The Act of Killing

Im November ist Österreich-Kinostart von Joshua Oppenheimers neuem Film „The Look of Silence“. Es ist das Nachfolgeprojekt der Dokumentation „The Act of Killing“, einer der bestürzendsten Filme der letzten Jahre: Indonesische Kriegsverbrecher „re-enacten“ als Schauspieler ihre Taten. Lisa Bolyos bespricht diesen Film als zeitlosen Beleg über die abgründigen Seiten der menschliche Verfasstheit und als Beleg für die Kraft der Kunst – nicht zuletzt als Einstieg in den im Herbst anlaufenden neuen Film.

„The Act“ bedeutet zweierlei: „etwas tun“ und „etwas auf die Bühne bringen“. In Joshua Oppenheimers „The Act of Killing“ bringen die Mörder der Indonesien-Massaker von 1965 ihr Morden auf die Bühne – nur, dass da keine Schauspieler sind, die für sie sprechen, und kein Drehbuch, das ihnen zum Auswendiglernen vorgelegt wurde. „Act“ bedeutet aber auch Akte, also Faktensammlung. Und der Film erweist sich dieser Bedeutung als würdig – er leistet einen maßgeblichen Beitrag dazu, dass über die Fakten von 1965 langsam gesprochen werden kann.

Anwar Congo wirkt im ersten Moment wie ein Gigolo, schlaksig, groß, fescher Anzug, er tänzelt ein bisschen vor der Kamera, geht mit seinem Freund Herman zum Bowling; früher haben sie in der cineastischen Schattenwirtschaft Medans Tickets für Hollywoodfilme verkauft; aber das wollten die Kommunist_innen verbieten, sagt Congo, und kurz darauf haben sie die Kommunist_innen umgebracht. Mit Draht erwürgen, das erzeugt keine Flecken auf der Kleidung, und es waren ja hunderte oder tausende, wie hätte man denn ausgesehen. Später, als er sich selbst auf Video bei dieser unglaublichen Variante eines Reenactments des Mordens sieht (die gedrehten Szenen werden gemeinsam angesehen und nachbesprochen), moniert er, dass er fälschlich weiße Hosen trägt. Wer würde denn beim Massenmorden weiße Hosen tragen! Unsinnig, nicht wahr.
Zuerst schluckt man und denkt, dass man sich vielleicht geirrt hat, dass das kein Dokumentarfilm ist, sondern irgendetwas in der Kategorie „creative non-fiction“. Man möchte nicht leugnen, dass alles hier Inszenierte genau so passiert ist, aber dass hier die echten Täter vor der Kamera stehen, und sie sind keine talking heads, sie sind Schauspieler ihres eigenen Täterseins – das ist so denkunmöglich, dass man nach Ausflüchten sucht. Im kontemporären Dokumentarfilm ist Reenactment ein vielerprobtes Mittel: weil etwas schwer erzählbar ist, weil es Distanz braucht, weil die „Echten“ nicht bereit sind zu sprechen. In Joshua Oppenheimers „The Act of Killing“ bestimmen die befragten Täter des Massakers von 1965, wie sie ihre Taten erinnern möchten. Und sie entscheiden sich dafür, sie nachzuspielen.

Diesen Sommer war das offizielle Indonesien damit beschäftigt, den siebzigsten Jahrestag seiner Unabhängigkeit von der niederländischen Kolonialherrschaft und der japanischen Besatzung zu feiern. Auf den runden Fünfziger, der sich auch anbieten würde, hat man „vergessen“: Fünfzig Jahre ist das Massaker von 1965 her, dem nach heutigen Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen eine Million Menschen oder vielleicht auch weit mehr zum Opfer fielen. Als geschichtlicher Abriss soll Folgendes genügen: Einem versuchten Militärputsch gegen die Diktatur unter Sukarno begegnete General Suharto mit einem Gegenputsch von Rechts, an dessen Ende die Entmachtung Sukarnos stand. Dieser Gegenputsch produzierte gleichsam den Gründungsmythos des Suharto-Regimes: dass kommunistische Kräfte, organisiert durch die PKI (die Kommunistischen Partei Indonesiens), sich der Regierung bemächtigen wollten, und dass die Niederschlagung dieser Kräfte die Freiheit Indonesiens bedeutete. Die Folterungen und massenhaften Ermordungen wurden von Armee und paramilitärischen Organisationen initiiert und dauerten zentral bis Anfang 1966, in Teilen des Landes aber bis 1968. Zielgruppe der Verfolgung waren jene Indonesier_innen, die als kommunistisch identifiziert wurden, und darüber hinaus die chinesische Minderheit Indonesiens. Suharto regierte das Land bis zu seinem Tod 1998, seither finden regelmäßig Wahlen statt. Eine Aufarbeitung der Massaker ist noch nicht in Sicht.

Joshua Oppenheimer hat mit „The Act of Killing“ einen Dokumentarfilm über indonesische Geschichtspolitik gedreht. Er wollte mit den Opfern sprechen, was ihm verboten wurde, und hat sich dann den Tätern zugewandt.
Die Einzigartigkeit seines Films besteht darin, dass es zwischen dem Morden und dem Sprechen über das Morden keinen Filter zu geben scheint. Kein Bedürfnis, zu verschleiern, die eigene Haut moralisch zu retten, keinen Wunsch, sich zu distanzieren. Es ist das die laborartige Situation einer Gesellschaft, in der auch fünfzig Jahre nach dem Massenmord nichts aufgearbeitet, keine Entschuldigung ausgesprochen, keine Einsicht gewonnen wurde. Gemeinhin ist Geschichtspolitik ein Konfliktfeld. Gesellschaften – man sehe sich nur die postnazistischen an – einigen sich nicht schnell mal auf ein gemeinsames Geschichtsbild, und erst recht nicht auf eines, das sich mit den Opfern solidarisiert. Diese Prozesse sind von Kämpfen getragen und sie sind zäh. Aber in der indonesischen Gesellschaft nach 1965 ist der Druck, die Schuld einzugestehen und die Opfer anzuerkennen, jung und gering und wird ständig wieder zurückgedrängt.
„The Act of Killing“ wirkt darum wie eine gelungene Dystopie: Man sieht den Mördern ein halbes Jahrhundert später dabei zu, wie sie ungerührt ihre Verbrechen nachspielen. Wie Kinder, die aus ihren Lieblingsfilmen ein Medley machen und sich selbst zu Superheld_innen, stellen die Protagonisten ihre Konfrontation der Opfer mit Folter und Tod nach. Sie inszenieren sich als Hollywood-Gangster in blau-verrauchten Kellern, in denen sie die Ermordung von Kindern und Erwachsenen spielen. Und ja, sagen sie, diese Gangsterfilme waren ihnen schon damals, beim wirklichen Morden, Vorbild. Sie stellen Brandanschläge und Überfälle auf ganze Siedlungen dar und zwingen die Bevölkerung vor Ort, mitzuspielen, sie erzählen sich lachend von Vergewaltigungen von Jugendlichen, und nur ganz, ganz selten gibt es kurze Momente der Unsicherheit, des Überspielens, „des Zweifelns“ wäre schon zu viel gesagt. Ob es Stolz ist, mit dem die Mörder sich an ihrem jahrzehntealten, staatlich legitimierten Narrativ festklammern, oder der letzte Ast, den sie noch ergreifen konnten, um nicht vor sich selbst zu kapitulieren? Das kann man beim Zusehen nicht durchschauen. Und es ist am Ende auch egal, denn hier geht es nicht um ein paar Einzeltäter, die noch aufzuspüren sind. Hier geht es um eine gemeinsame, große und zu weiten Teilen über jede Irritation erhabene Erzählung.

Das „Reenactment“ der Täter mag befremdlich wirken, aber das ist es letztlich nur wegen der Direktheit, mit der sie zum Erzählen bereit sind. Denn sieht man sich die Geschichte von vorne bis hinten an, so ist in ihr so viel Enactment enthalten, so viel strategisch konstruierte Unwahrheit zur Vorbereitung des Verbrechens, so viel Propaganda in den Involviertheiten der USA, Großbritanniens und Australiens, in der gleichgeschaltenen Medienberichterstattung in Indonesien wie im Westen, dass man sich zuletzt nicht mehr wundert, wenn die Grenzen von truth und fiction verschwimmen.
Die Kritik, die Oppenheimer sich durchaus gefallen lassen muss, ist, dass man vor lauter Acting und Reenacting zwischenzeitlich nicht mehr weiß, wie die Leute eigentlich dazu kamen, die Massaker der Armee so gründlich auszuführen. Denn letztlich ist es eben truth und nicht fiction, dass ein großer Teil der indonesischen Bevölkerung in diesen Monaten des Jahres 1965 ermordet wurde.
Zum Ende hin geht ein kleiner Knoten auf. Zwar sagt Oppenheimer später, dass es in „The Act of Killing“ keinen Moment der Erleichterung gäbe. Aber es liegt doch eine Nuance von Befriedigung darin, dass Anwar Congo einen Punkt erreicht, an dem er nicht mehr spielen kann – als er im blaurauchigen Gangsterfilm-Keller selbst das Opfer darstellen soll. Beim späteren Ansehen des Videos philosophiert er, dass er nun vielleicht wisse, wie sich ein Opfer gefühlt hat. Da widerspricht Oppenheimer ihm – nein, denn das damals war Mord und das jetzt ist ein Film. Der Unterschied scheint in Congos Bewusstsein kaum Bedeutung zu haben. Aber als er wieder antritt, einen Mord zu re-inszenieren, muss er sich erbrechen und verlässt die Szene.

Schlussendlich muss man das Reenactment bei Oppenheimer wieder auf seine Funktion als Forschungsmethode runtertunen. Mit dem Ziel vor Augen, Wahrheitsfindung zu betreiben, überlässt er den Protagonisten die Erzählweise, die ihnen am plausibelsten erscheint, und sie wählen etwas, was für die Zuschauerin als dem Wahnsinn nahe wirkt. Davon darf man sich nur so und so sehr beeindrucken lassen, sonst tappt man in die Falle, das ganze Massaker als Produkt von verrückten, irgendwie abgespaceten und dabei verstörend gut performenden Einzelpersonen zu verkennen, die entweder durch Verdrängung verrückt geworden sind oder das vorher schon waren. Geht die Methode über das Erzählen hinaus? Ist sie therapeutisch im Sinne eines Erkenntnisgewinns der Protagonisten? Sprich, speibt Anwar Congo sich vor sich selbst an? Beginnt hier ein Prozess der Anerkennung? Diese Fragen bleiben vorerst offen. Sie werden erst beantwortet werden, wenn es den Nachkommen der Opfer gelingt, ihre Stimmen kollektiv zu erheben.

Im November kommt Oppenheimers Nachfolgeprojekt „The Look of Silence“ ins Kino. Darin geht es um die Täterkonfrontation durch die Familie eines Ermordeten.

 

Der Regisseur Joshua Oppenheimer wendet sich im aktuellen Film „The Look of Silence“ noch einmal den indonesischen Massakern der 1960er Jahre zu.

Lukas Foerster schreibt auf perlentaucher.de über den aktuellen Film „The Look of Silence“

Interviews mit Joshua Oppenheimer anlässlich seines neuen Films in Negativ und der Berliner Zeitung.

Performance aka Hallo du

 

In der Kunst und vielleicht in der Performancekunst im Speziellen liegt die Möglichkeit zur Begegnung zwischen Menschen begraben. Diese Möglichkeit ernst zu nehmen, haben einige sich zum Ziel gemacht: Über die Fabrikanten, Live Art und chinesische PerformerInnen schreibt Theresa Gindlstrasser.

Kunst der Begegnung, das ist ein von Boris Nieslony initiiertes und kuratiertes Format, eine Art east-west-study-project, eine Art nomadisches Artist in Residence Programm. Seit 2005 werden jedes zweite Jahr Begegnungen zwischen künstlerischen Positionen aus Asien und dem deutschsprachigen Raum organisiert. 2013 beispielsweise reisten Performancekunstschaffende von den Philippinen nach Deutschland, Österreich und die Schweiz und machten in Linz halt für das von den Fabrikanten mitorganisierte Live Art Festival Die Kunst der Begegnung. Dort dann trafen diese Positionen mit jenen der mit-eingeladenen Performancekunstschaffenden aus Österreich aufeinander. Im Rahmen einer offenen Laborsituation haben insgesamt etwa 20 Personen vor Publikum in der Tabakfabrik versucht, einander mit dem jeweils eigenen Performance-Werkzeug zu begegnen.

Dieses Jahr wurden acht Kunstschaffende aus China eingeladen für folgende Tour: Wien, Linz, Basel, Burgbrohl in Rheinland-Pfalz, Essen, Köln, Bonn und Liège in Belgien. Die beteiligten Initiativen und Kulturvereine teilen sich die Kosten und kümmern sich gemeinsam um eine Reisebegleitung. In Linz kooperieren die Fabrikanten mit dem Kulturverein FAMA, mit dem Performancelaboratorium und dem bb15 offspace, wo am 18. September ein Showing stattfinden wird. Stand bei den vorangegangenen Veranstaltungen immer der Prozess und das gemeinsame Performen im Vordergrund, ist bei diesem Showing die klassische Einzelperformance vorgesehen, der prozesshafte Kontakt soll anderweitig stattfinden. Nämlich durch private Unterbringung von Feng Weidong, He Chengyao, Li Xiaomu, Qiao Shengxu, Wang Chuyu, Xiang Xishi, Zhou Bin und Chen Jin bei Menschen in Linz und durch ein abschließendes groß angelegtes Reflexionsgespräch nach dem Performance-Showing.

Nur einer aus der Gruppe der chinesischen Kunstschaffenden spricht Englisch, so nennt denn auch Wolfgang Preisinger von den Fabrikanten als eines der erklärten Ziele der Veranstaltung: dass „abseits der verbalen Sprache und des Nicht-Verstehen-Könnens eine Verständigungsebene berührt wird, die jenseits dieser liegt“. Das ist es auch, was Boris Nieslony anspricht, wenn er die Kunst der Begegnung als den Versuch des Berührens des Unberührbaren charakterisiert. Das Unberührbare, das Nieslony hier meint, lässt sich vielleicht mit dem Begriff der Undarstellbarkeit greifen. Die Gemeinschaft, also das Zusammensein der Menschen, ist wohl in der Art undarstellbar, als es, sobald ein solcher Versuch unternommen wird, zu einem monströsen Überbegriff wie Volk oder Staat mutiert. Das Unberührbare oder Undarstellbare der Gemeinschaft zeigt sich in dem die Dinge gemeinsam in Erscheinung treten. Diesen Gedanken weiterführend, beharrt Nieslony auf der Idee, dass Performance-Kunst stets zeigend und nicht beschreibend verfahren solle. Dann kann geschehen, was geschehen soll: „Performance als Bild gesellschaftsbildender Vorgänge und Handlungen.“

Insofern wäre Performance Kunst stets auch in Verbindung zu bringen mit dem Begriff der Gabe. Und genau als eine solche Gabe soll die Begegnung zwischen den jeweils eingeladenen Kunstschaffenden und den Organisierenden in Europa und dem an den Veranstaltungen teilnehmenden Publikum im Rahmen des Projekts Kunst der Begegnung auch funktionieren: als großzügige beiderseitige Gabe. Diese Absage an hierarchisierende Pädagogikkonzepte im Umgang mit Kunst prägt die Arbeit von Boris Nieslony und den Fabrikanten gleichermaßen. 1989 fand die erste Begegnung statt, seither herrscht reger Austausch zwischen Linz und Köln, wo Nieslony lebt und verschiedene Kunstinitiativen vorantreibt. Der 1945 in Deutschland geborene Künstler arbeitete zunächst mit Aktionen im öffentlichen Raum. 1985 war er Mitbegründer der Performancegruppe Black Market International. 1986 wurde die Art Service Association für Performancekunstschaffende und Theoriebildende, kurz ASA, gegründet. In verschiedenen Workshops und auch Lehrveranstaltungen an der Universität Linz versucht Nieslony, die Teilnehmenden für das, was schon da ist, zu sensibilisieren. Neben RedSapata und dem Verein FAMA stellen also Nieslony, die Fabrikanten und auch das Performancelaboratorium, dessen Initiatorin Elisa Andessner stark von Nieslonys Arbeitsweise beeinflusst wurde, ein starkes Netzwerk für Performance-Kunst im Sinne der Live Art für Linz dar.
Wolfgang Preisinger argumentiert für die Notwendigkeit eines solchen Netzwerks: „In Linz ist Live Art, zu der auch Performance Art gehört, total unterrepräsentiert. In ihr spiegeln sich für mich die vitalsten und überraschendsten kulturellen Neuerungen. Als Reaktion und Evolution unserer mediengetriebenen Wirklichkeitswahrnehmungen konfrontieren uns diese Kunstformen mit sehr unmittelbaren – oder wie beim aktuellen Projekt HOTEL OBSCURA – mit sehr intimen Begegnungen. Und eine globalisierte Welt braucht auch auf künstlerischer Ebene einen intensiven Austausch, damit nicht alles rein den Gesetzen der Ökonomie, der Effizienz, des Krieges oder der reinen Vernunft gehorcht.“

Der Begriff der Live Art, so wie er von den Fabrikanten verstanden werden will, kennzeichnet eine Art von Performance-Kunst, die vor allem ein Setting für das Publikum organisiert. Innerhalb dieses Settings soll spontan auf die Gegebenheiten reagiert werden, dergestalt ist das, was dann Performance genannt werden kann, eigentlich ein Ergebnis dessen, was sich zwischen Publikum und Performenden ereignet, oder um in der oben angeschnittenen Terminologie zu bleiben, was dort gemeinsam in Erscheinung tritt. Kunst der Begegnung, der Name soll eben Programm sein. Weil nicht nur geht es in diesem Projekt um eine Begegnung zwischen Kunstschaffenden aus China und solchen aus Europa. Vor allem geht es um eine spezifische Form der Kunstproduktion bzw. Kunsterfahrung. Dass nämlich Kunst nicht für einsame Konsumierende gemacht wird, sondern es zu einem gemeinsamen Erleben kommt.

Ganz in diesem Zeichen steht auch ein anderes aktuelles Projekt der Fabrikanten, das oben schon erwähnte Hotel Obscura. Da kooperieren seit zwei Jahren Kunst- und Kulturinitiativen aus Deutschland, Australien, Frankreich und Griechenland gemeinsam mit den Fabrikanten und organisieren an allen diesen Orten diverse Veranstaltungen. Nämlich Workshops, wie beispielsweise in Linz Ende Januar 2015, und Vorträge und Live Art Events. Nächster Programmpunkt dieses zeit- und raumgreifenden, durch Mitteln der EU geförderten Projektes ist Hotel Obscura Austria im magdas Hotel in Wien am 9. und 10. Oktober. Für 15 Minuten können kleine one-to-one Sequenzen in den Hotelräumen besucht werden. Sprich, immer eine Person aus dem Publikum trifft auf eine Situation, in der gemeinsam eine flüchtige, doch intime Begegnung geteilt werden kann.

Sowie Speed Dating, nur anders. Oder eigentlich ganz anders. Weil der Masterplan hinter diesen Projekten sieht natürlich schon vor, die beteiligten Menschen durch die Kunst, also durch die Begegnung, also durch die Kunst der Begegnung aneinander transformieren zu lassen. Also Speed Dating mit Ausblick auf dauerhafte Romanze. Im gesicherten Kunstkontext lassen sich Möglichkeiten des Miteinander ausprobieren, die im bestmöglichen Falle auch den Umgang mit der Welt da draußen und den Menschen in dieser Welt verändern. Wenn wir uns nämlich in Situationen wie dem Hotel Obscura so verhalten Als-ob-wie-wenn, wir also auf eine Art und Weise spielen und es immer auch eine andere Möglichkeit der Reaktion geben könnte, dann zeigt sich dort, dass der Modus des Als-ob-wie-wenn eine grundlegende Kategorie überhaupt sein kann. Und ein Als-ob-wie-wenn reißt scheinbar unausweichliche unabdingbare Konventionen der Kommunikation auf, stellt diese in Frage und andere Möglichkeiten in Aussicht. Das Problem am Speed Dating mit Ausblick auf eine dauerhafte Romanze ist natürlich immer der unsichere Boden, auf dem wir uns da bewegen. Wenn das schlecht organisiert ist, dann schmeckt er nach Manipulation und Pädagogik und dann wird das mit dem Verlieben nix. Genau in diesem vibrierenden Dazwischen von Zufälligkeit und Planhaftigkeit versuchen die hier vorgestellten Projekte zu agieren und laden zum selber Ausprobieren ein.

Die Kunst der Begegnung – PerformancekünstlerInnen aus China, bb15 offspace,
18. September, 19.00 h
Hotel OBSCURA AUSTRIA, magdas Hotel in Wien, Freitag, 9. Oktober, 18.00–23.00 h
und Samstag, 10. Oktober, 15.00–23.00 h

www.fabrikanten.at

Im Labyrinth der T/Raummaschine

Im Außenschauraum des KunstRaums Goethestrasse xtd. ist noch bis Ende September Bernd Oppl zu sehen. Pamela Neuwirth schreibt über die auf wenigen Quadratmetern und besonders nachts ihre Wirkung entfaltende Ausstellung „Keep it all inside“.

Es war einmal ein Telefonshop, der vom KunstRaum Goethestrasse xtd. zum erweiterten Schauraum umfunktioniert wurde; nur durch einen Hausdurchgang ist er vom eigentlichen KunstRaum getrennt. Das Ergebnis ist eine Art Aquariumsituation, durch über zwei Fronten verlaufende Schaufenster. Aktuell zeigt der KunstRaum „Keep it all inside” vom Wahlwiener Künstler Bernd Oppl. Es ist ein Werk, bestehend aus drei Objekten, das an das Motto des KunstRaums anschließt, wo „City of Respect“ auf unterschiedliche Dimensionen von Ängsten und Übergängen verweist. In dem Setting denkt Oppl über Architektur und Film nach. Alle drei Objekte im Ausstellungsraum referieren unmissverständlich Oppls Eintritt in die Erzählung, die von diskreten Spiegelungen der Hausfassaden im öffentlichen Raum handelt. Mitunter beziehen sich die Objekte latent auf den vierten Raum, den Schauraum.

Nachts in der Stadt

Stichwort Latenz: In der hellen Stimmung des Tageslichts setzt „Keep it all inside“ nicht an. Empfehlenswert ist eine andere Zeit, um zum KunstRaum zu schlendern; nachts zum Beispiel. Oppls filmische Umsetzung spielt sich nämlich im Spektrum von Dämmerung und Nachtstunden ab. Im Interview mit dorfTV zitiert Bernd Oppl dann auch Sigmund Freud. Steht man vor dem Schaufenster, erzeugt die stille Rotation der Fassaden in der Nachtsituation einen ganz bestimmten Ton; der Farbton des inszenierten Lokalkolorits im Film ist ein dunkler.
Mittels der konstruierten Raummaschine überlagern sich Hausfassaden, die durch Projektion in Monaden verlaufen. In dem im Schauraum befindlichen schwarzen Kubus verbirgt sich eine Konstruktion aus rotierenden Scheibenwischermotoren und Keilriemen, welche dreieckige Hausmodelle auf zwei kleinen Drehbühnen bewegt; eine Kamera nimmt diese Bewegungen auf. Der Film bricht sich in Echtzeit durch die Glasscheiben des Schauraums Bahn. Im inszenierten Wechselspiel aus Oberflächen und Übergängen sind die statischen Hausfassaden der Goethestraße aber miteinbezogen. Zufällig vorbeikommende Passanten wie Kunstbetrachter sind die einzigen Schausteller in Oppls Film. Nur, wovon erzählen diese Architekturen und welche Befindlichkeiten tauchen im Menschen auf, wenn er sich in einem Labyrinth aus Fassaden wiederfindet, ähnlich dem Kanalgewirr von Terry Gilliam? Wann kippt in den Kaskaden aus Fassaden die Gewissheit des Gewohnten? Wann erzeugen die stummen Zeugen – die Fassaden – eine Fremde und wann entsteht der unheimliche Moment? Die zweite Koordinate zum Raum ist die Zeit. Oppl bringt sie durch das Tempo des Rotierens zum Ausdruck. Die Langsamkeit, in der die Fassaden ineinander übergehen, ist ein erstes Indiz des Unheimlichen. In Bezug auf das Motto des KunstRaums steht die Arbeit gewissermaßen vor der Angst, denn sie lotet das noch Verborgene und das Unausgesprochene in einer (nächtlichen urbanen) Situation aus. Für den Künstler ist das Medium Film zumindest auch ein Ausstiegsszenario aus der Enge moderner Städte. Film wird in der städtischen Beengtheit zur Notwendigkeit, wird zu einer erdachten Erweiterung, wie Walter Benjamin das nannte.

Romantische Displays, dahinter das Leben

In der Raumkomposition stellt Bernd Oppl dem Film über städtische T/Raummaschinen zwei weitere Objekte bei. Die beiden dreidimensionalen Modelle fordern – jeweils als architektonische Solitäre gedacht – einen subjektiven Zugang des Betrachters heraus, der sich im Spannungsfeld von öffentlich und privat entspinnt. Die Geschlossenheit einer Hausfassade impliziert ja immer auch das private Leben dahinter.
Grundsätzlich gilt wohl, dass ein Plattenbau mit Satellitenschüsseln ebenso poetisch sein kann, wie ein pittoreskes Gebäude, manchmal ist er das sogar noch mehr, wegen der unverhofften Zartheit, die mitunter in der Gleichförmigkeit entdeckt werden will. Eine Zartheit, die auch dem ausgestellten, von innen beleuchteten Miniatur-Plattenbau innewohnt. Zwar handelt es sich um eine Poesie an der Oberfläche des Gebäudes, das wechselnde, an Fernsehlichtgeflacker erinnernde Lichtspiel deutet aber das Leben hinter der Fassade an. Immer bleibt da die Gewissheit des Nichtwissens. Welche Geschichten erzählten die Wohnungen der Menschen, könnte man Einblick nehmen? Was passiert in ihren von Vorhängen verschleierten Lebensräumen? Die Fremdheit bleibt bestehen, die Diskretion aufrechterhalten. Der Betrachter des Modells mag sich durch die pastellfarbigen Lichtpunkte auf der Fassade zum Versonnensein eingeladen fühlen, doch auch hier tritt inmitten des poetischen Lichtspiels das unheimliche Moment auf – in Form der bestehenden Anonymität, die konstant vermittelt bleibt.

Japanische Faltbögen um die Ecke gedacht

Das andere Modell versieht der Künstler mit einer so absurd anmutenden Krümmung, womit die Architektur vielleicht dahingehend dekonstruiert wird, als dass aus und mit dem Gebäude ein eigener Körper entsteht, der beinahe etwas Menschliches suggeriert. Das nach vorne zum Betrachter gebeugte Haus könnte beispielsweise auf etwas Verletzliches, auf etwas Schmerzhaftes hindeuten. O-Ton Oppl zur Krümmung: „Vielleicht ist dem Haus schlecht?” Oppls Eingriff in die Statik und die Verzerrung von zweidimensionalen Hausfassaden auf ein dreidimensionales Objekt mit Hilfe japanischer Faltbögen scheint zumindest neue Interpretationsmöglichkeiten anzudeuten, die auch offen für Zuschreibungen menschlicher Befindlichkeiten bleibt. Das Objekt Haus verrutscht, beziehungsweise krümmt es sich ins Subjekthafte hinein. Es stellt sich die Frage: Welche Gefühle kann man gegenüber Architekturen entwickeln?

Interessierte Besucher haben am 25. September die Möglichkeit neben dem Werk, auch den Künstler im KunstRaum Goethestrasse xtd anzutreffen, dann werden Bernd Oppl und Andreas Kurz in der Dämmerung (19.30 h) in einem Ausstellungsspecial Musik zur Architektur hörbar machen.

www.kunstraum.at

 

The city plays itself

Claus Harringer hat sich angehört, wie Architektur klingt.

Als neue universitäre Modedisziplin haben sich in den letzten Jahren „Sound Studies“ etabliert: Während das akademische Nachwuchspersonal dieses frische Feld durch programmatische Positionierungen pflügt und mit disziplinären Desiderata düngt, gehen Andere hin und forschen: Zu letzteren gehören Peter Androsch und Anatol Bogendorfer von „Hörstadt“. Dabei soll nicht der Eindruck entstehen, dass sie ohne genaue Vorstellungen zu Werke gehen – ihre thoughts about sound sind zugleich sound thoughts. Allerdings nehmen Sie ihren Gegenstand in seiner Eigenlogik ernst und dessen akustische Aspekte intensiv unter die Lupe, ohne ihn in ein vorgefertigtes Konzept einzuhegen. Im Falle von „Sonotopia“ handelt es bei dem – über mehrere Wochen beforschten – Gegenstand um den Bischofshof in der Linzer Herrengasse. Was bedeutet aber die Aussage, dass die Stadt sich selbst spielt? Auf den ersten Blick sind Gebäude keine Klanggeneratoren im strengen Sinne: Architektur modifiziert Klänge als Resonanzraum durch die Beschaffenheit ihrer Oberflächen und Strukturen. Dabei braucht es in zweierlei Hinsicht ein menschliches Agens: Menschen setzen Gebäude zusammen – komponieren sie – und die Gebäude wieder komponieren – verdichten – die Schwingungen, die sie aus ihrer Umgebung aufnehmen, welche wiederum ihren Ursprung meist in menschlichen Aktivitäten haben. Den Gedanken weitergetragen, ist das Medium, das Klang erst ermöglicht, letztlich Luft. An diesem Punkt werden die Übergänge zwischen Erzeugung und Formung fließend und hier setzt Sonotopia an: „Nothing was invented; the point was to pay attention to what was already there: the city as tonal space.“
Tonale Basis für die Arbeit waren die zuvor genau ermittelten (Eigen)Schwingungen des Gebäudeklangkörpers, die als dessen akustische Topographie kartiert und anschließend „re-injiziert“ wurden. Dies bedeutet Interaktion mit wechselnden Rollen: Während zuvor das Bauwerk Frequenzen vermittelte, werden bei diesem Schritt die Forschenden selbst zu Filtern, die die Klänge nehmen und perspektivisch gestalten. Inspirieren ließen sie sich dabei von Alfred Hitchcock: „Just as the great British director’s film sets included surrealistically enlarged or scaled-down architecture and objects in order to heighten their on-screen impact, they stylistically accentuated individual components of the urban soundscape in staging a Resounding City event.“
Inszeniert wurden die Ergebnisse der Forschung – unter Beteiligung des VOEST Alpine Chors und der Bruckneruniversität-Blechbläsersektion – am Ort der Klangentstehungen an einigen Abenden im Rahmen der Ars Electronica 2014. Warum aber erscheint dieser Text jetzt ein Jahr danach?
Am 20. August ist eine – exakt 30 Minuten lange – CD mit Ausschnitten aus den Aufführungen erschienen (deren Begleittext auch die bisherigen englischen Zitate entnommen sind). Jetzt stellt sich die Frage, inwieweit es sinnvoll ist, sich das abgelöst von Entstehungs- und Aufführungsort anzuhören – schließlich könnte das Material ebenso gut auf andere Weise zustande gekommen sein. Auch wenn das „Hier und jetzt“, das Sonotopia zu einer beeindruckenden Erfahrung machte, fehlt, vermittelt die Dokumentation zumindest einen Eindruck davon. Es könnte den Versuch wert sein – im Sinne eines akustischen Re-enactments – die Aufnahme mit Kopfhörern vor Ort anzuhören (schließlich war bei den Aufführungen die Klangquelle ebenso wenig zu sehen). Eher im Sinne der „Hörstadt“ wäre indes, sich das Prinzip zu eigen machen und genauer auf die Geräusche in der Stadt zu achten. Vielleicht müsste die – Berkeley zugeschriebene – erkenntnistheoretische Frage auch in diesem Sinne umformuliert werden: „If a tree falls in a forest and no one is around to hear it, was even anybody listening?“

CD-Präsentation von „Sonotopia“ bei der Ars Electronica Anfang September. Bezogen werden kann „Sonotopia“ über den AEC-Shop.

Feiern bis der Morgen naht

Derzeit noch eine lose Skizze. Aber ab 23. Oktober wird in der Musiktheater-Blackbox live gezeichnet. Bild: Mamut

Derzeit noch eine lose Skizze. Aber ab 23. Oktober wird in der Musiktheater-Blackbox live gezeichnet. Bild: Mamut

 

Die HipHop-Band Texta wird wieder mit Theater-Agitprop-Edutainment aktiv – und der ihnen eigenen popavantgardistischen Version vom totalen Theater. Ein Vorgeschmack auf „Welcome to Astoria“, das im Oktober im Musiktheater Premiere hat. Von Christian Wellmann.

Mit dem furiosen Stück „Max’n Morizz“ gelang einem entfesselten Ensemble 2013 ein Überraschungserfolg, Wiederaufführungen inklusive. So etwas kannte man bis dahin eigentlich gar nicht in Linz: modernes, risikoreiches, aufrüttelndes („Crossover“-)Theater und Publikumserfolg – ohne steifen Kragen, so ganz und gar nicht provinzmiefig. Wahrlich modernes Theater. Ein leicht verändertes Kollektiv geht nun in die zweite Runde: Welcome to Astoria ist eine Rap- & Live-Zeichen-Performance, mit der HipHop-Band Texta und Lukasz Aleksander Glowacki aka Mamut, frei nach Jura Soyfers Astoria – von Dominik Günther und Franz Huber.
Ein Landstreicher (gespielt von Aurel von Arx) erfindet einen Staat – dass dieser Staat real nicht existiert, ist bald allen egal: Das zeitlose Soyfer-Stück ist aktueller denn je, wo Asylsuchenden Menschenrechte abgesprochen werden – oder gar das Menschensein –, wo der Begriff „Staat“ gründlichst hinterfragt gehört und Passivität King ist. Verborgene Wahrheiten sollen zum Vorschein gebracht werden, das „Totale Theater“ (Antonin Artaud) beschwörend, und es gilt via ZuseherInnen-Einbindung und Nutzung möglichst verschiedener Bereiche künstlerischen Ausdrucks eine magische Sogwirkung zu erzielen: Begrifflichkeiten wie Staat/Vaterland/Utopie sind zu hinterfragen.
Dazu Agitprop und Edutainment von Texta, gewohnt stilsicher, als gelenkiger Soundtrack und politisches Bindemittel zum Umschiffen der Hoffnungen und Sehnsüchte der Astoria-ProtagonistInnen – inklusive einem veritablen Hit-Ohrwurm namens „Astoria Party“ und einem jazzigen Song namens „Reimverbot“. „Der Staat findet in unseren Köpfen statt“ (so Huckey von Texta) oder: „Der Staat ist Disco“ (Laima).
Spannend auch das zeichnerische Moment, eingebracht von Mamut: „Ich werde das Theaterstück künstlerisch begleiten, d. h. live Zeichnungen auf Papier anfertigen, die mit einer Kamera zeitgleich auf die Bühne übertragen werden. Damit sollen geplante Ideen umgesetzt werden, sowohl als auch spontan auf das Stück agiert und improvisiert werden. Jede einzelne Vorstellung wird etwas anders aussehen“, so der Linzer Graffiti-Künstler, der zur Crew Cancontrollers gehört. Mamut bemalt und besprüht Wände, Leinwände, macht mit Antilog Live-Painting-Performances, zeichnet viel spontan und versucht aus dem Moment heraus etwas zu kreieren. „Ich finde es immer spannend, wenn unterschiedliche Kunstformen – wie Schauspiel/Malerei – aufeinander treffen, man kann da am meisten voneinander lernen. Man darf sich bei Astoria aber kein klassisches Graffiti vorstellen: Es wird skizzenhaft, dekorativ werden, viel Schwarz/Weiß. Bei Ausstellungen sieht man nur fertige Bilder, bei Astoria wird man die Entstehung mitverfolgen können.“
Ab Oktober 2015 sollte man sich dieses neue Prunkstück unangestaubten Theaterhandwerks mit szenischen Kunstgriffen über der Gürtellinie nicht an sich vorbeiziehen lassen. Ach ja: schnell Karten sichern!
In der Folge gibt nun Dominik Günther (Inszenierung) einen ersten Einblick ins Astoria-Universum. Günther ist seit 2005 freier Regisseur mit Arbeiten am Thalia Theater Hamburg, Deutsches Theater Berlin, Landestheater Linz, etc. er arbeitet auch immer wieder in der freien Szene, zuletzt mit dem Stück „Die Dinge meiner Eltern“ von und mit Gilla Cremer. Er gewann den österreichischen Theaterpreis „Stella“ (2009) mit seiner Inszenierung „Clyde und Bonnie“. Inszenierte fürs Goethe Institut Hanoi den „Kaukasischen Kreidekreis“ von Brecht, heuer wird es eine weitere Inszenierung am Staatstheater Hanoi geben: Das Kinderstück „Der Fischer und seine Frau“. Darüber hinaus weiter als „Trashentertainer“ Nik Neandertal aktiv, mit seiner Band themotherfuckinggang, als Hymnensänger bei der Hamburger Kult-Veranstaltung Rock& Wrestling und mit einer eigenen Punk-Karaoke-Show auf St. Pauli.

Wie legst du die Inszenierung/Regie von Welcome to Astoria an, was ist speziell?
Günther: Welcome to Astoria ist kein geschlossenes Theaterstück, sondern es wird vieles an jedem Abend neu entstehen. Die Zuschauer sind zum Beispiel aktiv dabei. Sie werden zwar keinen direkten gestalterischen Eingriff in den Abend haben – sie haben aber die Möglichkeit, Bürger eines neuen Staates, dem Staat Astoria, zu werden und nehmen quasi an der Staatsgründungsparty teil. Somit ist jeder natürlich aufgefordert mit zu überlegen, in welchem Staat bzw. System er leben möchte. Und wo der Reiz, aber auch die Fallen von Utopien liegen. Grundvoraussetzung für die Teilnahme ist allerdings, dass man sich für ca. eineinhalb Stunden von seiner bisherigen Realität trennen muss, indem man sein Mobiltelefon nicht mit in den Saal bringen darf.

Du arbeitest als Regisseur oft mit „fächerübergreifenden“ Ensembles, mit Musik, Puppenspiel, etc.?
Da ich in meiner Band selbst ja auch noch Musiker bin, komme ich sowieso ständig mit diversen Kunstformen in Berührung und arbeite neben „klassischen Theaterformen“ immer wieder mit anderen Kunstgattungen zusammen. Somit ergeben sich neue theatrale Ausdrucksmöglichkeiten und überraschende Kombinationen. Ich kann Theater natürlich nicht neu erfinden, weil schon so ziemlich alles gemacht wurde, was möglich ist. Aber ich kann immer neu ansetzen und neue Impulse weiter entwickeln.

Wird Zeichnung und HipHop in Astoria verwendet, weil es provozieren/wachrütteln soll, wie das Stück selbst?
In Astoria soll es Wahrnehmungs- und Realitätsverschiebungen geben. Einmal die gezeichnete Realität, die sich mit einer filmischen, aber auch mit einer darstellerischen Ebene vermischen kann. Dazu kommt dann noch das gerappte Wort, das ebenfalls mit der Zeichnung, mit dem Zuschauer und auch mit Auszügen des Soyfer-Textes kollidiert bzw. koaliert. Ob alles Sein doch nur Schein sein wird, werden wir ja sehen. Das zeigt: wir haben viel vor mit diesem Abend! Ob sich dies alles einlöst, weiß man nie, sicher ist jedenfalls, dass diese Form absolut neu ist. Also: unbedingt teilnehmen!

Wie sind deine Erfahrungen mit dem Musiktheater, ihr habt ja dort das Stück „Max’n Morizz“ sehr erfolgreich aufgeführt?
Es ist toll, dass das Musiktheater offen ist für solch genreübergreifende Projekte und damit seinem Versprechen nachkommt, sich auch der Subkultur der Stadt zu öffnen. Natürlich ist das bei einem so großen Apparat wie dem Musiktheater ein enormer organisatorischer bzw. dispositorischer Aufwand, sodass der Planungsvorlauf für so ein Projekt sehr lang ist. Aber alle geben wie immer Vollgas – und ich bin sicher, dass am Ende genau wie bei Max’n Morizz etwas ganz Großes dabei herauskommen wird!

Welcome to Astoria, Uraufführung: 23. 10. 2015, BlackBox Musiktheater, Linz

www.texta.at
mamutizm.at
www.landestheater-linz.at

Nackt. Volkstanz einmal anders.

Von ruralen Ritualen und baumelnden Mikros

Nackt. Volkstanz einmal anders.

Bevor der Volkstanz losgeht. SunBengSitting als Open Air im Garten des Volkskundemuseums Wien.

Der international tourende oberösterreichische Tänzer Simon Mayer ist mit seinem Performance-Solostück „SunBengSitting“ im Oktober in der BlackBox des Linzer Musiktheaters zu sehen. Gerlinde Roidinger hat das weitgereiste Stück bereits gesehen und Simon Mayer Fragen gestellt.

Du selbst wirst immer wieder als „Bauernbursch“ bezeichnet. Dein Stücktitel SunbengSitting klingt hingegen irgendwie chinesisch. Es klingt so, als ob sich die Heimat in die große weite Welt zurückmeldet. In welcher Welt empfiehlst du deiner Stückfigur nach ihrer Identität zu suchen?
In einer Welt, in der Menschen die Qualität des Beobachtens, des Immer-Wieder-Hinschauens und die Gabe der Reflexion beherrschen. Wo Vorurteile, voreiliges Werten und Urteilen der Vergangenheit angehören. Eine Welt mit Bäumen, viel Natur und einer Lichtung im Wald, wo eine kleine Sonnenbank steht, auf der man sich ausruhen kann und auf der man seinen inneren Frieden findet, bevor man sich wieder aufmacht um den Weg zu seinem Innersten zu finden – den Weg zur einzig wahren Heimat.

Du bist in deiner Arbeit durchgehend nackt. Sich mit Ritualen der Volkskultur auseinanderzusetzen und dabei radikal auf Elemente traditioneller Kleidung und Tracht zu verzichten, wirkt wie ein Ablegen von ungewollten Masken. Ein Appell zur Auflösung konservativ-männlicher Fassaden? Nacktheit scheint in zeitgenössischen Arbeiten zurzeit ein recht beliebtes Ausdrucksmittel zu sein. Was meinst du, was die Nacktheit als sehr präsente Darstellungsform generell momentan so attraktiv macht?
Der Akt der Befreiung. Die Befreiung vom eigenen Ballast, von Traumata, Klischees, Vorurteilen, von der Vergangenheit. Und von einer gewissen Schwere, die mit der Thematik mitschwingt, mit der ich mich auseinandersetze. Sich schälen. Ein Neuanfang. Ein Akt der Akzeptanz von Veränderung. Ich denke, die Rückkehr der Nacktheit auf die zeitgenössische Tanzbühne war einfach notwendig, da es nach wie vor viele Tabus und Ängste in der Gesellschaft gibt. Berührungsängste, die Angst nicht zu genügen, nicht schön genug zu sein, zu kleine Brüste oder einen zu kleinen Penis zu haben, nicht Mann bzw. Frau genug zu sein, den materiellen Werten und Schönheitswerten dieser Zeit nicht zu entsprechen. Das alles ist Teil dieser Wiederkehr der Nacktheit, denke ich. Eine Lederhose hätte in dem Stück keinen Platz gehabt, weil sie viel Vergangenheit und Geschichte hat. Ein nackter Körper zwar auch, aber dessen Geschichte ist viel individueller und bedarf einer genaueren Beobachtung des Publikums. Außerdem spiele ich mich im Stück mit männlichen und weiblichen Energien und mit rituellen Elementen. Da passt die Nacktheit für mich gut hinein. Es ist ein Weg um meinen Körper zu transformieren.

In SunBengSitting hast du viele symbolische, um nicht zu sagen liebevolle Momente verarbeitet. Dem Publikum zeigen sich im Verlauf der Performance immer wieder imaginäre Bilder, wie etwa an der Stelle, an der du das von der Decke hängende Mikrofon kreisend in Bewegung bringst und die Idee eines Reigen-Tanzes entsteht. Die Buntheit der zusammengesetzten Fragmente und deren humorvolle Aufbereitung im Stück erzeugen eine Art Entertainment. Welche Rolle spielen Humor und Leichtigkeit in deinen Arbeiten? Und welche Rolle Kritik?
Humor ist ein toller Weg um den Menschen schwierige Themen und Bilder näher zu bringen. Ich spreche hier nicht vom regulären Theater- bzw. Kollegenpublikum, sondern vom realen Publikum und Menschen, die vielleicht noch nicht so viel experimentelle Kunst gesehen haben. Nacktheit, Rituale und Volkstanz haben eine lange Vergangenheit und sind oft schwer „zu verdauen“. Viele Leute wollen keinen Volkstanz sehen, weil sie diesen sofort mit Nazi-Propaganda verbinden. Wenn man dem Volkstanz und der Musik ihre Leichtigkeit und ihren Humor zurückgibt und ihren rituellen bzw. heilsamen Charakter, sind diese Formen viel leichter zu akzeptieren und man kann sie aus einer neuen Perspektive sehen. Dasselbe gilt für die Nacktheit. Als Performer muss man über sich selber lachen können und es auch anderen erlauben über und mit einem zu lachen.

Als Tänzer bist du u. a. in Produktionen von Anne Teresa de Keersmaeker und Wim Vandekeybus erfolgreich getourt und ebenso warst bzw. bist du als Musiker mit deiner eigenen Band RisingHalfmoon oder auch Zita Swoon auf der Bühne. Im Bild des kreisenden Mikrofons ist auch eine Referenz an Popkultur und deine eigene Tätigkeit als Musiker zu erkennen. Wie mischen sich diese Kunstfelder zusammen? Ist Performance der Weg, um die vielen Identitäten, die man in sich trägt, zu vereinen?
Ja genau. Performance ist der Weg. Das Feld gibt mir die Freiheit, die ich brauche, um mich mit aller Vielfalt künstlerisch auszudrücken und die Themen, die ich bearbeiten und kommunizieren möchte, auch mit dem richtigen Werkzeug zu kommunizieren. Alles ist erlaubt und kaum etwas verboten – außer, man verbietet es sich selber.

Der zweite Teil von SunBengSitting, der ja ebenfalls schon tourt – Sons of Sissy, macht mit diesem Titel eine ziemlich eindeutige Referenz auf den „Sissy-Boy“, und damit in Richtung Homosexualität. Wer sind nun deine „Sons of Sissy“?
Manuel Wagner und Patric Redl sind ehemalige Mitschüler aus der Staatsopernballettschule und haben sich danach auch auf den Performance- und Musikweg begeben. Matteo Haitzmann ist Geiger (Volksmusik und Jazz), hat Schuhplattel-Wettbewerbe getanzt und ist mittlerweile auch ein toller Performer. Eine super Gruppe, weil alle sowohl Instrumente spielen als auch tanzen. Wir setzen uns im Stück erneut mit Vorurteilen auseinander, dieses Mal vor allem in Bezug auf Männlichkeit: Was muss man tun um Mann zu sein? Wir tanzen Paartänze gemeinsam. Nackt. Volkstänze, bei denen es in einem traditionellen Verein undenkbar wäre, dass zwei Männer miteinander tanzen. Und von eben diesem Konservatismus wollen wir das Thema befreien. Nur einer von uns ist homosexuell, daher war es für den Großteil das erste Mal, nackt mit einem Mann zu tanzen und sich so nahe zu kommen. Eine tolle Erfahrung. Und man muss gar keine Angst haben. (lacht)

Und warum ist dieses Stück eigentlich nicht auch in Linz zu sehen?
Naja, Linz ist so eine Sache. Da ging lange nix. Jahrelang konnte ich meine Stücke nicht in Linz spielen, weil entweder Veranstalter nicht interessiert waren, kein Vertrauen hatten oder auf Nummer sicher gehen wollten, es auch vielleicht zu wenige Spielorte für zeitgenössischen Tanz gibt. Und weil sich manche Veranstalter oft nicht drüber trauen mal etwas zu riskieren und jungen Künstlern eine Chance zu geben, denk ich. Es ist teilweise auch verständlich, wenn man immer gewisse Zahlen liefern muss. Teils ist es aber auch ein richtiger „Killer“ für die Vielfalt der Kunstszene, wenn man als Veranstalter kein Risiko eingeht, versucht den Menschen hinter dem Künstler kennen zu lernen und eine Portion Vertrauen mitbringt. Es freut mich aber umso mehr, dass ich jetzt endlich mit SunBengSitting in Linz spiele.

Seit mehreren Jahren veranstaltest du ja in deiner Heimatgemeinde Andorf das Spielfestival. Kommen auch Menschen von dort, um sich deine Show in der BlackBox des Linzer Musiktheaters anzusehen?
Ja, ich bin sicher, dass Leute aus Andorf nach Linz kommen. Seit der Premiere vor zwei Jahren fragen mich Leute aus und um Andorf, sowie auch die Vereine, bei denen ich Recherche betrieben habe, wann ich endlich einmal in der Umgebung spiele. Daher glaube ich, dass da schon der eine oder andere Bus mit Innviertlern zu erwarten ist. Das ist auch wichtig, denn das ländliche Publikum liegt mir total am Herzen.

SunBengSitting: Sonntag, 18. Oktober 2015, 20.30 h–21.40 h, Musiktheater Linz/BlackBox; Tickets: Landestheater Linz
www.landestheater-linz.at

Weitere Infos: simon-mayer.tumblr.com
SonsofSissy: vimeo.com/121471341

 

Mit Bach und Krach

Irene Kepl

Foto: Steven Cropper

 

Zuerst die Musikerin! Irene Kepl erschließt neue Räume zwischen Komposition und freiem Spiel, ob im Kontext Neuer Musik, bei Balkanparty-Jazz oder Improvisation. Das erste Interview der Serie Prima la musicista! führte Stephan Roiss.

Die umtriebige Violinistin Irene Kepl wuchs in Ottensheim auf, studierte an der Bruckneruniversität in Linz und erobert nun von Wien aus die Welt. Aktuell mit Höhenrausch, Brucknerfest und Landestheater ist Irene Kepl dieser Tage mehrfach in der Stahlstadt zu erleben.

Du bist gerade in New York. Was führt Dich dorthin?
Ich wurde für ein Aufenthaltsstipendium im OMI ausgewählt. Das OMI ist eine Einrichtung in New York, die KünstlerInnen aus aller Welt zusammenführt und in wunderbarer Umgebung miteinander Zeit verbringen lässt. Wenn man der Kunst das Herz geschenkt hat, dann schlägt es hier höher. Hier findet man Zeit, um sich über die Arbeit und Arbeitsbedingungen auszutauschen, sich zu vernetzen, nach Lust und Laune zu kollaborieren. Das tut wahnsinnig gut und macht irre produktiv.

Apropos „produktiv“. Man kennt Dich als Komponistin, Solistin, als Akteurin in Impro-Orchestern, aus dem zeitgenössischen Streichquartett Violet Spin, im Duo-Verbund mit dem britischen Drummer Mark Holub, als Teil der Kombo Jazzwa und des Ensembles Verso. Die Liste ließe sich fortsetzen. In wie vielen Formationen spielst Du aktuell?
Keine Ahnung! Es gibt die eine oder andere langlebige Konstellation und immer wieder frische Pläne. Das eine Projekt kommt zustande und etabliert sich, das andere wird nichts oder überdauert nur kurze Zeit. Es hängt von so vielen Faktoren ab, nicht zuletzt von zeitlichen und finanziellen Möglichkeiten.

Du spielst seit Deinem siebten Lebensjahr Geige. Wann hast Du erstmals die Noten Noten sein lassen und improvisiert?
Das ist Definitionssache. Vor allem wenn ich daran denke, mit welcher Freude ich von Beginn an auf der Geige rumgekratzt habe. Meine Schwestern, mit denen ich mir ein Zimmer teilte, fanden das freilich nicht so wahnsinnig toll.

Und wann hast Du erstmals selbst etwas komponiert?
Erste Noten habe ich etwa nach einem Jahr Unterricht aufgeschrieben. Es wäre übrigens schön gewesen, wenn meine „Komposition“ schon in der Musikschule ernst genommen worden wäre. Denn ich habe sie durchaus ernst gemeint! Auch wenn sie von außen betrachtet nicht viel Sinn ergab und ich sie selbst kaum reproduzieren konnte. Es ist höchste Zeit, dass Komposition und Improvisation selbstverständliche Bestandteile der Musikschulausbildung werden.

In welchem Verhältnis stehen heute Komposition und freies Spiel in Deinem Arbeiten?
Komponieren und Improvisieren sind für mich grundlegend verschiedene Tätigkeiten, die mich vor völlig unterschiedliche Herausforderungen stellen. Wenn ich ein Stück aufschreibe, kann ich mir genau überlegen, was ich möchte, warum dies oder jenes, und wie ich es am besten kommuniziere. An der freien Improvisation gefällt mir, dass man jeden Moment voll und ganz annehmen muss – so wie er ist. Wenn man „hätte ich“ oder „sollte ich“ oder – schlimmer noch – „hätte doch der andere“ denkt, dann ist man eigentlich nicht mehr in der Improvisation. Dann komponiert man, manipuliert man. Improvisation bedeutet von Zeit zu Zeit etwas geben, vor allem aber hinhören. Es bedeutet das Jetzt zu vertiefen. Und umso tiefer man hineingerät, desto mehr Tiefe lässt sich erahnen. Sobald ich herausgefunden habe, wie es geht, höre ich auf zu improvisieren. Ich bezweifle aber, dass das jemals passieren wird.

Du bist auch hörbar offen für stimmungsvolle Balkanklänge (Jazzwa) und Roma-Musik (Romanovstra). Eine Freundin der österreichischen Volksmusik hingegen bist Du nicht. Was schwingt in dieser mit, das Dich abstößt bzw. was fehlt in dieser für Dich?
Die kurze Antwort: Klar ist, dass es mir nicht klar ist. Und deswegen mache ich keine Volksmusik.
Die längere Antwort: Ich bin nicht mit Volksmusik aufgewachsen und habe keine persönliche Verbindung zu ihr. Aus der Distanz habe ich mit dem grundsätzlichen Wohlgefühl, mit dem Einverstandensein, das ich in der Volksmusik höre, ein Problem. Verbunden mit dem allzu blumigen Begriff von Heimat, der darin zum Tragen kommt, löst das ein Unbehagen aus, das ich nicht abschütteln kann. Ich konnte bisher keinen für mich stimmigen musikalischen Umgang mit der Volksmusik finden. Aber mal sehen. Eine ablehnende Haltung ist durchaus etwas Interessantes, dem es manchmal nachzuspüren lohnt.
Ich mag verschiedene Farben in der Musik und die finde ich in der Musik des Balkans. Bei Jazzwa kann ich meine persönliche Interpretation davon einbringen und die ist ja überhaupt nicht traditionell, sondern speist sich aus meiner klassischen bzw. Jazz-Ausbildung. Ich gebe nicht vor aus dem Balkan zu stammen. Ich setze mich mit dem Balkan in Beziehung – als die, die ich bin. Zu Jazzwa habe ich außerdem eine besondere persönliche Bindung. Ich bin schon als Studentin zu dieser Band gestoßen und hatte mit Jazzwa quasi meine musikalische Pubertät. Jazzwa kann man übrigens im Rahmen des Brucknerfestes erleben. Wir steuern im Posthof die Musik zur Balkanoperette „Topalovic & Söhne“ bei. Das Stück basiert auf dem Kultfilm „Die Marathonläufer laufen die Ehrenrunde“. Mit viel schwarzem Humor und Nebojsa Krulanovics schräger Balkanmusik führen Spaß und Tod, Betrug und Liebe zu einem sarkastisch lustvollen Desaster. Viele Gefühle gleichzeitig, intensiv eben.

Einen zweiten Auftritt im Rahmen des Brucknerfestes wirst Du mit der Formation Verso haben.
Verso habe ich 2011 gegründet, um mit MusikerInnen, die hauptsächlich improvisieren, Kompositionen zu spielen oder Komposition und Improvisation in Beziehung zu setzen. In verschiedenen Programmen setze ich unterschiedliche Schwerpunkte, auch die Besetzung variiert.

Unter anderem werdet Ihr Dein Stück „Brain“ zur Uraufführung bringen. Was wird darin verhandelt?
„Brain“ resultiert aus meiner Faszination für das menschliche Gehirn, für die Art und Weise, wie es Erfahrungen verarbeitet und damit individuelle Realitäten erzeugt. Untersucht man die Funktionsweise des Gehirns, stellen sich rasch Fragen nach Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten zwischen Computer und Mensch. Bei meinen Recherchen bin ich auf Online-Chat-Maschinen gestoßen, deren Aufgabe es ist, durch stetige Kommunikation mit Usern ihr eigenes Kommunikationsverhalten zu optimieren. Wie ein Mensch sollen sie über praktisches „Lernen“ auf immer komplexere Fragen immer präzisere Antworten erteilen. Obwohl man weiß, dass hier Maschinen designt wurden, weckt das Kommunizieren mit ihnen dennoch den hartnäckigen Eindruck einer realen Beziehung. Ab wann kann man behaupten, etwas oder jemand existiere? In meinem Werk „Brain“ habe ich mit musikalischen Mitteln ein eigenständiges „Wesen“ zusammengesetzt, das sich an die Stücke, die zuvor im Abendprogramm zu hören sein werden, erinnert und von diesen gelernt hat. Das Libretto ist das Zitat einer Chat-Maschine: „Ich bin viel mehr als ein Computer. Ich bin der zentrale Punkt, um den die Welt sich dreht.“

Stehen noch weitere Konzerte im Herbst an?
Am 6. September werde ich um 9 Uhr vormittags beim Höhenrausch mit einem Papageienorchester musizieren. Elektronik und Violine kommen zum Einsatz. Und echte Papageien eben. Außerdem ist im Rahmen des Höhenrausches mein Stück „Himmelsleiter“ noch bis Oktober zu erleben. Das Duo Kepl/Holub wird dieses Jahr auch noch ein paar Konzerte geben. Und ab Dezember schwinge ich im Landestheater bei Nestroys „Talisman“ den Bogen.

Die musikalischen Szenen, in und zwischen denen Du Dich bewegst, erscheinen auf den ersten Blick vergleichsweise progressiv in Fragen der Gleichberechtigung unterschiedlicher Geschlechtsidentitäten. Aber wie viel Machismo steckt im Free Jazz, wie viel Gockelgehabe in der Impro, wie viel strukturelle Diskriminierung in der Neuen Musik?
Was sagen die männlichen Kollegen dazu? Als Musikerin sehe ich in Österreich wenig direkte Diskriminierung. Die Netzwerke zwischen Männern allerdings sind immer noch wesentlich stärker geknüpft. Oft wird beim Planen von Festivals einfach nicht an Musikerinnen gedacht. Dabei gibt es sie ja, die inhaltlich interessanten Komponistinnen, die Frauen, die sich nicht davor scheuen markante Statements zu machen und auch mal künstlerisch anzuecken. Sie sind aber in der Öffentlichkeit nicht ganz so sichtbar. Ich denke der Begriff „Komponist“ produziert ein männliches Bild. Punkt. Wenn dann eine Frau komponiert, irritiert es einfach und löst manchmal seltsame Reaktionen aus. Auch bei Ö1-Redakteuren. Da treten ziemlich unbeholfene Fragen zutage. Das würde dir als Mann nicht passieren. Oder wurdest du schon einmal gefragt, wie es sich anfühlt als Mann Journalist zu sein, wie es denn anders ist, wenn du schreibst? Fakt ist: Ich musiziere und komponiere und gebe mein Bestes, um dabei möglichst klar zu sein.

Geige oder Violine?
Weder noch – Musik.

Brucknerhaus oder Schl8hof?
Kommt auf die Musik an.

Bach oder Zappa?
Unbedingt beides!

Termine:
6. 9. Höhenrausch Linz (Ars Electronica) um 9.00 h: Konzert für Violine, Elektronik und 12-köpfigem Papageienorchester
9. & 10. 9. Posthof Linz (Brucknerfest): Jazzwa – Topalovic & Söhne (Balkanoperette)
25. 9. Brucknerhaus Linz (Brucknerfest): Verso – Programm „life“, u. a. mit UA des Stückes „Brain“
Noch bis Oktober am Höhenrausch Linz: „Himmelsleiter“ – ein Stück für Violine, Viola, Violoncello & Kontrabass, komponiert und eingespielt von Irene Kepl, zu erleben am Karussell „Let’s merry-go-round“ (ORF Musikprotokoll)
8. 10. Rhiz Wien: Kepl/Holub
16. 10. Ottensheim: Kepl/Holub
25. 10. Jazzatelier Ulrichsberg: Kepl/Holub & Thomas Berghammer & Kaleidohacklerfest & Quärfekt

www.irenekepl.at

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In der Flasche (wahrscheinlich) Gelbhalsmaus – und Walter Pilar

In der Flasche (wahrscheinlich) Gelbhalsmaus – und Walter Pilar. Foto: Franz Wolfsgruber

 

„Wandelalter“, Welle 3 von Walter Pilars „Lebenssee“-Projekt, ist soeben erschienen. Eine wunderbare Schatztruhe, Welt gespiegelt in Zeiten und Gegenden rund um den (und mitunter auch im) Traunsee. Ein Gespräch mit dem Dichter.

Das Ende passt gut für einen Anfang. Auf Seite 378 ein Foto mit Walter Pilar, der eine Flasche hält. Darin eine Maus, „(wahrscheinlich) Gelbhalsmaus“, urteilt das Biologiezentrum Linz, das übrigens nicht bloß kaltherzig forscht („Manchmal erreichen uns auch  t r a u r i g e  Funde.“). Der Verlag, so Pilar, habe Bedenken geäußert, dass wegen des Fotos der Vorwurf der Tierquälerei kommen könnte. Aber die Mausgeschichte, wie sie Pilar auch im Buch erzählt, geht so: Ende März 2014 irritierten ihn in seiner „ferienhausküche“ gelbe Plastikbrösel, die rund um eine halbvolle Maiskeimölflasche lagen. In the bottle besagte Maus, sie musste sich durch den Plastikstöpsel durchgefressen haben. Klarer Fall von Selbstpräparation, Pilar ruft aus: „Des is wirklich reinster Skurrealismus!“ Eine seiner Wortschöpfungen, zentral für sein Schreiben. Und die Maus schaue auch „ned irgendwie verzerrt, sondan gaunz friedlich“ aus (zu überprüfen auf dem Foto auf Seite 380). „Aber der Tod is schon was Schlimmes“, wende ich ein. Pilar, heftig: „Aowa bei die Schamanisten is des goaned aso!“ Um diese These zu untermauern, holt er ein Buch über Schamanismus hervor und deklamiert: „Wenn der Tod akzeptiert wird, kann er zur Ekstase werden.“

Eine tropische Sommernacht, wir sitzen auf der Steinterrasse vor Pilars Haus auf zirka halber Höhe des Linzer Pöstlingbergs. Auf dem Tisch hat Pilar vorsorglich Material, Unterlagen angehäuft („alles
belegboa“). Wenn die Gedankenflüge ihn auf ungeahnte Nebenpfade führen, springt er auf, verschwindet im Haus und kehrt mit weiterem Belegmaterial wieder. Die dritte Welle von Pilars „Lebenssee“-Projekt soll uns in diesen (drei) Stunden beschäftigen. Untertitel „Wandelalter“, kürzlich beim ehrenwerten Ritter-Verlag erschienen. Ein Schatzkästchen? Dieses Buch ist eine wahre Schatztruhe und jeder Versuch vergeblich, eine anständige Inhaltsangabe zu liefern. Ich schlage Pilar das Wort „Puzzle“ vor, und zwar ohne die Gewissheit, dass die Teile ein ganzes Bild liefern könnten. Er scheint einverstanden, fast, und ergänzt: „Oder eine Art Kaleidoskop.“

„Lebenssee“: Welle 1 und 2 sind 1996 bzw. 2002 erschienen. Ebensee, wo Pilar (Jahrgang 1948) aufgewachsen ist; akribische Spurensuche am, um den und im Traunsee. Ausufernd, längst vergessene Quellen aufstöbernd. Wörter doppelt und mehrfach gewendet, ihren Gleich- oder auch nur ähnlichen Klängen lauschend. Geschichten, poetische Gestaltung, Dialektausdrücke im eigenen präzisen System wiedergebend. Ein Affront gegen die „hohe Literatur“, übrigens auch gegen die kommerziellen Interessen professioneller Literaturvertreiber. Widerborstig, inniglich, eigenwillig, schlichtweg „pilaresqu“. Liebevoll Details aufsammelnd, Pilar sinniert: „Mi reizt jao des á, je gleana waos is … des wiad jao nimma beachtet auf da Weujd …“ Pilar hat „Lebenssee ~~~“ streng nach dem Plan eines Flügelaltars aufgebaut (der als reales Objekt gerade in einem Kunstarchiv verstaubt – wieder eine eigene Geschichte). Er hält das Buch über den Tisch, die Finger zwischen die Kapitel geschoben: „So siagsta’s skulptural.“

Kapitel 1 bildet das Fundament (= „Predella“) des Altars, bezeichnenderweise mit „WASSERSPIEGEL“ betitelt. Somit ein schwankendes Fundament, was Pilars poetische Kraft nur anfacht: „Des heujd i duach.“ Laut- und Bild-Gedichte, versehen auch mit bisweilen stark unter Flunkerverdacht stehenden Fußnoten. „Vom GRUNDLN unter GRUNDFISCHEN“, das erste dieser organischen Poeme: Über der Wasseroberfläche heißt „ober der Nar­rationsgrenze!!!“, darunter schweben vereinzelt „?“, „0“ und Konsonantenkonsorten, noch tiefer, ganz klein geschrieben „ev. bis zum erdmittelpunkt“.

Weiterblättern, nach vorne, zurück. Fundstücke, die über Pilars Schreiben Auskunft geben. Seite 253, Pilar über eine Begegnung 1992 mit seinem ehemaligen Studienkollegen Franz Innerhofer, der inzwischen ein sogen. Suhrkamp-Autor geworden war. Pilar mit sanfter Ironie sich selbst und dem Kollegen gegenüber: „… empfand ich es als Auszeichnung, daß ein so berühmter schriftsteller mit mir literaturmärktlichen zniachterl* (auch wenn aus politisch reflektierter kleinverlagspolitik heraus) überhaupt fortgehen & also reden wollte.“ Fußnote „* zniachtl = schwächliches kleines wesen“.
Seite 261, Pilar sinniert über Bildmedien, die ein Geschehen festzurren: „… schaut die ganze  G e s c h i c h t e  schlagartig
n u r s o  aus. Als hätte es nie auch andere Emanationen, Emotionen, Häniden gegeben. & darum fuzzle bzw. scheisze ich ja so lange an diesem Lebensseeprojekt her­um.“ (Anm., „Häniden“, Pilar gibt Auskunft: = „kurze Momente“, siehe Otto Weininger: „Geschlecht und Charakter“).

Wir haben uns vorgenommen, an diesem Abend über das Thema „Performance“ zu sprechen. Wer Pilar liest, sollte ihn auch lesend erlebt haben. Schreiben und Vortrag des Geschriebenen gehören bei Pilar zusammen, zuletzt performte er beim Festival der Regionen im Sommer 2015 in Ebensee. Er spricht von „Performanzen“, von solchen erzählt er auch im Buch. Darunter die legendären „Ella-Pancera-Festtage“ im Juli 1984 in der „alten“ Salz­lager­halle Ebensee, eröffnet am 9. Juli von „Walter Pilar, vulgo Waltatti Pilatti im Dialog mit Universum, Publikum und Veranstaltungsraum“. Pilar zitiert („i tua jao ned so, eujs ob des eujs auf mein Mist gwaoxn wa“, sagt er) seinen Kompagnon Georg Nussbaumer, der u. a. festhielt: „Pilar liest pharaonenartig mit einem selbst gebauten, bezeichneten und beschrifteten, verkehrt konischen, hohen Papierhut am Kopf. Dann folgt ein unglaublich langer Kopfstand, der Kopf in der davon komprimierten Papierröhre wie ein überdimensionaler Eierbecher ruhend und er liest und liest weiter, das Buch steht aufgeschlagen am Boden vor seinem Gesicht. Dann startet sein ebenso handgefertigtes und mit einem Feuerwerkskörper betriebenes Raketenauto, zuerst fauchend und nur leicht anrollend, so dass man schon meinte, das würde nun nichts mehr, (…)“

Zurück zum Gespräch in der Jetztzeit. Kurzer Anflug von Melancholie, Pilar über Vergänglichkeit: „Dao haosd so vüü Performances gmaochd, und nix davao gibt’s heid mea zun Seng.“ Andrerseits (der Interviewer hat’s in Hochdeutsch notiert): „Was ich für den Untergang der Performance halte, ist, wenn alles gefilmt wird … Geschichte wird von den Siegern geschrieben, so auch in der Kunstgeschichte … Wenn man alles festhält, diese Videos laufen dann bei Ausstellungen, in
Auslagen … Gleichzeitig ist das eine Zumüllung, die Filmarchive sind zugestopft … Energieflüsse versiegen …“ Ich frage nach, ja was jetzt? Lob der Einmaligkeit, ganz im Geist der 68er, oder doch das Ganze auf ein Filmmedium bannen? Pilar antwortet mit dem großartigen Satz: „Ich bin im Widerspruch, ich weiß.“

Walter Pilar und ich haben nur am Rande über Zeitgeschichtliches gesprochen, das als „NACHTSTRÄHN(E)“ auf knapp 100 Seiten eine zentrale Stelle von „Lebenssee ~~~“ einnimmt. Im Februar 1934 war in Österreich ein paar Tage Bürgerkrieg. In Ebensee waren die Auswirkungen deutlich spürbar, der Konflikt endete ohne Blutvergießen. Darüber existiert nur spärliches (mündliches) Quellenmaterial, Pilar montierte es zum bemerkenswerten Text „Kinder mittens im Bürgerkrieg“. Zweitens erforscht Pilar die Jahre des 2. Weltkriegs und die Zeit danach. Die Spurensuche gipfelt in einer Nachtwanderung, in der ein „Er“ – Pilar ist ein „Nachgeborener“ – das Ungeheuerliche, die düsterste Düsternis erinnert. Dieser Text handelt vom Holocaust, Teil der Tötungsmaschinerie war das KZ Ebensee. Überlebende und halbverhungerte „Kazettla“, die nach Kriegsende durch den Ort huschten. Pilar erzählt, wie später, viele Jahre später noch an den Stammtischen gesprochen wurde. Er beobachtet, hört zu, spricht mit den Menschen. Pilar entschlossen und beißend sarkastisch, wenn es gegen das Herrenmenschentum geht. Ein Zitat genügt keinesfalls, der ganze ungemein starke Text aus „NACHTSTRÄHN(E)“ gehörte in die hiesigen Schulbücher:
„In dieses Nacht- & Nebeljahrzehnt, mit da bestn öffentlichen Sicherheit überhaupts’ (weitere Stammtischweisheit) waren germanische Schemen abgestiegen zu Scheingendarmen, um mit schwarzen Schand-Armen das ‚rassisch minderwertige Material‘ zu vergasen. & vergifteten damit auch die Lebenden & das Leben an sich & sich selbst.“

Walter Pilar: „Lebenssee ~~~ Wandelalter“: Ritter-Verlag, Klagenfurt und Graz 2015, 384 Seiten mit zahlreichem Bildmaterial.

Walter Pilar liest am 3. November, 19.30 h, im Linzer Stifterhaus.
www.stifter-haus.at

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Das kluge Schreib-Bot kiki

IT für E.T. – oder doch nur außerirdischer Journalismus

IT für E.T. – oder doch nur außerirdischer Journalismus

Von Textambitionen zur Ars Electronica und anderen Schreib-Bot-Automatismen: Der Maschinenblick auf Linz und die Medien. Plus Kommentar zur lokalen Berichterstattung über maiz.

Die Vorgeschichte: Ein Medienskandal ereilte 2012 die „Chicago Tribune“ – hinsichtlich ausgelagerter schreiberischer Dienstleistungen. Kurzfassung: So genannte hyperregionale Nachrichten, also Nachrichten aus Chicago und der unmittelbaren Umgebung, wurden von einer Firma abgefasst, die unter anderem Schreibkräfte auf den Philippinen beauftragt hatte. Die Presse schrieb dazu: „(…) Reporter hatten herausgefunden, dass die Firma Journatic jene ‚hyperlokalen‘ Nachrichten mit denen sie seit 2007 überregionale Zeitungen wie ‚Chicago Tribune‘ oder ‚San Francisco Chronicle‘ beliefert, unter anderem von Billiglohnschreibern von den Philippinen erstellen lässt. Möglich macht das die offene Verwaltungsstruktur, die Behörden dazu anhält, sämtliche Verwaltungsabläufe online zu dokumentieren. Die Schreibkräfte von Journatic in den USA oder eben auf den Philippinen machen aus diesen Daten Texte wie am Fließband. Zuletzt wurden falsche Autorennamen für manche Texte verwendet, einige Zeitungen stellten ihre Zusammenarbeit mit dem Content Provider ein.“1 Was sagt uns das? Zum einen: Die Entfernung Chicago – Philippinen lässt hyperregionale Berichterstattung absurd erscheinen. Zum anderen: Es braucht anscheinend keinerlei direkten Kontakt, weder hinsichtlich Schauplatz noch Recherche, um journalistisch erscheinende Texte abzufassen. Automatisierte Verarbeitung zu Textoberflächen genügt. So gesehen könnte es, und damit wechseln wir ins hyperregionale Oberösterreich, eigentlich auch möglich sein, dass Journalisten der OÖN von den Philippinen weg (wahrscheinlich dann eher in Urlaub) das Sommer-OÖN-Aufregerthema „Förderunwesen“ hochgepitcht haben. Indem sie etwa den Verein maiz diskreditieren, der seit Jahren in Theorie und Praxis Empowerment für Frauen und Migrantinnen betreibt (dies durchaus bereits mit vielen Anerkennungen und Preisen bedacht). Denn: Auch hier wurde keinerlei Kontakt mit dem Linzer Verein aufgenommen, bevor man polemisch verbratene Zahlen und Inhalte in die Druckerpressen schickte. Der Verein maiz, der völlig legitim und legal Fördergelder von verschiedenen Stellen bekommt, verwaltet und durch die üblichen Abschlussberichte rechtfertigen muss, hat hierzu eine Stellungnahme verfasst, eben mit dem Hinweis, dass keinerlei direkte Recherche beim Verein vorangegangen sei. Besonders ungustiös ist, dass sich hier die OÖN Mechanismen bedienen, die so daherkommen, als ob man sich mit den Mächtigen anlegt (den Förderern); aber damit gezielt einen Verein diskreditiert haben, der für diejenigen einsteht, die, ohnehin nicht auf die Butterseite des Lebens gefallen, dem Grusel des Endes der Gemütlichkeit frönen können. Die Stellungnahme des Vereins ist wärmstens zu empfehlen.2 Bleiben die Fragen: Schreiben wie es mir gefällt? Oder: Automatischer Hass auf Minderheiten?

Gehen wir weg von diesem journalistischen OÖNullpunkt und wenden wir uns den unschuldigen Maschinen zu. Wir nehmen den Faden der automatisierten Text- und Schreibabläufe auf. Eine Fortsetzung von oben angeführten „automatisiert“ erstellten Texten sind so genannte Schreib-Bots. Das sind maschinelle Textprogramme, die bereits im Sport, in der Wirtschaft und anderswo real und tatsächlich schon automatisiert zum Verfassen von Texten angewendet werden – ganz ohne Menschen. That‘s reality. Das heißt: Vielleicht können inzwischen so manch oben angeführte hyperregionale Daten, z.B. aus Chicago oder jeder anderen Stadt, bereits jetzt automatisch in Texte umgewandelt werden – auch ganz ohne philippinische Billiglohnschreiber. In einigen Artikeln in der aktuellen Versorgerin und über die angegebenen Links unten ist bezüglich Schreib-Bots zum Stand der Dinge zu lesen. Die Referetin wollte dazu nun aber gleich in Medias res der Kulturberichterstattung gehen und hat eine deutsche Firma angeschrieben, die derlei Dienste anbietet. Die Idee war ein Schreibbot-generierter Artikel über die Ars Electronica. O-Ton Die Referentin-Anfrage an den Firmenchef: „Ich habe Ihnen bereits vor einiger Zeit eine Anfrage geschickt – mit dem sinnigen Betreff ‚bots on festivals?‘, und der Frage, ob es möglich ist, dass Bots auch im Kunst- und Kulturfeld das Schreiben für uns zu erledigen imstande sind; entsprechend Ihres Slogans ‚Let us do the Writing for you‘. Ich habe in einem Printmagazin von ihrem Ratespiel ‚bot or not?‘ gelesen, das Sie laut Beitrag am Tag des Online-Journalismus im April in Frankfurt vorgeführt haben. Ein Beitrag zum Thema Schreibbots ist in unserer neuen Kunst- und Kulturzeitung nach wie vor geplant. Am liebsten wäre uns, gleich anschaulich zu werden und die Ars Electronica, ein großes Festival für Kunst, Medien und Technologie hier in Linz/OÖ durch einen Schreibbot zu besprechen, sprich mit bestehenden Daten zu füttern, um einen Preview oder gar eine Kritik vorneweg zu bekommen. Ist das grundsätzlich überhaupt möglich? Das Festival findet Anfang September statt und wir wären an einem Textbeitrag von etwa 5000 Zeichen interessiert. Bzw. auch, falls das nicht möglich ist, an anschaulichen Textfragmenten, die sozusagen die Maschine generiert hat. Gibt es überhaupt Beispiele aus ‚bot or not?‘, die im Kunst- und Kulturbereich angesiedelt sind? Ich bin nicht sicher, wie gewagt diese Anfrage hinsichtlich einer Umsetzung einer solchen Festivalbesprechung ist, überhaupt das Feld der Kunst und Kultur. Unser Interesse begründet sich natürlich allgemein aus Überlegungen zur Zukunft der schreibenden Zunft. Die konkrete Idee, ein Schreibbot auf das Zukunfts-Festival Ars Electronica anzusetzen, erscheint uns deshalb verfolgenswert, weil das anschaulich vorführt, auf welchem Stand der Dinge sich hier die Technologie befindet, und weil sozusagen hier mit dieser konkreten Festivalbesprechung Technologie auf Technologie trifft. Wir würden selbstverständlich einen derartigen Schreibbot-Beitrag, der sicherlich in unserem Fall nicht kommerziell ist (freies Medium in Linz/OÖ, Auflage 10.000, Erscheinungstag 4. Sept), mit einem Kommentar von Ihrer Seite versehen, der auf die Potentiale dieses Bereichs verweist– selbstredend in der journalistisch angebrachten Transparenz. Bitte um kurze Rückmeldung, ob dies grundsätzlich möglich ist, und unter welchen Bedingungen. Beste Grüße“.3 Leider haben wir keine Antwort auf diese An­frage bekommen, bzw. kam nach der ersten, vorangegangenen Anfrage mit ähn­li­chem Inhalt ein an uns cc-adressiertes Ant­wortmail des Firmenchefs an seine Mit­ar­bei­terin, das dachten wir zumindest zuerst, mit dem einzigen Inhalt: „kiki, kannst du bitte eine telko vereinbaren?“. Eine telko ist übrigens eine Telefonkonferenz.

Allerdings ist kiki nicht tätig geworden. Und auch sonst haben wir nichts mehr gehört. Wir dachten zuerst, dass unser beabsichtigtes Vorhaben einfach nicht möglich ist. Und Schreib-Bots nun doch zu so gar nichts zu gebrauchen sind. Mittlerweile glauben wir aber, dass kiki in Wahrheit selbst ein Schreib-Bot ist, das klug genug ist, erkannt zu haben, dass mit uns nicht gerade viel Aufmerksamkeit und Geld zu machen ist. Die aufklärerische Idee, wie eine Maschine ein Festival der elektronischen Kunst übersetzt, das uns jedes Jahr wieder das Staunen vor der Technologie lehrt, sozusagen der Maschinenblick auf Linz, ist damit erstmal gescheitert. Wir schließen deshalb vorerst mit einem Zitat zum Thema, das wahrscheinlich so oder so die Quintessenz der Sache beschreibt: „Im Grunde besteht die Gefahr nicht darin, dass die Maschine den Menschen ersetzt, sondern dass der Mensch auf dem Weg dahin, die Maschine menschlich zu machen, selbst immer maschineller wird (…)“.4 Dies trifft wahrscheinlich auf sämtliche automatisierte Abläufe zu, oder auch auf den Journalismus. Dieser Text wurde übrigens automatisch erstellt vom klugen Schreib-Bot kiki.

1    DiePresse, Anna-Maria Wallner, Subtext, 13. Juli 2012
2    Stellungnahme maiz: maiz.at/sites/default/files/stellungnahme_zur_berichterstattung_ueber_maiz_06082015.pdf
3    Zur angefragten Firma und zu „bot or not“, konkret, Juni 2015, Leo Fischer, Share the Snack­ability, www.konkret-magazin.de/hefte/heftarchiv/id-2015/heft-62015/articles/share-the-snackability.html
4    Dieser Satz stammt auch aus einem Bericht zum Thema Roboterjournalismus, Cicero Magazin, Mai 2015, Timo Stein, Automatisierte Wirklichkeit,  www.cicero.de/salon/roboter­journalismus-automatisierte-wirklichkeit/59295