen nahmen ihren Anfang. Im Buch finden sich nun etwa zur Praxis, bzw. auch zur Realität von Sexarbeiterinnen einige sehr berührende Erzählungen über die „widersprüchliche Verbindung von Degradation und Faszination“, der besonders migrantische Sexarbeiterinnen ausgesetzt sind. Rubia Salgado selbst frisst und verdaut diese komplexen Verbindungen von Postkolonialismus, Eurozentrismus, Anthropozentrismus und den vielen anderen Ismen der Herrschaft und der ökonomisch/kulturellen Situationen etwa zu „Notizen über das Menschwerden, Affen, Migrant_innen und Kulturarbeit“. Und wer nun zum Abschluss nicht nur vor der bekannt wehrhaften Arbeit von Rubia Salgado und MAIZ, sondern auch noch Angst vor der Theorie bekommen hat: Die wehrhaften (und wahrhaftigen) Tiere im Dissens erzählen davon – in verständlicher Weise.

Rubia Salgado, „Aus der Praxis im Dissens“, transversal texts, transversal.at, 2015

Es passierte, als unsere Gehirne zerbröselten

Im Rahmen der afrikanischen Filmtage in der Stadtwerkstatt hat Kuratorin Sandra Kramplhuber unter anderem Filme von der äthiopischen Filmfirma Lanzadera Films gezeigt. Zu den Filmen Chigger Ale, Crumbs und zu außerirdischen Postapokalypsen hat Die Referentin den spanisch-äthiopischen Produzenten und Regisseur Miguel Llansó befragt.


Im Vorfilm zu „Crumbs“, im Kurzfilm „Chigger Ale“ von 2013, geht es um einen äthiopischen Hitler, der als kleiner Mann in einer Taverne mitten in Addis Abeba gelandet ist. Er ist zwar zu blöd zu allem, aber er ist natürlich unheimlich und bösartig. Sie waren zwar bei diesem Film „nur“ Produzent, die Regisseurin ist Fanta Ananas, aber vielleicht können sie trotzdem etwas zu den Gründen sagen: Warum diese Hitler-Auferstehung?
Globalisierung durch Ultra-Kapitalismus – das ist der Motor des Jahrhunderts. Der Kapitalismus ist nur am Wert von Waren interessiert. Und dieser Wert bemisst sich nicht einmal durch den Verkauf von Objekten, sondern durch Spekulation. Und dieser Ultra-Kapitalismus vermag es, den Schrecken und Horror des 20. und 21. Jahrhunderts etwa in Hitler-Plastikfiguren oder auch Che-Guevara-T-Shirts zu transformieren. Es ist wirklich beängstigend, dass Hitler zu einer solchen Plastik-Figur geworden ist, die du kaufen kannst, während mittlerweile Geschichte, Philosophie oder Geisteswissenschaften zu marginalen Disziplinen mutiert sind. Wenn wir Feuerzeuge in Form der Twin-Towers am Tage nach ihrem Einsturz kaufen können, sind wir sicherlich am Ende der Geschichte des Humanismus angelangt. Man kann diese Beziehungen zwischen Mensch und Objekt überall auf der Welt finden, einschließlich Addis Ababa.

Hitler sozusagen als lustiger Restmüll-Alien, der mit Punk-Soundtrack „Nazis of the Night“ am Ende wieder in den Weltraum zurückgeflogen wird. Der Trailer zu Chigger Ale wurde etwa mit dem Ausspruch der Regisseurin Fanta Ananas versehen: “This world globalized with debris!” … Wenn es nur so einfach wäre, die Community ist stark und lässt sich nicht aus der Ruhe bringen, das Böse wird abgeholt und in den Weltraum zurück verfrachtet …?
Ich sehe in diesem Film einen armselig maskierten Menschen, der als Hitler verkleidet ist, aber gar nicht weiß, wer Hitler war. Es ist sehr traurig, einen echten Dämon zu verbergen, den man eigentlich nicht kennt – zudem wenn du tatsächlich eine Art Verlierer bist. Daniel Tadesse spielt die Rolle Hitlers, aber vor allem passt er im Film in das Schema des Außenseiters, der den Hass aller auf sich zieht. Vielleicht hat der Betrachter etwas Mitgefühl mit einem Mensch, der nicht weiß, was er wirklich tut. Auf diese Weise, in dieser Hinsicht gibt es vielleicht sogar mehrere solcher Hitler-Kostüme.

Im Film „Crumbs“, bei dem Sie Regie geführt haben, kehrt diese Thematik auf ernstere Weise wieder. „Crumbs“ ist einerseits Liebesgeschichte, andererseits Postapokalypse pur – und wieder verschränken sich in der Geschichte außerirdisches Leben und Nazis. Bitte um ein paar Worte darüber, was es damit auf sich hat … wie präsent ist der Nationalsozialismus im Geschichtsbild ihrer Wahlheimat Äthiopien? Ist es das Bild für Diktatur und Massenmord schlechthin, wie in Europa? Mich würde ein Blick von außen interessieren, sozusagen vom afrikanische Kontinent, auf diesen Horror in Europa.
Heute sind Hitler und der Nationalsozialismus von geringer Bedeutung in der Welt. Sie sind „merkwürdige“ Erscheinungen für die meisten Menschen in Äthiopien und Spanien oder sonstwo. Das ist leider so, sehr zum Unglück für die Menschheit. Heutzutage ist Primo Levi, Überlebender des Holocaust und Schriftsteller, ein Niemand im Vergleich zum Thriller-Autor Dan Brown; und Claude Lanzmann, der Regisseur unter anderem von „Shoah“, ist noch nicht einmal unter den jungen Filmliebhabern beim Film-Festival in Venedig bekannt. Somit ist die Apokalypse hier verankert: Sie besteht aus Verwirrung und Unsinn, dort wo die absurdesten Dinge und Objekte unser Leben bevölkert haben. Wenn ich eine Parodie auf eine so ernsthafte Angelegenheit mache, dann deshalb, um durch Lachen die Absurdität der Konsumgesellschaft aufzuzeigen, in der ein Buch von Donald Trump zur Pflichtlektüre in Schulen dieser Welt zählt. Was ist passiert? Wie ist es zur Apokalypse gekommen? Vermutlich kam es dazu, nachdem sich unsere Gehirne vollständig zerbröselten und uns nur mehr übel war. Gibt es etwas Erschreckenderes, als Nazis, die sich in Spielzeug verwandelt haben? Die einzige Lösung ist, zu einem tiefsinnigen Nachdenken zurückzukehren: Kritik, Diskussion, Satire, Lachen, Handlungen – weit weg vom beruhigenden, oberflächlichen und lähmenden Geist der politischen Korrektheit.

Und nochmal Crumbs als Beispiel – mit seiner postapokalyptischen, surrealen Liebesgeschichte. Solche Filmentwürfe haben ja, zumindest auf plötzliche oder unerwartete Weise, auch die Eigenschaft, dass sie neben der Zerstörung Bilder von unglaublicher Widerstandskraft oder Schönheit entwerfen. Was halten sie von diesen Begriffen im Zusammenhang mit ihrem Film? Aus welcher künstlerischen Quelle oder Kraft schöpfen Sie?
Meine Quelle der Inspiration ist der anarchische, freie und poetische Gedanke, der in der Lage ist, Formen von Surrealismus hervorzubringen. In einer scheinbaren Zufälligkeit auftretend, ist dieser Gedanke überraschenderweise in der Lage, Wahrheiten und Wirklichkeiten darzulegen. Science-Fiction spielt mit bekannten Elementen und Themen; sie übertreibt sie, führt sie ins Extreme, isoliert sie – um eine ästhetische und philosophische Erfahrung zu generieren, aufgrund dieser wir die Welt mit anderen Augen betrachten. Ich mag Autoren wie Philip K. Dick oder Kurt Vonnegut, die unterschiedliche Techniken der Übertreibung verwenden, woraus manchmal paranoide Thriller oder Satiren entstehen.

„Crumbs“ ist ganz neu, 2015 erschienen, hat Österreichpremiere hier in Linz, wurde aber bereits beim Rotterdam-Filmfestival 2015 gezeigt. Welche Reaktionen hatten Sie dort?
Das Publikum war sehr an den Drehorten wie etwa Danakil – der Ort mit der weltweit höchsten Durchschnittstemperatur – oder an den aufgelassenen Zuggleisen interessiert, die von der Europäischen Union im Jahr 2009 gebaut wurden; oder auch an dem alten Bahnhof in Dire-Dawa oder dem Wenchi-Vulkankrater. Wir sprechen auch über die Charaktere, die Schauspieler; einige von ihnen sind Profis wie Daniel Tadesse und Selam Tesfaye, und andere nicht, aber wir portraitieren sie gerne im Film, wie sie sind – als schöne und merkwürdige Personen. Niemand muss Sets bauen oder Schauspieler suchen, wenn man gleich um die Ecke ganz erstaunliche Leute finden kann. Es geht nur darum zu wissen, wie und wo man Ausschau halten muss.

Sie sind bei Filmfestivals gut vertreten? Generell zu den Strukturen des Filmschaffens vielleicht eine Frage: Wie oder unter welchen Bedingungen produzieren Sie oder Lanzadera Films? Was wünschen Sie sich?
Crumbs hatte dieses Jahr weltweit über 75 Screenings im Rahmen von Festivals und Veranstaltungen. Wir sind sehr glücklich, dass es ist eine Community auf dieser Welt gibt, die an Autorenkino oder Fantasy-Genres interessiert ist, die uns andere Welten eröffnen. Der Film wurde von meinem Freund Sergio Uguet von Resayre und meinen äthiopischen Produzenten Daniel Taye Workou und Meseret Argaw produziert, ohne Zuschuss und ohne Subventionen. Dieses Produktionsmodell ist nicht nachhaltig auf lange Sicht, aber wir haben eine großartige Zeit im Moment. Ich wünschte, ich könnte weiterhin mit meinen Freunden Filme machen; das macht mich glücklich.

Wollt Ihr die totale Verblödung?

Nach der Verfilmung des gehypten Romans nun auch die Theateradaptierung: „Er ist wieder da“ wird aktuell im Phönix gespielt. Christian Wellmann hat sich das Stück, das noch bis Mitte Jänner läuft, angesehen und die Instant-Kritik-Kapsel to go geschluckt.

Foto Christian Herzenberger

Foto Christian Herzenberger

Sein Kampf geht weiter. Weil er noch immer in uns, unter uns und nun wiederauferstanden ist, fiktiv wie bei Jesus. Der Archetyp des skrupellosen Massenmörders, durchleuchtet wie wohl kein zweiter, sich morphingeschwängert als Erlöser inszenierend. „Es braucht wieder einen starken Mann …“, wie es Hitler-Schauspieler Simon Jaritz fanatisch in klassischem Befehlston knödelig rrrrauskrächzt. Das Stück muss für die Stimmbänder brutal sein – lies nach in Marcel Beyers grandiosem Roman „Flughunde“ – vor allem etliche Aufführungen, die noch bevorstehen … Die schwierig überzeugend darzustellende Figur driftet bei Jaritz nicht ins Karikatur/Kabarett-Terrain, er gibt einen glaubhaften, zeitgenössischen Führer, der seinen Müll verbal über dem Publikum ergießt. Er wirkt fast wie ein Hologramm, wie ein „Jesus Christ Superstar“-Revival für die Zehnerjahre, als Bad Cop-Variante. Nach dem Bestseller von Timur Vermes und der gerade in den Kinos laufenden Verfilmung kommt der Overkill „Er ist wieder da“ nun nach den deutschen auch auf die österreichische Theaterbretter, in der Inszenierung von Harald Gebhartl. Passenderweise in der Lieblingsstadt seiner Hauptfigur – „Linz, heimliche Jugendliebe“, wie es im Stück heißt. Das Linzer Qualitätstheater Phönix, nach 2014 heuer abermals Nestroypreis-nominiert, hat den Anspruch „politisches Theater zu machen, und auch gesellschaftskritische, aktuelle Romane zu dramatisieren“, wie es der künstlerische Leiter und Regisseur Gebhartl formuliert. Mit dieser Medien-Satire beweist er, dass sich das Buch auch als Theater-Stoff eignet: überzeichnet, und durchaus erschreckend real. Ins Mark treffen einige Speerspitzen des Stücks: dem Lager seiner hiesigen Verehrer-Partei, die als Dilettanten vor dem Führer dastehen, fehlt’s an Disziplin …

Nach 70 Jahren erwacht der Diktator in Berlin-Mitte, ein Comeback als Führer-Zombie, quasi. Wiederauferstehungs-Update. Soweit die Verschwörungsausgangslage, diesmal ganz ohne Nazi-Ufos. Kein Krieg, keine Partei, keine Blondi oder ihr Welpe Wolf, ach ja, die ham ja eine Giftampulle im „Bonker“ bekommen … Bei einer Filmproduktionsfirma taut er bald im wahrsten Sinne auf, Propaganda ist ja sein Ding. Geändert hat sich für ihn eigentlich nicht viel, eine oberflächliche Schar gehorcht ihm immer noch und vor allem wieder aufs Wort. Er spürt die dunkle Seite der Macht, die Magie der Bildschirme, der YouTube-Videos. „Internet … DAS hätte Goebbels erfinden müssen!“ Der unaufhaltsame Aufstieg in den Comedy-Olymp, hoch zu den neuen Göttern germanischer Ausgeburt. Als Comedian Unharmonist veredelt er Abgestumpftheit mit teutschen Tugenden und zeigt alte Lösungen für die neue Gesellschaft. Die – klar! – politisch völlig unkorrekte Sprache des Neo-Führers als Medienstar bringt das Publikum bei der Aufführung (zu) oft zum Schmunzeln, bis auf eine geschickt getimte Szene. Ist das noch Humor, tja. Zusätzlich schwirren nervige Lachkonserven durch den Saal, auf dass es ja weh tut – sicher, lachen über die Ur-Quelle der rechten Kloake. Dabei kritische Distanz aufzubauen ist oft schwer. Manchmal, und da wird es zappenduster, ihn gar allzu „menschlich“ zu sehen. Parallelen des Stoffs zum Klassiker „Springtime for Hitler/The Producers“ (1968) sind offensichtlich: wie wirkt Hitler auf die Gegenwart.

Die Marke Hitler gefällt, das Böse ist immer und überall, nicht nur auf Weinflaschen. Die Klone sind unter uns. An dieser Figur haben sich u. a. etliche beim Film vergriffen, wie Helge Schneider (irgendwie surreal, grandios lächerlich: „Mein Führer“), Bruno Ganz (spooky, nahe am Original: „Der Untergang“), Udo Kier (als Junkie-Adolf in Schlingensiefs „100 Jahre Adolf Hitler“, ein total verstörender Film über den zugedröhnten Kerl im „Bonker“), Chaplin (die wohl beste Satire: „The Great Dictator“), „Inglorious Basterds“, mit einem durchgeknallten, irren Hitler, wobei hier Christoph Waltz glänzt, und wohl eine der gruseligsten Nazi-Rollen auf die Leinwand bannte – oder viel zu viele TV-Comedies mit dem Führrrer-Schmäh. Der Trend scheint in letzter Zeit zuzunehmen, jahrelang hat man sich im deutschsprachigen Raum nur selten an eine Hitler-Inszenierung gewagt, nun will man immer tiefer ins Innere des Biests blicken. Ich hab da so meine Zweifel, am „Aufgeilen“, anstatt „nachdenken“ „sensibilisiert“ werden, damit meine ich vor allem filmische Werke. Viele „Titanic“-Scherze setzen das Grögfrast ebenfalls in die Gegenwart, aber um die Nuance geschmackloser und gemeiner. Unvergessen auch Hubsi Kramars Auftritt vor der Wiener Oper in Uniform, das hat gesessen! Wie Taboris Drama „Mein Kampf“ oder „Adolf, die Nazi-Sau“ des deutschen Comicautors Walter Moers. Mega-Hip, das Hipstler-„Phänomen“, Hitler-Katzen – popkulturell krass, da lacht man noch 1000 Jährchen von … Scheitel, Oberlippenbärtchen (zentriert!), knorzige Sprache: garantierte Lacher galore! Zudem läuft gerade eine neue „Erfolgsserie“ („The Man in the High Castle“): Hitler hat den Krieg gewonnen, und in den USA regieren Nazis – wohl ziemlich an Philip Roths „Verschwörung gegen Amerika“, einer Alternativweltgeschichte, angelehnt. Wem dann noch fad ist, der findet sicher auf ZDF-Info die ein oder andere Doku zum geneigten Thema, tagtäglich. Oder bis zum 1. 1. 2016 warten, denn da läuft das Urheberrecht zur Mutter aller Hetzschriften aus, sein Kampf eben, seine Bibel, dann ist er tatsächlich wieder da …
Instant-Gesellschaftskritik-Kapseln to Go.

Im Folgenden nun ein Interview mit dem künstlerischen Leiter des Theater Phönix, Harald Gebhartl, zudem Autor, Regisseur, Dramatiker und Mitbegründer des Theater Phönix Linz (1989).

Warum haben Sie gerade diesen Bestseller inszeniert?
Weil die Zeit nach einer kritischen Satire in diesem Sinne schreit! Rechtsruck in ganz Europa, Rechtspopulisten auf dem Vormarsch, Alltagsfaschismus, Ausländerhetze, Kulturverfall … der Geist eines sogenannten „Führers“ ist in Europa viel zu wach, um als Theater nicht mahnend zu reagieren!

Das Lachen über Unkorrektheit wird mit der Sprache Hitlers dem Publikum als Spielball gereicht. Kann man über so eine Farce überhaupt noch lachen oder soll das alles im Hals stecken bleiben?
Schon Charlie Chaplin hat gezeigt, dass gute Satire im Sinne von kritischer Haltung zu Diktatur und Faschismus alles darf. Satire in unserem Sinne stellt „das Böse ins Schaufenster“, führt es vor und macht es klein und lächerlich. Lachen ist dabei nur eine Nebensache.

Die deutschsprachige Unterhaltungsindustrie: Glauben Sie ist das Ende (an gutem Geschmack) bereits längst überschritten? Kann nur mehr Satire Linderung schaffen oder wird das ein „Führer“, wie im Stück, an sich reißen?
In der Unterhaltungsindustrie geht es nicht um Geschmack, es geht ausschließlich um Geld und Quote! Das schließt ein, dass „Geschmack“ in der Intuition der Medien als Idee nicht mehr vorkommt. Da schafft nichts mehr Linderung. Sogenannter „Medienfaschismus“ ist keine Frage der Zeit mehr …

Viele Anspielungen im Stück sind auf österreichische Verhältnisse umgemünzt – mit den Waffen des Theaters bloßgestellt. Sie haben dem Autor ja das Stück vorgelegt, ist dieses universelle „Deutschtum“ aufzuzeigen ihre Idee gewesen?
Es genügt alleine die Idee des Roman-Autors, den „Führer“ wieder erwachen zu lassen, um Parallelen zur derzeitigen Gesellschaftssituation, zu politischen Haltungen, zum Medienverhalten und zu politischen Machtverhältnissen zu erkennen.

Soll mit „Er ist wieder da“ eher die Jugend angesprochen werden – und liegt es in der Tradition des Theater Phönix auch einmal bewusst vermeintliche „Kassenschlager“ zu zeigen?
Mit „Er ist wieder da“ sollen alle Altersklassen angesprochen werden. Das Theater Phönix ist ein politisches Theater, das ausschließlich „brandheiße“, aktuelle Themen anspielt. Klassiker werden von Autoren bearbeitet und zeitkritisch interpretiert, Autoren schreiben Auftragswerke für das Phönix oder gesellschaftskritische, aktuelle Romane – wie im Fall – werden dramatisiert. Das macht das Phönix insgesamt zum „Kassenschlager“.