Die Welt neu denken …

… am Beispiel des libertären Kommunalismus. Die Referentin bringt seit mehreren Heften eine Serie über soziale Bewegungen und emanzipatorische Entwicklungen. Peter Haumer und Andreas Gautsch über den libertären Kommunalismus: Von der sozialen und ökologischen Katastrophe zu einem anderen Aufbau der Gesellschaft.

Foto Andreas Gautsch

Die Menschheit steckt mitten in einem gewaltigen Umbruchsprozess, dessen Ausgang offen ist. Die Abkehr vom, und die Überwindung des weltweiten Kapitalismus wird immer dringender und die Frage stellt sich, wie wir unsere Gesellschaft und Ökonomie am besten organisieren können, um weitere soziale und ökologische Verwüstungen unseres Planeten verhindern zu können. Aus der Geschichte können wir lernen, dass es immer wieder Zeitpunkte gegeben hat, in dem das herrschende System zusammengebrochen ist, und die Menschen sich neu organisieren mussten, um ihr Überleben sichern zu können. Einer dieser Versuche war auch die Pariser Kommune 1871, in der Karl Marx „die endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte“, sah. Die Kommune-, aber auch die Rätebewegung nach dem 1. Weltkrieg zeigen das Potential auf, welches direktdemokratische Strukturen in sich tragen, um die Fähigkeiten jedes einzelnen Menschen zur Entfaltung zu bringen.

Quellen und Verzweigungen einer Idee
Der libertäre Kommunalismus verortet sich in dieser Tradition und ist eine anarchistische Konzeption, welche die Gesellschaft dezentralisieren und über miteinander vernetzte Gemeinden organisieren möchte. Wichtige Vordenker:innen dieses Ansatzes sind Murray Bookchin (2006 verstorben) und Janet Biehl. Beide waren mit dem 1974 gegründeten Institut für Sozialökologie in Vermont (Massachusetts/ USA) verbunden. Dort lehrt und forscht seit einigen Jahrzehnten auch Chaia Heller. In einem von Oliver Ressler geführten Interview, das von Jens Kastner übersetzt wurde1, und hier immer wieder zitiert werden wird, erklärt sie die Grundstruktur dieses Modells und schildert die Entstehungsgeschichte des libertären Kommunalismus, den sie als „politischen Arm der Sozialökologie“ betrachtet.

Bevor wir auf ihre Schilderungen eingehen, noch ein kurzer Hinweis zu den beiden zuvor genannten Personen. Murray Bookchin, der 1921 in New York geboren wurde, gehörte zunächst der marxistisch geprägten Linken an, wandte sich vermehrt ökologischen Fragen zu und bekannte sich Anfang der 1950er Jahre zum Anarchismus. Bekanntheit erlangte er durch sein aufrüttelndes Pamphlet Hör zu Marxist!, in dem er schreibt: „Soziale Revolutionen werden nicht von Parteien, Gruppen oder Kadern gemacht, sondern sind das Resultat tief eingewurzelter geschichtlicher Kräfte und Widersprüche, durch die weiten Kreise der Bevölkerung zum Handeln gezwungen werden.“ Janet Biehl kam 1987 mit dem libertären Kommunalismus in Berührung, arbeitete bis 2011 am erwähnten Institut und veröffentlichte zahlreiche Bücher und Artikel zum Öko-Anarchismus und Öko-Feminismus. Die demokratische Neugestaltung des Norden Syriens bewog Biehl ab 2014 mehrmals nach Rojava zu reisen, um mit der dortigen revolutionären Bewegung in Austausch zu treten und darüber zu berichten. Im letzten Jahr veröffentlichte sie die Graphic Novel „Their Blood Got Mixed: Revolutionary Rojava and the War on ISIS“.

Welche Strukturen es benötigt, damit die Bevölkerung handeln kann, und wie dies mit der Umgestaltung des politischen Systems in Nordsyrien zusammenhängt, wird in der Folge entlang des Interviews mit Chaia Heller erläutert werden.

Das Modell des libertären Kommunalismus
Das Modell klingt in den Grundzügen einfach: Bürger:innen von Dörfern, Gemeinden und Städten sollen in die Lage versetzt werden, sich selbst zu regieren. Die Menschen finden sich als Bürger:innen in lokalen Versammlungen in ihren Stadtteilen oder Dörfern/ Gemeinden zusammen, beratschlagen und entscheiden über ihre Angelegenheiten. Biehl schreibt in ihrem Buch über den libertären Kommunalismus, dass in Städten die „im Rathaus angesiedelten Kompetenzen auf die einzelnen Stadtviertel oder Bezirke übergeben“ würden, in den „übersichtlichen Dorfgemeinden“ könnte auf eine „Dezentralisierung verzichtet werden“.

Egal ob in einer Versammlung in den Metropolen, Kleinstädten oder Dörfern, es wird darüber beratschlagt werden müssen, welche Institutionen (weiterhin) benötigt werden und wie diese zu gestalten sind. Wie wird die Abfallbeseitigung organisiert? Wie soll das Bildungssystem aussehen und wie ist dieses zu organisieren? All die Fragen des täglichen Lebens und jene darüber hinaus werden auf Basis eines Bottom-up-Prinzips ausverhandelt und organisiert.

Diese Körperschaften der Basis- oder Generalversammlungen, oder welchen Namen sie auch immer bekommen mögen, wären die treibende Kraft der Politik in der Gesellschaft. Die Idee ist, dass Entscheidungen im Namen der Bevölkerung bei derselben liegen und deshalb Politik von und für die Bevölkerung gemacht wird. Wer sich jedoch auf dieses Gedankenspiel einlässt, wird sofort bemerken, dass diese Form des Selbst-Regierens ein anderes Denken und neue Formen der sozialen Praxis erfordert.

Um die berühmte „Schrebergartenmentalität“ zu verhindern, die darin besteht, dass einzelne Gemeinden mehr oder weniger isoliert ihren Einzelinteressen nachgehen, und da bestimmte Fragen und Probleme überregionale bis globale Organisationen bedürfen, gibt es eine zweite Strukturebene: Die Föderation – also einen föderalen Zusammenschluss der lokalen Körperschaften nach dem Räteprinzip. Diese beiden Strukturprinzipien, die autonomen kleinen Basiseinheiten und die verbindende Föderation, bilden gleichsam ein Spannungsfeld. Zwar ist die lokale Körperschaft in der Föderation enthalten und die Föderation wird als Ergänzung zur lokalen Körperschaft gedacht, doch gehören sie zweier verschiedener Sphären an: dem Besonderen und dem Allgemeinen. Um die „Prinzipien von Autonomie und Kooperation in eine Balance zu bringen“, werden, so Heller, die lokalen Ebenen durch „ein größeres Kollektiv, die Föderation, eingeschränkt“. Die gegenwärtige Klima- und ökologische Krise bedarf beispielsweise auch einer globalen Perspektive und somit einer funktionierenden föderalen Struktur. Wie diese ausgestaltet sein müsste, ist ebenfalls keine geringe Herausforderung für neue Denk- und Handlungsweisen. Dass das Modell des libertären Kommunalismus eher vage gehalten ist, weiß auch Heller. Für sie ist es „Absicht“, denn es ist davon auszugehen, „dass die Beteiligten in den Bewegungen selbst darum kämpfen müssen, wie sie ihre allgemeinen Prinzipien der Nicht-Hierarchie, der Kooperation, der direkten Demokratie, der sozialen Gerechtigkeit und der Ökologie leben wollen.“

Eine Politik ohne Politiker:innen und eine demokratische Wirtschaft
Ein Schlüssel, um diese beiden Ebenen von lokaler Autonomie und Föderation stabil zu verbinden, ist die Rätestruktur. So würden die lokalen Körperschaften, um mit anderen Gemeindeverwaltungen oder mit der Föderation kooperieren und sich abstimmen zu können, Delegierte ermächtigen und entsenden. „Ein Delegierter ist einem Boten ähnlich“, so Heller, „er überbringt im Wesentlichen den Auftrag der Gruppe.“ Der/die Delegierte ist immer abrufbar. Die Funktion ist zeitlich befristet, unterliegt dem Rotationsprinzip und sollte nie professionalisiert werden. Dies bedeutet aber nicht, dass die Föderation die letzte Instanz ist. Diese kann wiederum Delegierte entsenden, um eine überregionale oder globale Föderation zu bilden. Mit Heller ist jedoch Folgendes zu beachten und zu unterscheiden: „Bei dieser gesellschaftlichen Ordnung handelt es sich keinesfalls um eine Abwandlung des bürgerlichen Staates, denn: Es gibt keine mit Entscheidungsmacht ausgestatteten Repräsentant:innen, und die Räte der Föderationen haben für sich genommen keine Entscheidungsbefugnis.“ Sie haben eine rein kommunikative und administrative Funktion. Die Berufsgruppe der Politiker:innen wäre demnach Geschichte, eine aktive Bürger:innenschaft würde in den Vordergrund treten. Die Bürger:innen würden für sich selbst sprechen, ihre Anliegen und Vorstellungen zur Diskussion stellen und in einen Aushandlungsprozess mit den anderen Beteiligten treten. Wie so eine Versammlung ablaufen könnte, beschreibt Biehl recht ausführlich. „Als erstes wird die Versammlung sich konstituieren und sich eine Satzung oder Geschäftsordnung geben. Darin wird festgelegt, wie Beschlüsse gefasst werden sollen, welche Ämter eingerichtet werden und wie diese besetzt werden …“. Auch die wirtschaftlichen Fragen würden in diesen zivilen Bürgerversammlungen diskutiert und entschieden werden.
Der Kapitalismus ist das Reich des Profits, welches durch den Konkurrenzkampf chaotisch geregelt wird. In diesem wird keine Rücksicht auf Umwelt und Menschen genommen. Daher würde so manche Produktion im libertären Kommunalismus sofort eingestellt werden. Die dadurch freiwerdenden Arbeitskräfte würden auf die nützlichen und notwendigen Produktionsketten aufgeteilt werden, was eine massive Arbeitszeitverkürzung ermöglichen würde. Die Menschen bekämen dadurch die Zeit, die sie brauchen, um direktdemokratisch ihre Welt verwalten zu können. Das bedeutet aber auch, dass Produktion und Verteilung nicht alleine in den Händen der Arbeiter:innen liegt, sondern in denen aller Bürger:innen.

„Der libertäre Kommunalismus befindet sich erst in einer experimentellen und embryonalen Phase. Er ist eine im Entstehen begriffene Idee, die auf ein gewisses Maß an Praxis in so genannten politischen Experimenten zurückgreifen kann“, so Heller. Gelebte Beispiele finden sich bei den Zapatistas in Chiapas2 (Mexiko) oder in Rojava (Nordsyrien), wo seit Jahren daran gearbeitet wird, eine demokratisch-ökologische Zivilgesellschaft zu schaffen. Angestrebt wird dabei nicht eine kurdische Eigenstaatlichkeit und auch keine Konföderation von Teilstaaten, sondern der Aufbau einer Selbstverwaltung durch kommunale Basisorganisierung und ohne die bestehenden Staatsgrenzen anzutasten. Diese soll erreicht werden durch eine gleichberechtigte Föderation von Regionen, Kantonen, Städten und Kommunen. Dieses gesellschaftliche und wirtschaftliche Experiment geschieht – trotz oder gerade wegen – eines zerstörerischen, lange anhaltenden Kriegszustandes in dieser Region. In einem Interview erzählt Janet Biehl 2016 von ihren ersten Eindrücken in Rojava, die sie erschütterten und zugleich beeindruckten. „For the first time I saw how the concentrated power of the collective human will can transform a social order in just a short time. (…) While Murray was alive, I had studied revolutionary history and helped him write books about it. But to see such a thing before my eyes—it was extraordinary.“3

Peter Haumer, Institut für Anarchismus­forschung, siehe auch: anarchismusforschung.org

Andreas Gautsch, Institut für Anarchismus­forschung, siehe auch: anarchismusforschung.org

1 www.anarchismus.at/texte-anarchismus/libertaerer-kommunalismus/6147-chaia-heller-libertaerer-kommunalismus (Stand, 22. 5. 22)
2 Siehe den vorletzten Beitrag der Serie zu der Reise der Zapatistas. playground233.servus.at/gira-zapatista
3 theanarchistlibrary.org/library/janet-biehl-thoughts-on-rojava-an-interview-with-janet-biehl (Stand, 22. 5. 22)

Die Serie in der Referentin ist auf Anregung von Andreas Gautsch, bzw. der Gruppe Anarchismusforschung entstanden, siehe auch: anarchismusforschung.org

Text Peter Haumer und Andreas Gautsch

Das grüne Märchenbuch aus Linz

Die von Christine Ivanovic kuratierte und von Peter Karlhuber gestaltete Ausstellung Das grüne Märchenbuch aus Linz. Ilse Aichinger (1921–2016) im Adalbert-Stifter-Institut beleuchtet erstmals Ilse Aichingers Be­zie­hung zu Linz. Diese Beziehung war vielschichtig. Von Claudia Lehner.

Bibliomanie des Vaters, freundliche Irre und Sprache, die aus dem Schweigen kommt: Die aktuell laufende Ausstellung zu Ilse Aichinger. Foto Otto Saxinger

Ilse Aichinger verbrachte in Linz nicht nur ihre frühen Kindheitsjahre, an die sie sich in späten Texten erinnert, sie publizierte zwischen 1952 und 1981 auch in 19 Jahrgängen des Literarischen Jahrbuchs der Stadt Linz, und sie besuchte diese Stadt mehrfach, unter anderem im Rahmen von Lesungen.

Zum Wohnort wird Linz für Ilse Aichinger bereits in ihrem Geburtsjahr 1921. Sie, ihre Zwillingsschwester Helga, die Mutter Berta Aichinger, eine Ärztin, und der Vater Ludwig Aichinger leben hier unweit der Herz-Jesu-Kirche in der Dürrnbergerstraße, gegenüber der Waldeggschule, in der der Vater als Fachlehrer tätig ist. Daneben ist er Autor, Journalist und ein rühriger Literaturvermittler. Unter anderem gibt er 1919/20 die Theaterzeitschrift Die Maske heraus, hält zahlreiche Vorträge zu literarischen Themen und engagiert sich im 1919 gegründeten Verein „Eichendorff-Bund“, der etwa Lesungen und Kammerspielabende organisiert. Berta Aichinger wiederum, die ihren neun Jahre älteren Mann erst im Dezember 1920 geheiratet und kurz darauf in Linz eine Praxis eröffnet hat, kehrt nach der Geburt der Zwillingstöchter beinahe nahtlos wieder in ihren Beruf als Ärztin zurück. Auch sie hält neben ihrer ärztlichen Tätigkeit gut besuchte Vorträge, vor allem zur gesundheitlichen Aufklärung von Frauen. Im März 1923 wird sie zur Schulärztin für die höheren Mädchenschulen der Stadt bestellt, und mit Dezember 1925 zur ersten hauptberuflichen Jugendamtsärztin von Linz. Der vielbeschäftigten Mutter, die neben ihren zahlreichen Tätigkeiten auch Dienstreisen zur Weiterbildung, etwa bei dem von ihr geschätzten Individualpsychologen Dr. Alfred Adler in Wien, unternimmt, bleibt wenig Zeit für ihre beiden Töchter. Aus eben diesem Grund kommt sie wohl in den Erinnerungstexten Ilse Aichingers zu diesen Jahren nicht vor, wohingegen sich die Autorin in späten Texten (Film und Verhängnis, Unglaubwürdige Reisen) sehr deutlich an ein etwas unheimliches Kindermädchen namens Emma Schrack erinnert. Die „kurzfristig und auf Probe aus der Linzer Landesirrenanstalt“ entlassene Frau, die angeblich an Schizophrenie litt, flößte den Zwillingen Angst ein, wenn sie sie mit von den Wärtern der psychiatrischen Anstalt übernommenen Klammergriffen durch die Stadt führte und bei Ungehorsamkeit mit dem Wachmann drohte. Die täglichen Spazierwege enden nicht selten an den Toren der psychiatrischen Anstalt, wo Fräulein Schrack sich erschöpft im Gras niederlässt und einschläft, während die Mädchen durch die Lücken in den Mauern die „freundlichen Irren“ beobachten. Sie sind ein friedliches Gegenbild zu dem, was zeitgleich im ganzen Land heraufzieht, die für Ilse Aichinger und ihre mütterlicherseits jüdische Familie bald zur Bedrohung werdenden antisemitischen Angriffe und Einschränkungen.

Zuvor aber ereignet sich ein familiärer Riss. Ludwig Aichinger leidet an Bibliomanie, dem zwanghaften Horten von Büchern, für deren Erwerb alle verfügbaren monetären Mittel eingesetzt werden. Die, wie Ilse Aichinger schreibt, mehrfach gekauften Gesamtausgaben von Ibsen, Stifter oder Stelzhamer verschlingen bald das gesamte Familieneinkommen und werden vom Fachlehrer sogar aus unterschlagenen Beiträgen für Schulausflüge finanziert. Von mit Pfandzetteln beklebten Möbelstücken in der Linzer Wohnung und unbezahlten Christbäumen zu Weihnachten berichtet die Autorin. Schließlich bleibt der Mutter keine andere Wahl mehr – die Ehe wird am 4. August 1927 geschieden, Berta Aichinger und ihre Töchter ziehen nach Wien.

Die folgenden Jahre, die sich für den mütterlichen Zweig der Familie verheerend entwickeln, bedeuten eine Zäsur in Ilse Aichingers Leben und Schreiben. 1938, mit dem „Anschluss“ Österreichs, verliert Berta Aichinger in Wien Arbeits- und Wohnrecht und zieht mit ihren Töchtern zur Mutter. 1939 können Klara Kremer, eine Schwester Berta Aichingers, und einige Monate später Helga Aichinger nach London emigrieren, jedoch ist mit Kriegsausbruch ein Nachkommen der restlichen Familie unmöglich geworden. 1942 werden Großmutter, Tante und Onkel Ilse Aichingers nach Maly Trostinec (Weißrussland) verschleppt und ermordet. Wie durch ein Wunder überleben Ilse Aichinger und ihre Mutter den Krieg. Erst im Dezember 1947 können sich Helga und Ilse Aichinger sowie Berta Aichinger und Klara Kremer in London wiedersehen.

Die Kriegserfahrungen und die Trennung von der Zwillingsschwester sind der Anstoß für Ilse Aichinger, ihren ersten und einzigen Roman „Die größere Hoffnung“ (1948) zu schreiben, der den Beginn ihrer schriftstellerischen Karriere markiert. Ab 1952 – sie wird mit dem Preis der Gruppe 47 für die „Spiegelgeschichte“ ausgezeichnet – werden der jungen Autorin mehrfach Preise und Auszeichnungen zugesprochen. Zum selben Zeitpunkt tritt auch der Redakteur der Stilleren Heimat, des Literarischen Jahrbuchs der Stadt Linz, Karl Kleinschmidt, an Ilse Aichinger heran und ersucht sie wiederholt um einen Text für das Jahrbuch. Sie sendet ihn schließlich und er wird mit Dank angenommen. Dieses Prozedere wiederholt sich nun Jahr für Jahr. Kleinschmidt bleibt hartnäckig und wirbt um Texte, und Aichinger beschickt ihn, soweit sie etwas Passendes zur Hand hat oder rechtzeitig fertigstellen kann.

Erstaunlich erscheint dieser Vorgang, wenn man die Entstehungsgeschichte der Publikation Stillere Heimat näher betrachtet. Sie war 1940 während des Krieges im Zeichen des Nationalsozialismus gegründet worden und sollte – der Name war Programm – statt auf lautstarke Propaganda auf die Idealisierung von Heimat, Natur und ursprünglicher menschlicher Gemeinschaft mit starkem regionalen Bezug setzen. Kriegsbedingt 1944 eingestellt, wurde Stillere Heimat 1952 unter Beibehaltung sowohl des Titels wie des ursprünglichen Konzepts wiederaufgenommen. Damit lag nicht nur die Redaktionsleitung bei Karl Kleinschmidt, der bereits in der Gründungsphase an der Redaktion mitgewirkt hatte und ab 1952 wiedereingestellt wurde, auch BeiträgerInnen der im Krieg erschienenen Vorgängerausgaben waren hier wie ehedem vertreten. Dieser Umstand kann Ilse Aichinger nicht verborgen geblieben sein. Dennoch setzt sie ihre kontinuierliche Mitwirkung am Literarischen Jahrbuch der Stadt Linz fort. Über die Jahre gesellen sich jüngere AutorInnen wie Doris Mühringer, Heimrad Bäcker, Marlen Haushofer, Thomas Bernhard, Elfriede Gerstl und andere zu den teils nationalsozialistisch belasteten BeiträgerInnen bzw. lösen diese ab.

Einige der zwischen 1952 und 1981 im Jahrbuch der Stadt Linz (Stillere Heimat bzw. ab 1970 Facetten) veröffentlichten Texte Aichingers wurden erstmals hier gedruckt, andere erschienen nur hier. In Summe bilden diese Texte paradigmatisch Aichingers literarische Entwicklung in ihren produktivsten Jahren ab. Mit einem jeweiligen Kommentar der Kuratorin versehen stehen sie daher in der Ausstellung (in Form der originalen Jahrbücher, die zum Lesen in die Hand genommen werden dürfen) im Mittelpunkt. Einige der Texte, u. a. ihre berühmte Erzählung „Wo ich wohne“ sind auszugsweise auch in Hörstationen (in Form von hängenden Sitzkokons) nachzuhören.

Ein weiterer wichtiger Bezugspunkt Ilse Aichingers zu Linz ist der Autor Adalbert Stifter gewesen, in dessen ehemaligem Wohnhaus das 1950 gegründete Adalbert-Stifter-Institut seit Mitte der 50er Jahre untergebracht ist. Im Jahr 1955, anlässlich des 150. Geburtstages Stifters, verfasst Aichinger ein ausführliches Rundfunkfeuilleton zu dem berühmten Dichter, den sie ungewöhnlicherweise selbst einliest. Der Essay ist eine Handlungsanleitung zur genauen Lektüre der Werke Stifters und würdigt Adalbert Stifter als einen Autor, dem es wie keinem anderen gelingt, Trost zu spenden. Hintergrund ist Stifters eigene Erfahrung des Schmerzes, des Todes, der Grenzerfahrung, so glaubt Aichinger. Die Erzählung „Bergkristall“, in der die beiden Kinder Konrad und Sanna wie durch ein Wunder aus Schnee, Eis und Finsternis gerettet werden, spricht – wohl auch durch die Erfahrung der Trennung und des Überlebens der Zwillingsschwestern – Aichinger im Besonderen an. Sie kannte die Erzählung aus ihrer Kindheit, liest sie aber als junge Erwachsene, nach den Erfahrungen des Krieges und dem Erscheinen ihres ersten Romans „Die größere Hoffnung“, neu. In diesem präzisen und langsamen Lesen entdeckt sie plötzlich die Schreibweise Stifters, sein genaues vertiefendes Betrachten, welches auch für sie selbst zum Leitmotiv wird und eine Sprache zur Folge hat, die aus dem Schweigen kommt. Sie wird zu einer Grundprämisse für Aichingers künftiges Werk. Die Autorin wird sich bis an ihr Lebensende immer wieder mit Stifter auseinandersetzen, humoristisch in dem Dramolett „Das neue Lied“ (1957), in Essays („Weiterlesen. Zu Adalbert Stifter“, 1979; „Stifters Subtext“, 2005), sogar noch in der letzten von ihr selbst publizierten Zeitungsglosse (Die Presse, 22. 10. 2005).

Mit dem Adalbert-Stifter-Institut, das die Autorin bereits im Oktober 1957 erstmals besuchte, blieb Aichinger bis zuletzt verbunden. Nach Gründung des OÖ. Literaturhauses im StifterHaus liest sie dreimal hier, zuletzt 2005 aus ihrem Journal des Verschwindens.

Wie wenig verschwunden sie und ihre Literatur für Linz sind, beweisen die nun laufende Ausstellung und der parallel erscheinende Katalog.

 

Das grüne Märchenbuch aus Linz. Ilse Aichinger (1921–2016)
20.10.2021 – 21.6.2022 (coronabedingt verlängert) / täglich, außer Montag 10–15 Uhr
Adalbert-Stifter-Institut des Landes OÖ / StifterHaus
Adalbert-Stifter-Platz 1, 4020 Linz
www.stifterhaus.at

Di 8. März, zum Internationalen Frauentag:
Präsentation der Briefeditionen „Helga und Ilse Aichinger ‚Ich schreib für Dich und jedes Wort aus Liebe‘. Briefwechsel Wien – London 1939–1947“

Stadt oder Chaos

Linz zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Die baulichen Erfordernisse einer wachsenden Stadt waren zu bewältigen. Curt Kühne (1882–1963) und Julius Schulte (1881–1928) treiben die Entwicklung voran. Bauten wie Parkbad, Volksküche, Diesterweg- oder Weberschule, Siedlungsbauten, Industriebauten und private Wohnhäuser prägen bis heute das Stadtbild. Georg Wilbertz über die beiden Architekten und Stadtplaner, ihr vorbildliches Wirken für Linz und ihre Relevanz bis in die Gegenwart.

„So lange ich in Linz bleibe, werde ich mich energisch dafür einsetzen, daß nichts von dem uns Überlieferten zerstört werde und daß das Neue mit der nötigen Rücksicht auf das Alte entstehen möge.“ [Julius Schulte in seinem Beitrag „Die Entwicklung von Linz-Süd im Lichte des modernen Städtebaus, Tagblatt 1. Nov. 1925]

Aus diesem Eingangszitat spricht nicht nur ein bemerkenswertes berufliches Ethos, sondern es muss im besonderen Kontext der Zeit verstanden werden. Als der Architekt Julius Schulte (1881–1928) diesen Satz formulierte, befand sich Linz in einer Phase des Umbruchs. Vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Verwerfungen, die der 1. Weltkrieg zur Folge hatte, wuchs die Stadt und musste dieses Wachstum durch entsprechende Baumaßnahmen (v. a. Wohnungs- und Siedlungsbau) und Infrastrukturmaßnahmen auffangen und sozial bewältigen. Schulte erkannte und analysierte die Tendenzen des Umbruchs. Er realisierte den wirtschaftlichen und politischen Druck, der fast zwangsläufig auf Linz lastete. Für ihn waren damit erhebliche Gefahren für die Stadt, ihre historische Substanz und ihre Identität, die sich vor allem im Stadtbild manifestierte, verbunden. Die weitere Entwicklung sollte und durfte nicht ungeregelt von Partikularinteressen dominiert werden. Bei allen deutlichen Unterschieden zwischen Julius Schulte, der 1921 das städtische Bauamt zugunsten einer freien Tätigkeit verließ und Curt Kühne (1882–1963), der ab 1915 dieser Behörde bis 1938 vorstand, war beiden klar, dass nur Planungsansätze und -perspektiven, die die Gesamtstadt im Auge behielten, zielführend sein konnten. Und damit beginnt ihre verblüffende Relevanz für die Gegenwart. Natürlich ist nicht gemeint, das Wirken und die Konzepte der beiden Planer zu revitalisieren oder als Blaupausen für die Stadtentwicklung der 2020er Jahre in Betracht zu ziehen. Die Zeiten und ihre Anforderungen haben sich diesbezüglich natürlich geändert. Es geht eher um die prinzipielle planerische Einstellung zur Stadt und ihrer Entwicklungspotentiale und es geht um die Frage, wie in Linz die lang vermisste und ebenso lang geforderte Baukulturdebatte endlich für eine breitere Öffentlichkeit nachvollziehbar etabliert werden könn­te. Die bisher zu diesen Fragen ins Leben gerufenen Verfahren, Impulse und Formate sind – leider – nicht ausreichend. Manches erinnert sogar eher an beschwichtigende Nebelkerzen als an ernstzunehmende Diskursangebote, die wirkliche Kontroversen anstoßen und aushalten.

Zu den großen Glücksfällen der Recherche zu Julius Schulte gehörte, dass er sich in einer Reihe von Beiträgen in Linzer Tageszeitungen (Tagblatt und Tagespost) kenntnisreich und detailliert zu Fragen der zeitgenössischen und zukünftigen Entwicklung von Linz geäußert hat. Diese Texte waren bis heute nahezu unbekannt. Noch verblüffender war die Erkenntnis, dass Schultes Beiträge in vielerlei Hinsicht eine geradezu „beängstigende“ Relevanz für unsere aktuelle Situation besitzen. Immerhin sind sie rund einhundert Jahre alt. Schulte erkannte die mit Hochhausbauten in der Stadt verbundenen Probleme für das Verkehrsaufkommen (und er bezog sich auf Bauhöhen zwischen 40 und 60 Metern!), er lehnte Spekulation vehement ab und interessierte sich stattdessen für das Stadtbild. Er thematisierte grundsätzlich Fragen einer sozialverträglichen Stadtentwicklung, die wirtschaftliche In­te­ressen durchaus miteinbezog und auf schonende Weise den historischen, unersetzbaren Stadtkörper und seine prägende Architektur mit den Anforderungen der Moderne (die er als Planungsprämisse bejahte) verbinden sollte. Schulte verstand seine Textbeiträge und Vorträge als wichtige Instrumente, die die Öffentlichkeit in den Stand setzen sollte, emanzipiert und aufgeklärt nicht nur die Stadt wahrzunehmen, sondern sich aktiv am städtebaulich-architektonischen Diskurs zu beteiligen. Was in den damals hochaktuellen Bereich der allgemeinen Volksbildung fiel, wäre heute ein wichtiger Beitrag zur Baukultur. Inhaltlich anders und deutlich pragmatischer orientiert waren die Beiträge des Linzer Stadtbaudirektors Curt Kühne zur Linzer Stadtentwicklung. Sie sind nicht nur als Leistungsbericht seiner Behörde und Person zu sehen. Darüber hinaus zeigt Kühne wichtige Planungszonen und -szenarien für die weitere städtische Entwicklung auf. Der Schwerpunkt liegt dabei neben den wichtigen öffentlichen Bauten und der Infrastrukturplanung vor allem auf der Frage des Wohnungsbaus. Dass in der Zwischenkriegszeit das Zurverfügungstellen leistbaren, die sozialen Verhältnisse verbessernden Wohnraums das Hauptproblem war, ist hinlänglich bekannt. Auch aktuell ist die Situation auf dem Wohnungsmarkt vorsichtig formuliert bedenklich und die zur Lösung in Betracht gezogenen Maßnahmen (Hochhäuser gehören definitiv nicht dazu) sicher noch nicht ausreichend.

Wie differenziert und umfassend der Planungshorizont der Architekten Schulte und Kühne vor rund einhundert Jahren war, kann hier nicht wirklich dargestellt werden. Um die Texte von Schulte und Kühne wieder ins Bewusstsein zu bringen, hat sich das afo-architekturforum zu deren Herausgabe entschlossen. Seit kurzem liegt der Band als Nummer 11 der Afo-Nachsatz-Reihe vor. Mögen die Texte im Konzert der großen, teilweise heftig geführten Architekturdebatten der Moderne nur eine untergeordnete Rolle spielen, beziehen sie jedoch ihren besonderen Wert durch ihren engen, nachvollziehbaren Linz-Bezug. Diese Facette einer „Architekturtheorie“ der Moderne für Linz war bisher weitgehend unbekannt. Der Band stellt eine ideale Ergänzung zum großen Katalogband „Gebaut für alle. Curt Kühne und Julius Schulte planen das soziale Linz (1909–38)“ des Nordico Stadtmuseums dar.

Nicht mehr besucht werden kann die bis zum 18. 2. 2022 im afo gezeigte Ausstellung „Kühne, Schulte, Gegenwart“, die den Gegenwartsbezug der Bauten beider Planer vorstellte. Dagegen ist die Ausstellung „Gebaut für alle“ noch bis zum 1. Mai 2022 im Nordico zu sehen. Auch wenn sich diese auf die historischen Aspekte des baukünstlerischen Schaffens von Schulte und Kühne konzentriert, gibt sie beredt Auskunft über die Potentiale verantwortlicher architektonischer und städtebaulicher Planung für Linz. Sie zeigt vor allem, dass die auf Linz bezogene, hohe architektonische Qualität und bewusste städtebauliche Situierung sicherstellte, dass die sorgfältig geplanten Bauten und die in ihnen vertretenen Institutionen innerhalb des Stadtraums wahrgenommen wurden. Zugleich waren sie als wichtige Impulse für die weitere Stadtentwicklung gedacht. Sowohl für Kühne als auch für Schulte endete angemessene Planung nicht bei der Erfüllung funktionaler Anforderungen. Sie verstanden ihre Bauten als angemessen gestaltete soziale Orte, die im Idealfall zu einer Verbesserung der Lebenswirklichkeit breiter gesellschaftli­cher Kreise beitragen sollten. Diese Zielsetzung traf auch – bei durchaus unterschiedlicher Herangehensweise – für den Wohn- und Siedlungsbau beider Architekten zu. Es gibt einen nicht zu verleugnenden existenziellen Zusammenhang, zwischen Stadtgestalt (historisch und gegenwärtig), angemessener Planungs- und Ausführungskultur, spürbarer Identität der Stadt und der, den Bewohner*innen zu gute kommenden Lebensqualität. Dies ist kein „Schnee von gestern“ und wird in der Nordico-Schau unmittelbar deutlich.

 

Stadt oder Chaos: Titel eines am 20. März 1925 im Tagblatt erschienen Titels von Julius Schulte

Publikationen:
Andrea Bina u. Georg Wilbertz (Hg.): Gebaut für alle. Curt Kühne und Julius Schulte planen das soziale Linz (1909–38). Salzburg 2021. (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Nordico Stadtmuseum, Linz, 29 €)

Tobias Hagleitner u. Georg Wilbertz (Hg.): Curt Kühne / Julius Schulte. Nachsatz 11 des afo architekturforums oberösterreich. Linz 2022. (Kommentierte Textsammlung, erhältlich im afo, 10 €)

Ausstellung:
Ausstellungsempfehlung der Referentin, leider nur mehr für eine Schau: Nicht mehr besucht werden kann die im afo gezeigte und von Tobias Hagleitner kuratierte Ausstellung „Kühne, Schulte, Gegenwart“, die bis Februar zu sehen war. Videos zur Ausstellung auf DorfTV: dorftv.at/channel/afo

Noch geöffnet bis 1. Mai im Nordico: „Gebaut für alle. Curt Kühne und Julius Schulte planen das soziale Linz (1909–38)“

Veranstaltungshinweise:
Fr., 18. 3. 22, 14.00 h: Führung durch den Linzer Urnenhain (Urfahr) und das alte und neue Krematorium

Fr., 25. 3. 22, 14.00 h: Führung zu Bauten von Julius Schulte in Linz Urfahr (Weberschule, ehemaliges Rathaus, Wohnbau Gerstnerstraße)

Fr., 8. 4. 22, 14.00 h: Führung zu Siedlungs- und Wohngebäuden von Julius Schulte am Linzer Froschberg Nähere und aktuelle Infos zu den Veranstaltungen unter: www.nordico.at/programm/fuehrungen-veranstaltungen

Unruly Thoughts – on feminisms and beyond

Bei Unruly Thoughts, einem feministischen Online-Festival diesen Jänner, standen Theoretikerinnen, Perfor­merinnen und Kulturarbeiterinnen des afrikanischen Kontinents und der Diaspora im Zentrum einer Tagung. Deren Beiträge haben eurozentristische Perspektiven und den Hochheitsanspruch auf gesellschaftliche, kulturelle und politische Diskurse nachhaltig verschoben. Ein Festivalbericht von Melanie Letschnig.

Eine Frau mit kobaltblauer Haut und dicken Zöpfen, maßgekleidet in schwarzer und blauer Folie sowie mit Kombatstiefeln, ihre Fingernägel sind lang, die eckig gefeilten Spitzen signalrot. Sie hockt vor einem computergenerierten Hintergrund aus hellblauem Wasser, Zweige eines Baumes in das Bild montiert, und zeigt Zähne. So zu sehen auf dem Plakat zum Festival Unruly Thoughts – on feminisms and beyond, das – kuratiert von Sandra Krampelhuber für FIFTITU% – von 27. bis 29. Jänner 2022, von Linz ausgehend, weltweit online seine Verzweigungen in die Welt geästelt hat. Gestaltet wurde das Plakat von Designerin und Visual Artist Selly Raby Kane, ihre Zeichens Teil des senegalesischen Künstler*innenkollektivs Les Petites Pierres mit Sitz in Dakar. Das Sujet repräsentiert die Verschränkung von Altem und Neuem, von Organischem und Anorganischem, Körper und Äther. Letzteres ein Thema, das bestimmend war für die Austragung des Festivals – die Vor- und Nachteile des Zoomens. FIFTITU%, die Organisatorinnen, haben die Herausforderung angenommen und sich um die bestmögliche Verbindung gekümmert, damit das Festival möglichst störfrei in die Welt übertragen werden konnte.

„Unruly Thoughts have a powerful history in feminisms“, heißt es im Trailer zum Festival. Worum sich die angesprochenen widerspenstigen Gedanken spinnen, wurde in den drei Tagen des Festivals eindrucksvoll in Vorträgen, Gesprächen, Performances und Filmvorführungen dargelegt. Einleitend formuliert Tmnit Ghide, Host des Festivals, Absichten und Ziele: Das Eröffnen, Konkretisieren und Verknüpfen feministischer Perspektiven abseits eurozentrischer Sichtweisen, sowie die Entwicklung von Strategien, um für Gerechtigkeit und Gleichberechtigung zu kämpfen. Die Zugangsweisen zur Umsetzung dieser politischen Agenden waren gleich am ersten Abend breit angelegt: Kholeka Putuma (Südafrika) liest aus ihrem Gedichtband Hullo, Bu-Bye, Koko, Come in1, in dem sich die Autorin unter anderem der Auslöschung des Vermächtnisses schwarzer Frauen in den Archiven widmet. Im anschließenden Gespräch mit Tmnit Ghide weist Putuma darauf hin, dass viele der Frauen, die sie in Hullo … zitiert, nicht mehr die Rechte an ihrem Werk besitzen und weist so auf die Herstellung von Unsichtbarkeit hin – „Poetry in the time of the digital … I’m imagining all your faces“, sagt sie zuvor zu den Teilnehmer*innen des Festivals. Es folgt Poetra Asantewa (Ghana) mit dem Vortrag ihres Gedichts F-Word, in dem das Problem der „korrekten“ Definition eben dieses Wortes besprochen wird. Den ersten Abend beschließt das Screening von Éthel Oliveiras und Júlia Marianos Film SEEDS: BLACK WOMEN IN POWER (BR 2020), in dem brasilianische Politikerinnen und ihre Arbeit porträtiert werden.

Sichtbarkeit und Freiheit als Aktion
Den zweiten Tag beginnt Karima 2G (Italien / Liberia), die über „The Power of Afro-feminist art and Black Feminism in Italy“ spricht. Sie thematisiert, dass Frauen der 2. Generation in Italien immer noch keinen Platz in der italienischen Gesellschaft haben, fordert Auflehnung gegen Viktimisierung und stellt in ihrem Vortrag Role Models wie die Autorin Esperance Hakuzwimana Ripanti, die Politikerin Marwa Mahmoud und die Athletin Danielle Frederique Madam vor. Karima 2G, die ihre Musik selbst produziert, wird am Abend auch als Spoken-Word-Performerin in Erscheinung treten. Nach ihr meldet sich die Autorin und Sozialkritikerin Minna Salami (Schweden / Finnland / Nigeria) aus London. Mit ihrer Einstiegsfrage – „How does a freedom person act?“ – eröffnet sie einen Analysekomplex aus Geschichten Afrikas, metaphysischen Fragestellungen als Teil von Black Feminism und der Kritik an euro-patriarchalem Wissen, dem Hierarchisierung als Machtbasis zugrunde liegt und das – eine der Kernaussagen des Vortrags – Frauen beibringt, an sich selbst zu leiden. Dieser Gewaltförmigkeit setzt Minna Salami Freiheit als Aktion entgegen, die niemals auf Diener*innenschaft beruhen kann.
Den Nachmittagsblock beschließt Mahen Bonetti (USA/Sierra Leone), die Gründerin des African Film Festival – Pionierin! Sie berichtet im Gespräch mit Tmnit Ghide über die Geschichte des Festivals, wie es war, in den 1960er Jahren als Filmemacherin in der Sowjetunion zu arbeiten und über erste Berührungen mit europäischem Art-House-Kino in New York. Als 1993 das African Film Festival zum ersten Mal stattgefunden hat, hätte es zehn Tage dauern sollen. Aus zehn Tagen wurde aber ein Monat, das Begehren nach Kino aus Afrika wurde offensichtlich. Essenziell für den Erfolg solcher Projekte, so Bonetti, ist das Arbeiten im Kollektiv und die Aufrechterhaltung einer Autonomie, die sich nicht von Orten und Förderungen abhängig macht. Das Gespräch zwischen ihr und Ghide ist lebhaft, die Sehnsucht der hier schreibenden Teilnehmerin auf eine Wiederholung dieses Gesprächs nicht im Virtuellen, sondern im Raum fleischlicher Anwesenheit wurde immer größer und hat sich seitdem nicht gelegt.
Der Abend startet fulminant mit den HOETEP BLESSINGS (GF 2016) von Tabita Rezaire (Französisch-Guyana), einem Kurzfilm, in dem sich die Regisseurin als mächtige Performerin in bester 1990er-CGI-Ästhetik offensiv und lustvoll gegen die popkulturelle Ausweidung von Hoetep stellt. Es folgt Toussa mit ihrer Rap-Nummer “Bataaxalu Jigeen” (“Letter of a Woman”) in Wolof, einer der Sprachen Senegals. Toussa ist Vorreiterin in Sachen feministischer Rap in Senegal, 2009 hat sie gemeinsam mit anderen Rapperinnen, Sängerinnen, Produzentinnen und Beatmakers das Hip Hop-Kollektiv GOTAL gegründet.2 Karima 2G beschließt mit der Live-Premiere ihres Songs „Libera“ das Performanceprogramm. In der Filmsektion gibt es darauf TEZEN (HT/FR 2016) von Shirley Bruno, ALINE (CH/SN 2021) von Rokhaya Marieme Balde und AURORA (CU 2019) von Everlane Morales zu sehen.

Tag 3 startet mit einem Animationsfilm-Workshop, geleitet von Comfort Arthur (Ghana/Großbritannien), die in Ghana ihr eigenes The Comfy Studio3 leitet und im Gespräch über ihren Anspruch berichtet, Filme gleichzeitig didaktisch und unterhaltsam zu gestalten. Rama Salla Dieng (Großbritannien/Senegal) spricht in ihrem Vortrag über Strategien politischer Vernetzung und greift diesbezüglich Fragen auf wie: Welche Themen beschäftigen Feministinnen des afrikanischen Kontinents und der Diaspora? Welche Rolle spielt das Digitale für die Vernetzung? Wie treten die Frauen miteinander in Verbindung, welchen Blick werfen sie auf feministische Geschichte? Und eine der Kernfragen: Wie steht es in diesen Prozessen um Self Care? Auch in Anlehnung an diese Frage spricht sich Dieng für einen sexpositiven und lustzentrierten Feminismus aus, ein Ansatz, der eine Lösung für die von Minna Salami aufs Tapet gebrachte Rolle von Frauen als an sich selbst Leidenden qua Patriarchat bieten kann. Unlearning ist hier als politische Praxis gefragt.
Daran anschließend spricht Christelle Oyiri (Frankreich) über die Bedeutung von matrifocality, die als gesellschaftliches Konzept ökonomische Macht durch familiäre Netzwerke generiert. Viele der Beiträgerinnen – so auch Oyiri – thematisieren in ihren Vorträgen, wie sie als 2. oder 3. Generation kontinuierlich ihre Position innerhalb einer Gesellschaft behaupten müssen, die sich das (illegitime) Recht herausnimmt, Körper und Existenzen zu sprechen und damit Repräsentationen zu erzeugen, die nichts mit dem Selbstverständnis eines eigenen Ichs zu tun haben. Die Vorträge sind geprägt von dieser Erfahrung, die sich in Verbindung mit Anderen setzt und so das Persönliche zur Grundlage intersektional-feministischer Theorie macht.
Der letzte Vortrag des Festivals wird beigesteuert von Donna P. Hope (Jamaica), Spezialistin für die Geschichte der “Dance­hall’s Rebel Women“ wie Lady Saw, Macka Diamond aka Lady Mackerel und Shenseea. Hope erläutert in bestechender Art und Weise, wie die Frauen des Dancehall diskriminierende Kategorien wie gender, race, class, colours & age selbstbewusst vereinnahmen, ihre Musik damit spicken und über lustvoll zelebrierte Körperlichkeit – die nicht nur akustisch laut ist – gegen Unterdrückung – auch innerhalb der für lange Zeit männlich dominierten Dancehall-Szene – auftreten. Ein Vortrag aufregend und lebendig wie ein Livekonzert.
Das Festival endet mit einer Podiumsdiskussion “On the Importance of Feminist Alliances in the Digital Space“ unter Beteiligung von Zainab Floyd (USA/Haiti), Sandra Manuel (Mozambique/Ghana), Hawa Kebe (Österreich/Senegal/Elfenbeinküste), Feminista Jones (USA) und Robyn-Lee Pretorius (South Africa) und dem Screening von Rosine Mbakams DELPHINE’S PRAYERS (CM/BE 2021) sowie Amandine Gays SPEAK UP (FR 2017).

Ein paar abschließende Bemerkungen: FIFTITU% und Sandra Krampelhuber ist mit diesem Festival Großes gelungen. Drei Tage lang standen Theoretikerinnen, Performerinnen und Kulturarbeiterinnen des afrikanischen Kontinents und der Diaspora im Zentrum einer Tagung, deren Beiträge eurozentristische Perspektiven und den Hochheitsanspruch auf gesellschaftliche, kulturelle und politische Diskurse nachhaltig verschoben haben. So viel für mich Neues, das sich mir initiierend erschlossen hat und dementsprechend ist Unruly Thoughts auch als Auftrag zu verstehen, von den Frauen zu lernen, weiterführend interessiert zu bleiben und sich kundig zu machen.
Dass das Digitale zugleich Fluch und Segen ist, hat sich auch diesmal herausgestellt. Einerseits hat die Technik ein Zusammenkommen und den Austausch zumindest im Virtuellen ermöglicht, gleichzeitig ist damit die Sehnsucht nach dem Treffen und miteinander Sprechen im konkret-fleischlichen Raum ins Unermessliche gestiegen – ein Eindruck, der von den Tagungsbeiträgerinnen immer wieder thematisiert wurde. Das Digitale kann im Sinne der Vernetzung immer nur der erste Schritt sein, im nächsten Schritt geht es hinaus auf die Straße, in die Communities, auf den Dancefloor. See you!

1 Der Titel des Gedichtbandes bezieht sich auf den Text von Brenda Fassies Song „Istraight Lendaba“ (1992).

2 Einen kleinen Einblick in das Schaffen von GOTAL gibt es hier: www.youtube.com/watch?v=nvXZRZvUYak, aufgerufen am 15. Februar 2022

3 www.thecomfystudios.com, aufgerufen am 16. Februar 2022

Mehr zum ausführlichen Programm: unruly-thoughts.com

Auf den Spuren schreibender Mütter

Mutter werden. Mutter sein. Autorinnen über die ärgste Sache der Welt: So lautet der Titel eines kürzlich erschienenen Buches. Wie sieht die Mutterrolle heute aus? Was wird über Mutterschaft erzählt, welche Texte werden zu diesem Thema verfasst? Die österreichische Schriftstellerin Barbara Rieger hat fünfzehn Autorinnen eingeladen über dieses Thema zu schreiben. Silvana Steinbacher ist von der Vielfalt der Texte überzeugt.

Die Herausgeberin Barbara Rieger. Foto Alain Barbero

Du bist echt der Hammer! Ich finde dich einfach wunderbar.

Dieses Sprüchlein schrieb der zehnjährige Sohn einer Bekannten zum Muttertag. Wir schmunzeln und denken an unsere Schulzeit zurück, als unsere Gedichte zu diesem Tag vom „lieben Mütterlein“ und der emsig arbeiteten Hausfrau nur so wimmelten.

Im kürzlich erschienenen Buch Mutter werden. Mutter sein. Autorinnen über die ärgste Sache der Welt hat die österreichische Autorin und Schreibpädagogin Barbara Rieger fünfzehn Autorinnen inklusive sich selbst eingeladen, über Mutterschaft zu schreiben. Fiktiv, biografisch oder essayistisch haben die Schriftstellerinnen über dieses ewig aktuelle und facettenreiche Thema ihre Gedanken zu Papier gebracht. Sie schreiben unter anderem einen Brief an eine Frau, die soeben ein Kind bekommen hat (Elena Messner), über die Situation im Lockdown mit Kindern, Ehemann und einem Au-pair-Jungen (Barbara Peveling) oder über eine ukrainische Putzfrau (Lene Albrecht). Abgesehen von wenigen Ausnahmen, die sich in gängiger Weise der Doppelbelastung einer Mutter und Schriftstellerin widmen, sind die Herangehensweisen der Autorinnen durchwegs unterschiedlich und oft auch originell.

Einige schöpfen in ihrem Text, so ist zu vermuten, aus ihrer Biografie, andere überdrehen die Gestalt der Mutter ins komplett Schräge. Gut gelungen ist dies, finde ich, der deutschen Krimi-Autorin Katja Bohnet, die eine völlig verantwortungslose Mutter beschreibt: „Mutter verbot mir, mich anzuschnallen. Ohne Gefahr mache hohe Geschwindigkeit keinen Spaß.“ Aber das ist erst der Anfang dieser schaurigen Muttergeschichte, und die Leserin darf sich getrost auf weitere Wahnsinnigkeiten dieser Frau, der man am liebsten nur in der Literatur begegnet, gefasst machen …

Raffiniert nähert sich auch Andrea Grill der vorgegebenen Protagonistin, die in ihrem Text eigentlich keine Hauptfigur darstellt und dennoch immer um die Erzählung kreist. Deren Sohn ist vom Besitz eines Spielzeugs besessen. Ausschließlich dem baldigen Erwerb eben jenes Spielzeugs, das sich seine Mutter nicht leisten kann, ordnet er seine Gedankenwelt unter. Nur dezent schildert Grill dabei die Erschöpfung, Geld- und Zeitknappheit der Mutter.

Die Rolle der Mutter wurde in der Literatur oft auch „stiefmütterlich“ – woher stammt dieser abwertende Begriff? – behandelt und nachdem wir schon bei diesem Stichwort sind: Die Stiefmutter begegnet uns in vielen literarischen Texten und fast immer als rundum böse Figur, so in den Grimm’schen Märchen Hänsel und Gretel und Schneewittchen. Die emotionslose Mutter finden wir bei Flauberts Madame Bovary oder in der Gestalt der Gerda Buddenbrook bei Thomas Mann, um nur einige zu nennen. Seit den 1970er Jahren werden immer mehr Bücher publiziert, in denen die Mutterrolle thematisiert wird. Beispiele der vergangenen Jahre sind etwa Anke Stellings Roman Schäfchen im Trockenen oder der Roman Vom Aufstehen, mit dem Helga Schubert den Bachmannpreis 2020 gewonnen hat – zwei Texte von Autorinnen. Doch nicht nur: Alois Hotschnigs Roman Der Silberfuchs meiner Mutter gerät zur Liebeserklärung an seine Mutter, und auch im vielgelobten Buch Die Freiheit einer Frau von Édouard Louis steht die Mutter im Mittelpunkt.

Kehren wir zurück zu Mutter werden. Mutter sein. Autorinnen über die ärgste Sache der Welt: „Die große Skepsis vor dem Unbekannten spießt sich hier mit der großen Illusion über die Herrlichkeit der eigenen Gene.“ Klar und überzeugend nähert sich Gertraud Klemm den Mühen einer Adoption, den damit verbundenen bürokratischen und teils demütigenden Hürden. Klemms Protagonistin entschließt sich, zwei Kinder aus Südafrika zu adoptieren, resultierend aus der schmerzvollen Erfahrung, keine eigenen Kinder bekommen und das Erlebnis der Schwangerschaft und Geburt nicht selbst erleben zu können. Die Beziehung zu den adoptierten Kindern empfindet die Ich-Erzählerin als rundum vollständige, obwohl sie vor diesem Schritt vielfach gewarnt wurde.

Natürlich ähneln sich die Probleme der schreibenden Mütter in vielem: der Wunsch nach Eigenständigkeit, die Sorge, literarisch nicht mehr genug arbeiten zu können. Eine Qualität dieses Buches besteht in der Vielfalt der Ansätze. Einige beeindruckende Texte kreisen um die allzeit gültige Zerrissenheit zwischen der Rolle als Mutter und als Schriftstellerin. Die Bachmannpreisträgerin 2021 Nava Ebrahimi fühlte sich bei einer Lesung unkonzentriert, weil sie im Gegensatz zu den beiden mit ihr auftretenden Mitlesenden die Wochen davor ausschließlich mit ihren Kindern beschäftigt war. Verena Stauffer entführt uns in sinnlichen Bildern nach Manhattan, wo sie ausgerechnet den Muttertag mit ihrem Liebhaber verbringt. Ihr Gewissen kann sie erst dann beruhigen, als sie mit ihren gut gelaunten Kindern Kontakt aufnimmt.

Was, so fragt sich vielleicht manche Leserin und hoffentlich auch manch Leser, hat sich an der Mutterrolle der vergangenen Jahrzehnte geändert? Sehr vieles, wenn wir zur Realität zurückkommen, die sich natürlich auch in den Texten widerspiegelt. Eine Frau muss sich nicht mehr zwischen Kind oder Karriere entscheiden, der von ihr alleine zu bewältigende Haushalt ist vielfach der Care-Arbeit, die hoffentlich von beiden Seiten geleistet wird, gewichen. Mutterschaft ist in unseren Breiten meist eine bewusste Entscheidung und „passiert“ nicht mehr.

Wie zu Beginn des Textes möchte ich noch einmal eine Begegnung mit einer Bekannten schildern, bei der die früher selbstverständliche Zukunft einer jungen Frau als Mutter zur Sprache kam. Heute kann sie sich dem „widersetzen“, ohne sich stets dafür rechtfertigen zu müssen. Einiges hat sich nicht verändert, das Leben einer Frau mit Kind(ern), in Beziehung oder alleinlebend, ist meist wesentlich anstrengender als jenes der Väter. Und warum eigentlich der Untertitel: Autorinnen über die ärgste Sache der Welt? Die Herausgeberin Barbara Rieger beantwortet diese Frage in ihrem Vorwort: „Denn Mutter sein ist die ärgste, schwierigste, intensivste und schönste Sache der Welt!“

 

Mutter werden. Mutter sein. Autorinnen über die ärgste Sache der Welt
Herausgegeben von Barbara Rieger
Mit Beiträgen von Helena Adler, Lene Albrecht, Katja Bohnet, Teresa Bücker, Nava Ebrahimi, Andrea Grill, Sandra Gugic, Franziska Hauser, Simone Hirth, Gertraud Klemm, Elena Messner, Lydia Mischkulnig, Barbara Peveling, Verena Stauffer.
Leykam Buchverlag 2021

 

Lesereihe FIFTITU% liest …
Die Autorin Lisa-Viktoria Niederberger, von der in dieser Ausgabe der Referentin auch ein literarischer Text zu finden ist, hat für die Vernetzungsstelle FIFTITU% die neue Lesereihe „FIFTITU% liest …“ kuratiert. Die erste Veranstaltung findet im April statt. Zur Lesung und Podiumsdiskussion wurde Herausgeberin und Autorinnen von „Mutter werden“ eingeladen.
Lesung und Podiumsdiskussion: „Mutter werden. Mutter sein. Autorinnen über die ärgste Sache der Welt“ Freitag, 29. April 2022
Voraussichtlicher Veranstaltungsort: Kunstuniversität Linz, Hauptplatz 8, 4020 Linz
www.fiftitu.at/kooperation/fiftitu-liest-mutter-werden-mutter-sein-autorinnen-ueber-die-aergste-sache-der-welt

Hungrig in Linz

Kennt ihr das auch? Wieder mal von einer tollen Party heimgelaufen und dieses hungrige Gefühl geht nicht weg. Oder allein zu Hause auf der Couch im Winter im Lockdown und trotz vollem Magen – hungrig. Wie gerne würdet ihr wen zum Schmusen neben euch haben? Aber ihr sitzt wieder allein zu Hause (oder vielleicht sogar neben dem*der Partner*in) und fühlt euch leer und einsam. Pa Dares über zwischen­menschlichen Hunger und mit Kritik an unhinterfragten Beziehungsnormen.

© Pa Dares

Ich rede von dem Hunger, der entsteht, wenn wir trotz netten Gesprächen immer distanziert bleiben und es bis auf die Umarmung zu Begrüßung und Abschied keine weiteren körperli­chen Zärtlichkeiten gibt – außer derer, die für den*/die* Partner*innen reserviert und die meist fest eingefahren sind. Oder ich rede darüber, dass nur im Rausch körperliche Nähe und Intimität geteilt werden, und nüchtern alles wieder wie vorher ist.

wie es mir damit geht?
ich kann nicht vertrauen, wenn keine tiefe da ist
ohne tiefe gehe ich unter
wie ein objekt, das potentiell gefahr birgt, wenn du dich öffnest
ich fühle mich offen und nackt
my vulnerability is my power –
normalerweise
aber ich erfriere auf deinem eisberg
let’s be careful with each other so we can be dangerous together
ich mach mich nackt und du schaust immer noch nur auf die oberfläche
du konsumierst mich ganzheitlich immer dann wann du gerade willst
und ich muss dich immer noch fragen ob ich von deinem teller essen darf
du musst dich ja nicht gleich ausziehen
aber mach dich doch mal auf
damit fängt’s an

Einige Textzeilen, die ich während einer Performance mit einer Verbündeten bei STWST48 im September 2021 auf die Bühne brachte.

Nach zwei Jahren in Linz bleibe ich hungrig nach einer Form der Zwischenmenschlichkeit, die außerhalb der gesellschaftlichen Normen stattfindet. Innerhalb derer gibt es entweder nur Freun­d*in­nen­schaft oder Partner*innenschaft, in der ich immer wieder das Gefühl habe, dass die Gesprächsthemen einer geschlechtlich-binären Aufteilung, nämlich zwischen Män­nern* und Frauen* unterliegen, und kein Raum für Feedback auf emotionaler Ebene da ist, oder es stellt eine Bedrohung für Paar-Konstellationen dar, wenn wir uns auf emotionaler Ebene mehr öffnen usw.

In Linz begegnen mir an den Orten, an denen ich mich aufhalte, fast ausschließlich (heteronormierte) romantische Zweierbeziehungen. Ich habe das Gefühl, dass die Menschen alle Liebe und Zärtlichkeit nur für ihre Partner*innen aufheben – als ob es Ressourcen wären, die irgendwann aus sind und deshalb sparsam damit umgegangen werden muss.

Dieses Phänomen trägt übrigens den Namen Hungerökonomie: der Glaube daran, dass romantische Liebe, Intimität und Ver­bundenheit begrenzte Ressourcen sind, von denen es nicht genug gibt, um sie zu verteilen – und wenn diese Ressourcen einem Menschen gegeben werden, sie automatisch einer anderen Person weggenommen werden. Dieses Konzept wurde bereits in den 1990ern von Dossie Easton und Janet Hardy im Buch The Ethical Slut erwähnt.

Ich beobachte platonische Freund*innenschaften, in denen sich Menschen auf der einen Seite geistig und „freund*innenschaftlich“ verbunden fühlen. Auf der anderen Seite beobachte ich körperliche und von den Menschen erotisierte Beziehungen in Form von Gspusis oder Partne­r*in­nen­schaften, denen oft eine toxische Romantik innewohnt, die in Kauf genommen wird, weil es á la Love hurts „dazu gehört“.

Es scheint mir, es wäre allgemeingültig, was als Freund*innenschaft und was als Partner*innenschaft gilt, wie mensch sich innerhalb dessen verhält und wie sich kennengelernt wird. Ich erlebe wenig Raum dafür, sich zu erkunden – einfach an der Freude am Gegenüber und des Lebens.

Ich sehe auch Menschen, die versuchen, daraus auszubrechen und sich an den Normen die Zähne ausbeißen, die niemanden haben, an dem*/der* sie sich orientieren können oder mit dem*/der* sie sich darüber austauschen können.

Ich sehe auf ewig emotional vereinsamte Singles, die sich via Dating Apps ein bisschen Hoffnung zu geben versuchen – da draußen finde sich der*die* Eine, der*die alle Wünsche und Begehren stillt, wenn mensch nur außerhalb der eigenen Blase schaut. Stellt euch mal die Situation vor, in der sich zwei Menschen das erste Mal daten: Die monogam lebende Person eröffnet das Gespräch damit, zu beichten, dass sie monogam lebt, anstatt dass Monogamie selbstverständlich vorausgesetzt wird. Denn Monogamie bleibt die unhinterfragte Norm. Dadurch passieren Ausschlüsse und Abwertungen oder es müssen sich immer nur diejenigen „outen“, die es anders leben. Aber wie schön wäre es im Gegensatz dazu, wenn sich niemand „outen“ müsste und Intimität immer wieder neu verhandelt werden würde, so wie es für zwei Menschen in einem Moment eben gerade passt – nicht nach Fahrplan.

Es ist nun mal so, dass das kapitalistische und sehr konservative System in dem wir leben, auf monogame Hetero-Beziehungen ausgerichtet ist – die meisten Menschen in meinem Umfeld hier lohnarbeiten einen Großteil ihrer Zeit, was natürlich auch viel ihrer Energie frisst. Ich kann nachvollziehen, dass mensch am Ende eines langen Tages lieber nach Hause kommt und weiß, was er da bekommt: Kuscheleinheiten, nicht zu viel reden müssen, sich nicht neu auf einen Menschen einlassen, weil die meisten Handlungsabläufe schon eingefahren sind … es gibt kaum Zeit für andere Freund*innenschaften, die das eigentlich auch halten könnten, aber oft niedriger priorisiert werden als die Partner*innenschaft.

Ich beobachte, wie hier alle an katholischen Feiertagen zu ihren Familien fahren, obwohl die wenigsten Lust drauf haben, meist ihre*n Partner*innen mitnehmen und diejenigen zurücklassen, die sich über ein bisschen Liebe und „Verbunden-Fühlen“ und „Beschenken“ freuen würden. Dann sprechen seit Corona und der Impfdebatte alle weißen „Linken“ ständig von Solidarität. Don’t forget: das Private ist politisch, ob wir das wollen oder nicht. Das ist kein feministischer Hirnfick. Wir leben in einer katholischen Dominanzgesellschaft: Während der Lockdowns blieben alle anderen religiösen Feiertage verboten. Aber die Katholik*innen durften die Feiertage mit der Kernfamilie verbringen. Diese unhinterfragte Wichtigkeit der Kernfamilie empfinde ich als unsolidarisch und gewaltvoll: Was ist mit denen, deren Kernfamilie kein sicherer Hafen ist, weil ihre Lebensumstände es notwendig gemacht haben, sich Unterstützungsstrukturen und Wahlfamilien zu schaffen, weil sie das nicht in ihrer Familie gefunden haben? Und was ist mit denen, die es sich ausgesucht haben, der Kernfamilie nicht diese Wichtigkeit zu geben? Oder denen, deren Kernfamilien bereits verstorben sind? Und all den anderen, für die das Konzept Kernfamilie nicht passt. Sie mussten offiziell zu Hause und allein bleiben – am Fest der Liebe. Pfui! Es werden also recht viele Menschen ausgeschlossen – meistens die sogenannten „Ausländer“ und diejenigen, die außerhalb dieser Normen vor sich hindümpeln.

All diese Beobachtungen und der Hunger, wohnen nicht nur der Stadt Linz inne. Es sind strukturelle Probleme, welche nun Mal in kapitalistischen/patriarchalen Systemen vorherrschen. Aber sie fallen mir hier mehr auf, weil Linz eine Kleinstadt und unfassbar konservativ ist. Es ist herausfordernd, in diesem System intime, nährende Beziehungen aufzubauen, die außerhalb unserer Kernfamilien und romantischen Zweierbeziehungen stattfinden – allerdings ist es nicht unmöglich und es fängt mit der Bewusstwerdung an.

Ich würde mir wünschen, dass sich mehr Menschen in meinem Umfeld dessen bewusstwerden, wie viele Normen sie mit ihrem Lebensstil erfüllen, dadurch Privilegien genießen, die anderen nicht gegeben sind und wie gewaltvoll es für Menschen sein kann, die da nicht reinpassen.

Es wird einfach zu selten darüber gesprochen, wie wir unser Miteinander anders gestalten könnten.

Dieser Text ist (m)eine Art Widerstand ge­gen das unhinterfragt Normalisierte. Und Widerstand ist nicht nur in einer Stadt wie Linz längst und immer wieder angebracht. Er ist ein Versuch, den Hunger nach echter Anteilnahme und nach Menschen zu stillen, die sich wirklich umeinander kümmern und nicht nur drüber reden, mehr Weichheit und Zärtlichkeit im Umgang miteinander zu erleben.
Es ist ein solidarischer Akt für diejenigen, die hier weggezogen sind, weil sie es nicht mehr ausgehalten haben und für diejenigen, die hier weiterkämpfen und wirklich solidarisch sind und dabei kaum freie Zeit haben, weil sie fast ausschließlich damit beschäftigt sind, liebevollere Strukturen zu schaffen.

i want a world where friendship is appreciated as a form of romance.
i want a world where when people ask if we are seeing anyone we can list the names of all of our best friends and no one will bat an eyelid.
i want monuments and holidays and certificates and ceremonies to commemorate friendship.
i want a world that doesn’t require us to be in a sexual/romantic partnership to be seen as mature (let alone complete).
i want a movement that fights for all forms of relationships, not just the sexual ones.
i want thousands of songs and movies and poems about the intimacy between friends.
i want a world where our worth isn’t linked to our desireability, our security to our monogamy, our family to our biology.

Alok Vaid-Menon

 

Pa Dares hat eine mehr oder weniger große Migrationsgeschichte: Griechisch-österreichische Großeltern. Geboren in Kingston (GB), Kinder garten in Deutschland, 13 Jahre Schulzeit in Belgien, Bachelor of Science in International Business in Maastricht (Niederlande) und Master of Arts in Intercultural Conflict Management an der Alice Salomon Hochschule in Berlin. Nun wohnt Pa seit Oktober 2019 in Linz, hat ein Jahr bei maiz – Autonomes Zentrum von und für Migran­t*innen im Bereich Sex&Work unter anderem als Street-Worker*in gearbeitet und ist selbst auch als Sexarbeitende tätig (Independent High Class Escort, Porno). Als Sex-Worker referiert Pa u. a. für die Ausbildung Sexualpädagogik in Linz und an der FH.
Der Umzug zurück in Kleinstadtstrukturen – ohne sich emotional darauf vorzubereiten – hatte eine Depression zur Folge, die Pa erst spät bewusst geworden war. Plötzlich war da nur mehr Körperkontakt und enger emotionaler Austausch mit einer einzigen Beziehungsperson und für viele war Pa von Anfang an „die Freundin von“. Seit 3 Jahren schreibt Pa Texte zu verschiedenen Themen und wird endlich auch dafür bezahlt. Ab und an organisiert Pa einen sexpositiven Freudensalon in Linz.

Residency via STWST, 29. 01.–09. 02.
Kunst als Handlungsstrategie. Während einer Artist Residency via STWST wurde mir, gemeinsam mit Mika Bankomat wieder Raum gegeben, unsere vorangegangenen Prozesse zu bündeln und nach außen zu bringen. Unsere Erfahrungen mit verschiedenen Formen von Gewalt durch Einzelpersonen und sozialen Räumen sind nicht nur individuell, sondern kollektiv und über unsere individuellen Erfahrungen hinausgehend. Unsere Verarbeitungsprozesse und unser Umgang mit Wut, Trauer, Verletzung und Schmerz wurden von der persönlichen Erfahrung auf einen Meta-Kontext gebracht. events.stwst.at

Kauf dir ein Buch – Wissen ist sexy:
Zu Lieben / Kapitalismus entlieben. Lieben als politisches Handeln, Lann Hornscheidt
Radikale Zärtlichkeit – Warum Liebe politisch ist, Şeyda Kurt
Beyond the Gender Binary, Your Wound/ My Garden, ALOK
www.alokvmenon.com/about

Der Regenmantel

Kernthemen von Lisa-Viktoria Niederbergers Prosatexten sind häufig Feminismus, Klimaschutz und psychische Erkrankungen. Für ihr aktuelles Romanmanuskript Fische freischneiden hat sie zuletzt mehrere Preise erhalten, so etwa im Herbst 2021 den Kunstförderpreis der Stadt Linz. Anlässlich dessen hier ein Textauszug mit dem Titel Der Regenmantel.

„Bist du bereit?“, fragt Michi bevor wir klingeln und ich sage: „Gleich“, weil ich kontrollieren muss, ob alles passt. Ob mein Regenmantel gut sitzt. Mein Regenmantel aus schwerem, gelbem Ölzeug. Ein Regenmantel so stark, dass ihn die Hochseefischenden in der Nordsee tragen könnten, von dem alles abprallt, auch der ärgste Sturm. Ich nicke, drücke auf die Türklingel. Bussi-links, Bussi-rechts: die Tante, der Onkel, die kleine Cousine, ihr neuer Begleiter: „Kennst du schon Xaver?“ „Nein. Und das ist Michi!“, schiebe ich meinen Freund vor. Er fragt, ob wir den Hummus in den Kühlschrank stellen können. „Ja, wir essen kein Fleisch mehr, wir meinen das ganz ernst und ja, ich weiß, bei der letzten Grillparty vor zwei Jahren, da habe ich die Wildschweinwürste noch gelobt“, sage ich mir vor, übe, falls mich jemand fragt.

Niemand fragt. Samstagmittag: Die Sirene geht los, alle sind da. „Die Pandemie mag uns vieles verlernt haben, aber nicht die Pünktlichkeit“, sagt die Nachbarin und hebt den Aperol. Meine Mutter ist schon im Bikini. Die Steyrer Tante, die große Cousine und ihre Teenies sitzen mit einem aufgeblasenen Einhorn im Pool und trinken knallpinke Alkopops. So viel Familie auf einmal, ich muss mich setzen. Beginne unter dem Regenmantel zu schwitzen. Mein Herz flattert wie ein kleiner Vogel: aus dem Nest gefallen, überfordert. Michi nimmt meine Hand und legt sie auf sein Knie. Mein Cousin geht mit einem Tablett voller Heineken vorbei. Michi winkt für uns beide ab und mein Cousin legt den Kopf schief: „Ach, Alk auch keiner mehr? Habe ich dir erzählt, wie die mich unter den Tisch getrunken hat? Also früher, zwei Mal?“ Michi schüttelt den Kopf und sagt zu mir: „Magst du zählen?“ Michi hat sich gemerkt, was mir hilft. Fünf Dinge, die ich sehe: Tischdeko in Pink, Sweet Sixteen. Ein fremdes Kind läuft mit einer griechischen Landschildkröte in der Hand über den Rasen. Ein Car-Port für den Rasenmähroboter. Ein Riss in der Terrassenfliese. Michis großer Zehennagel gehört geschnitten. Vier Dinge, die ich fühle: Mein Vogelherz. Den Regenmantel, schwer ist er auf den Schultern, klebrig. Ich fühle Hunger, ich habe Durst. Das Wasser auf dem Tisch ist warm, die Kohlensäure ausgeraucht. „Ich gehe uns frisches Wasser holen, okay?“, sagt Michi und ich nicke. Ich rieche Fleisch, nein: Ich rieche tote Tiere auf dem Grill. Ich könnte keine Kuh mehr essen. Vor zwei Jahren haben sie gefragt. Gesagt, dass ich das doch immer mochte: als Kind schon die Knacker zum Frühstück. Und dann habe ich erzählt, von unseren Wanderferien im Pongau und den Schreien der Kühe. Dass der Bauernhof gerade in unserer Woche die Kälber und die Mütter entwöhnt hat. Entwöhnt, so haben die es genannt, wenn es doch heißen sollte, weggerissen voneinander. Und wie die Mütter geschrien haben nach ihren Kindern, tagelang. Zum Fürchten ist es gewesen, besonders in der Früh, beim ersten Tee auf dem Balkon. Das Schreien aus dem Nebel hinter den Fichten, wie im Horrorfilm. Dass die Bäuerin sich entschuldigt hat, dass die „sonst nie so lästig sind“, dass die Kühe „das eigentlich längst gewohnt sein sollten“ und uns eine Sulz mitgeben wollte. Dass Michi und ich gleichzeitig abgewehrt haben und gewusst: sowas kommt uns nicht ins Auto und nicht mehr in die Körper.

Meine Cousine sitzt neben mir auf der Bierbank und lächelt. Bevor ich sie fragen kann, wieso, legt sie mir die Hand auf den Bauch. Sie schiebt einfach den Regenmantel zur Seite, streichelt meine Hautfalten über der Bikinihose. „Ist da etwas, das wir noch nicht wissen dürfen?“, fragt sie und ihre Augen leuchten. „Was?“ Da ist plötzlich etwas im Regenmantel. Mottenlöcher, Risse. „Kriegst ein Kind? Bist schwanger?“, fragt sie und mein Cousin schreit „Sie wollte vorher auch kein Bier! Wer holt den Sekt aus dem Keller?“ Der Regenmantel bröckelt, fällt in gelben Flocken unter die Bierbank. „Niemand ist schwanger.“ Michi ist wieder da, sitzt neben mir wie ein vollgeschneiter Berg im Winter. Alle schauen auf meinen Bauch, enttäuschte Erwartungen in den Augen. Niemand sagt, dass ich also nur fett geworden bin, aber sie denken es. Ich sehe es in ihren Gesichtern. Diese Familie will ein neues Baby und ist enttäuscht, dass mein Körper sie hat glauben lassen, es wäre eins auf dem am Weg.

Mein Stiefvater steht auf einmal da, unsere Tupperbox mit Hummus und eine Selleriestange in der Hand. „Schmeckt gut. Kumin, oder? Aber das Tahini, das schmecke ich nicht raus.“ „Ist keines drin. Ist mir zu bitter.“, sage ich und fühle mich, als hätte ich ewig nicht geredet. „Dann ist es aber kein Hummus, sondern bloß Kichererbsenaufstrich!“ Mein Stiefvater sieht den Teller voller Koteletts, Bratwürste und Käsekrainer und gibt mir den Rest meines Essens. „Kinder, was für ein Festessen“, ruft der Steyrer Onkel und klopft sich auf den Bauch. „Und da fehlt es dir nicht?“, fragt meine Mutter und beißt in eine Wurst. Meine Cousine spricht statt mir: „Sie verhungert auch so nicht!“ Michi hält sein Besteck fest, die Knöchel seiner Finger treten hervor. Er kaut seinen Kartoffelsalat nicht, sondern schlingt ihn. Ich esse Knoblauchbrot, drei Gabeln Tomatensalat und hole den Tablettendispenser aus meiner Handtasche. Mittags sind es nur zwei, niemals auf nüchternen Magen. Jemand sagt etwas, ein Lachen, Michi knurrt. Ich sehe seine Eckzähne, seine Bartborsten rund um den Adamsapfel, seine wilde Frisur und seinen gehetzten Blick. Michi ist mein Wolfshund. Zerreißen würde er die alle, auf einen Pfiff oder einen Wink von mir. Ich verdiene diese Liebe gar nicht, denke ich und muss aufpassen. Ich habe gelernt: depressive Menschen lehnen ihre Liebsten oft ab, weil sie nicht verstehen, wie jemand sie mögen kann, wenn sie sich doch selbst so hassen.

Die Bogensberger sagt, ich kann meine Familie nicht ändern, sondern nur meine Erwartungen an sie. Ich muss sie akzeptieren mit all den Traumata, den Mustern, den Wiederholungen. Oder gehen. „Niemand zwingt Sie, in toxischen Beziehungen zu bleiben“, sagt sie. Und wenn ich mich am Dienstag in der Stunde bei ihr ausheulen werde, wird sie sagen, dass ich das kenne. Und während ich auf den Gummibaum gegenüber ihrer Couch schauen werde, wird mir vielleicht einfallen, dass das bei uns immer schon so war: Bodyshaming als Kulturtechnik, als Familientradition. Dass Fleischbeschau auf solchen Festen noch nie am Kugelgrill geendet hat. Die Cousine als Kind auch zu dick, zu große Brüste als Teenagerin. „Obszön sowas. Die provoziert damit doch die Männer“, werde ich die Oma in meiner Erinnerung sagen hören.

„Ich weiß auch nicht. Ich möchte eine Familienfeier, die sich wirklich nach Familie und nach Feiern anfühlt“, habe ich letzte Woche zur Bogensberger gesagt. Und nicht diese Veranstaltungen, wo man sich ins Koma frisst und spätestens beim Kuchen jemand was zu mir sagt, das mich verletzt. Dann sagt, ich soll das nicht so ernst nehmen „es war ja nicht bös gemeint“. Der Hinweis meiner Mutter zu Ostern, dass Sport laut Für Sie gut gegen depressive Verstimmungen hilft und die mich „patzig“ genannt hat, weil ich gesagt habe, dass das gut ist, ich also meine Tabletten wegschmeißen kann. Statt zur Therapie einfach ins Fitnessstudio gehen und alles wird gut. Da haben die Bogensberger und ich den Regenmantel erfunden. Den Regenmantel von dem alles Negative abprallt.

„Du bist mir eh nicht bös“, sagt meine Cousine, stellt ihren Teller mit Marillenkuchen ab und beginnt zu essen, weil es eine Feststellung ist und keine Frage. Michi wird wieder größer neben mir: grollt, bleckt die Zähne, gelbe Augen. „Michi, hilfst du mir später meinen Regenmantel zu reparieren? Imprägniert gehört er“, sage ich und lege alle Zuversicht und Wärme, die ich von irgendwo unten hervorwühlen kann, in den Satz. Michis Augen werden sanft, die Haare auf seinen Unterarmen legen sich wieder. Ein Kuschelwolf, der beruhigt Marmelade auf seinen Gugelhupf schmiert. „Regenmantel, bei der Hitze?“, fragt der Onkel und sagt zu meiner Mutter: „Das ist doch ein Code für was.“ Und plötzlich, ganz unerwartet, vielleicht zum ersten Mal überhaupt hat jemand in dieser Familie etwas über mich gesagt, das stimmt.

 

Lisa-Viktoria Niederberger, geboren 1988 in Linz, hat in Salzburg Kunstgeschichte und Germanistik studiert und als Redakteurin der Literaturzeitschrift erostepost, als Buchhändlerin und beim freien Radio gearbeitet. Das literarische Debüt „Misteln“, ein Kurzprosaband, ist im März 2018 in der edition.mosaik erschienen. Seit 2015 Veröffentlichungen von Kurzprosa in Literaturzeitschriften und Anthologien. Talentförderungsprämie des Landes OÖ für Literatur 2019, Startstipendium 2021, Kunstförderpreis der Stadt Linz 2021, Theodor Körner Förderpreis 2021. Gegenwärtig Studium der Kulturwissenschaften an der Kunstuniversität Linz und freiberufliche Arbeit an literarischen Projekten sowie Rezensionen und kulturjournalistische Beiträge. Kuratiert seit 2021 die feministische Lesereihe „FIFTITU% liest“ (Kickoff Veranstaltung musste covid­be­dingt auf April 2022 verschoben werden.)
Erschienen sind zuletzt unter anderem: Jen­seits der Genitalpanik: Furchtbare Him­melsweiber und göttliche Scherze (Essay) in:
„Wer begreift hat Flügel“ Essays zu, mit und ausgehend von VALIE EXPORTS ARCHIV, Sonderzahl, Wien, 2021. Aus of­fenem Fenster Cello, in: Die Rampe, Hefte für Literatur #1/2020. Im zehnten Stock geht immer Wind in: Facetten 2020, Literarisches Jahrbuch der Stadt Linz.
Mehr: stifterhaus.at/literaturhaus/literatur-netz-oberoesterreich/autorinnen-detail/Lisa-Viktoria-Niederberger

Edition: ist autonom

Die Linzer Künstlerinnengruppe Edition: gab mit Jänner 2022 ihren Galerieraum auf. Der zukünftige Weg ist, bis auf die Tatsache, dass die Arbeit weitergehen soll, noch offen. Georg Wilbertz hat mit den Betreiberinnen des Vereins für aktuelle Kunst und Kultur gesprochen.

„Der klare Auftrag von Kunst und Kultur einen Beitrag zur Gesellschaft zu leisten, kann derzeit nur in sehr beschränkter Form wahrgenommen werden.“
[Homepage Edition:, 2021]

Eine mit Metallgitter versperrte Tür. Am Graben 7 in Linz. Verkehr rauscht dicht und laut vorbei. Die Schaufenster seitlich des Eingangs sind leer, der dahinter sichtbare Raum ebenfalls. Von 2017 bis zum Januar 2022 diente dieser kleine, an einer eher unattraktiven Stelle der Stadt liegende Laden als Kunstraum des Vereins Edition: der autonomen Präsentation von Künstler*innen und ihrer Werke. Er war damit zugleich – wie jeder vergleichbare Raum – die physisch-sinnliche Schnittstelle in die Öffentlichkeit.

Um es gleich vorweg zu sagen: die während der Jahre 2017 bis 2022 im Kunstraum der Edition: gezeigten Ausstellungen, Themen und künstlerischen Positionen waren zu vielfältig und unterschiedlich, dass man eine künstlerische oder ästhetische Linie herauslesen könnte. Dies gilt auch für die Arbeit der fünf Gründerinnen der Edition: Judith Gattermayr, Theresa Ulrike Cellnigg, Costanza Brandizzi, Amanda Burzić und Kiky Thomanek. Ihre persönlichen Arbeitsweisen sind individuell. Im folgenden Beitrag wird es deshalb weniger um ästhetisch-künstlerische Fragen als um die Arbeitsweise und Zielsetzungen der Edition: gehen.

Wie gründe ich eine Künstler*innengruppe? Und warum?
Die Geschichte der Gründungen von Künstler*innengruppen und -zusammenschlüssen ist lang. Es gibt legendäre, gescheiterte, programmatisch ausgerichtete (was letztlich oft zu Streit und Konflikt führte). Es gibt Vereinigungen, die das künstlerische Schaffen mit sozialen Intentionen verbanden und solche, die eher einer Selbsthilfegruppe glichen.

Die Edition: gründete sich aus dem gemeinsamen Hintergrund des Malereistudiums an der Linzer Kunstuniversität (Klasse Ursula Hübner) heraus und verfolgte von Beginn an das Ziel, nicht nur die eigenen Arbeiten zu zeigen, sondern einen möglichst offenen Raum für Künstler*innen anzubieten und diese kuratorisch zu unterstützen. Dass hier fünf Frauen übernahmen, kann als Gegenmodell zu den bereits bestehenden, arrivierten Vereinen in Linz verstanden werden. Die Edition: verfolgte dabei keinen bewusst feministisch ausgerichteten Kunstbegriff. Dies gilt auch für die Programmierung der Ausstellungen.
Die Motivationen, eine Künstler*innengruppe zu initiieren, können vielfältig sein. Im Falle der Edition: waren neben den Beziehungen, die sich während des Studiums ergaben, soziale Intentionen ausschlaggebend. Sie wirken in zweierlei Richtung. Einerseits geht es um die kollegiale Interaktion innerhalb der Gruppe, andererseits um eine als gesellschaftsrelevant verstandene Verortung der künstlerischen Arbeit und Haltung in der Stadt Linz und ihrer Kunstszene.

Vieles von dem, was die Arbeit der Edition: vor allem in der Anfangszeit prägte, wirkt wie zufällig und ungeplant. Es fehlt ein Gründungsmanifest und auch auf eine künstlerisch-ästhetische Programmatik wurde bewusst verzichtet, da die einzelnen künstlerischen Positionen und Interessen innerhalb der Gruppe sehr disparat waren und sind. Sowohl dieser Verzicht als auch die Ungezwungenheit bei der Wahl von Ausstellungsthemen und -teilnehmer*innen ermöglichten einen spontanen, dynamischen Umgang mit dem Thema Ausstellung. Viele Entscheidungen werden nicht in langwierigen Diskussionsprozessen getroffen, sondern es geht den Mitgliedern der Gruppe um Intuition, um das Nutzen der Dinge, die vorhanden sind. Damit spiegelt die Praxis der Edition: nicht nur die künstlerische Herangehensweise ihrer Mitglieder, sondern sie ermöglicht ein Organisieren und Arbeiten ohne lange Vorlaufzeit, das auf wache Weise im Jetzt verortet ist. Gedacht und geplant wurde von Ausstellung zu Ausstellung.

Zur Offenheit der Edition: gehört eine grundsätzliche Akzeptanz gegenüber allen künstlerischen Gattungen. Die Ausstellungsgeschichte umfasst neben installativen Arbeiten auch konzeptionelle Ansätze. Einen Schwerpunkt nehmen die „klassischen“ Disziplinen Malerei und Zeichnung ein. Bei vielen Ausstellungen wurden gattungsübergreifende Symbiosen und Kontexte inszeniert, die innerhalb des Ausstellungsraums komplexe „Erzählungen“ generierten. Raum und Exponate wurden dabei in ein dramaturgisches Wechselverhältnis gebracht. Bei der – oftmals unbewussten – Inszenierung erzählerischer Momente kam dem Ausstellungsraum eine grundlegende Funktion zu. Er wurde selbst zum Akteur.

5 Millimeter weiter links
Neben der künstlerischen Ausbildung bot die Kunstuniversität mit ihren Ausstellungsanforderungen und -angeboten die Möglichkeit, eigenverantwortlich kuratorisch tätig zu werden. Hierbei ging es nicht nur um die Formulierung und Präsentation ästhetisch-künstlerischer Positionen. Wesentliche Aspekte bestanden in grundlegenden Fragen wie der Exponatwahl, der Hängung, der Gestaltung von Räumen und dem Herstellen von Kontexten. Die Erfahrungen aus der kuratorischen Praxis, die während des Studiums an der Linzer Kunstuniversität gemacht wurden, bildeten die Basis für das eigene Kuratieren („Die Arbeit an der Uni war einfach zu wenig“). Bezüglich des Kuratierens gelangten alle Mitglieder der Edition: durch die Tätigkeit im eigenen Kunstraum zu mehr Wissen über die Details und Feinheiten bei der Planung und Durchführung von Ausstellungen. Dieses Wissen wird inzwischen souverän und selbstbewusst auf andere Räume und Formate übertragen.

Obwohl die fünf Mitglieder der Edition: schon während des Studiums mit der Gründung der Gruppe ein deutliches Zeichen in Richtung Abnabelung gesetzt haben, blieben die Beziehungen zum Kunstuniumfeld eng. Vor allem bei der Auswahl der Ausstellenden griff man meist auf persönliche Kontakte zurück. Eine stärkere Verankerung über Linz hinaus war zunächst nicht das Ziel.

Autonomes Handeln, autonome Kunst
Im Zentrum der Aktivitäten der Edition: steht der Begriff der Autonomie. Einer Autonomie, die sich nicht nur auf einen möglichst freien, selbstbewussten Kunstbegriff bezieht, sondern durchaus strukturell verstanden werden will. War es am Beginn eher dem Zufall geschuldet, dass keine öffentlichen Förderungen beantragt wurden, entwickelte sich diese Haltung mehr und mehr zum Konzept einer unabhängigen Arbeitsweise. Die Edition: war vom Zwang, Jahresprogramme und langfristige Planungen in Förderanträge zu packen, befreit. Entsprechend flexibel, schnell und reaktiv konnten Ausstellungen und Events in der Galerie realisiert werden. Der eigene Raum bot hierzu den idealen, selbstbestimmten Rahmen. Mit der bewussten Entscheidung, den Raum am Graben im Jänner 2022 aufzugeben, wird sich zwangsläufig diese Freiheit in eine andere Arbeitsweise transformieren müssen. Ein „gemütliches Zurücklehnen“ im bisher Bekannten wird ausgeschlossen. Welche Räume (ob virtuell oder real) nun bespielt werden können, steht noch nicht fest. Jedenfalls wird sich zwangsläufig der Planungshorizont erweitern. Eine Konsequenz, derer sich die Mitglieder der Edition: bewusst sind und die sie als grundlegende, inspirierende Veränderung wahrnehmen. Aus der Entscheidung, den eigenen Galerieraum zu kündigen, spricht ein durch den Erfolg der letzten Jahre gewachsenes Selbstbewusstsein.

In die Endphase des Galerieraums fiel die auf Einladung von Rainer Nöbauer in der Galerie Maerz gezeigte Gruppenausstellung der fünf Editorinnen „Was reimt sich auf Edition?“ (dokumentiert im gleichnamigen Katalog). Auch in diesem Titel spiegelt sich die Arbeitsweise der Gruppe, kann er doch, neben anderen Assoziationsmöglichkeiten, als eine unmittelbare Aufforderung zum Weiterdenken, Weiterdichten, Weitersprechen verstanden werden.

Der zukünftige Weg der Edition: ist, bis auf die Tatsache, dass die Arbeit weitergehen soll, (noch) offen und unbestimmt. Ohne eigenen Kunstraum werden Kooperationen und die Verwirklichung von Projekten in anderen Räumen und Kontexten im Zentrum stehen. Bei aller inzwischen erreichten Professionalisierung steht damit vieles wieder auf Anfang.

 

Mehr zur Edition: www.editiondoppelpunkt.at

ce qu’il reste des échos

Das bb15 ist ein von Künstler*innen organisierter Raum für Kunst und Kultur, der experimentelle Zugänge fördert. Im Rahmen eines Artist-in-Residency-Programmes wurde Clarice Calvo-Pinsolle als Soundkünstlerin und Teil des Oscillations-Netzwerks eingeladen. Der Text von Mathias Müller entstand nach einem Gespräch mit Clarice Calvo-Pinsolle, in dem sie über ihren Arbeitsprozess und die neue Soundinstallation ce qu’il reste des échos spricht, die im März im bb15 ausgestellt wird.

Was von den Echos bleibt, Skizze. Bild Clarice Calvo-Pinsolle

Welche Städte, welche Orte bleiben am ehesten unvergesslich? Diejenigen, durch die wir mit offenen Augen gegangen sind, aufmerksam alles betrachtet haben? Oder stattdessen vielleicht die, in denen wir mit den Gedanken woanders waren, ins Leere geschaut, nichts gesehen haben, aber unser Körper, ohne dass wir es zu diesem Zeitpunkt bemerkt hätten, seine Umgebung durch die Haut, durch die Ohren wahrgenommen hat. Clarice Calvo-Pinsolle ist eine Künstlerin, die sich kein Bild von einer Stadt macht. Das Auge ist nicht das entscheidende Instrument der Wahrnehmung. Nicht um das Schauen geht es, sondern das Hören. Keine Fotos, keine Kamera, stattdessen ein Aufnahmegerät. Ein ungewöhnliches Verfahren. Wie erinnert sie sich an die Orte, an denen sie gewesen ist? Indem sie die Geräusche noch einmal hört, die sie damals gehört hat. Ein bildloses Erinnern.

Aber wie kann ein solches Hören vor sich gehen? Das Ohr ist ja nicht das einzige Organ, das empfindlich ist für Schallwellen. Der ganze menschliche Körper ist fähig, Vibrationen wahrzunehmen, wie das Zittern des Bodens über die Füße oder tiefe Töne, die tief im Inneren des Verdauungssystems zu spüren sind. Selbst die Flüssigkeit im Inneren des Auges kann in Schwingungen versetzt werden. Das haben Gehör und Gedächtnis gemeinsam. Der ganze Körper ist daran beteiligt. Ein Geruch, ein Geschmack, eine ungewohnte Haltung, die zufällig eingenommen wird, eine plötzliche Bewegung und schon bricht eine Erinnerung hervor; nicht die Erinnerung an ein Bild, noch nicht einmal an einen Geruch, einen Geschmack oder ein Geräusch, vielleicht die Erinnerung an einen Ort, einen Moment, in dem gerade nichts gesehen wurde, nicht geschaut wurde.

Die Suche nach Erinnerungen, die Suche nach Geräuschen. Ein Spaziergang durch Linz mit einem Aufnahmegerät, um Erinnerungen aufzunehmen. Aber auch die Suche nach Gegenständen der Erinnerung. Andere Formen, um Geräusche, um Erinnerungen aufzunehmen. Ein Geräusch, das ist ja fast das Flüchtigste, das es gibt. Oft genug wird es überhört, aber selbst, wenn es laut genug war, ist es auch schnell wieder vergessen. Etwas, das einmal gesagt wurde, kann nicht zurückgenommen werden. Aber wo ist es hin? Jeder Klang, jedes Geräusch wird durch den Raum, in dem es stattfindet, durch die Resonanzen der Wände, der Fenster, der Möbel verändert und diese Veränderung ist leicht hörbar zu machen, zum Beispiel durch Wiederholung. Aber verändert sich auch der Raum durch das Geräusch? Bleibt etwas zurück in den Wänden, Fenstern, Möbeln? Von manchen Legierungen wird gesagt, sie hätten ein Gedächtnis, weil sie sich an die Form „erinnern“, die sie bei einer bestimmten Temperatur hatten. Und unser Alltag ist voller Gegenstände, die empfänglich sind für Erinnerungen und Geräusche, in die sich die Umwelt oder die Ereignisse in der einen oder anderen Form eingezeichnet haben, wie abgegriffene Schlüssel oder eine Hose, die die Form des Körpers behält, der sie trug. Ein halbgelesenes Buch, das auf genau der Seite wieder aufgeschlagen wird, an der wir aufgehört haben es zu lesen, eine Tasse, deren Henkel fehlt, das Große Glas. Spuren eines langen Gebrauchs oder eines plötzlichen Ereignisses. Eindrücke und nicht Feststellungen.

Rohre, Hydrophone, ein gebrauchter Auspuff, Satellitenschüsseln. Geräusche und Erinnerungen. Schall und Gedächtnis. Das sind die Materialien, mit denen Clarice Calvo-Pinsolle bisher in ihren Installationen gearbeitet hat. Für das bb15 wird sie sich mit einem anderen Gegenstand befassen: mit Schallgefäßen, „vase acoustiques“, Keramikvasen, die, laut der Künstlerin, in die Wände von französischen Kirchen des 16. Jahrhunderts eingelassen waren, um den Schall durch ihre Form, ihr Material zu transportieren, zu verstärken, um es nicht hallen, aber klingen zu lassen. Keine von der Wand zurückgeworfenen Geräusche, sondern Resonanz. „Für mich“, sagt die Künstlerin, „sind das Objekte, die Erinnerungen tragen, die Erinnerung zum Beispiel an vergessene, erloschene Stimmen. Sie wirken stimmverstärkend, vielleicht die Stimmen derjenigen, die nicht genug gehört werden, vergessene Stimmen, Stimmen der Vergangenheit.“

Oft waren diese Keramikvasen, genauso gut könnten sie auch Tongefäße heißen, auf eine bestimmte Weise angeordnet, zum Beispiel musterbildend oder in Wandmalereien eingebettet. Im bb15 sind sie nicht in eine Wand eingelassen, sondern ohne Wand, durch eine Stab-, Stahlkonstruktion gehalten. In jedem Tongefäß befindet sich ein Lautsprecher. Die in Linz aufgenommenen Erinnerungen und Geräusche werden in der Installation, die so auch eine Komposition ist, von Tongefäß zu Tongefäß wandern, von Schallkörper zu Schallköper.

Jede dieser „vase acoustique“ ist von Hand gefertigt und gebrannt, jede hat eine eigene Form, besitzt ihre eigenen Unregelmäßigkeiten, Verunreinigungen, und so klingt der gleiche Ton in jedem Schallgefäß verschieden. Aber jedes Gefäß vibriert, hat eine Resonanz, verstärkt den Ton oder wird vielleicht auch von anderen im Raum befindlichen Tongefäßen in Schwingungen versetzt. Sie verändern sich gegenseitig, klingen gemeinsam.

Ein bildloses Erinnern, oder hier, noch entfernter, eine fremde Erinnerung. Mitten in Linz eine Erinnerung an Linz, aber nicht die eigene. Vielleicht in dieser Installation nicht einmal mehr die Erinnerung der Künstlerin, sondern etwas anderes, das niemandem gehört, und nur jetzt, hier, im Moment des Hörens existiert. Die Tongefäße sind nicht in Augenhöhe, sie sind auf Ohrenhöhe angebracht. Sie sind nicht verschlossen, aber trotzdem ist eine Öffnung notwendig. Nicht die Ohren spitzen, aber den Körper zu einem Organ des Hörens machen.

 

ce qu’il reste des échos. Die Installation „ce qu’il reste des échos“ bedient sich akustischen Töpfen, Klangkörper, die in Kirchen zur Verstärkung oder Veränderung der Stimmen von Predigern und Chören verbaut wurden. Damals wurden sie als Brücke zwischen Gebeten und dem Gesang der Engel im Himmel angesehen. Für die Soundinstallation wurden Keramiktöpfe in unterschiedlichen Formen und Resonanzen geschaffen und mit Lautsprechern ausgestattet, um eine räumliche Klangumgebung im Ausstellungsraum zu erzeugen. Geräusche wie Stimmen, Echos und Field Recordings, Erinnerungsstücke besuchter Orte, werden durch die Gefäße verstärkt – und die Töpfe in einen zeitgenössischen Kontext gebracht.

Clarice Calvo-Pinsolle stammt aus dem Baskenland, lebt und arbeitet in Brüssel, wo sie ihrer Klang- und Skulpturforschung nachgeht. Sie entwirft immersive Installationen, die mit der Wahrnehmung des Betrachters spielen. Ihre Arbeit kreist um den Begriff der Erinnerung und die Sicherung von Erinnerungen, insbesondere durch Klang. Sie hat an verschiedenen Orten wie der Yvon Lambert Foundation in Avignon, dem Museo de la Universidad in Santa Marta in Kolumbien oder dem Hotel de Vogue in Dijon ausgestellt. Ihre musikalisches Projekt werden unter dem Namen Lamin veröffentlicht. www.claricecalvopinsolle.com

Clarice Calvo-Pinsolle
ce qu’il reste des échos
Ab 22. März 2022 im bb15
bb15.at

Vom Rauschen und Brausen

Alexander Till zeigte Vom Rauschen und Brausen zuletzt als Diplom­arbeit. Objekte zwischen Malerei, Bildhauerei und Keramik treffen dabei auf einen Text, der sich gegen sein Geschriebenwerden wehrt. Aus Vom Rauschen und Brausen im O-Ton zitiert: Ein Teil der […] Texte ist aus einer Abwehrhaltung, man könnte sagen aus Ressentiment entstanden. Einem Ressentiment im Sinne von: ‚Seht, was passiert, wenn man die Sprache zwingt, sich um die Kunst zu wickeln.‘

Weiter heißt es: ‚Dementsprechend sind [die Texte] sicher nicht frei von Zynismen, endlos zerkauten Themen, […] Polemik, etc.
Und vielleicht als Widerstand gegen eine Welt, die sprachliche und politische Inhalte, Multimedialität, Interaktivität, Partizipation, etc, voraussetzt, hängen hier auch einfach nur Bilder & stehen Skulpturen herum.
Und die Aussage könnte sein: es ist genug.‘

Die Referentin hat nun gerade wegen diesem gegenläufigen Verhältnis von Kunst und Sprache Alexander Till eingeladen, einige Kapitel in dieser Ausgabe #27 zu veröffentlichen. Die Auswahl der Kapitel findet sich in Folge. Der gesamte Text sowie das titelgebende Manifest können online nachgelesen werden.

Das „Rauschen und Brausen“ ist übrigens dem Zitat entlehnt, das Wittgenstein seiner logisch-philosophischen Abhandlung voranstellt:

… und alles was man weiß, was man nicht bloß Rauschen und Brausen gehört hat, lässt sich in drei Worten sagen.

Zwischen ‚Unkonzept‘, ‚Abschiedsgruß der Sprache‘ und einem Kunst-Fundament, das sich eben niemals und nicht ‚in drei Worten sagen lässt‘ durchwaten wir hier nicht-deckungsgleiche Räume des Rauschens und Brausens, des Sagbaren und Nicht-Sagbaren und, wenn man so will, zwischen Subjekt und Objekt und sämtlichen anderen Dichotomien, die Alexander Till in seiner Arbeit zwischen bildender Kunst und Sprache erstehen lässt
(Alle Zitate: Alexander Till).

# Pflanzenwelt
Dieser Text muss damit beginnen, dass ihn das Werk nicht braucht, ebenso wie es mich nicht braucht.
Wofür könnte ihn das Werk überhaupt *brauchen*?
Wer den Text liest, kann beurteilen ob das Kunstwerk wichtig ist oder nicht. Da es heute viele Kunstwerke gibt, ist das notwendig.
Der Text enthält auch wichtige Informationen, die der Betrachterin Halt an der sonst inerten Oberfläche des Kunstwerks bieten. Er stellt klar, inwiefern das Kunstwerk sich auf sie und ihr Leben bezieht und schließt eventuelle Fehlinterpretationen aus.
In diesem konkreten Fall haben wir es mit vielen *organischen* Formen zu tun. Organische Formen verweisen auf die Pflanzenwelt, die wiederum auf das Klima verweist, das uns bekanntlich alle betrifft.
Folglich auch unsere Betrachterin.
QED
Das war einfach.
So ist auch ausgeschlossen, dass dieses Werk als rechte Propaganda missverstanden wird.
Darauf sollte man immer achten.

# Stärke
An der Unterseite ist mit Bleistift eine sechs oder neun geschrieben.
Ich richte das Regal wieder auf. Und den Couchtisch. Die Beine sind locker und weisen nach außen. Wie Bambi, das auf dem Eis kreiselt.
Es ist unbefriedigend viel Schleim mit wenig saugfähigem Material zu entfernen. Sich in das Gefühl fallen zu lassen funktioniert nicht, es fehlt etwas. Irgendetwas, dann ginge es. Wischen, falten, wischen, mehr schieben als binden.
Mancherorts ist es bereits verkrustet. Ich verwende den Ceranfeldschaber und mache einen Kratzer in die Edelstahloberfläche des Dunstabzugs. Auch in den Schiebeschaltern ist es fest.
Der Küchenboden ist weiß angestaubt. Ich versuche den Staubsaugerschlauch wieder zu befestigen. Es ist scheinbar ein Plastikschnapper abgebrochen. Ich suche Gewebeband. Es gibt nur transparentes Tixo in feinsten Streifen, verteilt auf mehrere fast leere Rollen.
Ich schiebe den Schleim mit dem Scheibenabzieher über den Boden. Der Schleim vermischt sich mit Haaren und Staub.
Etwas schabt über den Boden und ich hebe den Abzieher. Zwischen Boden, Abziehgummi und Haaren bildet sich für kurze Zeit eine transparente Haut. Ich bin wieder da.
Auf dem Parkett, in einen Spannungshügel gebettet, liegt etwas Kleines und Schwarzes. Ein Plastikschnapper.
Die Polstermöbel, werden die anderen sagen, muss man entsorgen. Ich glaube man muss sie nur nass reinigen. Oder warten bis man alles abbürsten kann, oder vielleicht ganz in Schollen herunterbrechen. Es ist immer leichter, wenn sich keiner einmischt.
Die Elektroden kann man wiederverwenden, sie kleben dann nur nicht mehr so gut.
Der Griff des Lötkolbens ist auch schon trocken. Die Fuge zwischen Hartplastik und Silikoneinlagen ist lückenlos gefüllt. Ebenso fünf Löcher der Steckplatine. Es ist auch etwas zwischen die Lötdrahtwindungen gekrochen.
Ich stelle den halbleeren Kartoffelstärkekarton wieder ins Regal. Auch den Salzsack. Die Edelstahlschüssel wird mit Wasser gefüllt, das muss erst einziehen.

# Begleitschreiben
Gerade vorhin, auf dem Weg zum Zug, hatte ich wieder eine Vorstellung davon, was ich zu sagen habe. Eine Frage, die sich zuallererst stellt: Wie tief soll das Hinterfragen reichen? Hinunter zu: *inwiefern braucht ein Kunstwerk einen Text?* Es scheint auf den ersten Blick folgendermaßen: ebensowenig, wie ein beliebiges großflächiges Gepinsel zwingend Freiheit bedeutet, führt ein bodenloses Hinterfragen notwendig in irgendeine tatsächliche Tiefe.
Der typische Pseudoboden eines Textes wie diesem wäre die Selbstreferenz auf Ebene der Aufgabenstellung. (bei der ich mich ehrlicherweise selbst immer wieder erwische) Also die Frage, inwiefern es überhaupt legitim ist, einen Begleittext, sozusagen einen Beipackzettel für ein Kunstwerk, vorauszusetzen. Die Auseinandersetzung mit dieser Frage würde vielleicht zum Versuch ihrer Beantwortung führen, oder zu mehreren nur mit beliebigen Satzzeichen gefüllten Seiten, oder zum mehrmaligen Wiederholen eines einzelnen Satzes, oder ähnlichen Protestakten.
Während ich selbst der Ansicht bin, dass ein Kunstwerk definitionsgemäß auch ohne Zettel an der Wand funktioniert (es darüberhinaus weder einen Kontext braucht, noch aus „seiner Zeit heraus“ verstanden werden muss), kann ich die Forderung nach einer Erklärung aus pragmatischen Gründen verstehen. Sozusagen aus Gründen der Erwachsenenwelt.
Was ist dieses Erwachsensein? In einem Sinn, eine Abstumpfungserscheinung, (und es wäre falsch zu glauben es ginge hier darum ihr Gegenteil zu propagieren) eine Ermüdung, die sich nach dem wiederholten Stellen gewisser Fragen einstellt, und zu einem *weil es halt so ist* führt. Aber halt! Ist nicht genau dieses *weileshaltsoist* das Gift unserer Welt?
Vielleicht ist es mittlerweile wahrnehmbar, dass auch dieser Text, man erkennt es vielleicht schon am Tonfall, den Fängen des Zynismus nicht entgangen ist. Auch wir stehen mit allen Füßen noch fest in der unendlichen Bodenlosigkeit der Selbstreferenz. Wieder eine Sackgasse. Wie kommen wir da wieder raus? Einfach schreien? Irgendetwas Absurdes tun? Den Text verbrennen? Authentisch sein? Uns Ritzen? Unkontaminiert von den Manierismen jeglicher Expertise einfach drauflostanzen, bis sich die anfängliche Peinlichkeit in Begeisterung verwandelt und irgendjemand, der uns so liebt wie wir sind, zu klatschen beginnt?
Dünnes Eis.
Was eines Begleitschreibens bedarf, jedenfalls, ist nicht das Kunstwerk, sondern das Begleitschreiben.

# Verschwörungstheorie
Die Kunstuniversität ist in erster Linie eine Institution, eine verkrustete, bei genauerer Betrachtung, (hier wäre ein „jedoch“ fehl am Platz) eine perfekt funktionierende, sich selbst regulierende. (Man stelle sich eine Haftanstalt vor, in der bis in die Direktion die gesamte Belegschaft aus Insassen besteht.)
Niemand stellt Fragen, wenn in einer staatlichen Institution Protestworkshops veranstaltet werden. Auch nicht bei Kursen, in denen es darum geht, Manifeste zu schreiben. Manifeste für wasauchimmer, einfach um die Manifestenergie abzuleiten.
Auf diese Weise können sich eine Vielzahl an Personen bei minimalem Materialaufwand die Hörner abstoßen, um danach optimal in den Kulturbetrieb eingegliedert zu werden.
Wir lernen es Fahrräder zu reparieren, feministischen Krawall zu veranstalten und nebenbei auch noch ein paar individuell gestaltete Einrichtungsgegenstände an reiche Leute zu verkaufen. Auch Sprayer werden bei uns domestiziert, auf mobile Bildträger umgeschult und mit Awareness ausgestattet.
Allein das Reinigungspersonal wird bisweilen skeptisch, weshalb auch peinlich genau auf getrennte Aufenthaltszeiten geachtet wird.
Nur manchmal, wenn manche es mit dem Ausschweifen zu genau nehmen und zu den unmenschlichen Reinigungspersonalzeiten von diesem aus dem Atelier gekehrt werden, kommt es zu rätselhaften Begegnungen.

# Diode
Die Schienen der Straßenbahn verlaufen direkt durchs Gras, das hat etwas Utopisches an sich. Eine Welt, in der alles von Gras bedeckt ist, durch das man dann auf Schienen fährt. Beim letzten Gespräch wurde ich gefragt, was meine Erzählung ist. Tatsache ist, dass es keine Erzählung gibt. Zumindest noch nicht. Alles was es im Vorhinein gäbe, wäre eine langweilige Spekulation. Irgendetwas, um Bürokraten ruhig zu halten, ihnen das Gefühl zu geben es tue sich etwas, die Kunstmaschine liefe wie geschmiert. Die tatsächliche Kunstmaschine ist aber eher ein Verdauungstrakt, der ab und zu quantifizierte Blasen auswirft, wie eine Rauschdiode. Könnte ich mir irgendein Bauelement aussuchen, es wäre eine solche Rauschdiode. Da bekommt man wieder richtig Lust auf Elektronik. Wieder ein Beispiel dessen, wo­rum es geht: Wenn ich Schaltungen baue, weiß ich nie vollkommen, was ich eigentlich tue. Genau wie sonst auch. Maria Lassnig hat von der Malerei gesagt, sie sei eine Ur-Technik, also etwas, das absolut unkompliziert und direkt ist. Es ist interessant darüber nachzudenken inwiefern das tatsächlich der Fall ist.
Dass das Arbeiten mit elektronischen Schal­tungen eine unfassbare Industrie vor­aus­setzt, ist einleuchtend, allerdings ist die­se in unsere Welt bereits dermaßen integriert, dass man eben in jedem Straßengraben bereits einen alten Videorekorder findet, dass also diese immense Industrie bereits zu einem Grundbestandteil unserer Welt geworden ist. Ähnlich wie man als Malerin industriell hergestellte Farben wie Echtorange oder Preußischblau mit demselben Selbstverständnis verwenden kann.

 

Auszug aus „Vom Rauschen und Brausen“, 2. Auflage, Linz 2021, Alexander Till
Mit Hinweis auf den kompletten Text mit allen Kapiteln, insbesondere dem titelgebenden Manifest
„Vom Rauschen und Brausen“.
Online auf: alexandertill.at