Das Nadelöhr der Anarchie

Letztes Jahr ist Wilfried Steiners Essay Gustav Landauer oder Die gestohlene Zeit erschienen. Andreas Pavlic hat die Geschichte über den Anarchisten Landauer gelesen.

Wilfried Steiner beginnt seinen Essay über Gustav Landauer mit einer biblischen Assoziation. „Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt. Doch eher gelangt ein Reicher in das Reich Gottes als drei Anarchisten ins Wittelsbacher Palais.“

Allen Unwahrscheinlichkeiten zum Trotz fand in der ersten Phase der Münchner Räterepublik, in der Woche vom 7. bis zum 13. April 1919, dieses außergewöhnliche Ereignis statt. Gustav Landauer, Erich Mühsam und Ret Marut schlüpften durch dieses Zeitfenster, walteten in eben diesem Palais ihres Amtes und ließen einen Hauch von Anarchie durch das Land wehen. Der Preis dafür war hoch. Landauer wurde von den konterrevolutionären Schergen ermordet, Mühsam kam in Festungshaft und Marut tauchte unter und floh aus dem Land. Der Zusammenbruch des vom Krieg brüchig gewordenen politischen Systems wurde zunächst von jenen Men­schen beschleunigt, die über Jahre zuvor alternative Gesellschaftskonzepte propagiert hatten und sich in anderen Lebensweisen versuchten, bis sich eine neue Ordnung ihrer entledigte.

Steiner versucht diese Menschen zu zeigen. Sein Zugang ist, wie im Nachwort von Gunna Wendt ausgeführt, „einem persönlichen Magnetismus gehorchend“ Gustav Landauer von mehreren Richtungen aus nachzuspüren. Dabei geht es ihm weniger um seine anarchistische Theorie oder sein philosophisches Denken, sondern um den Kreis seiner Gefährtinnen und Freunde. So zieht es Steiner zu Landauers verschollenem Freund Ret Marut, der sich als anarchistischer Zeitungsmacher der Rätebewegung anschloss, sich der Verhaftung entzog und auf der anderen Seite des Atlantiks als B. Traven seinen literarischen Ruhm begründete. Oder zu Erich Mühsam, Schriftsteller, Bohemien und Anarchist, Freund und Kampfgefährte, der sich in den 1910er Jahren Landauers Sozialistischem Bund anschloss. Vor allem zieht es ihn zu Hedwig Lachmann, einer Schriftstellerin und Übersetzerin, die 1903 Landauer heiratete. Gemeinsam übersetzten sie Oskar Wildes Roman „Das Bildnis des Dorian Gray“ und führten ein prekäres Leben als Künstlerinnen und Intellektuelle in London, Berlin und schließlich in Krumbach in Bayern. Dort verstarb Lachmann an einer Lungenentzündung. Landauer saß an ihrem Sterbebett und verfasste darüber eine kleine Schrift. Nicht Landauers »Aufruf zum Sozialismus« oder sein philosophisches Werk „Skepsis und Mystik“ nimmt Steiner in seinem Essay in den Fokus, sondern dieser kleine Text ist es, der ihn zutiefst berührt. „Er heißt Wie Hedwig Lachmann starb und schildert auf ebenso beklemmende wie hingebungsvolle Wei­se die letzten sechsmal vierundzwanzig Stun­den eines Mannes am Sterbebett seiner Frau. Ein derart konziser Text, auf jedes Wort bedacht und gleichzeitig ungestüm nach nicht verbrauchten Bildern für die Zumutung des Todes suchend, war mir noch nicht untergekommen.“

Die subjektive Hinwendung und vielschichtige Auseinandersetzung mit Landauer und seinem Umfeld ist die Stärke dieses sprachlich gekonnt umgesetzten Essays von Wilfried Steiner. Offen bleibt jedoch die Frage, welche Antworten Gustav Landauer uns heute geben kann, falls sich ein Zeitfenster für eine herrschaftsfreie Gesellschaftsordnung wieder einmal öffnen sollte.

 

Wilfried Steiner: Gustav Landauer oder Die gestohlene Zeit. Essay, Limbus Verlag, 2021

Wilfried Steiner liest außerdem aus seinem neuen Roman, der ein Wissenschaftskrimi zu sein scheint.
Wilfried Steiner „Schöne Ungeheuer. Roman“ Di 22. März, 19:30 h im Stifterhaus

Diese Rezension wurde ursprünglich für das Tagebuch verfasst: tagebuch.at

Die Kommune ist nicht tot!

Die Referentin bringt seit mehreren Heften eine Serie über frühe soziale Bewegungen und emanzipatorische Entwicklungen. Luxus für alle, Gleichheit in Aktion und die sozialen Beziehungen: Eva Schörkhuber beginnt mit einem Blick auf die Occupy-Bewegung der 2010er-Jahre und fokussiert danach die Commune de Paris und die Kunst nicht (dermaßen) regiert zu werden.

Der Sturz der Vendôme-Säule. Foto de Franck, Wikimedia Commons

„La Commune n’est pas morte“, die Kom­mune ist nicht tot, stand auf so manchem Plakat der Platzbesetzer:innenbewegung zu Beginn der 2010er Jahre: Auf prominenten Plätzen in zahlreichen Ländern, darunter Spanien, Griechenland, Frankreich und Deutschland, versammelten sich Hunderttausende, um im öffentlichen Raum über parteipolitische Grenzen hinweg gemeinsam Kritik zu üben an den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen. Sich in Kritik zu üben ist, wie sich in historischen und zeitgenössischen sozialen Bewegungen zeigt, eine Haltungsfrage, die sich im Widerstand gegen Regierungsformen und -techniken immer wie­der neu stellt.

Seinen berühmten Vortrag Was ist Kritik beschließt Michel Foucault damit, dass er das Projekt der Aufklärung – selbstbewusst einen Weg aus der Unmündigkeit zu beschreiten – in einen „entschiedenen Willen nicht regiert zu werden“ übersetzt. Zuvor hatte er im Sinne einer „allgemeinen Charakterisierung“ vorgeschlagen, Kritik als „die Kunst nicht dermaßen regiert zu werden“ zu bezeichnen. Die abschließende Verallgemeinerung trug ihm die Frage ein, ob es am „Missbrauch der Regierungsentfaltung liege“, die ihn zu einer „radikalen Position“ geführt habe, einer Position, die jegliche und nicht nur eine bestimmte Weise regiert zu werden ablehne. Foucault antwortet dem akademischen Rahmen entsprechend ausgewogen: „Ich bezog mich nicht auf eine Art fundamentalen Anarchismus, nicht auf eine ursprüngliche Freiheit, die sich schlechterdings und grundlegend jeder Regierungsentfaltung widersetzt“, stellt er klar, um zwei Sätze weiter noch einmal auszuholen: Wolle man „diese Dimension der Kritik“, von der er spreche, ausloten, „müsste man sich dann nicht mit einem Sockel der kritischen Haltung beschäftigen, die entweder die historische Praktik der Revolte, das Nicht-Akzeptieren einer wirklichen Regierung oder die individuelle Erfahrung der Verweigerung der Regierungs­realität wäre?“

Kämpfe um Erinnerung
In Foucaults Vortrag ist, im Gegensatz zur Französischen Revolution von 1789, von der Pariser Kommune keine Rede. Als eine Art „Sockel der kritischen Haltung“ betrachtet die Literaturwissenschafterin Kris­tin Ross die Commune. Sie interessiert sich weniger für die Held:innengestalten als für die konkreten Ausprägungen der von den Communard.e.s praktizierten „Kunst nicht regiert zu werden“. In einem Gespräch mit der Zeitschrift dérive erzählt sie von ihrer Auseinandersetzung mit den Schriften der Kom­mu­nar­d:in­nen, die über­lebt haben und berichten konnten. Es han­delte sich dabei um eine verhältnismäßig geringe Zahl an Zeug:innen, da viele, die an der Kommune beteiligt waren, nicht schreiben und lesen konnten bzw. nur in den wenigen Wochen, in denen die Pariser Kommune am Werk war, Zugang zu Bildung in Anspruch nehmen konnten.

Dass unmittelbar nach der blutigen Nie­der­schlagung, der berüchtigten semaine sang­lante im Mai 1871, viele zur Feder griffen, um die Ereignisse und ihre Erfahrungen in der Commune zu dokumentieren, interpretiert Ross so, dass ihnen bewusst war, dass es zu einem Kampf um die Erinnerung an die 73 Tage der Commune de Paris kommen würde. Der Nie­derlage folg­ten Verhaftungs-, Hinrichtungs- und De­por­tationswellen sowie die Restauration einer Regierungsordnung, die, wie zuvor, von Geschlechter-, Herkunfts- und Klassenhierarchien geprägt war. Die Kathedrale Sacré Cœur, die von 1875 an auf dem Pariser Montmartre – einem der wichtigsten Versammlungsbezirke für die Kommunard:innen – errichtet wurde, ist per Gesetz ausdrücklich auch „der Sühne der Verbrechen der Kommune“ gewidmet: Die berühmteste Postkarten-Kirche von Paris symbolisiert demnach eine unverhohlene Umkehr von Tätern und Opfern, wobei eines der schwerwiegendsten „Verbrechen der Kommune“ aus Sicht der Kirche wohl darin bestand, dass jeglicher klerikale Einfluss auf Bildung und Lebensführung ausgeschlossen wurde.

Während in konservativen Erinnerungsgemeinschaften die Pariser Kommune als Mahnmahl dafür steht, wozu die Auflösung bzw. Schwäche von Regierungen führen kann, kreisen linke Zusammenhänge oft um die Erzählung von der Niederlage der Kommune: Immer wieder wird sie eingebettet in den historischen Verlauf gescheiterter oder niedergeschlagener Revolutionen. Die Geschichte der Commune ist zu einem Monument geronnen, zur Statue eines heroischen, aber verlorenen Arbeiter:innenkampfes erstarrt.

„… auf die Geburt des gemeinschaftlichen Luxus, den Glanz der Zukunft und die Weltrepublik“
In den Augen von Kristin Ross sind Denkmäler jeglicher Art dazu da „unseren Blick zu zentralisieren“. Sie regieren unsere Perspektive auf die Geschichte ebenso wie auf eine Stadt oder eine Landschaft. Dementsprechend ist der einzig produktive Umgang mit Denkmälern ihre Demontage, im materiellen wie im symbolischen Sinn. Während die Kommunard:innen die Vendôme-Säule in Paris, „dieses lumpige napoleonische Möbel“, wie William Morris sie nannte, Stück für Stück abtrugen, geht Ross Schritt für Schritt den radikalen Entscheidungen und breit diskutierten Grundsätzen der politischen Gedankenwelt der Pariser Kommune nach.

So stößt sie auf den Luxus für alle, den luxe communal: Dabei handelt es sich nicht um „Luxus“ in einem bürgerlich-kapitalistischen Sinn, sondern, wie es ein Kommunard im Rückblick beschreibt, darum, dass die Kommune „nicht durch die sie Regierenden, sondern durch die, die sie verteidigten, ein […] Ideal für die Zukunft aufgestellt“ habe: „Überall wurde das Wort ‚Kommune‘ im denkbar umfassendsten Sinne verstanden, als Name für eine neue Menschheit, bestehend aus freien und gleichen Gefährten, die die Existenz alter Grenzen gar nicht beachten und sich vom einen Ende der Welt bis zum anderen in Frieden gegenseitig helfen.“

In diesem „Ideal für die Zukunft“ werden die Grenzen, welche für eine bürgerliche Gesellschaftsordnung konstitutiv sind, abgetragen: jene zwischen geistiger und körperlicher Arbeit, zwischen Stadt und Land, Theorie und Praxis, Kunst und Handwerk. Die Einzugsgebiete dieser kritischen Praxis sind lokale Einheiten, die untereinander kooperieren, weit über alle Staats- und Institutionsgrenzen hinweg. Die Orte der Organisation der Commune-Bewegung waren nicht die Arbeitsplätze, son­dern die Wohnbezirke, in denen die Menschen ihre alltäglichen Praktiken politisierten. Der Vorteil davon war, dass sich von Anfang an nicht nur Lohnarbeiter organisierten. Alle – auch Arbeitslose, Frauen, Kinder, Heimarbeiter:innen usw. –, die in der belagerten Stadt verblieben waren (ein Großteil der Bourgeoisie, vor allem jener, der über Landbesitz verfügte, hatte Paris, vor dessen Toren die deutsche Armee stand, verlassen), konnten an der Kommune teilhaben. Die nicht nur propagierte, sondern tatsächlich praktizierte „Gleichheit in Aktion“ umfasste alle Lebensbereiche: Das Ziel war eine Form der Emanzipation, die sich weder institutionalisieren noch als Regierungstechnik anwenden ließ. Das betraf den Bereich der Bildung, der aus einem meritokratischen abstrakten Gleichheitsideal gelöst und auf jene Beine gestellt werden sollte, die nicht das, was eine kleine Gruppe unter „Bildung“ versteht, an die gesellschaftlichen Ränder befördern, sondern die den Gedanken, mit denen sich die Menschen in ihrer Alltagspraxis tragen, Raum und Zeit verschaffen, ebenso wie das künstlerische Feld. Die Fédération, die sich gründete, um ein revolutionäres Kunstprogramm zu ent­wickeln, in dem unter anderem die Trennung von Kunst und Handwerk aufgehoben wurde, befasste sich weder mit normativen ästhetischen Kriterien noch mit der Bewahrung eines künstlerischen Erbes: Es ging vielmehr darum, „alle Elemente der Gegenwart freizulegen und zur Entfaltung zu bringen“. Am Ende ihres Manifestes findet sich auch die Formulierung des luxe communal als erklärtes Ziel, das es „zum Glanz der Zukunft und der Weltrepublik“ zu erreichen gilt.

Der Beginn einer ganz anderen Lebensweise 
Kunst sollte ebenso wie die Bildung nicht in Institutionen eingeschlossen werden, son­­dern ihren Platz unmittelbar in den sozialen Praktiken finden. Diese „Gleichheit in Aktion“ wurde auch im Hinblick auf politische Teilhabe praktiziert. Auf die Fra­ge, warum die Frauen der Kommune, die maß­geblich an neuen Zugängen zu Bildung beteiligt waren und die eine der einflussreichsten Gewerkschaften gegründet hatten, wenig Interesse an politischer Gleichberechtigung in Form eines Frauenwahlrechts hatten, antwortet Kristin Ross im dérive-Gespräch: „Ich glaube, es liegt daran, dass Feministinnen, wie auch andere Kommunarden, die Commune als den Beginn einer ganz anderen Lebensweise, al­so einer gesellschaftlichen Revolution be­trach­teten. Sie dachten, dass alle mögli­chen neuen politischen Formen am Horizont auf­tau­chen würden, warum sich also mit einer Teil­habe an den schon vorhandenen, un­ter­drü­ckerischen bourgeoisen Formen begnü­gen?“

In der „Kunst nicht dermaßen regiert zu werden“, die während der kurzen langen 73 Tage der Commune de Paris praktiziert wurde, artikuliert sich demnach auch ein „entschiedener Wille nicht regiert zu werden“. All die Mittel, die zur Produktion eines sozialen Alltages nötig sind, selbst in die Hand zu nehmen, bedeutet, sich in radikaler Kritik zu üben, die Arten und Weisen, in denen über die Köpfe, Arme, Mägen und Beine hinweg bestimmt wird, zu demontieren und Zugänge zu ganz anderen Lebensweisen in Anspruch zu nehmen. Darin besteht das Vermächtnis der Pariser Kommune, das sich, im Ge­gensatz zu einem Denkmal, mit jeder Vergegenwärtigung verändert und, wie die Oc­cupy-Bewegung, immer neue Plätze gesellschaftlicher Auseinandersetzung und Orte sozialer Beziehungsweisen anvisiert.

 

Kristin Ross: Luxus für alle. Die politische Ge­dankenwelt der Pariser Kommune. Aus dem Englischen von Felix Kurz. Berlin: Matthes & Seitz 2021

Jochen Becker, Kristin Ross, Christoph Laimer: Abräumen der Monumente. Ein Gespräch mit Kristin Ross über den langen Wellenschlag der urbanen Revolution. In: dérive. Zeitschrift für Stadtforschung, 84/Juli-September 2021, S. 18–23

Michel Foucault: Was ist Kritik? Aus dem Franzö­sischen von Walter Seitter. Berlin: Merve 1992

Die Serie in der Referentin ist auf Anregung von Andreas Gautsch bzw. der Gruppe Anarchismusforschung entstanden, siehe auch: anarchismusforschung.org

Pariser Kommune
Als Pariser Kommune,
La Commune de Paris, wird der während des Deutsch-Franzö­sischen Krieges spontan gebildete revoluti­o­näre Pariser Stadtrat vom 18. März 1871 bis 28. Mai 1871 bezeichnet, der gegen den Willen der konservativen Zentralregierung versuchte, Paris nach sozialistischen Vorstellungen zu verwalten. (Wikipedia)

Drei Füße zur Freiheit. Schreiben – Malen – Filmen.

In Memoriam Herbert Achternbusch: Richard Wall über den im Jänner verstorbenen anarchistischen Gesamtkunstwerker – und auf Gedenkfahrt von seinem Waldviertler Haus zu Achternbuschs verlassenem Waldviertler Haus.

„Kunst kommt von kontern“, meinte der bayrisch-anarchistische Maler, Schriftsteller und Filmemacher Herbert Achternbusch in einem Interview. In seinem Film Die Atlantikschwimmer von 1976 stehen Herbert und Heinz am Ufer eines Sees, in engen Badehosen und lächerlichen Schwimm­brillen vor den Augen, und wollen weg, über den „Atlantik“. Da sagt die Figur Herbert, gespielt von Achternbusch selbst: „Du hast zwar keine Chance, aber nutze sie!“. Sie hüpfen ins Wasser und schwimmen los …

Es ist zu hoffen, dass nicht nur Sprüche wie diese von seinem immens umfangreichen und vielfältigen Schaffen in Erinnerung bleiben. Ein Wunsch, ausgesprochen im 1978 uraufgeführten Film Servus Bayern, blieb ihm jedenfalls verwehrt: „In Bayern möchte ich nicht einmal gestorben sein!“ Am 10. Jänner dieses Jahres ist er 83jährig in München gestorben.

„Bis mich das Sitzen schmerzte“: Biographisches
Achternbusch wurde 1938 als uneheliches Kind eines Zahntechnikers und einer Sportlehrerin in München geboren, wuchs jedoch bei seiner Großmutter, die gerne gemalt haben soll, im Bayrischen Wald auf. Dass er für Werner Herzog das Drehbuch zu Das Herz aus Glas schrieb, ist möglicherweise auf diese Zeit zurückzuführen. In seiner eigenen Darstellung verliefen Geburt und Sozialisation wie folgt: „Ich musste 1938 auf die Welt kommen, nachdem ich mir meine Eltern schon ausgesucht hatte. Meine Mutter war eine sportliche Schönheit vom Land, die sich nur in der Stadt wohlfühlte. Mein Vater war sehr leger und trank gern, er war ein Spaßvogel. Kaum auf der Welt, suchten mich Schulen, Krankenhäuser und alles Mögliche heim. Ich leistete meine Zeit ab und bestand auf meiner Freizeit. Ich schrieb Bücher, bis mich das Sitzen schmerzte. Dann machte ich Filme, weil ich mich bewegen wollte. Die Kinder, die ich habe, fangen wieder von vorne an. Grüß Gott!“

Nach seinem Abitur 1960 begann Achternbusch zu malen und zu schreiben. Ein Jahr später wurde er Student an der Kunstakademie Nürnberg, wechselte aber bald nach München. Eine intensive Schaffensphase begann, sie dauerte rund 40 Jah­re an. Er schrieb, vor allem Gedichte, malte und arbeitete von 1965–1968 an Holzplastiken. 1968 malte er das – für die nächsten 16 Jahre – letzte Bild. 1971 wurde sein erster Roman Die Alexanderschlacht bei Suhrkamp publiziert. Mit diesem Werk sicherte er sich einen Platz in der Literatur-Avantgarde der 1970er Jahre. 1974 inszenierte er seinen ersten eigenen Film, Das Andechser Gefühl. Nun entstand jedes Jahr in rascher Folge mindesten ein Film, am Ende waren es 28. Daneben schrieb er nach wie vor Bücher und 1984 begann er wieder mit dem Malen, meist ganze Serien. Seine Malerei bewegte sich nun in inspirierender Beziehung zu seinen Texten und Filmen, so wie im Film Die Föhnforscher, in dem ein ganzer Zyklus ins Bild kommt.

„Der Verstand ist im Kopf, die Phantasie überall.“
So wie er filmte und schrieb, so malte er auch, verhaftet in seiner eigenen Welt. Seine Kunst habe mit der Wirklichkeit nichts zu tun, behauptet er im Ambacher Exil. Wobei er sich als Dialektiker des Absurden widerspricht, denn in allen seinen Arbeiten sind konkrete Wirklichkeitsbezüge vorhanden. Seine Filme kommen auch gänzlich ohne technische Tricks oder surreale Effekte aus. Er ist ein phantastischer Augenblicks-Erlebender, der sich in seinen Filmen ziemlich ungemütlichen Situationen aussetzt, wie im Film Bierkampf, in dem die angetrunkenen Besucher des Oktoberfestes zu unfreiwilligen Hauptdarstellern werden. Achternbusch spielt in einer gestohlenen Polizeiuniform einen Staatsbediensteten auf Abwegen, der die Besucher und sich selbst, ebenfalls trinkend und zunehmend betrunken, in slapstick-artige Szenen verwickelt, ja förmlich hineinreißt. Als er Besuchern Bierbrezen stiehlt, sich ihre Maßkrüge schnappt, ist ihre Wut nicht gespielt; schließlich versuchen sie mit ihm, vom Alkohol befeuert, sogar eine Schlägerei zu beginnen. Diesen Film zu drehen war auch für den Kameramann eine Herausforderung: Achternbusch fliegt geradezu Kamikaze durch den Bierdunst; sein physischer Einsatz darf schlicht und einfach als „mutig“ bezeichnet werden.

In Linz war Herbert Achternbusch mindestens einmal. Als eine Vorführung seines Films Servus Bayern angesagt war, kam er selber auch gleich mit. Ich habe den Film seither nie wieder gesehen, aber die eine Szene, als er in einem Wirtshaus die Gamsbärte der an Kleiderhaken hängenden Hüte anzündet, habe ich nicht vergessen. Wenige Jahre später, 1987, verursachte er mit seinem Stück Linz Aufruhr unter den Lokalpolitikern. Der Jahre zuvor entstandene Film Das Gespenst wurde in Österreich gemäß § 188 StGB (Herabwürdigung religiöser Lehren) beschlagnahmt. Das Verbot ist bis heute gültig. In Bayern beschloss der damalige Innenminister Friedrich Zimmermann (CSU), nachdem er den Film gesehen hatte, den ausständigen Förderbetrag von 75.000 DM nicht auszuzahlen.

Achternbusch als Gesamtkünstler im Waldviertel
Achternbusch hat nicht, wie mehrfach behauptet wird, ausschließlich in München und im südlich gelegenen Fünfseenland gelebt. Anfang der 1990er Jahre, als Richard Pils begonnen hat, seine Bücher zu verlegen, kam er auf die Idee, seinem Verleger nahe zu sein und kaufte sich bei Rosenau im Waldviertel ein im 18. Jahrhundert errichtetes Haus, dessen Fassade er bemalte. Doch dann das Zerwürfnis, und in einer Sequenz eines Films, den ich um die Zeit seines 70ers gesehen habe, fährt er mit seiner Tochter zu diesem Haus ins Waldviertel. Es ist Winter, kalt und finster, da sie das Haus erst nach Einbruch der Dunkelheit erreichen. Eingeheizt wird u. a. mit Büchern des Verlags Bibliothek der Provinz, Bücher von Adalbert Stifter verschwinden im Feuer.

Auch als er Buddhist geworden war, blieb etwas von seinem weißbierbayrischen Dickschädel. Ja, weiß. Und kahl. So ist er auf dem Umschlag des Buches Weiße Flecken abgebildet und so steht er vor mir. Ich, der ich Achternbuschs Werk vor mir liegen habe und, ebenso wie er, zeitweise ein Haus im Waldviertel bewohne, hocke in meinem Ausgedinge im Waldviertel vor der Holzhütte. Ein paar Stunden nachdem ich vom Tod des Meisters aus Bayern erfahren habe, sitz’ ich mit einem Schnaps in der Jännersonne und bedenke den Tod des Gesamtkunstwerkers. Vor zwei Tagen hat es hier geschneit, nicht viel, die Schneedecke ist dünn. Eine milde Strömung lässt nun das Weiß und das Eis dahinschmelzen. Schmelzwasser tropft von den Dachkanten in die Dachrinnen, in den Abflussrohren plätschert es leise. In den Wipfeln der Föhren und Fichten hin und wieder ein Aufbrausen, wenn eine Bö hineinfährt.

Im gediegen gestalteten Buch, das vor mir liegt, sind Texte und Bilder. Auf dem Schutzumschlag ein Schwarz-Weiß-Foto des Künstlers. Kahlgeschorener Kopf, Augenbrauen dünn, ein selten symmetrisch angelegtes feines, bartloses Gesicht. Die rechte Hand hält lässig ein Schilfrohr; oben, in Schulterhöhe, wo es endet, ist es zerfasert. Ein Zauberstab? Oder hat er damit auch gemalt? Er blickt mich an und ich denke mir, wie sanft er doch dreinschaut, geradezu in sich ruhend wirkt er, die Grimassen und Faxen aus seiner Jugend haben keine Spuren hinterlassen.

Das Tropfen des Schmelzwassers. Die Stimme eines Kleibers. Das Waldviertler Requiem für ihn. Dem Bürgermeister von Groß Gerungs wird der Tod des einstigen Gemeindebürgers nicht einmal ein Achselzucken wert sein. So geht es zu in den Waldviertler Gemeindestuben. Mit Kultur haben sie nichts am Hut. Im Budget der Gemeinde Langschlag kommt „Kultur“ gar nicht vor. Vielleicht hisst sein Verleger auf der Burg Raabs eine Föhnforscherfahne oder eine Piratenflagge mit dem Knochenschädel im Maßkrug?
Da kommt mir eine Idee. Ich werde seinem Geist in seinem Waldviertler Haus einen Besuch abstatten. Heißt nicht ein Text von ihm „Der Geist weht wo er kann“? Er wird schon können.

„Denn der Himmel kennt keine Gnade“ (Fassadeninschrift)
Als eine der Fassaden im Nachmittagslicht als weiße Fläche sichtbar wird, befürchte ich schon, dass das Gerücht, Achternbusch habe sein Haus verkauft und die Bemalung sei übertüncht worden, wahr sein könnte. Das helle Griechenlandblau der Bemalung ist zwar etwas ausgebleicht, doch der befürchtete Frevel ist bislang ausgeblieben. Ich sage deswegen „Griechenlandblau“, weil ein Teil der Motive Bezüge zur griechischen Mythologie aufweisen. Ich nehme an, dass Achternbusch deswegen die Farbe der Ägäis gewählt hat. An der Ostfassade des Hauses schließt eine Bruchsteinmauer an, die einen Hof umschließt. Auf der Türe zu diesem ist ein Schild angebracht: „PRIVATGRUND/Schwimmen auf der Wiese und Gehen auf dem Teich nicht erlaubt“.

Tritt man über die Schwelle, tut sich vor einem eine andere Welt auf. Der Hof ist, seit das Haus leer steht, zu einem Biotop geworden. Langhalmige Gräser und bis zu drei Meter hohe Sträucher sind im Winter die sichtbarsten Zeichen. Im Zentrum des Hofes hat Achternbusch seiner Tochter Naomi ein Theater errichtet, eine gediegene Zimmermannsarbeit, deren Vierkanthölzer mit den Farben Gelb, Weiß und Blau bemalt sind. Ein runder Holzschild mit aufgemaltem Gesicht klärt mit der Schriftumrandung die Funktion bis heute: DAS THEATER NAOMI. Eine aus Brettern gezimmerte Karyatide weist mit ausgestrecktem Arm auf die orangegelb bemalte Holztreppe, die auf den Bretterboden hinaufführt. Vorhanden ist noch ein aus mehreren Holzteilen zusammengesetzter Esel. Dass auch die Tochter immer wieder zum Pinsel gegriffen hat, belegen Bemalungen im Hof und an der Außenwand eines Geräteschuppens, in dem auch künstlerisch gearbeitet wurde: In einer Continental-Schreibmaschine ist noch ein Bogen Papier eingespannt, ein mit Leinen bespannter Keilrahmen lehnt an der Bretterwand, an der Schmalseite, dem Eingang gegenüber, steht eine vom Vater bemalte Türe: Eine Aphrodite mit massigen Oberschenkeln, der Enge des Wickelrocks ist der rechte Busen entschlüpft und der Scheitel der ramponierten Schönheit ist mit einem aus dem Kopftuch geknoteten Mascherl bedeckt.

Naomi spielte bereits im Alter von drei Jahren – sie ist 1994 geboren – im Film Picasso in München eine kleine Rolle, 2002 erhielt sie ihre erste Hauptrolle in Das Klatschen in einer Hand. In beiden Filmen führte ihr Vater Regie. Für ihre Darstellung einer vermeintlich blinden Schulabbrecherin im Film Blind & Hässlich wurde sie 2018 mit dem Preis der deutschen Filmkritik als beste Darstellerin ausgezeichnet.

Der Geist von Achternbusch steckt noch in den Bemalungen, im Gemäuer, aber auch in den riesigen Granitsteinen, die er um sein Grundstück aufstellen hat lassen. Neben dem Gebäude liegt ein Teich, möglicherweise einst mit Karpfen besetzt. Hoch über dem Ufer hat sich Achternbusch aus Holzsäulen einen Tempel mit Kegeldach errichtet, unter dem er saß, meditierte und auf das Spiegeln des Teiches blickte.

Ein Universalgenie nannten ihn seine Bewunderer, einen Nestbeschmutzer seine Gegner.

KV Willy im Salzkammergut

Widerstand ist derzeit in aller Munde. Aber wie sieht es bei einem Kulturverein aus, der sich in langjähriger Aktivität tatsächlichem Protest bzw konkret dem politischen Lied widmet? Der Linzer Kulturverein Willy ver­anstaltet etwa seit 1997 in Weißenbach am Attersee Das Festival des politischen Liedes. Zwischen guter Stimmung und revolutionären Tönen: Silvana Steinbacher über Intentionen, Projekte und den sogenannten Kulturwinter des Vereins.

Die Idylle beschränkt sich hier auf den Schauplatz: Bei dem dreitägigen Festival des politischen Liedes treten Musiker:innen auf, die vor allem eines vereint: eine sozialkritische Mission. Die Texte der Liedermacher:innen prangern unter anderem Privilegien, Privatisierungen und Sozialabbau an. Seit 1997 wird Weißenbach am Attersee im Sommer zum Ort der Begegnung von Teilnehmenden und Publikum und genau das ist auch die Intention der Veranstalter:innen, des Kulturvereins Willy. Anfangs wurde biennal gespielt und diskutiert, später jährlich. Nur vor zwei Jahren musste aus naheliegenden Gründen pausiert werden (wir wissen: Corona).

Ich treffe mich mit Jörg Weiß und Claudia Kutzenberger. Jörg Weiß ist etwas salopp formuliert das „Urgestein“ des Kulturvereins Willy, denn der Sozialarbeiter hat die Entwicklung des Vereins seit seiner Gründung erlebt, begleitet und mitgeprägt. Claudia Kutzenberger ist ebenso Vorstandsmitglied von Willy. Sie ist wesentliche Initiatorin des Projekts Kulturwinter, von dem noch die Rede sein wird.

Wieso eigentlich Willy? Die Partisanengruppe Willy um den Kommunisten Sepp Pliseis hat mit wechselnden Decknamen während der letzten Jahre des Zweiten Weltkriegs im Salzkammergut demonstriert, wie erfolgreicher Widerstand funktionieren kann. Die Partisanen versteckten vor allem einheimische Deserteure aus der Wehrmacht in den Bergen und versetzten die Nationalsozialisten in Alarmbereitschaft, da im Salzkammergut einige kriegswichtige Rüstungsbetriebe angesiedelt waren. Der geheime Aufenthaltsort der Widerstandsgruppe konnte jedoch nie gefunden werden.

Zurück zum Kulturverein Willy: Die Ergebnisse seiner Arbeit sind beachtlich. Seit langem schon stemmen die Mitglieder mit zwanzig bis dreißig ehrenamtlichen Helfer:innen das Festival des politischen Liedes. So unterschiedlich die auftretenden Gäste in ihren Musikrichtungen auch sind, alle vereint in ihren Texten ein gesellschaftskritischer Zugang, manchmal in sanfteren Tönen, aber auch in rockigen Protestsongs. Viele der angereisten Künstler:innen kommen aus Italien und Deutschland. Die in Bonn lebende ehemalige Straßenmusikerin und Liedermacherin Cynthia Nickschas genießt im Salzkammergut beinah Stammgastehren und hat mittlerweile ein ähnliches Festival mitbegründet (Zeitfrei!Festival in Niedersachsen). Die Wiener Gruppe Monomania mit ihren bekannt beißenden Texten war ebenso zu Gast wie die deutsch-türkisch-italienische Rapgruppe Macrophone Mafia oder der deutsche Liedermacher Achim Bigus, um nur diese herauszugreifen.

Einen Querschnitt durch zwanzig Jahre ihrer Auftritte in Weißenbach am Attersee hat Willy in Form einer CD dokumentiert und dabei entdecke ich auch Sigi Maron. Der 2016 verstorbene bekannte kommunistische Liedermacher war eine Säule des Festivals des politischen Liedes, ebenso der oberösterreichische Musiker Gust Maly, der bereits 2002 verstorben ist. Nachfolgende Mentoren sind derzeit leider nicht in Sicht, erzählt mir Jörg Weiß.

Die Ergebnisse sind vor allem angesichts der Umstände, unter denen die Mitglieder des Kulturvereins arbeiten, hervorzuheben. Wie, so frage ich Jörg Weiß und Claudia Kutzenberger, werden die Auftritte der Liedermacher:innen finanziert? In den Anfangszeiten sind sie nur für eine Art Taschengeld aufgetreten, bereits seit einiger Zeit zahlen wir aber ein bescheidenes Honorar, antworten die beiden. Seine Arbeit und seine Aufwendungen muss der Kulturverein mit einem Jahresbudget von 30.000 bis 40.000 Euro bestreiten. Subventioniert wird Willy derzeit nicht, anfangs bekam der Verein zwar vom Land Oberösterreich 2000 Euro jährlich, doch selbst diese bescheidene Summe fiel vor einigen Jahren einem Spardruck zum Opfer.

Was bei unserem Gespräch mit den beiden Vorstandsmitgliedern nicht zur Sprache kommt, aber dennoch, zumindest bei mir, mitschwingt, ist die Überlegung, womit denn – und sei ein Spardruck noch so gravierend – zu rechtfertigen wäre, dass die Oberösterreichische Landesregierung auch 2020 110.000 Euro für rechte Bur­schen­schaften genehmigt hat, dem linken Kulturverein Willy aber vor einigen Jahren 2.000 Euro verweigert wurden. Von politischer Seite kam wenig Bereitschaft, Dinge zu entwickeln, wir haben wenig Toleranz hinsichtlich anderer Sichtweisen registriert, stellt Jörg Weiß fest.
Und so greift der Kulturverein unter anderem auf das Sponsoring durch Gewerkschaft, einige Jugendorganisationen und sogar ein Weingut zurück. Erstaunlich also, dass es Willy gelingt, neben dem Festival des politischen Liedes auch noch andere Aktivitäten auf die Beine zu stellen. Hallo_Welt statt Hallo_ween heißt es nämlich seit sechs Jahren jeden 31. Oktober in der Stadtwerkstatt in einer schaurigen Nacht, in der das Gruseln allein durch das Aufzeigen politischer Gegebenheiten erzeugt wird. Regionale und internationale Bands präsentieren in dieser Nacht gesellschaftskritische linke Musik.

Wie viele andere Veranstalter:innen fand auch Willy alternative Wege, um während der Pandemie sein Programm zumindest notdürftig am Laufen zu halten. Claudia Kutzenberger hat mit dem Projekt Kulturwinter Auftritte ohne Publikum gestreamt und auch einen Kinderkulturwinter initiiert, bei dem Fasching online gefeiert werden kann. Dadurch sollen nicht nur die Bands spielen können, sondern auch die Zuseher:innen wie gewohnt musikalische Power erleben können. Angesichts des pandemiebedingten Rückzugs beabsichtigt Willy mit Kulturwinter auch andere Kulturvereine in sein Projekt einzubinden.

Im vergangenen Sommer konnte das Festival des politischen Liedes aber bereits wieder in gewohnter Weise in Weißenbach am Attersee über die Bühne gehen, Diskurs und Austausch konnten stattfinden, für heuer ist es vom 24. – 26. Juni geplant.

Ich versuche mir die Atmosphäre des Festivals vorzustellen. Ist es wie bei vielen Veranstaltungen, wo sich Gleichgesinnte treffen und sich angesichts ähnlicher Denkweisen bestärkt fühlen? Kann das politische Lied auch bei jenen, die nicht zur unmittelbaren Zielgruppe zählen, etwas bewirken? Ich denke an zwei Beispiele mit Breitenwirkung: Dass sich ein scheinbar harmloses Lied zu einem hochpolitischen entwickeln kann, demonstriert der portugiesische Wettbewerbstitel E depois do Adeus beim Songcontest 1974. Das Lied über die gewaltsame Trennung eines Liebespaares durch den Krieg landete zwar auf den hinteren Plätzen. Doch kurz danach wurde es die Initialzündung der sogenannten Nelkenrevolution, die das Ende der Diktatur in Portugal einleitete. Sobald der Song im Radio gespielt wurde, begannen die Vorbereitungen zum politischen Umsturz, das Lied diente als Erkennungszeichen. Auch Bella ciao, das die italienischen Partisanen im Zweiten Weltkrieg sangen, wurde zu einer Hymne der antifaschistischen, kommunistischen und sozialdemokratischen Bewegungen, und es erlebte auch bei der wesentlich späteren Sardinen-Bewegung mit ihren friedlichen Demonstrationen gegen rechtspopulistische Tendenzen in Italien, bis zum Beginn der Pandemie, eine Renaissance.

 

Als Termin-Aviso zwischen Kulturwinter und Sommer:
Festival des politischen Liedes 22
24. – 26. Juni 2022
Europacamp, Weißenbach am Attersee


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Hommage a Solidarność

Mit „Female Sensibility“ wird aktuell im Lentos Kunstmuseum eine Vielzahl an Arbeiten aus den 1970er-Jahren präsentiert, die unter dem Begriff „Feministische Avantgarde“ firmieren und Teil der Wiener Sammlung Verbund sind. Bettina Landl hat sich drei künstlerische Positionen näher angesehen: Die von Ewa Partum, Ketty La Rocca und Àngels Ribé.

Die Multimedia-Künstlerin Ewa Partum (geb. 1943) zählt zur ersten Generation polnischer Konzeptkünstlerinnen, ebnete den Weg für feministische Performance und Body Art und förderte den politischen Aktivismus des ehemaligen Osteuropa. Indem sie jeden „Denkakt“ als einen „Kunstakt“ fasst, bekräftigt sie die politische Ökonomie von Zeichen und die Materialisierung von Sprache in ihren Arbeiten. 1983 verließ sie Polen und zog nach Berlin. Aber beginnen wir mit ihrem Schaffen in Polen: Anfang der 1970er-Jahre gründete sie nach Studien in Łódź und Warschau die Galerie Adres in ihrer Wohnung. Die Galerie blieb fünf Jahre lang aktiv und widmete sich Konzeptkunst, Mail Art und Theorie. Im gleichen Zeitraum entstanden ihre ersten Installationen und Aktionen im Zusammenspiel mit Poesie, vermehrt im öffentlichen Raum: In „The Legality of Space“ (1971) und „Poem by Ewa“ (1971) sind die Buchstaben, die ihre Gedichte bilden, ausgeschnitten und ins Wasser oder auf die Straße geworfen. 1976 entwickelte sie mit „Drawing TV“ eine Videoperformance, in der sie mit einem Filzstift die Linien und Silhouetten einer Fernsehsendung auf den Bildschirm zeichnet. Ab 1974 realisierte die Künstlerin mit „Change“ eine der bedeutendsten feministischen Performances, die in Form einer Videodokumentation Teil der SAMMLUNG VERBUND und damit Teil der Ausstellung ist. Vier Jahre später fand die Arbeit in „Change. My Problem Is a Problem of a Woman“ (1979) ihre Fortsetzung. Dabei lässt sich Partum von einer Maskenbildnerin eine Hälfte ihres Gesichts und Körpers „alt“ schminken, begleitet von Kommentaren ihrer Künstlerkolleginnen Valie Export und Urlika Rosenbach. Ein weiteres Element der Arbeit ist die Bildunterschrift: „Auf den Boden habe ich geschrieben: ein Künstler hat keine Biografie. Eine Künstlerin hat jedoch eine. Es ist wichtig, ob sie jung oder alt ist.“ 1980 produzierte sie „Auto-Identification“, eine Serie von Fotomontagen, die sie als Protest gegen die standardisierte Rolle der Frau in einer stark patriarchalischen kommunistischen Gesellschaft verortete: Dabei ging sie nackt durch den öffentlichen Raum, positionierte sich vor dem Parlament und in der Nähe einer Gedenkstatue von Warschau. Die Regierung verbot die Aktion. Einige Jahre später präsentierte sich die Künstlerin in Berlin erneut nackt vor der Mauer und hielt die Buchstaben „W“ (West) und „O“ (Ost) in der Hand („Ost-WestSchatten“, 1984). „Hommage a Solidarność“ performte sie erstmals anlässlich des Solidarność-Jubiläums in einer privaten Galerie in Łódź. Partum wiederholte sie ein Jahr darauf in der West-Berliner Galerie Wewerka, die gleichzeitig eine Retrospektive der Künstlerin zeigte. Sie stand nackt vor einem Papiertuch, das sie mit fortlaufenden Buchstaben des Wortes „Solidarność“ (Solidarität), dem Namen einer antikommunistischen polnischen Oppositionsbewegung, markierte – zum Gedenken an die soziale Bewegung, die ihr zufolge selbst in erheblichem Maße künstlerischer Natur war.

Ketty La Rocca (1938–1976) war eine italienische Konzept- und Body-Art-Künstlerin sowie visuelle Poetin. 1964 begann sie mit Collagen und entwickelte ab den 1970er-Jahren performative Serien, in denen sie die „Sprache der Hände“ mit Worten ergänzte. Ihre Untersuchungen galten der Sprache, der sie zutiefst misstraute, den Bildern und stereotypen Zeichen der Alltagswelt – mit dem Ziel, die herrschende Politik der Körper sichtbar zu machen. 1972 war sie mit dem Video „Appendice per una supplica“ (Anhang für eine Bittschrift) auf der Biennale in Venedig vertreten. Darin arbeitet sie mit Spiegel- und Metallobjekten, Textgemälden und einzelnen aus schwarzem Kunststoff gefertigten Buchstaben, die sie an der Wand befestigt oder Skulpturen gleich frei im Raum platziert. Das „I“ und das „J“ stehen dabei für das englische bzw. französische „Ich“. La Rocca präsentierte ihre Textarbeiten auch im Rahmen von Aktivitäten der Gruppo 70, die in Florenz avantgardistische Veranstaltungen organisierte, und veröffentlichte sie in der Zeitschrift Tèchne. Ihr Werk umfasst Schriften, collagierte Kompositionen und Performances. Ausgehend von der „poesia visiva“ (visuellen Poesie) setzte sich La Rocca intensiv mit der Bedeutung und Wechselwirkung von Sprache und Bild auseinander. Zentral ist dabei die Beschäftigung mit der körperlichen Geste als dem zugrundeliegenden Mittel der Kommunikation. In der Serie „Le mie parole e tu?“ (Meine Worte und du?, 1971/72), die im Lentos zugänglich ist, sind Fotografien einer männlichen Hand zu sehen, die von Bild zu Bild jeweils einen Finger weniger ausstreckt. Auf die Fotos hat die Künstlerin neben Linien und grafischen Setzungen mehrfach das Wort „you“ geschrieben – ein Hinweis auf die kleinste Einheit möglicher Kommunikation. Die (aggressive) Adressierung durch das Wort und der Zeigegestus der Hand thematisieren in diesem Kontext (auch) das problematische Verhältnis der Geschlechter. In „Craniologia“ (Schädelröntgen, 1973) schreibt sie das Wort „you“ mehrfach auf ein Röntgenbild ihres eigenen Kopfes, der mit einer geballten Faust überblendet wird, und setzt sich damit kämpferisch mit ihrer eigenen Krebserkrankung auseinander. In Zeiten globaler Kommunikation nutzte sie alle verfügbaren Werkzeuge für ihre entideologisierenden und entmystifizierenden Zwecke.

Die Arbeit „El no vist. El no fet. El no dit (The Unseen. The Unmade. The Unsaid)“ von Àngels Ribé aus dem Jahr 1977 ist eine der jüngsten Ankäufe der Sammlung Verbund. Die assoziativen und symbolischen Funktionen der Kunst wurden im Laufe der 1970er-Jahre neu verhandelt. Das Kunstwerk hörte auf, eine autonome Einheit zu sein, wie es in der Tradition der Moderne üblich war. Seine Bedeutung war immer öfter vom Austausch mit den Betrachter*innen abhängig, indem diese die Mehrdeutigkeit und die Vielfalt der Bezüge und Lesarten eines Kunstwerks offenlegten. Unter diesen Rahmenbedingungen entwickelte die 1943 geborene katalanische Konzeptkünstlerin ihre eigene Sprache, die bis heute durch verschiedene Medien ihren Ausdruck finden. 1969 zog Ribé nach Paris und begann sich vor allem mit der Objekthaftigkeit des Körpers im Raum zu beschäftigen, insbesondere mit der Präsenz ihres eigenen Körpers (als Künstlerin) in Begegnung mit dem des Betrachters/der Betrachterin. Als ein narratives Moment dienen geometrische Formen, die zu einem wesentlichen Bestandteil ihres künstlerischen Diskurses wurden. Einige Arbeiten Ribés zeichnen sich durch die Verwendung unkonventioneller Materialien wie Schaum, Wasser, Licht und Schatten aus, und spielen mit deren Dekontextualisierung. Wesentlich dabei wirken auch das Interesse der Künstlerin am Zufälligen und Vergänglichen. In den 1970er-Jahren übersiedelte Ribé in die USA, zunächst nach Chicago und wenige Monate später nach New York. In beiden Städten hatte sie Kontakt zu Macher*innen neuer Galerie- und Ausstellungsformate, die sich alternativ zu anachronistischen Institutionspolitiken und als Förderer einer aufstrebenden Kunstszene etablierten. In diesen Jahren realisierte Ribé auch Performances und Installationen, in denen dem Objekt seine künstlerische Einheit abgesprochen wurde; in denen die Präsenz der Künstlerin und ihres Gegenübers zu ihrem Hauptinteresse wurde und damit subjektiver Faktor im Handlungsverlauf – zu einer bestimmten Zeit und an einem konkreten Ort. Ziel war es, in einem Prozess der Entobjektivierung von Kunst die Bedeutungsproduktion des künstlerischen Objekts in Richtung Erfahrung zu verlagern. Es war ein Versuch, das Werk als etwas Nicht-Dauerhaftes zu begreifen, die Qualität des künstlerischen Objekts auf etwas Immaterielles zu übertragen und seine Objektivität zu negieren. Ribés Performances sind geprägt von Kontingenz, der Möglichkeit einer Transformation, vom Vergänglichen. Ribé erweitert ihr Vokabular mittels Intervention von Unbewusstem und Subjektivem in der Wahrnehmung, konjunkturellen Aspekten, der Analyse widersprüchlicher Informationen, ihrer Situation als Frau und ihrer persönlichen Geschichte. „Can’t Go Home“ und „Amagueu les nines que passen els lladres“ (beide 1977) sind Installationen, die über die Möglichkeit des Handelns, über den Gegensatz von Vergangenheit und Zukunft, Realität und Traumwelt, Erinnerung und Sehnsucht reflektieren. Die doppeldeutige Sichtweise, die Ribé in diesen Werken vorschlägt, zeigt eine persönliche, weibliche, fragmentierte und stigmatisierte Vorstellung, aber auch eine Parallele zur politischen Situation des Landes in einer prekären Zeit, zwischen der Last der jüngsten Vergangenheit und der Möglichkeit einer anderen Zukunft.

Gabriele Schor, Kuratorin der Ausstellung und Gründungsdirektorin der Wiener Sammlung Verbund, engagiert sich seit 2004 für „Feministische Avantgarde“ und Aufklärung rund um die Konstruktion des Weiblichen. Die Sammlung befindet sich seit 2010 auf Wanderschaft und war in Rom, Madrid und London. Diesmal wurde sie um 34 internationale Positionen aus Lateinamerika, Nordamerika, Asien sowie aus West- und Osteuropa erweitert. In fünf Bereiche gegliedert, ist (und bleibt) der weibliche Körper als Träger gesellschaftlicher Erwartungshaltungen im Fokus, der von der Dominanz eines männlichen Blicks und patriarchaler Machtstrukturen geprägt ist. Dem entgegen wird das Eintreten für die Selbstbestimmung der Frau gestellt, der Anspruch, eine feministische Ästhetik zu etablieren und durchzusetzen.

 

Female Sensibility
Feministische Avantgarde aus der SAMMLUNG VERBUND
24. 09. 2021 – 09. 01. 2022
Lentos Kunstmuseum Linz
www.lentos.at

freundinnenderkunst in Female Sensibility

Die freundinnenderkunst, ein seit vielen Jahren in Linz arbeitendes Künstlerinnenkollektiv, wurde von der Referentin eingeladen, einen Beitrag über die Ausstellung Female Sensibility zu gestalten.

Bild freundinnenderkunst

Mit der Auf­forderung zur offenen Reflexion sind die freundinnenderkunst dann im Lentos in frühere und heutige feministische Fragestellungen eingetaucht. Sie haben sich in Ästhetiken der dort vertretenen Künstlerinnen sowie in die eigene Bildproduktion begeben. Im künstlerischen Wurf mögen die Freundinnen Bedeutung und Wellen des feministischen Kontinuums hervorheben. Im direkteren Kommentar könnte das aber auch so zusammengefasst werden: Wichtige Schau, klasse Arbeiten und fluid zirkulierende Fragen – über die eigene Position, die aktuellen Notwendigkeiten und den feministischen Bildstrom der 70er und 80er-Jahre.

www.freundinnenderkunst.at

Auf dem Weg zum lebendigen Archiv

Im November 2017 wurde das VALIE EXPORT Center Linz eröffnet. Anfang nächsten Jahres verlässt die bisherige Direktorin Sabine Folie das Forschungszentrum für Medien- und Performancekunst und wird dann die Kunstsammlungen der Akademie der Bildenden Künste Wien leiten. Silvana Steinbacher hat mit Sabine Folie eine Bilanz über ihre Arbeit gezogen.

Ein Blick ins Archiv. Foto Violetta Wakolbinger

Silvana Steinbacher: Vor rund vier Jahren, als das VALIE EXPORT Center eröffnet wurde, antworteten Sie auf meine Frage nach Ihren Anliegen unter anderem „Neben der historischen Einordnung suchen wir, ganz im Sinne von VALIE EXPORT, den Anschluss an die Medien- und Performancekunst der Gegenwart.“ Ist Ihnen das gelungen beziehungsweise hat es ansatzweise funktioniert?
Sabine Folie: Wir waren in den vergangenen Jahren mit vier Ausstellungen beschäftigt, ebenso mit zwei umfangreichen Publikationen und damit einhergehenden Forschungsarbeiten neben der Archivierung. Wir hatten durch die Teilnahme an Konferenzen intensiven Kontakt zu zeitgenössischen Performer_innen, die Konferenz, an der mehrere Performer_innen teilnehmen sollten, musste aufgrund der Pandemie aber leider abgesagt werden. Ich habe über die Betreuung von PhDs Kontakt zu jungen Performer_innen, die mit alten Vorbildern neue Wege gehen. Leider mussten auch hier einige der geplanten Projekte storniert werden, weil wir die Priorität Digitalisierung in dieser Anfangszeit nicht aus den Augen verlieren durften. Aber diese Schiene der Verbindung zur aktuellen Kunst wird wieder stärker aufgenommen, wenn die Einschränkungen durch Corona etwas zurückgenommen werden können.

Das VALIE EXPORT Center war seit seiner Eröffnung knapp budgetiert, wie hat es sich in den darauffolgenden Jahren entwickelt?
SF: Es hat sich so entwickelt, dass wir gut damit arbeiten können. Die Zahl der Mitarbeiter_innen konnte erhöht werden, Drittmittel für die Digitalisierung und Archivierung darüber hinaus eingeworben werden, sodass wir Mitte nächsten Jahres einen Meilenstein in unserer Zielvorstellung zum Thema Archivierung erreichen werden.

Wie ist denn bisher das Publikumsinteresse, zumindest bis zum Jahr 2020?
SF: Das Publikumsinteresse ist für ein Archiv groß, wir hatten 2019 rund 900 Personen zu Besuch, 2020 waren es coronabedingt immerhin noch an die 200, aber das wird sich wieder einpendeln.

Die international erfolgreiche Medien- und Performancekünstlerin und Filmemacherin VALIE EXPORT fasziniert als Ikone und vielseitige Künstlerin auch junge Menschen. Gab’s dahingehend Projekte beziehungsweise hat sich dieses Interesse hinsichtlich Anfragen beispielsweise nie­der­geschlagen?
SF: Wir hatten bislang neben den erwähnten Besucher_innen ca. 130 konkrete und umfassendere internationale Forschungsanfragen und es laufen diverse Forschungsprojekte, Dissertationen zum Thema VALIE EXPORT, inklusive der Fellowships, die sich mit EXPORT beschäftigen. Gerade gab es eine weitere Aus­schreibung für ein PhD und ein Postdoc Stipendium vonseiten des VALIE EXPORT Center. Damit sollen unsere Archivbestände, aber auch von diesen Beständen abgeleitete Forschungen zum Thema Performance und Medienkunst generell vorangetrieben werden. Einige der Interessent_innen sind Künstler_innen und beschäftigen sich mit verwandten Themen, so wie VALIE EXPORT in ihrer künstlerischen Praxis.

Sie werden ab Jänner 2022 Ihre Funktion als Direktorin des VALIE EXPORT Centers beenden und leiten ab dann die Kunstsammlungen der Akademie der Bildenden Künste Wien. Sind die Vorbereitungen zur Übergabe bereits im Gange?
SF: Wir sind noch inmitten des Geschehens und bereiten gerade die Buchpräsentation Archive Matters vor sowie unter anderem die Budgets fürs nächste Jahr. Die Übergabe erfolgt schrittweise, aber die Geschäftsführerin Dagmar Schink und die anderen Mitarbeiter_innen des Centers haben die anstehenden Agenden bestens im Griff.

Wann wird über die Nachfolge entschieden und von wem?
SF: Ich denke, die Nachfolge wird in den kommenden Monaten entschieden, aber ich bin in die Ausschreibung und das Auswahlprozedere nicht involviert.

Ihnen ist auch die Vernetzung ein Anliegen, konnte Sie so wie erhofft stattfinden?
SF: International hat viel Vernetzung stattgefunden, natürlich hat durch Corona einiges an direktem Austausch gefehlt, zum Beispiel musste eine für Mai 2020 bereits fix und fertig vorbereitete Konferenz mit Vorträgen und Performances abgesagt werden, aber die Fährten wurden gelegt, um mit unseren Partner_innen in Österreich, aber auch international Projekte anzugehen und auszubauen. Wir haben in unseren Tätigkeitsberichten eine lange Liste von Personen und Institutionen, mit denen wir uns ausgetauscht haben und wo Kooperationen in Vorbereitung waren und sind. Es liegt in der Hand der neuen Leitung und des Teams, wo sich die Schwerpunkte hinentwickeln werden.

Einer der ersten Schritte sollte die Digitalisierung des Vorlasses von VALIE EXPORT sein, wie sieht der Status quo dahingehend aus?
SF: Wir haben bislang, auch Dank der Bundesmittel, die wir erhalten haben, an die 60.000 Digitalisate fertig gestellt, parallel ist die Archivierung verlaufen und die langwierige Entwicklung der Datenbanken mit allen Kategorisierungen, Verschlagwortungen etc. sowie die Programmierung des Webinterface, um Teile des Archivs sukzessive einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Das wird in den kommenden Monaten passieren.

Sie haben es bereits erwähnt, die Buchpräsentation zu VALIE EXPORT Archive Matters. Dokumente lesen und zeigen, dessen Herausgeberin Sie sind, steht bevor. Dabei thematisieren Sie auch Formen des experimentellen Umgangs mit dem Medium Ausstellung in Bezug auf das Format Archiv.
SF: Das Archiv ist grundsätzlich etwas, das sich hinter verschlossenen Türen in Boxen, Schachteln befindet und meine Vorstellung war es, in den Ausstellungen zum Archiv Formen auszuprobieren, die über das reine Ausstellen in Vitrinen hinausgehen, zum Beispiel gab es große Wanddiagramme über das Thema des Archivs, wo man sich das Archiv als Aufbewahrungsort, seinen Entstehungszusammenhang, die ganz spezielle Anlage von Künstler_innenarchiven quasi in der Ausstellung erarbeiten konnte. Objekte wie Bücher oder die Bibliothek als Wissensspeicher wurden nicht als solche gezeigt, sondern die Titel der Bücher, geordnet nach Themen und Alphabet, wurden als Schriftbänder an die Wand angebracht, Bücher digitalisiert und animiert, Vorträge auf iPad etc. Es geht darum, andere Mittel der Anschauung zu erkunden, die ein Archiv erschließen, interaktive und andere, damit das Archiv lebendig(er) erscheint.

Wie schätzen Sie die Zukunft des VALIE EXPORT Centers ein?
SF: Es war ja vorgesehen, dass das Center fünf Jahre vor der Öffnung für das Publikum die Exponate größtenteils digitalisiert, nun sind alle Projekte wie Ausstellungen, Publikationen, Konferenzen ja zeitgleich zur Gründung und Eröffnung passiert, das heißt wir hatten die Digitalisierung und Arbeit für die Öffentlichkeit parallel laufen. Ich denke und hoffe, es werden die geplanten und angedachten Forschungsprojekte zum Thema Performance/Dokumentation/Bewahrung/Aufführung ausgearbeitet und eingereicht werden, und parallel vermehrt. So hoffe ich, dass nach Corona der direkte Kontakt und die Auseinandersetzung mit aktuellen Formen der Performance passieren können. Es ist ja jetzt schon über meine Betreuung von PhDs im Rahmen meiner Professur zum Beispiel möglich zu sehen, wie heute Performer_innen arbeiten und wie sich der Begriff verändert hat.
Ideal wäre eine weitere internationale Vernetzung, die Fortsetzung der Schriftenreihe, Forschungsprojekte und Konferenzen sowie die aktive Arbeit mit Künst­le­r_innen, also die Idee eines lebendigen Archivs umzusetzen. 

VALIE EXPORT
Center Peter-Behrens-Platz 9, Bau 1, 1. Stock, 4020 Linz www.valieexportcenter.at

Gegen leere Clubs und gegen leere Kirchen

Holy Hydra versteht sich als zeitgenössisches Format in Sakralräumen, das unter anderem elektronische Musik und multimediale Rauminstallationen veranstaltet. Als einer der Köpfe der Hydra gibt Amanda Augustin einen Eindruck über die Debatte ‚Sakralräume vs Stadtraum‘ sowie über die geile Hydra selbst – des Geschöpfes, das Tag und Nacht für die Subkultur kämpft.

Die Holy Hydra in der Stadtpfarrkirche Urfahr. Foto Fabian Erblehner

Da steht sie vor mir, die ehemalige Kapuzinerkirche. Ich vor ihr, an einem verregneten Donnerstag im Oktober, links von mir die Kapu. Fünf Jahre ist es her, dass ich hier, im Gastgarten der Kapu, an einem lauen Sommerabend mit meinen Freund:innen vom Veranstaltungskollektiv „Die geile Hydra“ Spritzer trank und mein Blick Richtung Kapuzinerkirche wanderte. Ein Rave in einer Kirche? Wie geil wär’ das denn!?

Die Idee der „Holy Hydra“ war geboren. Das war im Spätsommer 2016, ein paar Monate nachdem die Kapuzinerkirche profaniert, also entweiht, worden war. Die Entweihung selbst ist eine Zeremonie, eine abschließende heilige Messe, bei der die kirchliche Nutzung des sakralen Gebäudes beendet wird. Danach ist die Kirche entwidmet und aus kirchlicher Sicht lediglich ein gewöhnliches Gebäude. Das sollte eine profane Zwischennutzung erleichtern, dachte ich und machte mich an ein Konzept für ein zweitägiges Format mit Kunst, Kultur und einem Symposium als theoretische Basis.

Der Kontakt mit der damals zuständigen Immobilienfirma, von der die Kirche und das anschließende Klosterareal verwaltet wurde, war rasch hergestellt. Ebenso schnell hatte ich eine mündliche Zusage der Immobilienfirma zur Umsetzung des Projektes in der Tasche, woraufhin ich mich kurzerhand mit meinem Kollektiv an die Planung machte. Zwei Monate und mehrere abgeschickte Förderansuchen später kam dann die unerwartete Absage. Sie, die Zuständige der Immobilienfirma, habe alles versucht, aber der Kapuzinerorden, der schlussendlich über diese Räumlichkeiten verfügt, sei doch nicht überzeugt von einer Zwischennutzung. „Ich bitte Sie, das Nein des Paters zu akzeptieren“.

Schnell war klar: eine andere Kirche muss gefunden werden. Statt die entweihte Kapuzinerkirche zu bespielen, bot sich die nach wie vor herkömmlich genutzte Stadtpfarrkirche Urfahr an. Darin beheimatet ist die Jugendkirche Grüner Anker, die sich die Kirchenräumlichkeiten mit der Pfarre teilt und regelmäßig kleine Konzerte, Theaterstücke und Chornachmittage veranstaltet. Auch die Pfarre selbst organisiert ein Kunstformat namens „Wasserzeichen“, bei dem Linzer Künstler:innen eingeladen werden, das Seitenschiff zu bespielen. Beste Voraussetzungen also.

„Holy Hydra“ heißt nun das Format, das seit dem ursprünglichen Wunsch, einen Rave in einer Kirche zu veranstalten, bereits viermal als Festival stattfand – sogar im Sommer 2020, als fast alle Clubs aufgrund von Corona geschlossen waren. Nichts machen war auch während Corona keine Lösung, weshalb ein Konzept entwickelt wurde, das es möglich machte, trotz einer Beschränkung auf max. 50 Personen im Kirchenraum zu veranstalten.

Folgend ein Zitat der Eröffnungsrede 2020.

„Ich, die geile Hydra, das Geschöpf, das Tag und Nacht für die Subkultur kämpft, sehe es als meinen Auftrag für Kunst und Kultur zu kämpfen, besonders in solch schwierigen Zeiten. … Mein Herz fühlt sich wohlig warm und gleichzeitig fängt es vor lauter Freude ganz schnell zu schlagen an, wenn ich daran denke, dass wir hier und jetzt gemeinsam ein Zeichen setzen: gegen leere Clubs und gegen leere Kirchen.“

„Holy Hydra“ versteht sich als interdisziplinäres Veranstaltungformat in Sakralräumen, das zeitgenössische Tanzperformances, elektronische Musik und multimediale Rauminstallationen beinhaltet. Inhaltlicher Fokus liegt dabei auf einer erweiterten Nutzung, einer möglichen Neudefinition von sakralen Räumen.

2018 wurde die erste „Holy Hydra“ mit einem Symposium eröffnet, bei dem der Sakralraum dem Stadtraum gegenübergestellt wurde. Sakralraum vs. Stadtraum. Es wurde debattiert, inwiefern Sakralräume über ihre eigentliche Funktion hinaus, im Kontext von öffentlichem Raum, genutzt werden können, ob dies überhaupt wünschenswert ist und zu welchen Bedingungen möglich.

Anna Minta, Professorin für Geschichte und Theorie der Architektur an der Katholischen Privatuniversität Linz, hat dazu folgendes verfasst: „Stadtraum VERSUS Sakralraum – ein Wortspiel, das in der Ambivalenz der Formulierung auf ein Paradoxon räumlicher Nutzungsstrukturen und (institutioneller) Haltungen verweist. Stadtraum betrachten wir gewöhnlich als öffentlichen und offenen Raum, der allen zugänglich ist und für alle Nutzungsqualitäten anbietet. Betrachtet man städtebauliche Entwicklungen, so haben Interessen der Profit-Maximierung, exklusive Stadt-Verschönerungsambitionen und City-Marketing-Konzepte etc. zu einer im­mer stärkeren Begrenzung und kommerziellen Nutzung vieler öffentlicher Räume geführt, die damit einen exklusiven, diverse gesellschaftliche Gruppen ausgrenzenden Charakter angenommen haben. Sakralraum hingegen ist ein institutionell gebundener Ort, ein von den Kirchen organisierter und verwalteter Raum. Nicht zuletzt in Folge der fortschreitenden Säkularisierung bietet er sich vermehrt als offener Raum für alle an, der alle zum Verweilen einlädt, ohne auszugrenzen und ohne Konsumzwang auszuüben. Kirchenräume und Kirchplätze sind per Definition kein öffentlicher Raum, folgen aber häufig einer solchen Haltung.“

Oh ja, sollen sie aber dringend werden. Die Motivation der „Holy Hydra“ ist, ein Bewusstsein für Sakralbauten sowie deren weitere Nutzung und weiteren Erhalt zu schaffen, da diese unsere Kultur und Stadtbilder maßgeblich prägen. Es ist wichtig, diese architektonisch einzigartigen und kulturgeschichtlich wertvollen Räume zu öffnen, um sie neben ihrer religiösen Bedeutung für Menschen, unabhängig ihrer Glaubensrichtungen, als Orte der Begegnung erfahrbar zu machen.

Dazu schreibt Frau Prof. Minta weiter: „Hybrid Hydra – thematisiert die Hybridisierung von Räumen in ihrem Charakter und folglich auch in ihrer Nutzung. Hybridisierung kann dabei als Erweiterung von Möglichkeiten und Qualitäten gelesen werden, als Chance für eine neue Offenheit und mehr Vielfalt. In dem Verschleifen von Zuständigkeiten und dem Verständnis von Öffentlichkeit steckt auch die Hydra: Wenn der städtische Raum immer stärker privatisiert und exklusiver wird und offene Begegnungsräume vermehrt durch Kirchen und andere private Institutionen angeboten werden, so geht doch der öffentliche Raum als Ort vielfältiger Begegnungen und sozialer Aktionen verloren. Es ist gut, dass Kirchen aktuell intensiv über ihre gesellschaftliche Verantwortung und städtebauliche Qualität nachdenken. Auch die Stadt und die Gesellschaft müssen sich verstärkt für die Gestaltung und vielfältige Öffentlichkeit ihrer Räume engagieren.“

Ich frage mich, in welcher Zukunft wir leben möchten und sehe sie wieder vor mir, die Kapuzinerkirche, die leerstehende. Das Potential ist da, es muss nur noch genutzt werden. Kirchengebäude könnten, egal ob profanisiert oder nicht, Symbol für eine vielfältige, diverse und offene Gesellschaft werden.

Diesem Diskurs nahm sich bereits 2013 das Kunstreferat und Diözesankonservatorat der Diözese Linz gemeinsam mit dem Bundesdenkmalamt und dem afo architekturforum oö an. In einer zweitägigen Fachtagung „KirchenRÄUMEn – Zukunftsperspektiven für die Nutzung von Sakralbauten“ behandelten sie das Thema der Kirchenumnutzung, wenngleich dieses in Österreich noch nicht in diesem Maße spürbar ist, wie in anderen Ländern Europas. Seitdem ist wenig passiert, obwohl immer wieder spannende Tagungen und Vorträge auch in Österreich stattfanden und -finden, wie beispielsweise im September 2020 in der ehemaligen Synagoge St. Pölten die Impulsvorträge zum Thema „Sakrale Bauten profan genutzt?“, organisiert vom ORTE Architekturnetzwerk Niederösterreich.

Die erste internationale Veranstaltung gab es im Februar dieses Jahres, im Zuge eines dreitägigen digitalen Symposiums der VolkswagenStiftung Hannover, bei dem auch „Die geile Hydra“ eine:r von vielen Speaker:innen war. Unter dem Titel „Re-Using Churches. New Perspectives in a European Comparison“ diskutierten Expert:innen aus Deutschland, den Niederlanden, Belgien, der Schweiz, Österreich und Großbritannien das Thema Kirchenumnutzungen erstmals im europäischen Vergleich.

Dabei wurde unter anderem ein sehr gelungenes Beispiel einer erweiterten Nutzung vorgestellt: die Kulturkirche Köln in Deutschland. In der 1889 erbauten Lutherkirche-Nippes finden seit 2002 neben Gottesdiensten für die evangelische Gemeinde regelmäßig Kulturveranstaltungen wie Konzerte, Lesungen und Kabaretts statt. Zusätzlich dazu kann das Kirchengebäude für Events gemietet werden und bietet dabei Platz für bis zu 600 Personen. Ein weiteres erwähnenswertes Beispiel ist das Kulturkloster Dornach in der Schweiz, aus dem 1990 die letzten Kapuziner auszogen und das nach einer Generalsanierung nun neben dem regulären Kirchenbetrieb ein Hotel und Restaurant sowie ein eigens kuratiertes Kulturprogramm beinhaltet. Zusätzlich zu Jazzkonzerten, Lesungen und Ausstellungen im Kirchenraum sowie dem umliegenden Klosterareal wird internationalen Künstler:innen die Möglichkeit geboten, an einem Artist-in-Residence-Programm teilzunehmen.

Österreich hat diesbezüglich Aufholbedarf. Trotzdem sollen ein paar wegweisende Beispiele nicht unerwähnt bleiben. Eine vorbildliche Umnutzung ist sicherlich die Minoritenkirche Krems, bekannt als Klangraum Krems, die das bekannte Donaufestival Krems beherbergt. Ein anderes Beispiel eines Festivals, das den Reiz entdeckt hat, in Sakralräumen zu veranstalten, ist das Elevate Festival in Graz, das zuletzt spektakuläre Orgelkonzerte im Grazer Dom veranstaltete oder – mein persönlicher Favorit – das Unsafe+ Sounds-Festival, das die Wotrubakirche in Wien besonders gelungen zwischengenutzt hat. Bitte mehr davon.

Neben dem Potential ist also auch die Hoffnung da.

Wieder sehe ich sie vor mir, die Kapuzinerkirche. Und grinse. Es hat aufgehört zu regnen. Zuletzt, im September und Oktober dieses Jahres spielte das Theater Stellwerk darin Theater und in der freien Szene wird bereits gemunkelt, dass …

Die nächste Party kommt bestimmt. Liebe Grüße aus dem Untergrund.

PS:
Das Datum der nächsten „Holy Hydra“ darf auch gleich in den Kalender eingetragen werden: 08. & 09. September 2022 // Stadtpfarrkirche Urfahr, Linz
www.holyhydra.at

25 und ein Jahr

Mit der Ausstellung „26 Jahre Atelier Diakoniewerk“ feiert das Atelier der Kunstwerkstatt in Gallneukirchen sein 26-Jahr-Jubiläum. Natalia Müller, Kuratorin der Ausstellung, über die Geschichte des Ateliers und die Ausstellung, die Mitte November im Ursulinenhof eröffnet wurde.

Die Feierlichkeiten zum 26-jährigen Bestehen des Ateliers des Diakoniewerks sollen vor allem der Hochachtung gegenüber dem Œuvre sowie dem Potential der Künstler:innen dienen, die durch ihr Schaffen und Können das Atelier zu dem gemacht haben, was es heute ist.

Das Datum der Entstehung war gar nicht so leicht ausfindig zu machen, so existierten im Entstehungsprozess unterschiedliche mögliche Datierungen, die den Start des Ateliers beschreiben könnten.

Tatsächlich gab es aber Veränderungen im Jahr 1995, an denen die Wende vom sogenannten Freizeit-Atelier zum künstlerisch geführten Atelier festzumachen war. 1993 legte Joy Hörwarter, eine engagierte Mitarbeiterin der Behindertenarbeit, ein Konzept für ein gestalterisches Angebot im Rahmen der Werkstattarbeit vor, das in den darauffolgenden beiden Jahren zur Umsetzung kam.

Rund um den Zeitraum 1995, der mit der Suche und Aufnahme von Menschen mit künstlerischem Potential wie auch einer Neuorientierung durch den ersten örtlichen Wechsel einherging, wurde das Atelier zu einem eigenständigen Bereich.

„Die Freiräume, die die Kunst braucht, sind stetig zu suchen und zu bewahren.“
Joy Hörwarter

In weiterer Folge übernahmen Helmut Pum und Erika Pabel das Atelier von Joy Hörwarter und es wurde eine organisatorische Trennung von der Werkstätte durchgeführt. Zu diesem Zeitpunkt fand in einem weiteren Schritt, mit dem Beginn von Ausstellungsarbeiten, eine Öffnung nach außen statt.

Die nächste Veränderung erfolgte im Jahr 2000, es wurden neue Räumlichkeiten im Haus Zoar in Gallneukirchen bezogen, in denen das Atelier lange beheimatet blieb. Die folgenden Jahre prägten engagierte Kolleg:innen und Wegbegleiter:innen die Entwicklung des Ateliers.

Zu den Künstler:innen der ersten Stunde zählten unter anderem Erika Staudinger (1995), Ursula Mitter (1996) und Rosemarie Heidler (1997). In den darauffolgenden Jahren kamen Jutta Steinbeiß (1998), Johanna Rohregger, Herbert Schlossern sowie Thomas Pühringer (1999) dazu. In den Anfängen der frühen 2000er folgten Josef Landl (2000), Heinz Frieder Adensamer (2002) und Gertraud Gruber.

Nach und nach bereicherten viele der heute noch aktiven Künstler:innen die geschaffenen Atelierräumlichkeiten mit ihren Werken. Es bestand vom Start weg eine bemerkenswerte Dichte an spannendem und kreativem Potential.

Die Klarheit in der Umsetzung als auch eine Kompromisslosigkeit in ihren künstlerischen Arbeiten beeindruckten mich seit dem Beginn meiner Arbeit im Atelier. Als Künstlerin faszinierte mich der direkte und auch sehr ehrliche Zugang zur Kunst. Sei es in der expressiven Farbwahl der Flächengestaltung von Johanna Rohregger, die fast akribische Verdichtung der ihr interessant erscheinenden Stellen in den Zeichnungen von Erika Staudinger oder auch die kleinen farbigen Flächen von Ursula Mitter, die sich aneinandergereiht zu ihren „Spuren“ verdichten. So unterschiedlich ihre Stile auch sind, so sehr ihre Zugänge zur Kunst auch variieren, die Qua­lität der Arbeiten wie das künstlerische Po­tential waren von Anbeginn an bemerkens­wert. Wichtig für uns, als künstlerische Mitarbeiter:innen des Ateliers, war es immer, durch gute Rahmenbedingungen für ein au­tonomes und kreatives Klima zu sorgen.

Ist es heute für mich und meine Kolleg:innen klar, dass es sich bei vielen der Arbeiten um Kunst handelt und diese Werke auch als solche zu betiteln sind, benötigte es in der Vergangenheit, gesellschaftlich und kunsthistorisch, doch eines Prozesses, der zur Erreichung dieser Akzeptanz führte.

Über die Veränderung der bis dahin etablierten Kunst seit dem Beginn der Fotografie, die erste Gemeinschafts-Ausstellung einiger Impressionisten im Hause des Fotografen Nadar, die eine Wende in der Kunstgeschichte einleitete, ebenso die Süd­seereisen von Paul Gaugin, dem Aufbruch der Künstler nach Ozeanien, ist in der klassischen Moderne schon viel referiert worden. Meiner Meinung nach ist aber dieser Wandel einer neuen Sichtweise in der Kunst, sprich der Akzeptanz von Menschen mit unterschiedlichsten psychischen Problemen und Beeinträchtigungen, erst durch die Publikation von Walter Mor­­genthaler über den Künstler Adolf Wölfli ermöglicht worden. Den Boden dafür bereitete die Moderne mit ihrer Abwendung von der akademischen Kunst sowie den formalen Prinzipien in der Malerei.

Bis heute hält noch eine Diskussion über etwaige Begrifflichkeiten von Art Brut bis Outsider Art an. Die Anerkennung ihrer Kunst sowie die Wertschätzung als Künstler:innen allgemein ist aber inzwischen eindeutig gegeben.

„Die Kunst ist -– entgegen allen ästhetischen und philosophischen Schul­meinungen – nicht ein Luxusmittel, in schönen Seelen die Gefühle der Schönheit, der Freude oder dergleichen auszulösen, sondern eine wichtige geschichtliche Form des gesellschaftlichen Verkehrs der Menschen untereinander, wie die Sprache.“
Rosa Luxemburg

Die Zusammenstellung der Werke war eine Herausforderung. Es war kein Leichtes, unter der Fülle der Arbeiten zu selektieren, um eine Entscheidung für die Ausstellung zu treffen. Die Auswahl konzentriert sich auf einige wenige Künstler:innen und deren Werk, vornehmlich jene, die schon seit Anbeginn im Atelier tätig sind und es so mitgeprägt haben. Eine umfassende Zusammenstellung des entstandenen Œuvres der Künstler:innen würde in jeder Hinsicht den Rahmen der Gegebenheiten sprengen.

Bei all der Vielfalt der Menschen sowie der Talente, die das Atelier in den letzten 26 Jahren geprägt haben, soll diese Jubiläumsausstellung dazu dienen die entstandene Kunst der Künstler:innen zu würdigen, aber auch die Wichtigkeit geeigneter Strukturen und Freiräume zu zeigen, durch die das Schaffen ermöglicht und erleichtert wird. In diesem Sinne freuen wir, das Atelier-Team, uns, eine Auswahl der entstandenen Kunstwerke in der Ausstellung zeigen zu können.

 

Dieser Text von Natalia Müller ist auch im Katalog zur Ausstellung erschienen.

Ausstellung: 26 Jahre Atelier Diakoniewerk
Das Atelier des Diakoniewerks feiert 26 Jahre Kunst. 26 Jahre Atelier des Diakoniewerks. 26 Jahre Kunst, die durch Künstler:innen des Diakoniewerks geprägt wurde und eine Zeit, die auch Künstler:innen in ihrer Entwicklung und Schaffenskraft geprägt hat. diakoniewerk.at/veranstaltung/26-jahre-atelier-vernissage-und-jubilaeums-ausstellung
Ursulinenhof im OÖ Kulturquartier
Noch bis 13. Jänner 2022

Tollkühne Kisten, heiße Knarren

Eine Kartoffel kann ja vieles sein: Chips, Pommes, Gratin – Druckstempel, Rennauto oder Inspirationsquelle für ein KünstlerInnenkollektiv, für das der Dauerbrenner Erdapfel ein gutes Symbol ist, auch in Bezug auf Vernetzung. Mögen die Triebe sprießen. Christian Wellmann über Potato Publishing, das zwischen Comic, Illustration und Text produziert.

„Potato Publishing“ (POPU) betreibt eine nicht auf Gewinn orientierte Risographie-Druckwerstatt, eine Zine-Bibliothek sowie einen kleinen Shop für Druckwerke im ehemaligen Wirtshaus „Zur Schießhalle“, dazu setzen sie Independent-Publishing-Veranstaltungen in Linz um Ihre Produktionen, die in Handarbeit in kleinen Auflagen hergestellt werden, vertreiben sie selber. Alles dreht sich ums Selbermachen, der DIY-Gedanke ist in allen Prozessen zu finden. Die InitiatorInnen Sarah, Paul und Oskar verstehen sich als niederschwelliges Kollektiv, das Zusammenarbeit, Erfahrungs- und Ideenaustausch mit neuen Leuten sucht. Das dezidiert offene Kollektiv freut sich über alle, die sich einbringen wollen – so gibt es auch mehrere Mitglieder, die bei Projekten dabei sind.

POPU will Genregrenzen aufsprengen und ist nicht nur auf Comics festgelegt, Illustration und Text sind auf Augenhöhe. „Wir wirken oft so. Bei mir stimmt das schon, aber wir sind definitiv kein reines Comicprojekt“, erwähnt Paul im Referentin-Interview. Er zeichnet und macht Comics, hat Agrarwissenschaften studiert. „Zuerst war der Schritt, beim „Independent Publishing“ mitzumachen – und dann darüber eine eigene Produktionsstätte für Druck zu schaffen. Unter unserem Namen ist nur das Heft „Potato Press“ rausgekommen, für das es einen Open Call gegeben hat. Gedruckt von POPU, mit unterschiedlichsten Beiträgen von Kunst- und Kulturschaffenden.“ Stilsicher im Kartoffelnetz und noch erhältlich. „Es geht uns darum, diese Struktur anzubieten und Möglichkeiten zu schaffen, weil wir eine Gruppe sind, die Ressourcen anzapfen kann, die man sonst nicht hat.“
„Harasananas“ ist Sarahs Künstlerinnenname. Sie ist gerade mit weiteren POPUlern auf dem Sprung zum „Zine-Camp Rotterdam“, um Publikationen und Distributionen zu präsentieren – und sich kurzzuschließen: „Die Festivals oder Fairs, wo wir hinfahren, bieten sich für Kontakte natürlich an. So ergeben sich auch Zusammenarbeiten – dass wir ein Heft machen zum Beispiel. Seit es uns gibt, haben wir großen Wert darauf gelegt, dass wir uns vernetzen und austauschen“, so Sarah.
Oskar hat auf der Kunstuni Linz Lehramt studiert, Mediengestaltung und technisches Werken, über Auslandssemester ist er zum Zeichnen gekommen: „Kunst wird es erst, wenn man mit anderen Leuten in Kommunikation tritt.“ Zusammen mit Sarah schreibt er an einer Diplomarbeit über das Projekt, „man könnte ja stundenlang darüber reden …“

Will man zu ihrer offenen Werkstatt ins ehemalige „Schießhallen“-Gebäude, in dem über Jahrzehnte übeldampfend a zünftigs Schweinsbratl die Speisekarte gerockt hat, wird’s „abenteuerlich“. Irgendwie vegan. Zurzeit wird das ganze Haus rund um die Räumlichkeiten, in denen gedruckt, gezeichnet, gelesen wird, general­saniert. Es gibt weitläufigen Platz zum Arbeiten – vier Räume werden genutzt. Im Druckerraum sind neben drei Maschinen alle bisherigen Publikationen auf einem Display angebracht, dazu flashige Riso-Drucke, Poster. Wirkt wie in einem besetzten Haus im Berlin der 80er. Das Haus ist aber in Privateigentum, passende Zimmer sollen an KünstlerInnen vermietet werden. Das entstehende Atelierhaus ist gerade am Anlaufen. Eine zukünftige Zufluchtsoase für Kulturdürstende in der gemächlich vor sich dahin rostenden Stahlstadt? Es wird auch eine Lokali­tät/ ein Veranstaltungsraum angedacht, mit einer Amarenakirsche obendrauf: dem ehemaligen Gastgarten der Schießhalle. Schaumamoi.
Im ersten Stock gibt es trotzdem einmal im Monat den Riso-Mittwoch (jeden letzten Mittwoch im Monat, ab 18 Uhr). Drucken oder zum Zeichnen treffen – so wurde beispielsweise an ihrem letzten Riso-Mittwoch ein Faltzine gefertigt. Man kann auch einfach nur vorbeikommen, um sich das Ganze anzuschauen. POPU übernimmt aber keine Aufträge, bisher gibt es keine fixen Öffnungszeiten – am besten Kontakt via Instagram/E-Mail aufnehmen. „Die Werkstätte ist nicht nur auf Riso-Druck beschränkt, es gibt auch einen weiteren Digitaldrucker, mit einem anderen Druckverfahren, ähnlich zum üblichen Laserdruck“, veranschaulicht Paul. Vom Layout bis hin zu Schnitt und Bindung: Komplettes DIY mit voller Kontrolle. „Risographie ist ein niederschwelliges Druckverfahren, für das man verhältnismäßig wenig Zeit braucht. Abgesehen von der besonderen Optik gibt es einige Vorteile. Es ist natürlich nicht immer die einfachste Drucktechnik, aber relativ schnell und günstig“, beschreiben die Drei die zu Recht angesagte Kommunikationsästhetik.

Außerhalb ihres HQ setzen sie regelmäßig knollige Projekte um. Kollaborative Arbeitsprozesse, interdisziplinäre Vernetzung und eine kollektiv genutzte Infrastruktur bilden ebenso die Grundlage für die Aktivitäten des POPU-ZINE-CLUB. „Das ist ein zweimonatiges Programm im Salzamt. Dieses Jahr war das erste Mal. Es wird ihn auch nächstes Jahr geben, wir sind gerade in der Planungsphase. Das Projekt ist niederschwellig. Das Salzamt, das als temporäre Arbeitsstätte genutzt wird, liegt zentral. POPU ZINE CLUB besteht einerseits aus einem Residency-Programm, wo wir andere Kollektive eingeladen haben, wie: Matrijaršija (Belgrad), Evil Quartet of Death aka Never Brush My Teeth & Kati Akraio (Athen) und Doner Club (Bologna)“, informiert Sarah.
„Das war coronabedingt eine besondere Situation im Winter, wo Reisen nur eingeschränkt möglich, jedoch berufliches Reisen ganz normal erlaubt war. Mit Unterstützung vom Salzamt haben wir Einladungsbriefe geschrieben für einen Arbeitsaufenthalt. Künstlerische Arbeit“, konkretisiert Oskar. „Neben der Residency gibt es unsere Bibliothek, quasi eine begehbare Ausstellung, die man benutzen kann, also jedes Heft in die Hand nehmen. Der dritte Aspekt ist die offene Werkstatt, wo Leute sich anmelden und ihre Projekte umsetzen oder einfach nur ausprobieren können. Das zieht sehr unterschiedliche Leute an. Viertens im Shop Sachen kaufen können: Distribution ist ein wichtiger Aspekt, wir bringen die Druckwerke, auch von anderen befreundeten Kollektiven und KünstlerInnen auf verschiedene Festivals oder Zine-Fairs in Europa und verlangen dafür keine Kommission. Fünfter Pfeiler sind die Workshops – zum Teil spontan, wie kleine Figuren durch Abgüsse machen oder ein Workshop von Soybot aus Wien. Die Idee hinter dem POPU-ZINE-CLUB ist, einen Zine-Club temporär als künstlerisches Projekt zu machen.“ Sarah: „Es ist alles offen, nichts Elitäres. Keine Gruppe, die sich eh immer trifft und zusammenarbeitet. Sondern, dass es wirklich der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird, die Türen offen sind, alle können reinspazieren. Man kann dort arbeiten und wir erklären alles, soweit es geht.“ Dieses Jahr sind zwei Kollektive geplant, die sich anlässlich des NEXTCOMIC-Festivals 2022 im Salzamt austoben dürfen.

Eine weitere Aktion ist das „Potato Derby“, das dieses Jahr im Herbst zum zweiten Mal im fabulösen „Loft“ von DH5 (damenundherrenstraße5) Gummi gegeben hat. „Der Gedanke dahinter ist, dass wir eine Zine-Fair in Linz machen wollten, wo es nicht nur Verkaufsstände gibt. Comics sind eine Nische, selbstpublizierte Comics eine Nische in der Nische. Weiters sollte es auch Lesungen, Live-Auftritte, Workshops, Leute, die tätowieren, und als Rahmenprogramm das Rennen geben. Wo Leute direkt dort die Autos aus Kartoffeln basteln, man bleibt einfach länger dort. Das erste war sehr improvisiert – chaotisch, aber lustig“, fasst Paul das grellbunte Treiben bei einem „Potato Derby“ zusammen. Das war die erste Veranstaltung, die sie gemeinsam kurz vor Corona organisiert haben.
„Ich bin total froh darüber, in welcher Form das stattfindet. Dass es eben nicht nur eine Zine-Fair ist, sondern eine Veranstaltung, wo unterschiedliche Dinge passieren. Wo sich vermischt, wer KünstlerIn und wer Gast ist. Das erste war eintägig, das zweite zweitägig, das dritte wird dann dreitägig“, gibt Oskar augen­zwinkernd zu wissen. Er war vor vier Jahren in Kolumbien, Auslandssemester über die Kunstuni, bei einer Buchmesse und ist auf das Kollektiv „Tallercolmillo“, das sie nächstes Jahr nach Linz einladen, gestoßen: „Es gibt einfach mehrere Verbindungen zu Kolumbien, auch in Linz. Wir haben das von LinzIMpORT gefördert bekommen. Von Anfang an haben wir bei unserem ganzen Projekt von der Stadt Linz und dem Land OÖ viel Unterstützung bekommen, auch Sonderförderprogramme.“

Ein Knaller war in diesem Frühling das Taschenpistolenmuseum des POPU STORES am Hauptplatz mit Pistolenminiaturen: „Das ist eine Wanderausstellung. Aus Zipf, von dort kommt der Herr Hans Eisen, der das kuratiert hat. Es sind Exponate von Taschenpistolen mit ihrer Geschichte. Eigentlich steht die Geschichte im Vordergrund. Geschichten, die im Heft, dem „Taschenpistolen-Almanach“ vorkommen, dem Begleitheft zur Ausstellung“, erklärt Paul die mysteriösen Gegebenheiten.

„Wir wollen nachhaltig für Linz eine Struktur schaffen. Das ist mir persönlich auch sehr wichtig. Dass das nicht ein Projekt ist, das nur temporär umgesetzt wird, sondern es soll schon auch langfristig eine Struktur sein, die erhalten bleibt. Wo Leute kommen und wieder gehen. Prinzipiell sind wir von der Ausrichtung her so was wie ein Dienstleister für die Kunst- und Kulturszene in Linz. Funktionieren tut das Ganze im Sinne einer solidarischen Ökonomie, also man kommt zum Drucken und gibt zu den Materialkosten noch eine Spende darauf, so in die Richtung“, unterstreicht Oskar POPUs Anliegen.
Das alles ist eine äußerst üppige Kartoffelernte, bedenkt man, dass POPU ihre Saat erst ausgesät hat, knapp bevor der Virus mit der Krone die Erde, diese Kartoffel-Scheibe, völlig umwoben hat. Da vor allem polnischer Wodka von der Wunderknolle abhängig ist: Einen Doppelten auf ein langes POPU-Leben!

Riso-Mittwoch, sofern pandemiebedingt möglich, Kontakt via Instagram: www.instagram.com/potatopublishing oder: print@potatopublishing.at Waldeggstr. 116, 4020 Linz

POPU-ZINE-CLUB bei NEXTCOMIC: Mitte Februar bis April 2022 im Salzamt

Radio-Sendung „Potato Derby“ von Simone Boria: cba.fro.at/523855

Tallercolmillo, Kolumbien: tallercolmillo.com