Rock In Peace, Valina

Jedem Anfang wohnt etwas Ironisches inne. Eine der selbstbestimmtesten und freigeistigsten Rockbands, die dieses Land je gesehen hat, gründete sich im Internat eines Stiftsgymnasiums. Seither begeisterten Valina Menschen in Linz, in ganz Österreich, auf dem halben Globus. Mit formidabler Musik und kompromissloser Attitüde. Jedem Anfang wohnt ein Ende inne. Nach 20 Jahren Bandgeschichte ist diese Band Geschichte. Nein. Noch nicht ganz. Eine Art Nachruf – kompiliert von Stephan Roiss.

Im Jänner 2016 wird die Band noch dreimal das tun, was sie stets am liebsten getan hat. Foto Martin Baumann

Im Jänner 2016 wird die Band noch dreimal das tun, was sie stets am liebsten getan hat. Foto Martin Baumann

Ein Teenager, der erst kürzlich seine Bon Jovi-Phase überwunden hat, sitzt kurz nach der Jahrtausendwende in einem Keller im Innviertel und hängt seinem Weltschmerz nach. Sein Gastgeber legt ein Tape ein und drückt die Play-Taste. Die Stimmung ändert sich. Was da aus den krachigen Lautsprechern tönt, ist unerhört und unerhört gut. „Wer ist das?“
Das war Valina. Aus dem Hafen von Linz. Das Trio verstand es Zeit seines Bestehens, Math-Rock und Song-Format, Ami-Hardcore und Pop, Noise und Melodie, Punk-Spirit und generelle Genrezerberstung in Einklang zu bringen und dabei etwas unartig Eigenartiges, etwas Souveränes zu erschaffen. Valina wird den Teenager von damals prägen wie kaum eine andere Formation. Und nicht nur ihn.

„Die Band begleitete und bereicherte mein musikalisches Leben seit ihrem ersten Konzert, das sie damals mit meiner ersten Band in Kremsmünster spielte. Danach folgten gemeinsame Stunden und Wochen im Tourbus, Gespräche und Parties, wie man sie sich nur wünschen kann, unzählige Konzerte, die Freude über jeden neuen Tonträger, das – durch die Band vermittelte – Kennenlernen der KAPU, wachsende Freundschaften und unglaublich viele weitere Highlights. Sentimentalität? Ja, denn Valina ist tatsächlich die Band, die mich am längsten durch mein Leben begleitete. Danke Werner, Husbert, Clausi, Anselm und Anatol!“
(Richie Herbst / Interstellar Records, Regolith, Ex-STWST, Ex-KAPU)

Werner? Der Saxophonist Werner Zangerle avancierte in den letzten Jahren zu einer Art viertem Bandmitglied. Seine Einsätze auf den Platten „a tempo! a tempo!“ und „Container“ sind Gold wert. Und Clausi? Als Claus Harringer 2005 Valina verließ, stand die Band schon einmal kurz vor der Auflösung. Es war nicht zuletzt Claus selbst, der damals Florian „Husbert“ Huber (Bass) und Anatol Bogendorfer (Gitarre und Stimme) zum Weitermachen bewog.

„Wenn ich Valina durch zwei Begriffe charakterisieren müsste (was – offen gesagt – niemand verlangt hat), wären das ‚Respekt‘ und ‚Ernsthaftigkeit‘. Verklammert wären sie durch einen dritten, den das deutsche ‚Hingabe‘ nicht so gut fasst, wie das englische ‚devotion‘: Personen ge­genüber, dem eigenen Tun und dem Tun anderer gegenüber. Zusammengefasst: A caring home for Odradek’s lovechild with Bartleby.“
(Claus Harringer, Ex-Drummer und Gründungsmitglied von Valina)

Der genial-vertrackte Intellektuelle wurde durch Anselm Dürrschmid (u. a. auch Porn to Hula) ersetzt, der mehr Dave Grohl als Adorno ist, dabei jedoch nicht minder genial. Mitte 2015 gab schließlich Husbert seinen Bandkollegen bekannt, dass er – aus beruflichen und familiären Gründen – künftig keine großen Touren mehr bewerkstelligen könne. Und diesmal war die Sache klar. Valina hat in Linz und Umgebung sehr viel bewegt, wollte zugleich aber nie eine Band mit begrenztem Wirkradius sein. Man nahm den Großteil der Diskographie in den U.S.A. bei Steve Albini auf, der unter anderem Kaliber wie Nirvana, Pixies oder PJ Harvey produziert hat. Und vor allem spielte Valina unzählige Konzerte auf mehreren Kontinenten.

„14 Jahre, in denen ich meine Freunde auf ihren Tourneen begleitet habe, führten mich zu hunderten verschiedenen Clubs und Orten, oft über zehntausende Kilometer hinweg in unterschiedliche Kulturkreise. Wenn man dieses Privileg als Arbeit bezeichnen will, so war es die schönste und lehrreichste – beruflich, menschlich und charakterlich.“
(Phil Sicko / Porn to Hula, KAPU-Technik, Live-Engineer von Valina)

Im Jänner 2016 wird die Band noch dreimal das tun, was sie stets am liebsten getan hat: live spielen. Außerdem veröffentlicht sie einen sechsten und letzten Tonträger: die EP „In Position“. Wie immer über Trost Records.

„Valina und Trost. … Kurz: blasse Indie-Buben tauchen in meiner Wohnung auf, spielen großartige Musik und werden Freunde fürs Leben. Mit ihrer truly independent und konsequenten anti-establishment- und dabei ‚dicke internationale solidarische family‘-Haltung sind sie Ansporn und Vorbild und Freude gleichermaßen, weit über das übliche Band-Label-Gefüge hinaus. Auch ihre Musik wird überdauern.“
(Konstantin Drobil / Trost Records)

Der Abschiedsbrief von Valina, der Ende Oktober auf der Bandwebsite gepostet wurde, ist frei von Nostalgie: „Tja, und der Rest war Punk Rock: exzessiv, trashig und eine Riesengaudi.“ Und vielleicht, wer weiß, ist nicht aller Tage Abend.

„Valina wurden immer besser und jetzt brauchen sie eine Pause. Im Tourbus hat man seinen Spaß gehabt, aber auch die Minuten gezählt. Unzählige Soundchecks in großen und kleinen Clubs – von Italien bis zur Küste Spaniens, im Osten, im Norden, in Israel, in Mexiko, den USA und Argentinien, uvm. Den DIY-Indiespirit aus den späten 90ern im Jahr 2015 noch zu leben, mit Vokü, Matratzenlager und manchmal einem Minus am Konto und den Ehrgeiz zu verfolgen, in Chicago bei Steve Albini persönlich aufzunehmen, die Kompositionen so lange durchzuspielen, zu kürzen und zu verstärken, bis es sitzt, das braucht Energie und Ressourcen. Mehr als die ‚Buben‘ sich selbst für die nächsten Jahre als Valina zurechtlegen können und wollen. Und: Dies ist kein Nachruf, denn nach der letzten Show im kommenden Jänner ist vor der letzten Show irgendwann in 20 Jahren. Die Revivalstatistik zeigt es: haha!“
(Christina Nemec / Chra, Comfortzone)

Word, sagt der Teenager von einst und sein alter ego aus der Gegenwart ergänzt: Macht’s gut und danke für den Fisch – für eure Intensität, euren Weitblick, eure Widerspenstigkeit, für eure verdammt gute Musik. Und glücklicherweise wohnt jedem Ende ein Anfang inne: Anatol und Anselm arbeiten bereits an einem neuen Projekt.

Die letzten drei Konzerte von Valina:
6. 1. 2016: Prag, 007
21. 1. 2016: Wien, Chelsea
23. 1. 2016: Linz, Stadtwerkstatt
www.valina.at

Seid geschreddert, Millionen! (auch Sie dürfen unser Geld vernichten)

Kurt Fleckenstein: Ehemals erfolgreicher Landschaftsarchitekt mit drei Firmenstandorten. Doch von Beginn an das Vorhaben, mit 50 etwas ganz anderes zu machen. Mehr oder weniger zufällig wurde es die Kunst, die den neuen Lebensabschnitt nun bestimmt. Karin M. Hofer hat Kurt Fleckenstein getroffen, der bis Anfang Dezember im Rahmen der Ausstellung „Multiplikation und Reduktion“ in der Galerie Maerz zu sehen war.

Beinahe eine Landschaft aus Geld – inklusive Geldvernichtung. Foto Karin M. Hofer

Beinahe eine Landschaft aus Geld – inklusive Geldvernichtung. Foto Karin M. Hofer

Nach „naiven“ ersten Ver­suchen (wie er selbst sagt) folgt eine intensive Auseinandersetzung mit der Kunst der letzten 150 Jahre. Nach epigonalen großen Stahlobjekten im öffentlichen Raum konzentriert er sich auf oft kontroversielle Installationen und Aktionen. Ortsbezug ist ihm wichtig, das verbindet formal sehr unterschiedliche Arbeiten. Der kann in der Architektur des Ge­bäudes sein, in der früheren Nutzung, in einer gewissen Symbolik des Ausstellungsraumes oder auch ein Problem, eventuell eine politische Situation vor Ort.
Drei Arbeitsbeispiele sollen diesen Zusammenhang verdeutlichen:

Ort Kiew / Zugang ARCHITEKTUR: Der Ausstellungsraum in Kiew war eine große Lagerhalle mit einer pittoresken Deckenkonstruktion aus Balken. Dieses Balkenfachwerk wurde gespiegelt auf durchsichtigen Folien, die daran abgehängt waren. So entstand eine symmetrische Struktur, zusätzliche Lichteffekte ergaben Schattenrisse dieses Fachwerks. Eine mehrfache Reflexion des Ortes: das reale Fachwerk, die Wiedergabe auf Folien und die Schatteneffekte ließen labyrinthische räumliche Effekte entstehen.

Ort Worms / Zugang NUTZUNG: Der Kunstverein Worms befindet sich in Räumen, die früher wohl ein Eros-Center waren. In diesen Ausstellungsraum mit seinem weiß gekachelten Boden und einer Schallschutzdecke, stellte Fleckenstein einen weißen Kubus und darin ein original Prostituiertenzimmer mit allen originalen Utensilien, wie Unterwäsche, gebrauchte Präservative u. a. Der Kubus war von außen kühl und uneinsehbar, durch eine rote Tür zu betreten. Innen an den Wänden hingen wieder bedruckte Folien mit dem Text einer Wissenschaftlerin, die zur Prostitution arbeitete und der Frage nachging, ob für Frauen aus ärmeren Ländern Prostitution eine ökonomisch sinnvolle Option ist oder nicht.

Orte Salzburg und Linz / Zugang PROBLEM: Bei der aktuellen Doppelausstellung in Salzburg und Linz sollte an beiden Orten das gleiche Thema bearbeitet werden. Der Vergleich der Räumlichkeiten (Traklhaus in Salzburg, Maerz in Linz) ergab keine Übereinstimmungen. So wandte er sich den Situationen der beiden Städte zu. Bei der google-Suche nach „Skandal“ und den beiden Städtenamen waren die finanziellen Probleme durch missglückte Spekulationsgeschäfte unter den ersten Treffern. Viele Millionen verloren durch Derivatgeschäfte, die Zahl 350 Millionen tauchte auf, usw. Eine ganze Menge Geld für eine Stadt wie Linz bzw. ein kleines Land wie Salzburg – wobei im Fall der Stadt Linz die Streitsumme im Spekulationsgeschäft bereits wesentlich höher liegt. Ihm war klar, diese Finanzskandale werden sein Thema. Wie aber setzt man das in eine Installation um?

Den Kern des kreativen und künstlerischen Prozesses beschreibt Fleckenstein als ein „auf der Couch liegen und nachdenken“. Alles darauf Folgende ist technische Umsetzung. Auf diese Weise entstand die Idee, 350 Millionen zu drucken. In 100-Euro Scheinen sind das 3,5 Millionen Scheine auf dem Boden verteilt, sodass die Besucher durchs Geld waten. Damit ein Gefühl für die Menge des Geldes ensteht, denn diese Summen sind ja inzwischen sehr abstrakte Größen. Es war ihm also klar, er will dieses Geld körperlich zeigen, dann aber die Frage, wie sollen diese Scheine aussehen? Fleckenstein entwarf zwei unterschiedliche Scheine, einen für Linz mit einem Gründer der Maerz und dem alten Linzer Rathaus. Die Salzburger Variante zeigt Georg Trakl und auf der anderen Seite den Sitz der Landesregierung. So dokumentieren zwei Scheine die jeweiligen Standorte und werden an beiden Orten gezeigt. Da es sehr restriktive Bedingungen in Bezug auf Falschgeld gibt, war die Gestaltung nicht so einfach. Ein Verlag, der auch Spielgeld druckt, sollte die in Linz und Salzburg eingesetzten „Geldscheine“ produzieren.

In Linz entstand die Idee mit dem Schredder: „Auch Sie dürfen unser Geld vernichten“. So kann jeder Besucher „Geldscheine“ schreddern und symbolisch vernichten. Das sind 3,6 Tonnen Papier, das sind 6 große Paletten.

Womit der Kunstraum zum fiktiven Tresor wurde – und zur Installation, worin das Publikum zu Partizipation aufgefordert war. Die paradoxe Aufgabe dabei: möglichst viele Geldscheine zu Konfettistreifen zu verarbeiten. Die Antithese zum Geldregen der Vorabend-Shows im Fernsehen. Sowie die grundlegende Veränderung der Kunstoberfläche, verbunden mit der seit Jahren gleichbleibenden (und im Kunstbereich immer wieder gestellten) Frage nach dem tatsächlichen Wert jener bunt bedruckten Papierstücke, die so unglaublich wichtig genommen werden.

Für jene, die schon lange nicht mehr in der Maerz waren und dadurch die große Konfettiparty versäumt haben, empfehlen wir den Gang in die Stadtwerkstatt: dort nach „GIBLING“ fragen!

„Multiplikation und Reduktion“ ist die erste Kooperation zwischen der Galerie MAERZ und dem Traklhaus in Salzburg. Die Ausstellung an der außerdem Sophie Dvorák und Ursula Groser beteiligt waren, ist in Linz bis 5. Dezember gelaufen und war zuvor in Salzburg zu sehen.

Don’t Forget About Your Girl, Alaska!

Bereits mit ihrer Band ELISA WORKS sorgte die Multiinstrumentalistin, Sängerin, Texterin und Komponistin Lisa Maria Thurnhofer in der oberösterreichischen Kulturszene für Furore. Jetzt arbeitet sie unter dem Namen FRIDA VAMOS an einem neuen multimedialen Projekt im Popkontext. Die Vorab-Auskopplung „Alaska“ lässt abermals aufhorchen! – meint Daniel Steiner.


ELISA WORKS entstand aus einer Notlage heraus. Im Vorfeld eines ver­einbarten Konzerts muss­ten mehrere Kollegen eines früheren Bandprojekts Thurnhofers aufgrund anderer, besser bezahlter Engagements absagen. Die damals erst 18jährige wollte diesen Gig aber unbedingt spielen und erarbeitet gemeinsam mit FreundInnen ein auf von ihr in Teenagertagen komponierten Songs basierendes Programm. Der Erfolg gab Lisa Maria Thurnhofer recht, ELISA WORKS entwickelte sich zu einer Popband mit Hitqualität. Nummern wie „Hey There (Stranger)“ oder „FridayNights“ wurden zu Publikumslieblingen, erst­genannte Nummer erschien auf einem Tribute Sampler für den Rothen Krebs.1
Auch aufgrund der Entstehungsgeschichte bleibt ELISA WORKS2 immer in im Grunde traditionellen Bahnen der Pophistorie verhaftet. Simple Melodien, auf Anhieb mitsingbare Refrains und größtenteils eine klassische Instrumentierung – wie schon zu Zeiten der Beatles basierend auf Gitarre, Bass und Schlagzeug – die sowohl akustisch als auch in „Stadionrock“-Besetztung funktioniert. Sicherlich gibt es Abweichungen vom klassischen Popschema, hier wird ein Glockenspiel eingebaut, dort ein Keyboard, manchmal zur Ukulele gegriffen – vor allem teilt sich Lisa Maria Thurnhofer den Frontgesang mit Jana Tack, einer in Österreich lebenden Lebenskünstlerin aus Belgien. Diese Aspekte zeigen bereits in dieser musikalischen Schaffensphase die Bereitschaft Neues zu wagen. Wobei an dieser Stelle angemerkt werden muss, dass die Band ELISA WORKS nicht aufgelöst, sondern nur auf unbestimmte Zeit auf Eis gelegt wurde.

Mit ihrem neuen Projekt FRIDA VAMOS – der Name entstand übrigens während eines Nebenjobs als Kellnerin im allseits bekannten Cafe Strom zur Abwehr allzu aufdringlicher Verehrer – schlägt Lisa Maria Thurnhofer gänzlich andere Wege ein als bei ELISA WORKS. Im Mit­telpunkt steht nicht mehr der klassische Song an sich, nicht mehr dessen Reproduzierbarkeit, ob am Lagerfeuer oder auf der Bühne einer 2000er Halle unterstützt von Licht-, Laser- und Rauchshow, sowie dem ganzen restlichen Rock’n’Roll Brimborium. Ausgangspunkt ist nun das Zusammenspiel von Text, Musik und Bild, gewissermaßen der Versuch Pop dreidimensional darzustellen. Für Jänner 2016 ist die Veröffentlichung der EP „Fantasm“ geplant, 5 Songs mit 5 dazugehörigen Videos, die jeweils von einem/einer FilmemacherIn stammen sollen. Verhandlungen mit interessierten Labels laufen bereits. Das Video der ersten Vorabveröffentlichung „Alaska“3 wurde dabei von Thurnhofer selbst produziert. Inhaltlich wird sich „Fantasm“ dem Spannungsfeld zwischen Traum und Traumata widmen, Persönliches mit der irrealen Realität die nur in Traumwelten möglich ist, verwoben. Der Einfachheit halber, lassen wir FRIDA VAMOS selbst sprechen, Lyrics hier sozusagen als Lyrik anführen:

ALASKA
the dust on my books has turned into ashes since I ripped the pages out last night I’m writing this song on my skin cause it matches did you need my paint or claim your pride?
why’d you keep me up last night oh why’d you keep me up?
you owe me your lips cause I like your face this is not about you bitch better behave it was meant to be fun so stop putting up a fight 57, 56, 55 …
why’d you keep me up last night,
oh, why’d you keep me up?
and the dust on my books it has turned into ashes since I ripped the pages out last night I’m writing this song on my skin­ cause it matches did you need my paint or claim your pride?
don’t forget about your girl Alaska
don’t forget about your girl
don’t forget about your girl Alaska
don’t forget about the scrap on my lips has turned into rust since I gave myself up to the sea to wash me ashore what ever the cost and tame this storm inside of me

Musikalisch bleibt Lisa Maria Thurnhofer auch mit FRIDA VAMOS dem Universum des Pop treu, allerdings verschiebt sich der Schwerpunkt Richtung elektronischer Mu­­sik. Der Fokus wird nicht mehr auf Gefälligkeit und Eingängigkeit gelegt, stattdessen herrschen in sich verschränkte Arrangements vor, außerdem wird das altherge­brachte Songschema von Strophe, Bridge und Refrain aufgebrochen, die Kompositionen dadurch um einiges komplexer und zugleich fesselnder. Sparsam, aber nicht minimalistisch werden sowohl die Instrumentierung wie auch die Beats eingesetzt, über allem schwebt der – durchaus mit dem etwas kitschigen Attribut „wunderschön“ zu beschreibende – Gesang Thurnhofers und rückt so den Inhalt wieder ins Zentrum. Bei „Alaska“ gelingt es der Künstlerin die musikalische Beschreibung der Kapitulation zugleich zum Triumph über das Geschehen werden zu lassen. Oder, um mit Tolstoi zu sprechen, Musik wird zur „Stenographie der Gefühle“. Natürlich ist das jetzt nicht alles neu, man kann durchaus Anleihen von Künstlerinnen wie DINKY oder BJÖRK finden, da jedoch die persönliche Note dermaßen stark ausgeprägt ist, wäre es meiner Meinung nach falsch, gleich die Neuerfindung des Rades zu fordern. Vor allem, da man annehmen kann, dass sich auf der gesamten EP „Fantasm“ noch die eine oder andere musikalische Überraschung verbergen wird.
Doch zurück zu „Alaska“ und zum visuellen, künstlerisch gleichwertigen bzw. gleich wichtigen Teil des Projekts. Auf dieser Ebene arbeitet Lisa Maria Thurnhofer konsequenterweise mit einer, unmittelbar an Traumsequenzen denken lassenden Bild­sprache. Dabei verwendet sie, in einer speziellen Abwandlung der Stock Footage Methode, Material aus ihrem reichhaltigen Archiv eigener Aufnahmen und kreiert damit das optische Pendant zu Text und Musik. Basierend auf einer mittels statischer Kamera gedrehten Aufnahme küstennaher Inseln im Nieselregen, führt die Reise durch Wohnungen, zu Feuerwerken und Badenixen, in Tiergärten und mittels Eisenbahnfahrt zurück zum Meer. Nach Alaska?
Natürlich möchte Thurnhofer weiterhin live spielen und arbeitet daher neben der Produktion der EP an einer bühnentauglichen Formation, mit der die FRIDA VAMOS Songs dem Publikum direkt vor Ort präsentiert werden können. Gemeinsam mit DJ TACTIK – der auch bei einem Song auf „Fantasm“ mitarbeiten wird – und zwei weiteren Musikerkollegen wird zur Zeit in diese Richtung experimentiert, konkrete Konzerttermine gibt es momentan daher noch nicht. Dafür kann man sich die Wartezeit bis zum Erscheinen von „Fantasm“ im Jänner mit dem neuen Soloalbum des HINTERLAND-DJs ABBY LEE TEE „byaccident“4 versüßen, auf dem es unter anderen auch den Gesang von FRIDA VAMOS zu hören gibt.

1    Online bestellbar bei SUBSTANCE Records unter: www.substance-store.com/news/new-releases/?tx_ttproducts_pi1[begin_at]=80&tx_ttproducts_pi1[backPID]=29&tx_ttproducts_pi1[product]=40452&cHash=e63cffa518 oder einfach beim Rothen Krebs Nachfolgelokal, dem Salonschiff Fräulein Florentine nachfragen
2    Besetztung: Dominik (Git), Grilli (Drums), Jana (Voc/Chimes), Jürgen (Bass), Lisa (Voc/Keyboard/Ukulele), Toni (Git)
Link: www.facebook.com/elisaworks
3    ALASKA auf Vimeo: vimeo.com/124198971
4    abbyleetee.bandcamp.com

Auf zum Geflecht

Zweifelsohne zählt das „Music Unlimited“ zu den spannendsten Festivals Österreichs. Von 6.–8. November ging es zum 29sten Mal über diverse Bühnen von Wels. Stephan Roiss über drei Tage voller grenzüberschreitender Musik im Schatten des Rechtsrucks.

In Wels eröffnete Agnes Hvizdalek mit geschlossenen Augen ein Universum. Foto WaWo

In Wels eröffnete Agnes Hvizdalek mit geschlossenen Augen ein Universum. Foto WaWo

Kuratiert wurde das heurige „Unlimited“ von Christof Kurzmann, der als Musiker bereits etliche Male das Festival be­reicherte. Der Wiener (und passionierte Teilzeit-Argentinier) agiert auf der Bühne vorwiegend mit Laptop, Saxophon oder Stimme und wird international geschätzt – nicht nur für seine künstlerische Qualität im engeren Sinn, sondern zudem für seinen offenen und unprätentiösen Zugang zu Klangkunst aller Art. Für Eingeweihte war rasch klar, dass sich hinter dem Untertitel des diesjährigen Festivals – „charhizmatic music“ – mehr als nur ein abgeschrägter Wortstamm verbirgt. Denn Kurzmann ist auch Gründer des Labels „charhizma“ (das mittlerweile keine Musik mehr veröffentlicht, aber wei­ter als Veranstaltungs- und Vernetzungsplattform fungiert). Und im Namen „charhizma“ wiederum wird das Wörtchen „Rhizom“ mitgedacht. Dieser ursprünglich biologische Terminus wurde in den 1970ern von Deleuze und Guattari aufgegriffen, metaphorisch aufgeladen und zur Beschreibung von kulturellen Systemen vorgeschlagen. Statt mit strengen Hierarchien und wertenden Oben-Unten-Schemata operierten Deleuze/Guattari mit komplexen Netzstrukturen, deren Knotenpunkte alle miteinander in Verbindung stehen und folglich auch vielfältig Einfluss aufeinander üben können. Auf das Gebiet der Musik angewandt eröffnet sich so ein Denkhorizont, in dem etwa die Grenzen zwischen E- und U-Musik, zwischen Under- und Overground oder zwischen diversen Stilen porös, durchlässig, nichtig werden. Und aus der Theorie speisen sich Aktionspotentiale, konkret: Musik ohne Scheuklappen und Schubladen, ohne elitären Duktus, aber auch ohne reaktionäre Neidkultur, die alles im Mainstream angekommene a priori verurteilt. Unlimited eben.

Passend zum Festival also, das programmatisch im Free Jazz verwurzelt ist, aber genreübergreifend Raum für alle Arten von improvisierter, experimenteller, progressiver, konzeptuell arbeitender, auf irgendeine Weise entgrenzender Musik bietet. So wurde das Unlimited 2015 zwar einerseits Ornette Coleman gewidmet: eine Ausstellung von Plattencovern des kürzlich verstorbenen Free Jazz-Pioniers flankierte das Live-Geschehen und das Eröffnungskonzert bestand wesentlich aus Interpretationen von Arbeiten Colemans. Andererseits kam beim Techno-Set von Ventil, mit der hervorragenden Schlagzeugerin Katharina Ernst, Clubstimmung auf, während Leonel Kaplan und Klaus Filip mit extrem reduzierten Tonmaterial die Stille rahmten. John Cage, schau owa. Der Solo-Auftritt Michael Zerangs wiederum überraschte zweifach: Zum einen präsentierte sich der renommierte Schlagzeuger als Gitarrist und zum anderen gab er ungewöhnlich konventionelle Singer-Songwriter-Nummern zum Besten. Das Unlimited versammelte – bei ausgewogenem Geschlechterverhältnis – wieder einmal Szenegrößen aus nah und fern: von Carla Bozulich, Irène Schweizer, Isabelle Duthoit über Christian Fennesz und Burkhard Stangl bishin zum legendären DKV Trio (Hamid Drake, Kent Kessler, Ken Vandermark), das zum Abschluss des Festivals ein konstant hochenergetisches Improvisationsgewitter entladen sollte.

Wie üblich wurden die Konzerte ab 19 Uhr im Alten Schl8hof absolviert, während samstags und sonntags Nachmittag andere Locations in der Stadt bespielt wurden (Pavillon, Stadttheater, Medienkulturhaus). Unüblich hingegen war die Dichte des Abendprogramms. Selbst wenn man wollte – und auf das delikate Essen, Pausenplausch und Ruhephasen verzichtete – war es de facto unmöglich, allen Auftritten zur Gänze beizuwohnen. Denn zwischen den Saalkonzerten wurden in einem Nebenraum mit begrenztem Fassungsvermögen knackige Solokonzerte dargeboten. Darunter Sets von Vokalistinnen, Agnes Hvizdalek etwa, die mit geschlossenen Augen ein Universum eröffnete, Vinyl-Zauberer Dieb 13, insgesamt vier Pianistinnen (besonders beeindruckend: Katharina Klement und Elisabeth Harnik) oder dem ewig frischen Altmeister Franz Hautzinger, der leider mit technischen Problemen konfrontiert war. Auch der geheime Höhepunkt des Festivals fand auf der Nebenbühne statt: Der Drummer Didi Kern (BulBul, Fuckhead) hat in den letzten Jahren verstärkt gezeigt, dass er nicht nur als wuchtiger Weirdrocker, sondern auch in cleaneren Impro-Gefilden zu Höchstleistungen fähig ist. Sein Sologig erfrischte mit einer tadellos tighten Tour de Force durch die Stilistiken, punkiger Performativität und einer herzhaften Brise Helge Schneider.

In den Veranstaltungssälen des Alten Schl8hofs unterstützten Projektionen die Atmosphäre. Matrixgrüne und sattgelbe Geflechte – fraglos Verweise auf das Rhizom von Deleuze/Guattari – waberten lang­sam über schwarze Bildflächen. Auch Worte wurden eingeblendet: „Nehmt euch, was ihr wollt“ etwa oder „refugees welcome“. Das Unlimited hat seit jeher nicht nur musikalische, sondern auch gesellschaftspolitische Grenzziehungen hinterfragt. Es ist kein Geheimnis, das sowohl der veranstaltende Verein Waschaecht als auch der Schl8hof nie Liebkinder kulturkonservativer Kräfte gewesen sind. Nach den jüngsten Wahlergebnissen auf Landes- und Stadtebene (blau-schwarze De-facto-Koalitionen, erstmals ein blauer Bürgermeister) könnten die Zukunftsprognosen also wahrlich rosiger aus­fallen. Wolfgang Wasserbauer (Wasch­aecht & Schl8hof): „Besser wird es sicher nicht! Für Unlimited 30 gibt es noch eine Fördergarantie seitens der Stadt Wels, danach wird man weitersehen. Die kulturpolitischen Signale der FPÖ, so es solche überhaupt gibt, gehen Richtung Massenveranstaltungen, also Richtung Ausverkauf und Transport von kulturellen Werten ins Wirtschaftsressort. Welche Auswirkungen das auf die freie Szene hat, wird man sehen. Mir schwant nichts Gutes.“ Aber die Köpfe werden nicht in den Sand, sondern zusammengesteckt: „Wir sind sozusagen am ‚Sammeln und Basteln‘, am Ideen und Strategien Entwickeln. Es wird was geben müssen, das ist klar!“ Im Rhizom gibt es mannigfaltige Kräfteverhältnisse, absolute Ohnmacht gibt es keine.

www.musicunlimited.at
www.waschaecht.at
www.schlachthofwels.at

YOUKI – Insel der Seligen

YOUKI International Youth Media Festival 2015: Wer schon einmal da war, kennt sie, die Schwermut, der einen schnell überkommt, wenn man die YOUKI nach einer Woche wieder verlassen muss. Ein paar Gedanken zum temporären Leben auf einer überirdischen Insel.

Foto Anja Kundrat/Maria McLean

Foto Anja Kundrat/Maria McLean

„Beyond Time and Space“ lautete das diesjährige Festivalmotto, jenseits von Zeit und Raum also. Bei Screenings außerhalb des zentralen Wettbewerbs sowie Lectures war Science-Fiction das große allumfassende Thema, es gab Zombies, Roboter, Außerirdisches und Übernatürliches. So wurden etwa wegweisende Produktionen wie „Children of Men“ von Alfonso Cuarón, „Ghost in the Shell“ von Mamoru Oshii und, weniger international bahnbrechend als national trashig, der Heimathorror „Zombies From Outer Space“ von Martin Faltermeier im Programmkino gezeigt. Aus der Reihe fiel das vor kurzem in den Kinos angelaufene Drama „Einer von uns“ von Stephan Richter. Ein bodenständiger, unaufgeregter und leiser Film, dessen Bilder trotzdem und wahrscheinlich gerade deshalb gewaltiger scheinen als jene eines schrillen Sci-Fi-Krachers. „Einer von uns“ dreht sich um den Fall Krems, als ein unbewaffneter Jugendlicher im Jahr 2009 beim Einbruch in einen Supermarkt von einem Polizisten erschossen wurde. Richter macht den Supermarkt zum Soziotop, spielt mit seiner Ästhetik, macht ihn zum Ring für Jugendliche und Erwachsene. „Einer von uns“ ist wenn, dann nur insofern Science Fiction, als dass seine Geschichte, hinter der eine medial ausgeschlachtete Realität steckt, noch heute kaum irdisch fassbar ist.

Science Fiction im Kopf
Das kann grundsätzlich eine Interpretation des Begriffs Science Fiction sein, vielleicht nicht theoretisch und akademisch, aber individuell und emotional durchaus. So ist die YOUKI eine Insel, die es eigentlich im Alltag gar nicht gibt. Eine, die kurz für eine Woche im Jahr aus dem Nichts auftaucht, alle Besucherinnen und Besucher auf- und einnimmt, ordentlich durchwirbelt und schließlich wieder ausspuckt. Dann verschwindet sie wieder, diese Insel mitten in Wels. Man kann für ein Jahr nicht mehr auf sie zurück, muss warten bis der nächste Teil, die nächste Staffel öffentlich anläuft. Bis dahin ist man sich selbst überlassen mit allen Erlebnissen, Gefühlen und Gedanken. Das tut erst einmal weh. Es ist bei genauerem Hinsehen eine Post-Festival-Depression wie jede andere. Nur anders. Beschreiben lässt sie sich schwer, weil sie eben überirdisch ist, in der Realität kaum fassbar, für Außenstehende nicht wirklich nachvollziehbar.

Auch für das Rahmenprogramm wurde der Titel „Beyond Time and Space“ ausgedehnt. Es gab einen Animations-, Arduino- und einen Regie-Workshop. Dazu noch Vermittlungsprogramme und die alljährliche Magazin-Redaktion, die mit dem Festivalmotto im Kopf eine ganze Zeitschrift füllen sollte. Das hat sie auch geschafft. Science Fiction ist immer Zukunft, irgendwie technisch, irgendwie märchenhaft. So machten sich die Redakteurinnen Gedanken zu Themen wie Asylpolitik, Feminismus und Identität. Wie würde wohl eine Welt ohne Grenzen und Rassismus aussehen (siehe Lena Steinhuber) Was, wenn es in der Zukunft gar keinen Bedarf mehr gäbe nach gleichberechtigten Arbeits- und Lebensmodellen und nach feministischer Praxis? Wie wird wohl Kultur in ein paar Jahrhunderten wahrgenommen? Was werden wir überhaupt essen? Science Fiction lässt sich jedem Bereich aufsetzen, sofern genügend Fantasie vorhanden ist. Und die war im ganz weiblichen Redaktionsteam reichlich, fast schon im Überfluss da. Ohne Einschränkungen und mit dem blinden Vertrauen gesegnet, alles tun zu können, was wir wollten, konnte das kaum unproduktiv sein.

Schöne neue Welt
Tun und lassen zu können, was man will, komplett frei zu sein in seinen Entscheidungen, ist ebenfalls eine dieser Utopien, die oftmals im Zusammenhang mit Science Fiction aufkommt. Diese und ihr exaktes Gegenteil, wie es etwa im Film „Equilibrium“ von Kurt Wimmer thematisiert wird. Wimmer baut sich darin eine Zukunftsvision, die stark an Aldous Huxleys Roman „Brave New World“ oder im gleichen Atemzug an George Orwells „1984“ erinnert, in der Identität und Individualität obsolet geworden sind. So ist auch jegliche Art von Emotion, sprich das, was Menschen antreibt oder im Umkehrschluss schließlich bremst, zur Gänze verschwunden. Wäre ein Leben ohne Emotionen denn wirklich einfacher? Oft wünscht man sich, Gefühle abschalten zu können. Natürlich nur dann, wenn sie weh tun, wenn einem das Herz gebrochen wird. Freude abzuschalten wäre absurd.

Nachdem die YOUKI eine Insel war und ist, die keine außenstehende Person jemals betreten kann, passieren dort ganz wunderbare und eigenartige Dinge, die sonst nirgendwo passieren können. Und weil die Insel keine Regeln festschreibt, fühlt man sich eingeladen, tun zu können, was man will. Man schafft sich also selbst eine Utopie, eine wirklich schöne neue Welt und lebt eine Woche darin. Dass sie zeitlich begrenzt ist, diese Welt, wissen alle Besucherinnen und Besucher, was wahrscheinlich alle noch ein Stück näher zusammenrücken lässt. Es ist alles sehr besonders und selig inmitten einer Stadt, deren Politik sich immer weiter nach rechts schiebt, deren Kultur von ein paar wenigen starken Pfeilern gehalten wird, aber keiner weiß, wie lange noch. Die YOUKI passiert in einer Blase, in der das alles kein Thema sein will. Das tut auch einmal ganz gut zwischendurch. Es ist eine Art kurze Zeitreise in eine Nicht-Zeit, in eine Parallelwelt vielleicht.

Science Fiction ist gesund
Die Besucherinnen, Mitarbeiter, Filmemacherinnen, Musiker und Partygäste, die kommen, wissen das. „Beyond Time and Space“ war vielleicht das offizielle Thema dieser Ausgabe des Festivals, lässt sich aber über so ziemlich alles spannen, was in seinem Rahmen in den letzten Jahren passiert ist und in den nächsten Jahren noch passieren wird. Ein bisschen Science Fiction schadet nicht. Auch, wenn sie nur im Kopf stattfindet. Und irgendwann schwelt auch die grausige Post-Festival-Depression ab und geht in Vorfreude auf die nächste YOUKI über. Irgendwann in den nächsten Monaten. Sie ist es halt auch wert.

ROBOT1490075

Im Rahmen der Magazinredaktion des YOUKI International Youth Media Festivals hat sich eine jugendliche Autorin Gedanken über eine grenzenlose Welt gemacht. Eine Welt, in der nur ein einziger Herrscher an der Macht ist. Der Herrscher aller unser, der Präsident der Erde.

Ich bete zu dem allmächtigen Herrscher aller unser,
dessen Leibe geschaffen aus uns allen,
die Perfektion im wahrlichen Sinne,
seine Worte die einzige Wahrheit des Staates.

Nur er.

Ich danke ihm für die Auflösung der Grenzen,
für die Wiedervereinigung des Staates,
für die Bestrafung und Robotertransformierung der Bösen,
für das Erschaffen und Einsetzen der Gedankenleser.

Führe uns für immer.

Nur du, O unser einziger Herrscher und Führer,
nur du schenkst uns Hoffnung in dunkler Stunde,
nur du, der uns alle gleich gemacht hat,
Nur dir wollen wir dienen bis an unser Lebensende,

Friede.

Sogar hier muss er seine verdammten Gebetstafeln aufstellen! Nicht einmal diesen sonst so unberührten Fleck Gestein hat er in Frieden gelassen.

Ich stehe an der Klippe. Gleich werde ich springen. Jetzt. Oder jetzt. Gleich werde ich wie ein Stein ins Wasser sinken. Nie mehr auftauchen. Für immer weg von hier, von diesem Staat voller Betrug und Drohnenüberwachung, weg von dieser betrogenen Gesellschaft, diesen teuflischen Gedankenlesern, dem schrecklichen Herrscher aller unser!

Hätte ich damals gewusst, wie viel schlimmer seine Herrschaft sein würde, hätte ich niemals Zellen für seine Erschaffung gespendet! Kein einziges Blutkörperchen hätte ich verschwendet an diesen Lügner. Aber damals was ich ja selbst noch fest überzeugt davon gewesen, dass er die Lösung für alles sein würde! Ein Herrscher, der alle Völker der Welt vereint, geschaffen aus den Zellen, dem Blut der Bevölkerung. Ein Herrscher, der Kriege verweigert, Kriegsflüchtlinge anderer Planeten bei sich aufnimmt, Programmierarbeitsplätze schafft für alle, unter dem jeder gleich viel verdient, und dessen Erscheinungsbild so perfekt ist, so wunderschön, so charismatisch, so sympathisch und so vertrauensvoll.

Meine Frau ist direkt verliebt in ihn, manchmal habe ich sie dabei erwischt, wie sie unanständige Dinge zu seinem gerahmten Videobild in der Maschinenkammer gesagt hat. Zum Glück wird sie bald nicht mehr meine Frau sein, zum Glück muss ich bald nicht mehr unter ihm leiden, denken.

Genau das ist es nämlich, ich denke.

Meine Frau hat das Denken schon vollkommen verlernt. Beinahe wie ein Roboter eilt sie durch die Gegend, ihr einziges Ziel, dem Herrscher aller unser möglichst gut zu dienen. Nicht einmal, als mein Onkel zur Strafe für das Brechen von Regel Nr. 5 527 895 (ihr Hausroboter muss jeden vierten Sonntag des Monats April zur Wartung geschickt werden) und Regel Nr. 8 965 662 356 (das Berühren von Menschen des anderen Geschlechts ist aus anti-sexistischen Gründen weder in der Öffentlichkeit noch im privaten Rahmen gestattet) zum Roboter transformiert wurde, zweifelte sie an ihm. Nicht einmal, dass mein Onkel jetzt in der Gemüseplantagenabteilung im Süden versklavt wird, gibt ihr zu denken. Der Herrscher aller unser hat ihr Hirn mit seinen Drohnen schon so weit fanatisiert, dass …

Ich muss springen. Weg von allem. Jetzt, jetzt, jetzt…

Als ich aufwache, lese ich auf dem in meinen eisernen Brustkorb gestanzten Schriftzug „ROBOT1490075—MÜLLVERWERTUNGSABTEILUNG00“. Ein Programm in meinem Hirn gratuliert mir zur gelungenen Transformation. Es teilt mir mithilfe des Lageplans (der sich in der Speicherkarte oberhalb meines dritten Greifarms befindet) mit, wie der Weg zur Müllverwertungsabteilung geht. Das Programm wünscht mir einen schönen Arbeitstag.
Ich danke dem wunderbaren Herrscher aller unser, der mich zu dem gemacht hat, was ich bin.

Ich bete zu dem allmächtigen Herrscher aller unser,
dessen Lei…

Gehsteigschriften – Schreibperformances im öffentlichen Raum

Das Projekt „Gehsteigschriften“ ist ein von Elisabeth Lacher initiiertes Performanceprojekt im öffentlichen Raum. Die Akteurin wählt hierfür Orte aus, die entweder temporär oder permanent Schauplatz des öffentlichen Interesses sind. Sie nutzt dort stattfindende politische Veranstaltungen und Ereignisse, um am Gehsteig einen persönlichen Gedanken niederzuschreiben. Die Referentin stellt vor.

Die Gehsteigschrift #1 fand am 13. November 2014 in Traiskirchen, Niederösterreich statt. Anlass war die öffentliche Debatte rund um das dortige Erstaufnahmezentrum für Asylsuchende. Am Abend des 13. Novembers fand am Traiskirchner Hauptplatz eine Kundgebung der FPÖ mit deren Obmann Heinz Christian Strache statt. Gegenüber demonstrierten SJ und Netzwerke gegen Rechts. Am Rand des Platzes ließ sich Elisabeth Lacher auf einen Gehsteig nieder und schrieb zwei Stunden lang mit Schulkreide die Frage „Wenn die ganze Welt lügt, wohin flüchte ich? If the whole world is a liar, where do I seek asylum?“ in Endlosschleife in Richtung Asylzentrum. Inmitten von PassantInnen, Neugierigen, MigrantInnen, Asylsuchenden, FPÖ-Fans und GegendemonstrantInnen stellte sie schriftlich eine leise Frage neben die lauten Reden des Abends.

Kunst hat die Möglichkeit, bei Menschen eine andere Resonanz zu erzeugen, als sie das alltägliche Leben normalerweise bietet. Das ist für die Akteurin ein wesentlicher Bestandteil der Performance. Sie will vorbeikommenden Personen eine alternative Sichtweise zur Verfügung stellen, als Angebot der persönlichen Reflexion. Durch die Gehsteigschriften soll auch sichtbar werden, dass es neben der üblich geführten öffentlichen Diskussionen und medialen Berichterstattungen noch viele andere, der eigenen Persönlichkeit angepasste Möglichkeiten gibt, öffentlich Stellung zu nehmen. Die Schreibperformances dienen auch als Sensor. Durch die Geschehnisse während der Performance lässt sich unmittelbar erkennen, inwiefern es an einem öffentlichen Ort möglich ist, temporär die eigene Meinung zum Ausdruck zu bringen.
Die Aktionen sind ein persönliches Statement, eine introspektive Auseinandersetzung sowie ein Aufbegehren, ein Sichtbarmachen und Handeln. Transformiert in Performances, in denen ein kleiner Denk- und Möglichkeitsraum in der Öffentlichkeit entsteht.

Die Gehsteigschrift #2 wird im Zuge der Landtagswahl im öffentlichen Raum in Linz stattfinden. Am Tag der Landtagswahlen wird die Schreibende auf einem Gehsteig in der Nähe des Linzer Landhauses die PassantInnen mit einer Frage zur Unterscheidung von Wahl und Entscheidung zum Nachdenken einladen. Gehen Sie an diesem Tag oder den Tagen danach – bis zum ersten Regen, der den Schriftzug fortschwemmen wird – doch einfach im Zentrum spazieren auf der Suche nach einer Frage, die mit Schulkreide auf einen Gehsteig geschrieben ist.

Gehsteigschrift #1 von Elisabeth Lacher.

Gehsteigschrift #1 von Elisabeth Lacher.

 

Elisabeth Lacher, geboren 1981 in Vöcklabruck/OÖ, lebt in Linz und bewegt sich in ihren Projekten im transdisziplinären Feld zeitgenössischen Kulturschaffens. Ihre Vision „Kunst gestaltet Gesellschaft“ ist die Grundlage ihres künstlerischen und kulturellen Tuns, sei es in der Rolle der Kunstvermittlerin, als Kuratorin oder als Akteurin im öffentlichen Raum. Ihre inhaltlichen Schwerpunkte sind verschiedene Aspekte von Öffentlichkeit, gesellschaftspolitischer Aktivismus und menschlicher Alltag. Sie hat unter anderem die Leonart 2013 zusammen mit toikoi zum Thema Gehsteig kuratiert.

 

Projektbericht der Gehsteigschrift #1 in Traiskirchen

Navigieren in physischen Erzählräumen – Ein Landgang bei Time’s Up

 

Seit beinahe zwei Jahrzehnten arbeitet Time’s Up von seiner Ankerstätte im Linzer Hafen aus an interaktiven Settings und Rauminstallationen, kollaboriert mit lokalen und internationalen Partnern und bereist mit den daraus entstehenden Projekten die Kunstwelt von Rotterdam bis Hong Kong. Zunächst vor allem mit abstrahierenden Interfaces und Großrauminstallationen beschäftigt, ist Time’s Up seit ein paar Jahren in der Kreation von intimeren Erzählräumen angekommen. In „Physical Narrations“, bei denen die Rezipienten die etablierte Erzählung erforschen, um- und fortschreiben können. Über Projekte, Prozesse und die Verankerung in Linz hat Wolfgang Schmutz mit Tina Auer und Timothy Boykett gesprochen.

Ich bin zum ersten Mal bei Time’s Up, auf jener Halbinsel, die den Linzer Hafen umspannt und von der Donau trennt. Daher steht zunächst ein Rundgang durch die Heim- und Werkstätte des „Labors für die Konstruktion experimenteller Situationen“ auf dem Programm. Zugleich: Was könnte ein solches Gespräch besser einleiten, als durch jene Produktionsstätte zu spazieren, in der sich die materiellen Versatzstücke aus 20 Jahren Arbeit zu einer eigenen Topografie zusammenfügen? Mischt sich hier doch der materielle Fundus vergangener Projekte mit Transportbereitem für kommende Ausstellungen. Hier ein Bullauge mit mechanischen Wellen für das Projekt „Mind the Map“, das den Fluchtraum Meer thematisiert, demnächst im zeitgenössischen Kunstzentrum „le lieu unique“, in Nantes. Dort der Schrankkoffer von „Unattended Luggage“, mit dem die Migrationserfahrungen der fiktionalen Familie Freudenstein zwischen New York und Österreich erzählt werden. Ihre Österreichpremiere feiert diese Rauminstallation in Bälde beim paraflows X festival in Wien.

Materialien, Objekte und Installationselemente finden sich bei Time’s Up nicht nur im Lager, wo einst Gabelschlüssel und anderes Werkzeug der DDSG auf den Regalen lagen, sondern auch an einzelnen Arbeitsplätzen. Für ein gewisses Maß an Entropie sorgen auf Tischen, Werkbänken und Regalen nicht zuletzt die Spuren, die von verschiedenen Personen während unterschiedlicher Projekte hinterlassen wurden. Und diese Spuren erzählen neben dem Arbeitsprozess eben auch von den individuellen Akteuren. Sie zu lesen, braucht hier den Insider-Blick und Rahmenerzählungen zu Projekten und Personen. In den Projekten selbst jedoch versucht Time’s Up solche Spuren zu einem möglichst unmittelbaren Interaktionsauslöser mit dem Publikum zu machen: Die gestalteten Räume bzw. „Welten“ laden dazu ein, sich als Proto-Detektiv zu betätigen, zu ergründen, wer da gerade nicht da ist, warum nicht und was die hinterlassenen Spuren als Indizien darüber erzählen.

In der Regel erforschen und bespielen die Ausstellungsbesucher_innen die Rauminstallationen. Einmal hat Time’s Up sich auch selbst mitinszeniert. Beim Microwave-Festival in Hongkong stand 2011 eine Kopie der eigenen Küche, die in der Heimstätte im Linzer Hafen als kommunikatives Herz fungiert. In der Replik wurde so wie im Original gekocht, gegessen und geredet. Auf Basis von Kürbiscremesuppe, Schweinsbraten und Apfelstrudel. Den Blick auf die Donau ersetzte jener auf den Hongkonger Victoria Harbour. Das Setting sei schon merkwürdig gewesen, wie sich Tina Auer erinnert. Aber das vertraute Geräusch der Espressomaschine, der Geruch von Kaffee hätten schließlich dazu beigetragen, dass sie sich selbst auf das Szenario einlassen konnte. Und das war im dortigen Kontext durchaus gegen den Strich gebürstet: Fünfzehn internationale Medienlabors waren eingeladen, sich selbst zu präsentieren, dokumentarisch und mit einem Gegenwartsbezug. Time’s Up erfüllte diese Vorgabe auf eigene Weise, dokumentierte sich mit dem Kommunikationszentrum Küche und verstand die darin stattfindende Kontakte als Gegenwartsbezug.

Das Augenzwinkern ist aber offenbar auch in der Homebase nicht fremd. Davon erzählt nicht zuletzt die kleinteilige Tapezierung der Wände mit reichlich Schiffsromantik-Kitsch und Elvis-Fotos. Man fühlt sich hier rasch wohl, es lässt sich gut andocken. Wie zum Beweis dafür trinkt Leo Schatzl in der Original-Küche Kaffee und scherzt darüber, dass er jedesmal bei Hausführungen da sitzen muss, als bewegliche 3D-Installation. Mit Künstlern wie ihm und David Moises fungierte Time’s Up in der Vergangenheit etwa als temporäre Schiffswerft und nannte dies „Time’s Up Boating Association“ (TUBA). Was für dieses Projekt galt, gilt auch für andere als Modell der Zusammenarbeit: Um ein Kernteam von fünf bis sechs Personen gruppieren sich, projektbezogen und in unterschiedlicher Intensität, Kunstschaffende, Konsultierende, Grafiker_innen. Man versuche, daraus eine nachhaltige Zusammenarbeit entstehen zu lassen, ohne in zu starre Muster zu geraten, wie Tina Auer betont. Schatzl und Moises sind zwei Beispiele für langjährige Reisegefährten, neben Projektpartnern wie dem belgischen Netzwerk FoAM, das sich ebenfalls mit spekulativen Zukunftsszenarien beschäftigt, oder dem M-ITI (Madeira Interactive Technologies Institute), das interdisziplinär im Feld der Mensch-Computer-Interaktion forscht.

So offen und zugleich treu sich Time’s Up in der Partnerwahl gibt, so beständig ist auch die Neugierde auf neue Projekte und Prozesse. Thematische Ausgangspunkte liefern dafür in der Regel die eigenen Interessen. Ziel ist es, daraus Szenarien, also Erzählräume zu schaffen, in denen das Publikum explorativ unterwegs ist. Eine hohe haptische Qualität der Installationen sei dabei wichtig, sagt Tina Auer. Zum einen schaffe man damit einen Einstieg, ähnlich dem filmischen „Establishing Shot“. Zum anderen bekomme so auch jenes Publikum etwas, das sich nur oberflächlich auf das Szenario einlässt. „Wenn die Leute jedoch tiefer eintauchen“, ergänzt Timothy Boykett, „kriegen wir Geschichten von ihnen zurück, die oft viel spannender sind, als das, was wir uns selbst ausgedacht haben“. Die Herausforderung liege darin, Navigationsaspekte einzubringen, Orientierung für die Rezipienten zu schaffen, aber dabei eine Dramaturgie zu finden, die genug offen lässt. Gelingt dies, erlebe man immer wieder neue Überraschungen, auch dann noch, wenn man ein Projekt zum zwanzigsten Mal aufbaut. Dass Berühren auch Berührendes generieren kann, erfuhr man im Austrian Cultural Forum New York. Dort brachte die Installation von „Unattended Luggage“ Besucher_innen dazu, ihre eigenen Familiengeschichten zu erzählen, die mit der fiktiven der Familie Freudenstein enge Verwandtschaft hatten.

Hält Time’s Up solche Prozesse eigentlich fest? Für Momente wie in New York aber auch für andere Interaktionen von Besucher_innen sei die eigene Präsenz die relevanteste Form der Dokumentation, sind sich Timothy Boykett und Tanja Auer einig. Ein Fragebogen helfe hier kaum weiter, da jede Unmittelbarkeit dabei verloren geht. Erlebnisse bei Ausstellungen trägt Time’s Up gelegentlich in das „Loose Diary“ ein, das online betrieben wird, im Wesentlichen aber fließen sie in den Erfahrungs- und Erinnerungsschatz der Beteiligten. Ein Patentrezept, wie man vorgehe, eine gültige Formel habe Time’s Up zudem nicht. „Wir haben nur eine Ansammlung von Beobachtungen, Dinge die funktioniert haben, Dinge, die in die Irre geführt haben, Fragen, die wir uns gestellt haben und die wir als wertvoll erachtet haben“, führt Timothy Boykett aus. „Aber wir behaupten nach wie vor, dass wir weit davon entfernt sind, zu wissen wie man in einem dreitägigen Workshop von einem Konzept zu einer fertigen Physical-Narrativ-Planung kommt.“ Das Erzählsystem aufzusetzen, die Storyworld und die Charaktere samt ihrer Hinter- und Beweggründe zu entwerfen, könne dann schon langwierig sein, aber es sei ihnen eben wichtig, stets aufs Neue interessante Darstellungsmöglichkeiten und Interaktionen zu erproben.

Dass man auf dieser stetig Erfahrungen generierenden Reise durchaus ambitioniert unterwegs ist, davon zeugen die Projekte, die man im europäischen Kontext veranstaltet hat, wie PARN, “Physical and Alternate Reality Narratives” und zuletzt das alternative Zukunftserzählungen verhandelnde “Future Fabulators”. Dass die Reise meist weit weg geführt hat, ist daran abzulesen, dass die Mehrzahl der Aktivitäten im Ausland stattfand, bei aller lokaler Kooperation, etwa mit der Ars Electronica oder dem KunstRaum Goethestrasse. Time’s Up liege in Linz vor Anker, aber nicht fest, meint Timothy Boykett. Oder wie es Tina Auer formuliert: „Es gab für mich keinen Grund nach Linz zu kommen, es gibt keinen zu bleiben und auch keinen wegzugehen.“ Um gleich zu relativieren: Natürlich habe es in Linz eine prozessorientierte Kulturpolitik gegeben, als sie kam, Experimente wurden zugelassen, die Atmosphäre war offen. Was Wunder, wenn am Ende des Gesprächs beide ihre Skepsis angesichts aktueller Entwicklungen im Heimathafen Linz anmelden. Kreativität und Kunst gleichzusetzen, nach dem Motto: „If you are so clever, why aren’t you rich“, sei ein schwerer Fehler. Außerdem gehe durch die beinahe ausschließliche Hinwendung zu Großevents die Wertschätzung für längerfristige Prozesse verloren. Und davon versteht Time’s Up immerhin etwas.

www.timesup.org

Aktuelles Projekt: Mind the Map
Die aktuelle Auseinandersetzung mit dem Themenfeld Migration steht im Zentrum von Mind the Map, der neuesten künstlerischen Arbeit von Time’s Up. Erarbeitet als „physical narrative“ – einer Erzählung, inszeniert im realen Raum und vom Publikum explorativ erfahrbar. Thematisch konzentriert sich das Projekt Mind the Map auf Praktiken der europäischen Migrations- und Asylpolitik, insbesondere auf die Flüchtlingsströme im Mittelmeer. Anhand der Lebensgeschichte einer fiktiven Figur werden die verschiedenen Ebenen der Auswirkungen des europäischen Umgangs mit Flucht und Migration auf das Leben und Handeln von uns allen diskutiert: Wie können, sollen und müssen Konzepte für eine europa- und weltweite Koordination von Migration aussehen, um den verschiedenen Anforderungen, den humanitären jedoch zuallererst, gerecht zu werden?
Times’s Up erweitert und vernetzt die gebräuchlich beschriebenen Grenzen der Disziplinen Kunst, Technologie, Wissenschaft und Unterhaltung.

Präsentiert wird Mind the Map
in Nantes/Frankreich im le lieu unique –
Zentrum für Gegenwartskunst
im Zeitraum vom 15. 9.–11. 10. 2015

www.lelieuunique.com
www.timesup.org/ffab/mtm/nantes

Ich habe mir meine Handlungsspielräume genommen

 

Von einem MAERZ-Mitglied zum anderen: Karin M. Hofer hat mit der „Ikone und Rebellin“ VALIE EXPORT über Kunst, Feminismus und Linz gesprochen. Der Anlass: Der Grundstein für das neue Linzer VALIE EXPORT Center wurde dieses Jahr gelegt.

Am 21. September wird im Museum Ludwig in Köln der Film „Ikone und Rebellin“ zur Person VALIE EXPORT erstmals gezeigt. Wie lange haben denn die Dreharbeiten gedauert?
Schwer zu sagen, zusammengefasst vielleicht ein bis eineinhalb Jahre. Die Drehtage, die mich betrafen, waren 15 Tage, davon einige Tage in Norwegen, Wien, Linz …

Haben Sie die Rohfassung schon gesehen?
Die Rohfassung des Filmes habe ich kurz gesehen, würde aber nie in die Gestaltung eingreifen; Das ist die Arbeit, das Werk der Regisseurin, Claudia Müller. Ich stellte ihr Material zur Verfügung, das sie wollte beziehungsweise was mir zu zeigen wichtig war, aber die Gestaltung ist jene der Regisseurin, natürlich wie immer.

Wie sehen Sie aus heutiger Sicht, mit heutigem Wissensstand auf ihre vergangenen Schaffensphasen zurück? Ist es Ihnen möglich, die Künstlerin im Film von ihrer heutigen Person zu trennen?
Nein, das könnte ich nicht, so etwas kann ich nicht. Nein … Das ist eine Identitätssache, diese Identitäten kann ich nicht abstrahieren.

Sie sind ja in Linz aufgewachsen, wie sahen sie das Kulturleben in Linz und was waren Ihre ersten künstlerischen Eindrücke?
Ja, ich bin in Linz aufgewachsen, aber das künstlerische Leben dort war sehr beschränkt. Ich hatte in der Neuen Galerie Kubin für mich entdeckt, meine Mutter hatte ihn mir nahegebracht. Sonst war aber nichts los. Es gab noch das Landesmuseum, aber soweit ich mich erinnere, waren dort keine besonderen Ausstellungen zu sehen. Aber das ist eben schon lange her.

Gab es Arbeiten von Ihnen, die in Linz entstanden sind?
Naja, in Linz weniger … In Linz war ich auf der „Kunstgewerbe“ und dann bin ich nach Wien übersiedelt. Aber jedoch mein erstes Selbstportrait ist mit 15 Jahren in Linz entstanden.

In der MAERZ fand ja eine ihrer frühen Performances statt …
Ja in der Maerz-Galerie, 1973 mit dem Titel „KAUSALGIE“. Soweit ich mich erinnere, ist der damalige Leiter der Maerz zurückgetreten. Zu dieser Zeit habe ich aber schon in Wien gelebt.

Vermutlich haben Sie sich bei ihren Performances lange überlegt, ob sie es wirklich in der Weise machen wollen. Weil es ja auch sehr belastend war und fordernd.
Sicher, das ist alles ganz genau überlegt. Manchmal während der Performance merkte ich, ich hätte noch etwas hinzufügen können. Wenn ich die Performance nochmals zeigte, machte ich das eventuell, erweiterte sie. Aber jede Performance, jede Aktion hängt auch vom Publikum und der Rezeption ab, es ist ein interagierender Prozess.

Wie genau war eine Choreographie geplant?
Überhaupt nicht, es war ein gewisser offener Ablauf vorhanden. Ich habe versucht, einen gewissen Zeitplan einzuhalten. Ein ungefährer Ablauf war schon geplant, weil es um verschiedene Schichten, Prozesse und Themen ging, ausgeführt mit verschiedenem Materialen und Medien. Vor der Performance ist natürliche Spannung vorhanden, danach muss man sich mit den Reaktionen und Angriffen auseinandersetzen. Das gehört auch dazu …

Für eine damals konservative Umgebung wie Linz stelle ich mir das spannend vor, wurde das von den anwesenden Rezipienten als Kunst verstanden?
Die wenigen Leute, die ich in Linz kannte, wie etwa Helmut Gsöllpointner und andere Künstler haben das verstanden, es fanden auch Gespräche statt. In dieser Zeit, als ich KAUSALGIE machte, stellte gerade Hermann J. Painitz in Linz aus, er war auch anwesend.
Anfang der 70er Jahre waren aktuelle Kunsttendenzen nicht ganz unbekannt, anders als während der 60er Jahre, es fanden Auseinandersetzungen um kulturelle Entwicklung statt.

Ein großer Unterschied zu Wien?
Na, es war anders, Wien ist schon eine sogenannte „Hauptstadt“. Es war allerdings in den 70er Jahren genauso restriktiv, konservativ und geprägt von der Nach-Kriegszeit. Es veränderte sich aber Vieles in der Ära Kreisky. Obwohl natürlich konservative Kreise auch ihren Teil dazu beitragen, da sie zu künstlerischer Opposition herausfordern. Opposition verstärkt die Utopien.

War das für Sie ein Ansporn zu Ihrem künstlerischen Tun?
Ansporn nicht, eher Selbstverständlichkeit. Wenn ich mich dem Gegebenen nicht anpassen will und kann, mache ich etwas anderes, provoziere das Gegebene. Aber als Auseinandersetzung, Ansporn ist nicht das richtige Wort.

Sie haben sich auch sehr früh mit Film- und Videotechnik auseinandergesetzt. War es auch bei Ihnen so, dass sie sich technische Kenntnisse selbst aneignen mussten?
Der Grund, warum man Video bzw. Digitaltechnik heute verwendet, unterscheidet sich grundlegend vom Ansatz der 70er Jahre. Mit der Film- und Videotechnik mussten wir uns eigenständig auseinandersetzen. Es hat keine Lehrenden gegeben. Ich habe dann zwar selbst in den 70er Jahren auf der Linzer Kunsthochschule Video unterrichtet, ich musste mir dazu die Technik immer ausleihen von einem Videogeschäft.

Von Ihnen stammen ja Experimentalfilme, die heute als kunsthistorische Meilensteine gelten – was ist aus heutiger Sicht dazu zu sagen?
Sie sind zu ihrer Zeit entstanden, sie haben immer noch ihre Gültigkeit, weil sie sich auf eine bestimmte Weise mit Medium und Inhalten beschäftigten, und durch sie eine Entwicklung sichtbar wird. Es sind Arbeiten, die im Laufe einer künstlerischen Auseinandersetzung entstehen.

Gibt es aus ihrer Sicht Arbeiten, die Sie als besonders wichtig oder als Wendepunkte betrachten?
Nein, könnte ich nicht sagen …

Empfinden Sie die Gesellschaft heute als freier als in den 70er Jahren?
Es sieht anders aus, das Restriktive zeigt sich heute in anderen Zusammenhängen. Trotzdem sind Restriktionen nach wie vor vorhanden, es ist sehr schwer, die Probleme der jetzigen Gesellschaft zu lösen – wie etwa die Flüchtlingsprobleme jetzt, vor allem die der Kinder, die unter traumatischen Umständen zu Flüchtlingen geworden sind und ihre Identität für die Zukunft erfassen und aufbauen müssen. Etwas, das gelöst werden muss; ignorieren verschärft die Situation, die Menschlichkeit fordert eine Lösung. Wie die Probleme gelöst, entschärft werden können, ist allerdings momentan sehr schwer darzustellen…
Wir hatten damals andere Probleme.

Es geht wohl um Handlungsspielräume. Am Beginn der 70er Jahre etwa waren die Handlungsspielräume von Männlich oder Weiblich noch sehr eingeschränkt.
Nicht für mich, ich habe mir den Spielraum genommen. Andere haben das nicht getan. Die Handlungsspielräume sind heute auf andere Weise wieder begrenzt. Es ist zwar eine scheinbare Toleranz da, aber wenn man genau hinterfragt, ist die Toleranz sehr eng angelegt.

Das hängt sehr stark damit zusammen, was die/der Einzelne für möglich hält …
… was man tut, oder umsetzt …

Sie arbeiten nicht nur als Künstlerin, sondern auch als Kuratorin; Wie gehen Sie vor, wenn Sie Arbeiten von Anderen auswählen?
Die erste kuratorische Arbeit war 1975 die Organisation von „MAGNA. Feminismus: Kunst und Kreativität“, was nicht einfach war. Es gelang mir dann eine Ausstellung in Österreich (Anm.: Galerie nächst St. Stephan in Wien) von Künstlerinnen zur organisieren, im internationalen Rahmenprogramm waren auch männliche Vortragende vertreten.

Verstehen Sie sich nach wie vor als Feministin? Was ist Feminismus heute?
Natürlich sehe ich mich als Feministin, denn man kann nicht Feministin gewesen sein …
Aber natürlich in dem Kontext, in dem Feminismus entstanden ist, den ich zum Teil auch mitgeprägt habe. Bis heute sind ja die ökonomischen oder sozialen Verhältnisse immer noch ungleich. Im globalen Zusammenhang ist ja offensichtlich, wie immer noch Frauen benützt und eingesetzt werden – auch durch Kulturen und Religionen, was ja bei uns genauso war. Feminismus ist aber in expandierenden Zeitprozessen immer wieder anderen Kontexten zugeordnet.

Es hängt bis heute von Kultur und Erziehung ab, wie frau sich Dominanzgebaren gegenüber verhält … Ob es möglich ist, neue Handlungsweisen zu erproben.
Das ist schon richtig, allerdings, welche Frau kann sich in den repressiven Staaten selbst erproben oder selbst unabhängige Handlungsweisen setzen. Das ist etwas völlig Unmögliches. In den 1960er Jahren war die Auseinandersetzung mit kulturellen, gesellschaftlichen Unterschieden noch nicht so stark vorhanden, so stark im Bewusstsein, auch das Wissen von den kulturellen oder religiösen Unterschieden war noch nicht so deutlich angesprochen.
Ich habe es einmal in den USA der späten 1970er Jahre bei einer feministischen Diskussion erlebt, dass sich eine Afroamerikanerin zu Wort meldete und klar und deutlich feststellte: „Wo sind wir? Ihr sprecht immer nur von weißen Frauen und ihrem Feminismus. Wir, die auch in Amerika leben, wo sind wir dabei?“ Das ergab eine interessante und heftige Diskussionsbasis. Bei einer anderen Diskussionsveranstaltung in Deutschland zur weiblichen Genitalverstümmelung meinte eine afrikanische junge Frau in der Diskussion mit deutschen Feministinnen: „Wir bestimmen selbst, wie wir mit diesem Problem umgehen. Wir kümmern uns schon selbst darum, ihr braucht uns nicht zu sagen, wie wir vorgehen sollen. Wir müssen es selbst tun und wir tun es auch selbst.“ Dort prallte der europäische Feminismus auf einen Feminismus, der aus einer anderen kulturellen Zuordnung entsteht. Ich habe auch eine Installation zu diesem Thema für eine Ausstellung in Berlin gemacht.

Selbst Vorschläge von außen wirken leicht arrogant; in manchen Kulturen sind ja die Handlungsmöglichkeiten sowohl von Männern als auch von Frauen sehr eingeschränkt.
Genau, Feminismus ist eine politische Haltung, die je nach Kultur oder Religion ganz anders erarbeitet werden muss. Männer haben die Möglichkeit, Identität mit Macht- und Gewaltverhalten zu erreichen, Frauen verweigern sich dieser Identitätsbildung. Aber das kann nicht alleine mit Diskussionen gelöst werden, das ist ein langer Prozess.

Zurück zur Kunst: Was würden Sie jungen KünstlerInnen heute raten, um ihre Anliegen zu verwirklichen?
Naja, sie müssen konzentriert arbeiten, viel experimentieren, nicht sofort glauben, das ist jetzt das Kunstwerk. Die Dinge von ganz verschiedenen Seiten her betrachten, analysieren. Viele Variablen kommen von verschiedenen Kontexten. Wie ein Gedanke in einer andern Kultur sich ausdrücken lässt. Das ist ein künstlerisch-reflektierender Prozess. So könnten Arbeiten entstehen, mit denen die jungen Künstlerinnen und Künstler zufrieden sind.

Sie haben wahrscheinlich auch vieles, das sie sich ursprünglich überlegt haben, wieder verworfen …
Sagen wir eher, liegenlassen …

Eine abschließende Frage: Was sind Sie bisher noch nie gefragt worden?
Keine Ahnung (lacht).

 

Das VALIE EXPORT Center in Linz.

Linz erwirbt im April 2015 das VALIE EXPORT Archiv. Der Vorlass besteht aus Kunstwerken, Skizzen, Entwürfen, Negativen und weiteren umfangreichen Archivmaterialien aus dem Schaffen der in Linz geborenen Künstlerin. Das Archiv wird in den Sammlungsbestand des LENTOS Kunstmuseum eingebracht, das damit die größte Erweiterung seit Ankauf der Sammlung Gurlitt in den 1950er-Jahren erfährt. Mit diesem Schritt legt die Stadt Linz gleichzeitig den Grundstein für den Betrieb eines VALIE EXPORT Centers, einer internationalen Forschungsstätte für Medien- und Performancekunst.

Das VALIE EXPORT Archiv umfasst neben mehreren Kunstwerken wichtige Dokumente und Werkskizzen zu allen Schaffensperioden. Darin enthalten sind u. a. Projektskizzen, Konzepte, ein umfassendes Foto-, Film- und Videoarchiv, Korrespondenzen, Informationsmaterialien (Plakate, Folder etc.), Zeitungsausschnitte (Rezensionen, Reportagen etc.) und eine Bibliothek sowie Originale zu verschiedenen Werkgruppen.

Aufbauend auf dem VALIE EXPORT Archiv wird die Stadt Linz in Kooperation mit der Universität für künstlerische und industrielle Gestaltung Linz ein international ausgerichtetes Forschungszentrum, das „VALIE EXPORT Center. Forschungszentrum für Medien- und Performancekunst“ betreiben. Der VALIE EXPORT Center ist damit neben dem Adalbert-Stifter-Institut des Landes OÖ. die zweite Forschungsstätte in Linz, die sich explizit dem Werk einer bedeutenden KünstlerInnenpersönlichkeit dieser Stadt widmet.

Ziel des Forschungszentrums ist es, professionelle Rahmenbedingungen für die wissenschaftliche Erforschung und Aufarbeitung des Archivs und die Vermittlung seiner Inhalte zu schaffen und dessen öffentliche Zugänglichkeit zu ermöglichen. Als Standort ist eine Unterbringung in der Tabakfabrik Linz vorgesehen.

Das VALIE EXPORT Center nahm mit Juni 2015 seinen Betrieb in Form einer Aufbauphase auf. Voraussichtlich ab 2017 beginnt das Center seinen Regelbetrieb. Mit kuratierten Einblicken kann man laut Pressekonferenz aber bereits 2016 rechnen.

highly emotive, introspektiv

 

Noch bis Anfang Oktober ist im Lentos die bisher größte Einzelschau einer der international einflussreichsten Künstlerinnen zu sehen: Cathy Wilkes hat Disparates installiert, Figuratives, Objekthaftes. Eine Menge Beziehungsgeflechte ermöglichen weitläufige Gedanken. Wer traut sich in den großen, spärlich befüllten Raum?

Dass das Werk der britischen Künstlerin mit Emotionen zu tun hat, scheint common sense in der Besprechung von Cathy Wilkes – und ist wohl auch wesentlicher Teil ihres Werkes. Betritt man den großen Raum, und die Autorin hat dies unter gänzlich verschiedenen Umständen getan, einmal bei der gut besuchten Ausstellungseröffnung, ein anderes Mal an einem Ausstellungstag, der weniger Besucherinnen und Besucher bereithielt, empfängt einen zunächst einmal der Raum selbst. Ein Raum, der ob der weitgehenden Leere zuerst unerwartetes Durchatmen ermöglicht, während man eine verloren wirkende Objektgruppe ausmacht, die sich trotz Abwesenheit von mächtiger Masse behauptet.
Nähert man sich der Objektgruppe, den „Figuren und Objekte von 5 Arbeiten“, oszilliert ab dem ersten Moment das Empfinden zwischen großer Würde, existenzieller Schäbigkeit, Detailreichtum und Verlust – eine Gemengelage, die vielleicht bezeichnend für das innerliche Dasein schlechthin ist, oder sogar für eine Seinsgeschichte der Menschheit selbst. Innerhalb der begehbaren Installation wird der neugierige schweifende Blick gefangen genommen von minimiert wirkenden Puppenfiguren, die in Brokatgewändern die Reste einer großen, lange vergangenen Zeit zu zitieren scheinen, ein anders Mal in beklemmende Ärmlichkeit gehüllt Assoziationen zur näheren Zeitgeschichte oder den aktuellen humanitären Katastrophen wecken. Gemeinsam mit Scherben, Objekten und kleineren Gegenständen sind Figuren zu eindeutigen und doch rätselhaften Szenerien verwoben; ein größeres Gebilde am Boden oder einige winzige Bündel vermeint das menschliche Auge als qualvoll verendetes Tier oder als mehrere am Boden liegende Säuglinge zu erkennen.

„Säuglinge“, die so gar nichts mit lebensecht nachgebildeten Puppen zu tun haben, sondern vielmehr in einer hohen Kunst der Minimierung manchmal lediglich aus einem Stück Knäuel und Stoff bestehen: Diese figurativen Elemente, die sich bei genauerem Hinsehen lediglich als Fragmente „von etwas“ erweisen, beziehungsweise das erahnte „Ganze“ lediglich innerhalb des Gesamtsystems der Installation spürbar machen, wirken in der Beobachterin, im Beobachter wie unmittelbar abrufbare Trigger, die etwas Starkes auslösen. Man möchte etwa diese herzzerreißend verloren wirkenden Bündel aufheben und in den Arm nehmen. Und vielleicht gerade deshalb, weil man über das Konkrete im objekthaften Geschehen nichts wissen kann, treten an die Stelle dieses Nicht-Wissen-Könnens die triggerhaft ausgelöste Erinnerung an persönliche Emotion, der Instinkt oder Bilder von gemeinsamer kultureller Erfahrung. Beziehungsweise tritt man möglicherweise selbst mitten hinein in ein Bedeutungs- und Beziehungsgeflecht, das Will Bradley als das Wesentliche für Wilkes‘ Arbeit identifiziert hat: „Den Versuch, sich auf ein System von Objekten einzulassen in vollem Bewusstsein um die komplexen Bedeutungen und Beziehungen, die ein solches System hervorbringen kann“1.

Als Besonderheit der Ausstellung sei an dieser Stelle angemerkt, dass selten der Unterschied von fotografischer Objekt-Abbildung und einer tatsächlich räumlichen Präsenz und Wirkung von figurativen Szenerien so deutlich hervortritt wie bei Cathy Wilkes Arbeit. In diesem Zusammenhang sei auf das veröffentlichte Bildmaterial der „Puppen“ und „Figuren“ verwiesen, die in der räumlichen Präsenz des Ausstellungsraums zweifelsohne andere Wirkungen entfalten. Und ebenso an dieser Stelle angemerkt sei eine andere Beobachtung, die aus den eingangs erwähnten unterschiedlichen Situationen der Ausstellungsbesuche resultiert: Wurden bei der Ausstellungseröffnung die Besucher und Besucherinnen, sozusagen aus der Ferne beobachtet, in dieses begehbare und rätselhafte Environment aus existenzieller Würde und Not wie von selbst involviert, sieht man sich jenseits einer Ausstellungseröffnung der einsameren und auch analytischeren Involvierung der eigenen Person in dieses System gegenüber.

Cathy Wilkes Arbeiten werden wegen ihrer unmittelbaren Wirkung oft mit Begriffen aus dem Theater beschlagwortet: als Bühnenbild, Kulisse, Kammerspiel in Moll – oder ähnlichem. Etwas ist passiert, etwas wurde (oder wird) gespielt in diesem Bühnenbild; in einem Environment von Kulisse oder Szenerie, wo Figuren oder BesucherInnen gleichermaßen zu DarstellerInnen gemacht werden können. So versammeln die „Figuren und Objekte von 5 Arbeiten“ verschiedene Werke – unter anderem etwa zwei bei der Biennale 2013 gezeigten Werke, „Ohne Titel (Possil, at last)“, „Ohne Titel (Biggar)“, sowie „Ohne Titel, Tramway“ von 2014 aus Glasgow. Anstatt einer herkömmlichen Werkschau wurden sie neu arrangiert und neu zueinander in Beziehung gesetzt. Ein künstlerischer Zugang, den der Tate-Kurator Nick Hackworth bereits anlässlich Wilkes Turner-Preis-Nominierung 2008 als „constantly involving installation“ bezeichnet hat und auch aktuell gemeint haben könnte.2
Dies ist insofern interessant, als dass durch das ständig neue miteinander in Beziehung setzen der Einzelbestandteile immer neue Aufladungen und Wirkungen zwischen den Objekten entstehen – und diese immer etwas andere Auswahl oder Anordnung von Objekten die starke Aufladung erklärt. Auf der Ebene „eines Geschehenen, einer Geschichte“ gibt es an das Werk Wilkes, neben den Begriffen aus dem Theater, auch eine Annäherung über den Begriff der Archäologie (etwas ganz anderes war in einer anderen Zeit) oder der des Traumes (etwas passiert auf einer anderen Realitätsebene oder im persönlichen Zeitsprung); und die BeobachterInnen sind aufgerufen, sich mit diesem Vergangenen, mit diesem kulturell Erinnerten – oder auch mit dem ins Abseits geratene, mit dem Verlust, mit diesem Eingefrorenen – gleichsam als lebendige Archäologen ihrer eigenen Assoziationen auseinanderzusetzen. Cathy Wilkes spricht selbst davon, „Mut zum Sehen“ zu machen.
Andererseits eröffnet dieser Zugang, sozusagen im weit aufgeschlagenen Inbetween von Theater, Traum und Archäologie, eine Interpretation eines künstlerischen Zugangs, der wie eine künstlerische Formabwägung auf die Wahrnehmung von Welt rückwirkt: So sind Teile der 2014er Glasgow-Präsentation „Ohne Titel“ in Glasgow entlang eines Tramway-Schienenstrangs angeordnet worden, der das Gefühl von „etwas ist passiert“ auch als Tatort konnotiert, und damit die BesucherInnen quasi zu Zeugen eines Geschehnisses – oder Zeugen ihrer subjektiven Sicht auf die Geschehnisse – macht.

Ist die Welt nun eine untergegangene Zivilisation, eine Erstarrung, ein Schaupiel, ist sie ein Ort der Betrachtung, der Introspektion, oder ist sie ein Tatort? In der Lentos-Schau erscheint diese Formabwägungen jedenfalls gut ausbalanciert zu sein zwischen der bereits angesprochenen Installation und zwei weiteren Tableaus, die vielleicht eher auf das museale Element Bezug nimmt: Auf zwei weiteren Plattformen sind auf Metallgittern kleinere Objekte befestigt (Bilder, Holz, Metall, Aussortiertes, Alltagsgegenstände, Puppen, Maschinenteile, anderes). Das Metallgerüst rückt die Objekte in Distanz, macht sie im Gegensatz zur anderen Installation unbegehbar. Ist die Welt also doch auch, trotz dieser involvierenden Aufladungen, trotz der eigenen Involvierung, sozusagen auch distanziert oder sogar museal betrachtbar?

Ein wichtiger abschließender Aspekt, der hier angesprochen sein soll, ist die Frage, ob Cathy Wilkes Werk politisch ist. Die Frage drängt sich im Zusammenhang mit Wilkes innerlich-subjektiver Rezeption ihres Werkes geradezu auf – noch einmal Nick Hackworth im O-Ton: „emotive, highly individual“. Im neuen Lentos-Ausstellungkatalog bevorzugte man das Wort „introspektiv“, das sicherlich zutreffend ist, erkennt man doch in Wilkes Arbeit eine Geometrie, eine genaue „innere“ Vermessung, Überprüfung und Ausbalancierung von Gegebenen. Lentos-Direktorin Stella Rollig verweist im Zusammenhang des Politischen auf die feministische Bürgerinnenrechtsbewegung-Parole „Das Private ist politisch“ – und auf die soziale Dimension des Familiären, des Ökonomischen, konkret etwa der Fabrikschließungen (die in „Possil“ verhandelt werden oder dem Verfall der Stadt „Biggar“).3 Zweifelsohne erweckt die Lentos-Schau darüberhinaus Assoziationen mit Not, Verlust, Flucht und Menschenwürde, appelliert sozusagen auch an das sozialpolitische Gewissen der Menschen – wenngleich diese Wirkung auch nicht in ihrem direkten Zweck intendiert sein mag. Dass Cathy Wilkes das Innerste des Menschen aber sehr wohl als in Not geratenen Hort der äußeren Welt verortet, könnte eine Ausstellungsbeteiligung belegen, die 2013 im Kunsthaus Bregenz unter dem Gesamttitel „Liebe ist kälter als das Kapital“ stattfand. Hier standen bei Wilkes beinahe nackte Schaufensterpuppen an der Supermarktkasse, Konsumreste lagen am Förderband. Auch hier drängt sich eine Idee von Reste-Reduktion auf, sozusagen als quantifizierbare Restemotion im Inneren, oder eine Müllmaterialität, die nur mehr auf Konsum-Trigger zu reagieren fähig ist. Und als Titel der Gesamtschau „Liebe ist kälter als das Kapital“ benannte dieser Zusammenhang das Innere in seinem vielleicht bittersten Verlust. Insofern stimmt die Lentos-Schau geradezu hoffnungsfroh, da sie trotz der bereits angesprochenen Themen des Verlustes und der Not eine ungemeine Schönheit, Würde und Fähigkeit des Menschen anerkennt: die Fähigkeit des Sehens, des Nachspürens von detailreicher Materialität, der Sensorik, dem Raumempfinden. Und vielleicht als politischste Aussage überhaupt macht es die eigene innere Sicherheit zum einzigen Ort der Überprüfung der äußeren Faktenlagen.

Bleibt am Schluss noch zu sagen: Es liegt ein wenig im Wesen der Schau, streunende, staunende und flüchtige Gedanken zu entwickeln. Dies aber umso mehr als Empfehlung! Und: Wer traut sich noch bis Anfang Oktober in den großen, spärlich befüllten Raum des Lentos um seine eigene Sicht zu entwickeln?

1    Will Bradley, Ausstellungskatalog zu Cathy Wilkes
2    www.tate.org.uk; „TateShots“, zu den 2008 Turnerpreis-Nominierten Goshka Macuga und Cathy Wilkes
3    www.lentos.at

www.lentos.at

Das LENTOS Kunstmuseum Linz präsentiert die bisher größte und umfassendste Schau der für den Turner Prize nominierten Künstlerin Cathy Wilkes (geb. 1966 in Belfast, lebt und arbeitet in Glasgow). Die Ausstellung versammelt Arbeiten aus mehr als einem Jahrzehnt, darunter mehrere große skulpturale Installationen, Gemälde, Arbeiten auf Papier und Archivmaterial. Tate Liverpool in Zusammenarbeit mit dem LENTOS Kunstmuseum Linz und dem Museum Abteiberg, Mönchengladbach. Die Schau ist noch bis 4. Oktober zu sehen.