Es geht verdammt nochmal ums Geld

Von Sexarbeit wird erwartet, was wenig Berufe leisten können: selbstbestimmt und zwanglos zu sein. Pauli ist seit 3 Jahren in verschiedenen Bereichen der Sexindustrie zu Hause und gibt hier Perspektiven auf diese Arbeit, um internalisierten Vorurteilen die Stirn zu bieten.

Foto Pauli Dares

Neulich outete sich im Gespräch ein Mensch, den ich gerade erst kennengelernt hatte als Kunde von Sexdienstleistungen. Das fand ich gut, denn auch Kunden von Sexarbeitenden leiden unter einem Stigma. Die Frage, woher er denn wissen könne, ob die gebuchte Sexdienstleisterin das gerade aus Spaß macht und woran er erkenne, dass sie nicht ausgebeutet wird, kam im Gespräch immer und immer wieder auf.

Genau dieser Zugang zum Thema Sexarbeit offenbart eine Logik, die dem kapitalistischen System inhärent ist: Es kann nur erlaubt sein, was komplett selbstbestimmt ist. Und was erzwungen ist, sollte verboten werden. Die Debatte um Freiwilligkeit bzw. Selbstbestimmtheit ist eine Falle im Kapitalismus.

Ich widme diesen Text allen (dezidiert männlichen) Konsument*innen von Sexdienstleistungen und allen Menschen, die sich von ihren Vorurteilen noch nicht lösen konnten und immer noch verkürzte Kapitalismuskritik betreiben, wenn sie sich um andere sorgen. Bitte hört auf, euch um uns Huren zu sorgen, oder fangt an, euch auch um Fleischfabrikarbeitende, Erntehelfer*innen, Bauarbeitende, Call-Center Agent*innen, Pflegekräfte, Kassierer*innen und noch viel mehr Arbei­te­r*in­nen zu sorgen.

Unsere Gesellschaft ist auf das Überleben und das minimale Wohlergehen ihrer Mitglieder angewiesen. Dazu benötigt es Menschen, die kochen, die pflegen, einkaufen, waschen, trösten, zuhören, in den Arm nehmen und sich sorgen. Wenn auch nicht für alle in gleichem Maße wichtig, gehört auch sexuelle Befriedigung zu diesen Grundbedürfnissen. Damit ist nicht der Quickie gemeint, sondern die sexuelle Befriedigung als Bestandteil menschlicher Zuwendung. All das nennen wir Care-Arbeit. Die Systemrelevanz dieser Arbeiten wurde den meisten Menschen (leider erst) durch Corona unmittelbar bewusst. Ebenso, dass deren Ausübung neben Ausbeutung, schlechter (oder gar keiner) Bezahlung oft auch noch mit Stigmatisierung einhergeht.

Der Neoliberalismus des 21. Jahrhunderts ist ein System, in dem Menschen überall auf der Welt ausgebeutet werden, in dem meist Frauen* und Migrant*innen auf dem Kontinuum „Pflege-Reinigung-Sexarbeit“ arbeiten. Ein System, in dem Fähigkeiten und Ausbildungen von Geflüchteten und Migrant*innen nicht so viel wert sind, wie die derjenigen, die hier geboren wurden. Ein System, in dem Cis-Männer die meisten Führungspositionen besetzen, und in dem Frauen*, die eine selbstbestimmte Sexualität und Körperautonomie haben, von Gewalt und Diskriminierung betroffen sind.

Sexarbeit kann in der Tat selbstermächtigend sein, aber darum geht es nicht. Es geht verdammt nochmal ums Geld. (Kitty Carr) 

Aber wir können nun mal nicht den gesamten Kapitalismus auf einmal abschaffen. Wie die meisten Menschen versuchen wir Sexdienstleister*innen unter den gegebenen Verhältnissen durchzukommen. Jede Arbeit hat ihre ganz eigenen Vorzüge und Ärgernisse.

Den wenigsten Menschen auf der Welt ist das Privileg gegeben, Lohnarbeit aus Selbstverwirklichung zu machen – das ist ein neoliberaler Mythos.

Aber wir Sexarbeitende sind immer wieder von der Unfähigkeit der Gesellschaft betroffen, sich dessen bewusst zu werden. Einer Gesellschaft, gefangen in der christlichen Moral. Das äußert sich in paternalistischen Helfer*innen-Symptomen, in „besorgten“ Kommentaren, in Abwertungen, die nicht als solche gemeint sind, und in Gewalt und offener Diskriminierung.

Ja, es gibt privilegierte und glückliche Huren wie mich, die sich den Beruf aussuchen, weil er trotz guter Ausbildungen und vieler anderer Möglichkeiten im gutbürgerlich und angepassten System der Job ist, der weitestgehend glücklich macht und die Möglichkeit der Entfaltung und Horizonterweiterung bietet. Und es gibt auch Menschen, die unter falschen Versprechungen in andere Länder gelockt werden. Zwischen diesen Realitäten liegen Welten und alle Geschichten haben ihre Berechtigung.

Kommentare wie: „Woher weiß ich, ob sie glücklich ist und nicht ausgebeutet wird“, setzen falsch an. Diese Art von Kommentar wäre nur akzeptabel, wenn er für alle Arten von Arbeit und mit der Zielsetzung und Bereitschaft gemacht werden würde, sich für den Kampf für die Überwindung des Kapitalismus einzusetzen.

„Auch Sexarbeit ermöglicht es Menschen, sich in unserer von Zwängen durchzogenen Welt ein bisschen Handlungsmacht zurückzuerobern: Sofort Geld auf die Hand, und das ohne Berufsausbildung oder größere Investitionen, hohe Mobilität, wenn gewollt. Sicher, der Preis dafür ist hoch: Stigmatisierung, (gesundheitliches) Risiko, anstrengende Kunden. Es gibt gute Gründe, nicht in Bereiche der Sex­arbeit zu gehen. Es gibt aber auch viele gute Gründe dafür“, so Theo Meow, Aktivist der Szene. Sexarbeit ist definitiv kein Job wie jeder andere und nicht für jede*n geeignet. Es braucht Voraussetzungen, Talente und Kenntnisse, um den Beruf erfolgreich und unbeschadet ausüben zu können. Jeder Teilzweig (Straßenstrich, Escort, Laufhaus, Massagestudio, Caming etc.) erfordert besondere, jeweils andere Kenntnisse, verschiedene Trainings- und Weiterbildungen. Die „Wahl“, in welchem Bereich Geld verdient wird, sei allen selbst überlassen.

Migrant*in zu sein verändert alles, denn der Entscheidungskorridor ist schneller schmaler bemessen als für andere.

Armut, rassistische oder sexistische Marginalisierung, fehlende Papiere, unzureichende Sprachkenntnis, Probleme bei Behördengängen oder der Eröffnung eines inländischen Kontos – Migrant*in zu sein verändert alles, denn der Entscheidungskorridor ist schneller schmaler bemessen als für andere.
Das ist in der Sexarbeit so, wie in allen anderen Berufen auch. Die persönliche Wahlfreiheit wird drastisch eingeschränkt und all das erleichtert es, in ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen zu landen. Egal, in welchem Tätigkeitsbereich.
Die Diversität der Sexindustrie und der Menschen, die in ihr tätig sind, bedeutet auch, dass Sexarbeiter*innen unterschiedliche Privilegien besitzen und unterschiedliche Formen von Diskriminierung erfahren.
Gesellschaftliche Sichtweisen drängen der Sexindustrie, zusätzlich zu Stigmatisierung und Ausgrenzung bestimmter Gruppen von Sexarbeiter*innen, eine moralisch motivierte Hierarchie auf, die auf folgenden Kriterien beruht: Migrant*in­nen­status, ethnische Herkunft, Geschlecht, Alter, sexuelle Orientierung, Dro­genkonsum, Arbeitsbereich bzw. Art der angebotenen Dienstleistungen sowie psychische und physische Gesundheit. Sogar unter Sexarbeiter*innen gibt es Personen, die diesen Sichtweisen zustimmen. Es ergeben sich verschiedenartige intersektionale Diskriminierungserfahrungen.
Eine Sexarbeiter*in ohne gesicherten Aufenthaltsstatus kann zum Beispiel keine Anzeige bei der Polizei erstatten, wenn sie Gewalt erfährt. Wobei sich ohnehin nur die wenigsten Sexarbeitenden freiwillig bei der Polizei melden, da sie, egal ob mit und ohne Aufenthaltserlaubnis, Diskriminierung erfahren. Dadurch erfährt sie eine andere Form von Marginalisierung als ihre Kollegin mit gesichertem Aufenthaltsstatus oder österreichischem Pass.
Wir Huren, die uns einen Aktivismus erlauben können und für unsere Arbeitsrechte kämpfen, kämpfen immer noch gegen Stigmatisierung und Doppelmoral, repressive politische Regelungen in Bezug auf Migration und die dadurch entstehenden negativen Konsequenzen für Sexdienstleister*innen an. Es bestehen nach wie vor mehr Pflichten als Rechte. Achtung: Oft sind wir, die es repräsentieren, nicht repräsentativ – dennoch sind wir mitzudenken in der riesigen Welt der Sexindustrie. Auch unsere Geschichten haben Berechtigung.

Benachteiligungen aufgrund von moralischen Bedenken dürfen nicht akzeptiert werden.

Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass sich in der gesellschatlichen Betrachtung von Sexarbeit kapitalistische, patriachale und rassistische Strukturen manifestieren. Probleme, die nicht gelöst werden durch strukturelle Gewalt und verkürzte Kapitalismuskritik oder gar ein Verbot eines Berufes.

Also, willst du ein guter Kunde sein?

Und nun zurück zu meinem Gespräch mit dem gerade geouteten Kunden. Du willst ein guter Kunde sein und sichergehen, dass es der Sexdienstleister*in mit dir gut geht? Hier ein paar Tipps, die dabei helfen können und die du prinzipiell auf jede Dienstleistung anwenden kannst:

Meine „Lieblingskunden“ sind diejenigen, die mich und meine Auswahlverfahren mit Respekt behandeln, mich wie besprochen bezahlen, mich nicht schikanieren oder stalken. Mich nicht ihren rassistischen Tiraden aussetzen, während von mir erwartet wird, zu lächeln und zu nicken.

Meine Favoriten lesen mein Profil richtig, informieren sich über meine Arbeitszeiten, Honorare, Dienstleistungen und wie ich es vorziehe, kontaktiert zu werden. Sie meckern nicht, wenn ich eine Anzahlung verlange, und sie verlangen keine Dienstleistungen, die ich nicht anbiete. Sie respektieren meine Zeit. Sie rufen nicht mit Schwänzen in der Hand für einen kostenlosen sexy Chat an oder tauchen zu spät auf.

Sie kommunizieren gut und kommen wieder: Je länger ich jemanden treffe, desto mehr Spaß haben wir, weil wir Vertrauen aufbauen.

Sie informieren sich selbst über Geschlechtskrankheiten, wie sie übertragen werden und überlassen diesen Teil nicht nur mir als Dienstleister*in.

Sie geben mir immer die Möglichkeit, NEIN zu sagen, auch wenn wir schon mitten drin sind. Nur weil sie für etwas bezahlt haben, bedeutet das nicht, dass sie das Recht haben, über meinen Körper zu verfügen.

Sie fragen nach, anstatt nur anzunehmen. Sie zeigen ihren Corona-Test vor, ohne dass ich danach fragen muss.

Sie erkennen und akzeptieren, dass ich als Sexarbeitende im Rahmen meiner Arbeit manchmal Dinge tue, die mir nicht wirklich Spaß machen oder Lust bereiten und dass ich dennoch explizit dazu bereit bin, es zu tun und gute Gründe dafür habe – das nennt man nicht-enthusiastische Zustimmung.

Also, wie bei anderen Käufen oder Konsumwegen auch: Mache dir vorab Gedanken über deine Bedürfnisse und überlege dir, welche sexuelle Dienstleistung am besten dafür geeignet ist, deine Bedürfnisse zu erfüllen. Kenne deine Grenzen und respektiere die Grenzen der Dienstleister*in. „Der Kunde ist König“ – einfach, nö!

Sexarbeit ist Arbeit – Respekt!

 

Podcasts
Weitere Tipps für Kund*innen in der Podcastfolge „Das Date“ meiner Kolleg*innen llleonie und lllil:
mitzunge.podigee.io
Paulis jüngstes Interview zum Thema, Beschreibungen, Kenntnisse und Talente und Sexpositivität:
open.spotify.com/episode/2NUdcxSBMY8aQ01jMjMNc7?si=61213568318c4ea0

Filmtipp
Gerade arbeite ich mit zwei Kolleg*innen an einem länderübergreifenden Sexworker-only-Filmprojekt. Auf Grund unseres Berufes, dem damit behafteten Stigma und internalisierten Vorurteilen sind wir S_xarbeitende oft mit toxischen Beziehungsdynamiken konfrontiert und finden uns oftmals in Situationen wieder, in denen wir unsere Partner*innen weiterbilden müssen. Und das natürlich nur, wenn wir uns dazu entschließen, offen mit unserem Beruf umzugehen. Unser Kurzfilm soll unseren Beziehungsmenschen dabei helfen, ihre Vorurteile zu bearbeiten und gleichzeitig unsere Community stärken. Wir S_xarbeitende sind die Expert*innen in Fragen zu unserer Arbeit. Leider wird uns dies nach wie vor selten anerkannt. Mit diesem Projekt beleuchten wir unsere Themen innerhalb von Beziehungen und schaffen uns Gehör. Wir verstehen dieses Video als Bildungs- bzw Aufklärungsmaßnahme für die Mehrheitsgesellschaft. Darüber hinaus kann es als didaktisches Material für die Ausbildung verschiedener Berufe (Sozialarbeit, Erwachsene Bildung, Psychotherapie usw.) zur Destigmatisierung von sexarbeitenden Personen verwendet werden. Der Film ist ab September 2021 auf der Webseite der Postproduzent*in zu sehen:
www.smo-s.com

Veranstaltungstipp
Vom 22. bis 25. September findet in Wien das Projekt „RED RULES Vienna“ statt, bei dem Menschen die Möglichkeit geboten wird, Einblicke in verschiedene Bereiche und Themen der Sexarbeit-Industrie zu erlangen. Am 22. September gibt es die Premiere der Performance „City Of Whores“, die dann noch bis 25. abends läuft. Die Konferenz zur Sexarbeit findet vom 23. bis 25. September von 11–17 Uhr statt. Tickets und weitere Informationen: ntry.at/redrulesvienna

Hefte für neue Prosa, Nr. 14

Don’t judge a book by its cover, lautet eine Binsenweisheit der Literaturkritik. Anders verhält es sich im Fall der Idiome – Hefte für neue Prosa, die nicht allein durch ihren Titel, sondern auch durch ihre Cover­­ge­staltung einen besonderen Sinn für die Eigenheiten poetischen Sprachgebrauchs verraten. Florian Huber über die aktuelle Ausgabe und das besondere Interesse am literarischen Experiment.

Während auf der Umschlagrückseite der neuesten, vierzehnten Ausgabe Namen wie Urs Allemann (*1948), Zsuzsanna Gahse (*1946), Hartmut Geerken (*1939) oder Elisabeth-Wandeler-Deck (*1939) ein besonderes Interesse für das literarische Experiment signalisieren, präsentiert die Vorderseite der einmal jährlich erscheinenden Zeitschrift eine Reihe von Icons zum Begriff „Glocke“, die unterschiedliche Redensarten und Verwendungsweisen, aber auch die damit verbundenen Geräusche evozieren. Obwohl die Bilder recht schematisch anmuten, stellt die Suche nach einem ihnen jeweils angemessenen sprachlichen Ausdruck vor einige Schwierigkeiten, aus denen Bodo Hell (*1943) in einem Beitrag zum Wortpaar MAERZ und MERZ poetische Funken schlägt. Von der Widerständigkeit der Bilder und dem Reichtum ihrer literarischen Beschreibung zeugen aber auch die Einlassungen von Birgit Schwaner (*1960), die in Kopf / Schrift Kurzfilme von Mara Mattuschka (*1959) und zugleich das poetische Nachleben von Konrad Bayer (1932–1964) in den Blick nimmt. Die Materialität der Bilder und die Möglichkeiten ihrer sprachlichen Reproduzierbarkeit prägen zudem Margret Kreidls (*1964) Prosa Ohne Titel in Idiome 13, die sich der Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte von Gemälden der kanadisch-US-amerikanischen Künstlerin Agnes Martin (1912–2004) annimmt, während der Komponist Peter Ablinger (*1959) im aktuellen Heft in seinem in Blockschrift und -satz gehaltenen Text den Klangereignissen während einer Zug- bzw. Autofahrt nachspürt. Die einzelnen Beiträge verbindet dabei vielleicht weniger ein gemeinsamer Gattungsbegriff als der Anspruch, konventionelle Vorstellungen vom literarischen Text auf ihre poetische Verwendbarkeit zu überprüfen beziehungsweise hinter sich zu lassen. Im Editorial zur neuen Idiome-Ausgabe ist dementsprechend von „einer Poetik avancierter Prosa“ die Rede, die in Texten und Bildstrecken „zur Diskussion“ steht. Das ist auch deshalb zu begrüßen, da Prosa als Gattung im Gegensatz zur Lyrik nicht auf literarische Rede- und Schreibweisen beschränkt ist, sondern auch den alltäglichen und wissenschaftlichen Sprachgebrauch umfasst. 
Für die Textauswahl verantwortlich zeichnet der 1972 in Wels geborene Autor Florian Neuner, der die „Hefte für neue Prosa“ 2007 gemeinsam mit seiner Linzer Kollegin Lisa Spalt (*1970) begründete und inzwischen gemeinsam mit Ralph Klever in dessen gleichnamigem Verlag herausgibt. Besondere Erwähnung verdienen in diesem Zusammenhang auch die den Idiomen gewidmeten, regelmäßigen Veranstaltungen, die Neuner in Linz als Kurator der Reihe „maerz_sprachkunst“ der Künstlervereinigung MAERZ organisiert. Diese bieten nicht zuletzt den eingeladenen Autor*innen die Möglichkeit zum Dialog über unterschiedliche Vorstellungen vom geglückten literarischen Kunstwerk, die etwa auch Sabine Hassingers (*1958) Annäherungen an die im Januar 61-jährig verstorbene Barbara Köhler durchziehen. Dem Gespräch mit anderen Schreibenden und Lesenden ist auch Christian Steinbachers (*1960), u. a. gemeinsam mit Studierenden der Universität entstandene, Auseinandersetzung mit dem Werk von Lew Rubinstein (*1947) im aktuellen Heft verpflichtet, während Friederike Kretzen (*1956) in der vorangegangenen Ausgabe Von Räubern und ihren Verschleppungen bei Robert Walser (1878–1956) erzählt. Beiden Beiträgen ist ein kurzer Abriss ihrer Entstehung vorangestellt, der dem von den Herausgebern intendierten „Werkstattcharakter“ der Idiome entspricht und etwa auch in dem ebenfalls im Vorjahr erschienenen „Küchenbericht“ von Erhan Altan (*1963) zur Übersetzung deutschsprachiger experimenteller Dichtung ins Türkische spürbar wird. Fragen nach Übersetz- und Lesbarkeit liegen auch dem Gespräch zwischen Neuner und dem Philologen Jürgen Link (*1940) zur „Aktualität Friedrich Hölderlins“ zugrunde, das dadurch auch die gesellschaftliche Dimension literarischer Produktions- und Rezeptionshaltungen adressiert. Die Wirkmacht begrifflicher Rede bildet auch den Ausgangspunkt von Mariusz Latas (*1981) Prosa Fix, die bereits im Titel den Anspruch, mit Literatur Wirklichkeit erfassen und festhalten zu wollen und die damit verbundenen Erkenntnisse und Risiken inszeniert. Latas poetische Erkundungen plausibilisieren damit auch den mit Blick auf Barbara Köhler formulierten Befund der Herausgeber, „daß politische […] Bewußtseinsschärfung in der Literatur nur dann gelingen kann, wenn sie auch ästhetische Konsequenzen hat.“ So besehen wollen die Idiome auch in deutlichem Widerspruch zu einem Feuilleton gelesen werden, dessen Urteilsvermögen weniger ästhetischen als vielmehr sozioökonomischen Erwägungen entspringt. Dazu fügt sich die programmatische Rede von „neuer Prosa“, die nicht allein auf bis dato unpublizierte Texte oder eine jüngere Autor*innengeneration, die in den letzten beiden Idiome-Ausgaben etwa durch Thomas Ballhausen (*1975), Marlene Hachmeister (*1983) oder Philipp Kampa (*1987) vertreten war, verweist. Im Licht der Lektüre mündet die Suche nach literarischen Innovationsmöglichkeiten in Fragen nach der spezifischen Erkenntniskraft der Literatur, die sich dabei weniger kurzlebigen gesellschaftlichen Trends als einer konsequenten Auseinandersetzung mit der Geschichte verpflichtet sieht. Auf einer einzigen Seite demonstriert die Text-Bildmontage los von Fritz Lichtenauer dementsprechend nicht nur die ungebrochene Produktivität und ästhetische Beharrlichkeit des inzwischen 75-jährigen Linzer Künstlers, sondern auch seine herausragende Stellung innerhalb der jüngeren Avantgardegeschichte. Zudem erinnert die aktuelle Ausgabe anhand der Fotografien von Jörg Gruneberg (*1966) an den im Februar im Alter von 89 Jahren verstorbenen Urs Jaeggi, der trotz seiner 1981 erfolgten Auszeichnung mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis von der Literaturkritik zuletzt kaum beachtet wurde, aber dafür regelmäßig in den Idiomen publizierte. Auch an diesem Umstand wird die Skepsis der beiden Herausgeber gegenüber den Usancen des zeitgenössischen Literaturbetriebs und seinen Protagonist*innen deutlich, die in ihrer Vehemenz bisweilen irritieren oder Widerspruch erwecken mag. Das ist wahrlich kein geringes Verdienst und Grund genug, auch der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift und den darin enthaltenen Fragestellungen in Bildern und Texten gebührende Aufmerksamkeit zu schenken.

 

Idiome. Hefte für Neue Prosa Nr. 14.
Herausgegeben von Florian Neuner (Berlin) und Ralph Klever (Wien). Mit Beiträgen von: Peter Ablinger, Urs Allemann, Thomas Ballhausen, Wolfgang Bleier, Jörg Burkhard, Zsuzsanna Gahse, Hartmut Geerken, Jörg Gruneberg, Sabine Hassinger, Bodo Hell, Mariusz Lata, Fritz Lichtenauer, Ronald Pohl, Wilfried A. Resch, Franz Martin Riegler, Katharina Riese, Jürgen Schneider, Karin Schöffauer, Birgit Schwaner, Karin Spielhofer, Christian Steinbacher, Mathias Traxler, Elisabeth Wandeler-Deck.
Idiome Nr. 14, Hefte für Neue Prosa 112 Seiten, € 12, ISBN 978-3-903110-67-0

Fix

Für sich stehende Kurzprosa von Mariusz Lata und Leseprobe aus Idiome – Hefte für neue Prosa, Nr. 14.

Weisungen, Anweisungen, Ausweisungen, Einweisungen. Das Büro trifft die Gedärme. Anweisungen an die Krähen laufen. Anweisungen langen im Gekröse an. So ausgewiesene Wichtigkeiten, die darauf hinweisen, was abgewiesen wurde. Herzrasen, naturgemäß grün. Oder postalisch. Geflüsterte Auskünfte, ob derbroh oder nicht, sind Hinweise auf Gewesenes. Gewesenes ist. Hinweise sterben & sind Anweisungen. Du da! Kinderruf, der stirbt. Weil Gewesenes ist, sitzt die Rote, die Köpfe machte, Butterbrote schmierte, auf Bänken saß, wo die Rote ab & an eine Pulle Pils trank. Sie gab, sie gibt Anweisungen an Kinderrufe, die mit ‹Du da!› sich ausweisen. Gewesenes ist & ist gar nicht mehr, der rote Faden verheddert sich, geht verloren in der Röte des Biographienblödsinns, was dann zum Überbleibsel wird, darin der Faden: gut aufgehoben. Anweisungen an die Hundeschnauze laufen. Mit dem Kopf, nicht mit den Köpfen, die sie machte frisierte, die alsdann Butterbrote aßen, oder doch, mit den Füßen zuerst, wurde Biographienblödsinn außer Haus geschafft. Die Rote kannte jede & jeden, die Rote kannte jede & jeder. An keinem schwarzen oder roten Brett hing der Hinweis darauf, daß dieser Stadtteil nun verstorben sei.

Wir sollen Viten haben, vor allem am Tag des Tods. Kontaktblümchen im Kosmos. Inmitten des Lebens. Inmitten des Tods. Wir sollen gemacht haben. Wir sollen haben. Wir haben Körper. Die gleichen sich. Da hausen Ideen drin.

So putzig, Schillers Idealismus, daß ich Schiller, lese ich „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“, die ganze Zeit trösten möchte. Er wußte darum, um seine fixen Ideen, die diese Sprache verhüllt, als gelte es die fixen Ideen zu verstecken. Vor den Anwenderinnen. Vor Sichtungen.

Briefe treffen auch nach dem Tod ein. Vom „Deutschen Roten Kreuz“ vom „Tierschutzbund“. In Briefkästen landen Ausweise. Könige sollen tausende von Pfund Medienbeitrag an den BBC überweisen, obgleich sie tot sind. Mit ihnen ist aber nicht die Idee des Souveräns gestorben. Der geistert noch durch die Fiktionen als Fiktion. Potenzierte Fiktionen, & in Televisionen Radioapparaten auf You­Tube in Büchern spuken Heldinnen herum mit Namen, Viten etc. Die Königinnen sind tot, es leben die Souveräne.

Es stirbt. Ein Mensch. Es stirbt ein Stadtteil. Es ersterben Rauchzeichen. Es stirbt das Viertel, wenn ein Mensch stirbt, & steigen keine Rauchzeichen auf. Es waren einmal Rauchzeichen. Es werden Brotlaibe in Müllkübeln gefunden. Es werden Brotlaibe auf dem Marktplatz gefunden. Es stirbt – : ein Mensch.

In Märchen – : der gerechte Krieg, der gerechte Mord; aufgelesen. Die Königin ist tot, es erlese sich die Souveränin, die sich aufgelesen. Märchengleich schwappt das Bier nicht über die Bank, schäumt auf dem Tisch, daß Schaumkrone, Gischt, Geburt etc. Inmitten des Tods greifen Flechten Geflechte Kontaktblumen nach der Gischt, die die Heldin umspült. Ich versuche das zu ordnen, kann aber seit einem Jahr ein Buch nicht finden, aus dem ich nur einen Abschnitt brauche, der die fälschliche Verwendung des Schimpfworts „Schwein“ nacherzählt, der nachweist, warum Schwein nie & nimmer ein Schimpfwort sein sollte. Ich ziehe meine Fühler ein. Ich brauche den Abschnitt gar nicht, weil ich noch weiß, was drinstand, will ihn nur sehen. Ich & Genese.

Morgens mit der fixen Idee aufgewacht, die Geschichte wäre ganz anders gelaufen, sagten wir: die Velocipedistinnen.

Ein Stadtteil kann gar nicht sterben, der besteht aus x mal x vielen Menschen, manchmal aus Zehntausenden; der kann absterben verarmen vermüllen verwahrlosen verlottern & Gesichter verlieren, nicht aber sterben. Nicht einmal die Ideen verrecken, kommen immer wieder zurück, sind nicht zu ermorden. Die kommen gefleddert gerupft oder unverändert zurück, die Ideen. Fast schon eine Sicherheit, daß Menschen kämen, die ästhetisch erziehen wollten, wenn eine Gegend vermüllt. Die sammelten & sammelten Kippen auf, klaubten Papier auf mit diesen Greifdingern etc.; die glaubten an die Souveränen an Viten an Hokuspokus, & wenn sie es nicht mehr täten, seien sie gefährdet, sich gegen oder unter Züge zu werfen von Brücken zu springen sich aufzuhängen sich auszubluten etc. Ganz klar, die fixen Ideen, das, was nie aufgehen wird, sie sind lebensverlängernd, & allein deswegen überleben sie, weil sie Überleben sichern. Die Ideen wollen nicht verrecken. Menschen, die nie auf die Idee kämen, Schiller trösten zu wollen, weil die Ideen in ihren Leibern wohnen. Sofern jenes Überlebenwollen der Idealistinnen das Überleben der fixen Ideen sichere, ließe sich nichts dagegen machen. Wer spricht, verspricht sich. Solche Ideen könne niemand aus den Körpern herausoperieren; aber die blieben nicht in den Körpern, die sie bewohnten; aus Mündern versprächen sie sich, vermehrten sie sich. Dagegen könne nichts gemacht werden, daß das sich gegenseitig befruchte, was nie & nimmer fruchten werde, was nie gefruchtet habe. & da sei zu singen, die Ideen seien frei, denn sie sitzen in den Leibern Brotlaiben fest. Die fixen allzu fertigen Ideen sind da sind der rote Faden, in dem die Leiber aufgehen wie am Schnürchen, zu einem Leib der Generationen werden. Tu dies zu unserem Gedächtnis. Laß das für uns. Entlang der Ideen sich hangeln.

Traum von einem Pamphlet des Inhalts: „Die Demokratie der Friedhöfe“. Nur hatte die Verfasserin oder der Verfasser des Pamphlets das Prächtige, den Prunk marmorner Gräber übergehen wollen. Es log da eine, einer ganz dreist sich was zusammen. Das Pamphlet wollte nicht – ums Verrecken wollte es nicht! – sich zerreißen lassen.

Ich gehe in die Seitenstraße, deren Namen ich nicht weiß, die auch keinen bräuchte, so kurz ist sie, um in die Fenster der Roten zu schauen, wo sich das Blau spiegelt, die Bläue der Ideen; wo ich Wolken im Glas finde, die Gardinen noch stören. Gar nicht denke ich an Kontaktblumen, Biographienblödsinn; ich denke an Szenen, wie alles zusammenschnurrt, wie einzelne Gesten, Sätze sich verhärten, & daß davon dann nur mehr die Bilder bleiben, daß das Harte sich auflöst, & daß allein das Weiche bleibt. Als wäre das Weiche das, worauf wir gehen, worin wir einzusinken drohen, weil dieses Weiche unnachgiebig ist in seinem Einverleiben; völlig nasse Erde, oder ein Schlamm-, Sumpfgebiet, & womöglich sind wir längst versunken, sind nicht Geherinnen, sondern allezeit, alle Jahre nichts anderes als Taucherinnen in diesem Sumpfgebiet gewesen. Wir sind Taucherinnen gewesen. Tauchten in namenlosen Seitenstraßen, härteten Sätze, die mit uns ab-, auftauchten. Einzelne Eigentümlichkeiten dann, die sich doch an anderen Leibern & deren Verhalten wieder finden ließen. & doch die fixe Idee, in den Spiegeln der Bläue könnte ich womöglich mehr sehen, etwas übersehen, ginge ich nicht vorbei, was weitaus mehr als eine Reflexion des Lichts sei. Ich & Fiktion.

Die Ideen sitzen auf & in den Dingen, sie belagern sie, bilden Kolonien, erobern die Dinge, bis diese identisch sein werden mit den Ideen. Der Tod kann sich gegen das Ideewerden nicht wehren; der Schuh weiß nichts von seiner Idee, die zu uns spricht, wie der Tod, der zu uns spricht, denn die Ideen halten es ja nicht in ihren Dingen aus; sie stoßen in die Löcher, die Leeren, die die Dinge in der Welt aufreißen, um zu sprechen. Flüstertüte „Ding“. Von da aus wird geflüstert, postalisch. Etwas ist da, um kolonisiert zu werden. Waten durch Gesten, Szenen. Gehärtete Sätze wie Gebete. Ah!

Kontaktblumen im Sumpfgebiet. Ich hüte Sätze, die so nie ausgesprochen wurden, & beharre gar nicht auf deren gewesener Wirklichkeit, hüte sie aber trotzdem, als wären sie so ausgesprochen worden.

Es war einmal die Ideologie der Unaustauschbarkeit. Es waren einmal be-, gehütete Sätze. Es waren einmal Kolonial- Vernichtungsarmeen, die aus Mündern stürmten. Es war einmal eine Heldin, die jede & jeden kannte, die jede & jeder kannte. Es war einmal der maus-, haus-, beton-, himmel-, trampelpfad-, taubengraue Faden, der sich als Wolkenansammlung in Fenstern spiegelte. Es war einmal der Trugschluß.

Ob schön oder auch nicht schön, wo wir sind, bleibt es düster. Da jausen die Ideen, die in Körpern hausen, die sich gleichen.

Aus allen unseren Poren tritt unsere Lumpigkeit heraus. Eine Art der innerlichen Verlotterung west in uns. Es tritt unsre Prekariatsgenese aus uns heraus. Drum bleibt unser Sonntagsstaat im Schrank.

Der Ausweis der Zäune war eine Anweisung, daß dieser Platz nicht betreten werden dürfe, bis dann eines Tages die Zäune eine Öffnung aufwiesen, eine Eintrittsspalte da war, die führte. Die Tore: weg; die Scheiben der Eintrittskartenhäuschen: mausgrau, & innerhalb der Häuschen: Laubhaufen, als hätte die ein Mensch da hinein gefegt; die eine Bank: so, daß ein Sitzen auf ihr unmöglich wäre. Auf dem Ascheplatz wuchsen Un-, Wegkräuter, Giersch, Disteln, Schöllkraut, & Goldastern & Steinkraut etc. Fußballromantik sei dort anzutreffen, wo der Fußball seit langem nicht mehr bewegt werde, eine Idee sei.

Mitwirkende:
circa 4 Milliarden Idealistinnen
zig Jogginghosen
1 Pamphlet
circa 3 Ichs
7 Es war/Es waren einmal
0 Tänzerinnen
circa 11.200 Königinnen bzw. Souveräne
paar fixe Ideen
1 Stadtteil
25 unerwähnte Bierpullen (Pilsener)
circa 10.000 Tote
1 Mitschreiberin
1 Schiller
5 x Wildwuchs
0 Schafe
0 Fußbälle
0 Hexen
1 Trugschluß

 

Fix von Mariusz Lata wurde in Idiome – Hefte für neue Prosa Nr. 14 veröffentlicht. 

Plan

Die Geschichte einer Obsession: Ein Mann entwirft Pläne zur Umgestaltung seiner städtischen Umgebung. Aus dem zunächst harmlosen gesellschaftlichen Engagement erwächst die Wunschvorstellung der Übernahme politischer Macht und schließlich der autoritäre Traum von einer nach Plan funktionierenden, konfliktbefreiten Gesellschaft. So lautet der Klappentext zu Robert Stährs neuem Buch. Hier eine Leseprobe.

Ich erwache später als an anderen Tagen. Ein Blick auf die Armbanduhr zeigt mir, dass es schon Vormittag ist. Nur noch wenige Stunden bis zum Versammlungstermin, den ich um 14 Uhr angesetzt habe. „Siedend heiß“ fällt mir ein: Ich habe das Rednerpult samt Mikrophon und Lautsprecher zu besorgen vergessen. Ich besitze eine volltönende Sprechstimme, Verve und Engagement werden mich zur Hochform auflaufen lassen. Ein Pult wäre letztlich nur hinderlich im direkten Kontakt mit den Anwesenden.
Aus diesen Gedanken reißt mich das Läuten des Telephons. Also gut ich komme sagt Karla tonlos. Wann startet das Ganze? – Am Nachmittag um zwei stammle ich vor Überraschung. Als ich sie fragen will, ob sie zuvor in die Wohnung kommt, um gemeinsam mit mir zum Versammlungsort zu gehen, hat sie aufgelegt.
Duschen und Anziehen sowie Mundhygiene müssen an diesem entscheidenden Tag, besonders sorgfältig durchgeführt werden. Schließlich repräsentiere ich eine zukünftige Reformbewegung, deren Initialzündung heute, an diesem Nachmittag, erfolgen wird.
Voller Nervosität gehe ich zuerst im Arbeitszimmer, dann in der ganzen Wohnung auf und ab. Immer wieder schau ich aus dem Fenster: Im Park ist alles ruhig; Karla ist weder dort noch auf dem Gehsteig zu sehen.
Zum wiederholten Mal blicke ich auf die Armbanduhr. Als es ein Uhr Mittag geworden ist, beschließe ich, zum Versammlungsort zu gehen, um letzte Vorbereitungen zu treffen.
Auf dem Weg zur Versammlungsfläche im Park fallen mir weitere beschädigte und abgerissene Plakate auf. Auf den Bänken und Wiesen rund um die Fläche sitzen Menschen unterschiedlichen Alters und Geschlechts und reden angeregt miteinander. Es ist gut, wenn der Reformkonvent von vielen verschiedenen Menschen besucht wird. Leute aus allen Gesellschaftsschichten sollen sich meiner Bewegung anschließen.
In weniger als einer Stunde starten wir. Von mehreren Seiten nähern sich Passanten dem Veranstaltungsgelände. Erst jetzt fällt mir auf, dass die Klarsichthüllen mit den Hinweisen nicht mehr an Bäumen und Pfosten kleben. Wahrscheinlich haben interessierte Personen sie mitgenommen.
Eine halbe Stunde vor Beginn des Konvents sitzen etliche Leute, die meisten jüngeren Alters, auf der Wiese in der Sonne. Klima und Atmosphäre stimmen. Jemand ruft nach mir. Ich drehe mich um und erblicke einen der Nachbarn, die ich lange nicht gesehen habe.
Freut mich dass Sie sich Zeit nehmen sage ich und schüttle dem Nachbarn die Hand. Zeit wofür fragt der Mann und schaut mich verständnislos an. Für die Bürgerversammlung erwidere ich. Okay. Der Nachbar hebt die Hand zum Gruß und schlendert über die Wiese davon.
Kurz darauf läutet das Telephon in meiner Hosentasche: Karla. Wann kommst du frage ich gereizt; ich schaff das jetzt nicht treffen wir uns später im Cafe meint Karla unbekümmert. Ich unterbreche augenblicklich die Verbindung und bin versucht, das Telephon ins Gras zu werfen.
Knapp vor dem definitiven Start des Konvents vermeine ich erwartungsvolle Blicke auf mich gerichtet zu sehen. Mein ohnehin schon hoher Adrenalinpegel steigt weiter, ich spüre die Motivation, es gelingt mir, den Ärger über Karla zu vergessen.
Ein paar Männer, deren Alter schwer schätzbar ist, steuern auf mich zu. Sie wirken unsicher, nervös, als sie vor mir stehenbleiben und fragen, ob hier die angekündigte Versammlung stattfinde. Ich nehme Haltung an und bestätige den Männern, dass sie hier genau richtig seien; ich freue mich über ihr Erscheinen. Die Gruppe bleibt direkt vor mir stehen, umringt mich förmlich.
Ich entschuldige mich bei der Gruppe, es ist zwei Uhr und die Versammlung beginnt. Wir starten jetzt rufe ich in die verschiedenen Richtungen, wo die Teilnehmer auf Bänken und der Wiese sitzend warten. Zunächst reagiert niemand auf meinen Zuruf; ich muss lauter rufen, um mich gegen den im Park herrschenden Lärmpegel durchzusetzen. Die Männer der Gruppe schauen mich erwartungsvoll an.
Nach dem dritten Aufruf, bei dem mich der größte der Männer akustisch unterstützt, antwortet eine Frau, die mit einer Freundin auf der uns am nächsten stehenden Bank sitzt: Warum schreien Sie denn so? – Weil ich jetzt beginnen und die Leute nicht länger warten lassen möchte. – Beginnen … womit? – Wenn Sie nicht zu unserem Reformkonvent gekommen sind ersuche ich Sie woanders hinzugehen sage ich ungeduldig. Gehen Sie doch woanders hin wir wissen nichts von einer … Konvention keifen die beiden Frauen unisono. Von der Wiese ruft ein Mann herüber: Wir wollen unsere Ruhe haben!
Wenn auch, mit Ausnahme der Gruppe, bis jetzt niemand auf meinen Eröffnungsruf reagiert hat, räuspere ich mich – ein weiteres akustisches Zeichen setzend – entsprechend laut und beginne zu sprechen. Einige wenige drehen sich nach mir um und mustern mich von oben bis unten. Ich steigere die Lautstärke und lege größeren Nachdruck in die Stimme.
Langsam müssten diejenigen, welche auf der Wiese und den diese säumenden Bänken sitzen, aus ihrer Lethargie erwachen und sich um den Redner, mich, scharen. Der Konvent hat begonnen, ich halte die Eröffnungsrede. Unmittelbar vor und seitlich von mir steht die Männergruppe, der „harte Kern“ sozusagen. Ihre Mitglieder applaudieren nach jedem zweiten Satz, den ich sage. Sie fungieren als Anheizer; weiter weg stehenden und sitzenden Versammlungsteilnehmern verstellen sie allerdings die Sicht auf den Redner.
Erste Wortmeldungen, Zwischenrufe kom­men noch während meiner Rede. Ich unterbreche und ersuche die Betreffenden, ein paar Minuten mit ihren Diskussionsbeiträgen zu warten. Eine kleine Gruppe junger Frauen und Männer kommt näher. Was soll das Geschwafel lassen Sie uns in Ruhe die Leute hier – eine sich aggressiv gebärdende Frau, Wortführerin der Gruppe, beschreibt mit der Hand einen großen Bogen – wollen das nicht hören.
Meine Gruppe öffnet den Halbkreis, den sie um mich gebildet hat, und dreht sich nach der aggressiven Frau und ihrem Gefolge um; wollt ihr Streit sagt einer meiner Anhänger halblaut. Ich suche abzuwiegeln und ein Gespräch zu beginnen mit diesen Leuten, die einige Meter entfernt auf der Wiese stehengeblieben sind. Wenn auch nicht alle wegen des Konvents hier sind so glaube ich doch dass ich bei vielen Menschen Interesse wecken kann bemühe ich mich, ruhig zu bleiben. Für diesen Schwachsinn wollen Sie Unterstützer finden? Einer der Begleiter der Frau greift sich an die Stirn. Darauf brechen diese Leute in Lachen aus, drehen sich abrupt um und gehen davon. Einer aus meiner Gruppe macht Anstalten, ihnen nachzulaufen; ich halte ihn am Arm zurück.
Bevor ich weiterspreche, überblicke ich das Veranstaltungsgelände: Die Anzahl der Anwesenden ist … kleiner geworden. Haben sie schon genug gehört? Keine Lust oder Bereitschaft, sich einzubringen? Auf die können wir verzichten sagt einer aus der Gruppe stoisch. Ich schau ihn an, zucke die Achseln.
Die Kerngruppe meiner Anhänger hat sich um mich geschart. Von den Nachbarn ist keiner gekommen, auch niemand von den für die Stadtplanung Verantwortlichen hat sich blicken lassen. Nicht einmal die beiden Popmusiker, die im Mailverkehr ein gewisses Interesse an meinem Anliegen geäußert, es für cool befunden haben, sind gekommen.
Unter den gegebenen Umständen verzichte ich darauf, die Eröffnungsrede zu beenden. Aus Enttäuschung über die Ignoranz und Gleichgültigkeit der Menschen in dieser Stadt werde ich vorläufig keinen zweiten Termin für eine Versammlung ansetzen.
Eine Reformkeimzelle hat sich gebildet. Die Männer meiner Gruppe haben sich nicht verabschiedet, sie stehen – im wahrsten Sinn des Wortes – zu mir. Ich danke euch fürs Kommen sage ich und schüttle jedem der Gruppenmitglieder die Hand. Wir wollen mehr über deine Initiative erfahren sagt einer von ihnen. Unbedingt stimmen die übrigen Männer zu und nicken freundlich.
Ich betone meine Freude über die Unterstützung. Gleich morgen, schlage ich vor, könnten wir uns wieder treffen, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Wenn jeder aus der Gruppe bestimmte Aufgaben zur Umsetzung meiner … unserer Reformbestrebungen übernehme, sei ein Erfolg letzterer möglich, seien dringend notwendige Maßnahmen auch ohne breite Unterstützung realisierbar.
Erzähl uns morgen mehr dann schauen wir weiter sagt jener aus der Gruppe, der sich bis jetzt im Hintergrund gehalten hat. Wir vereinbaren ein Treffen für den nächsten Tag, ich schlage das Gasthaus in der Nähe meiner Wohnung vor und beschreibe den Männern den Weg. Als die Gruppe außer Sichtweite ist, laufe ich auf schnellstem Weg nach Hause.
Es ist höchste Zeit für die tägliche Ruhephase. Obwohl mein Atem vor Aufregung und Ärger unregelmäßig geht, schlafe ich auf dem Sofa nach wenigen Augenblicken ein. Als ich erwache, ist die Nacht hereingebrochen. Es ist Schlafenszeit, Kopfschmerzen und Übelkeit plagen mich. Ich gehe zum straßenseitigen Fenster, öffne es und atme tief durch.
Ich sitze zwei Stunden lang auf dem breiten Fauteuil im Dunkeln. Dann gehe ich zu Bett und versuche wieder zu schlafen. Erst im Morgengrauen verfalle ich in einen kurzen Schlummer.

 

Plan Robert Stähr
Passagen Verlag, Oktober 2020 Paperback, 140 Seiten, ISBN 978-3-7092-0435-1
www.passagen.at/gesamtverzeichnis/literatur/plan

Radio FRO-Beitrag über das Buch bzw. mit dem Autor Robert Stähr: www.fro.at/total

„Plan“ von Robert Stähr
Die Geschichte einer Obsession: Ein Mann entwirft Pläne zur Umgestaltung seiner städtischen Umgebung. Aus dem zunächst harmlosen gesellschaftlichen Engagement erwächst die Wunschvorstellung der Übernahme politischer Macht und schließlich der autoritäre Traum von einer nach Plan funktionierenden, konfliktbefreiten Gesellschaft. Im Takt seiner täglichen Routine, der nur durch die Variationen des immer gleichen Traumes unterbrochen wird, beobachtet, kommentiert und kritisiert der Ich-Erzähler seine Umgebung: Auf Spaziergängen durch den nahe gelegenen Park und die Straßen der Stadt, bei Treffen und Erledigungen wird der Mann mit Unregelmäßigkeiten konfrontiert, die er als Mängel der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung erlebt. Nach und nach entwickelt der Erzähler Pläne, um diese Ordnung zu reformieren. Je länger aber seine Bemühungen, Mitstreiter für sein Vorhaben zu finden, erfolglos bleiben, desto mehr wächst sich sein Engagement zur Obsession aus. Der Erzähler träumt von einer konfliktbefreiten Gesellschaft, einem perfekten sozialen Räderwerk, das von ihm und seinen imaginierten Helfern beherrscht wird.

Leo Rothziegel und die Revolution

Die Referentin bringt seit mehreren Heften eine Serie von Porträts über AnarchistInnen, ProtagonistInnen von frühen ArbeiterInnenbewegungen und erste kämpferisch-soziale Bewegungen. In dieser Ausgabe schreibt Peter Haumer über einen der schillerndsten Revolutionäre, den 1892 geborenen Leo Rothziegel – und dessen 1918 verfasste Artikelserie zur sozialen Revolution.

Revolutionen sind Zeitfenster der Geschichte, sie eröffnen die Möglichkeit, neue Wege zu beschreiten. Die Geschichte gibt uns eine Chance auf ungeheure Ausdehnungen und Wirkungen. Unsere kapitalistische Welt steuert einmal mehr auf eine Katastrophe zu und es werden sich wieder Zeitfenster öffnen, in denen die Chance besteht, mögliche Alternativen zum drohenden Kollaps in die Tat umzusetzen. Die Gelegenheit zu nützen, um in den Lauf der Dinge einzugreifen – davor steht dann jede/r einzelne von uns, mit einer großen Eigenverantwortung!

Diese Situation ist nicht neu. Im Laufe der Geschichte öffneten sich immer wieder Gelegenheiten, aber für die davon betroffenen Menschen war, ist und wird dieser Umstand immer neu und oft überfordernd sein. Aber einen Blick durch vergangene Zeitfenster zu werfen, um daraus die eine oder andere Lehre zu ziehen, sei hier gestattet. Auch wenn die Warnung nicht oft genug ausgesprochen werden kann, dass vergangene Zeiten vergangen sind und jede Revolution neu begriffen werden und ihr jeweiliges Räderwerk neu erkannt werden muss.

Leo Rothziegel …
… wurde am 5. Dezember 1892 in eine proletarisch-jüdischen Familie in Wien geboren und arbeitete später als Buchdruckergehilfe. Er hat wie viele andere den Blick durch eines der Zeitfenster der sozialen Revolution geworfen und hat auch darüber geschrieben. Er war Mitglied der sozialdemokratischen Arbeiterjugend, wurde aufgrund seiner radikalen Ideen aus dieser ausgeschlossen und bereits 1910 von der Polizei als anarchokommunistischer Revolutionär registriert. Während des Ersten Weltkriegs wurde er zur Infanterie einberufen. Er desertierte, lebte illegal in Wien und kämpfte gegen den Krieg. Nach dem Jännerstreik 1918 wurde er erneut verhaftet und verbrachte sieben Monate im Gefängnis. Er wurde durch die Revolution Ende 1918 befreit, beteiligte sich am Aufbau der Roten Garde und war Gründungsmitglied der Föderation Revolutionärer Sozialisten Internationale (F. R. S. I.). Nach der Ausrufung der ungarischen Räterepublik am 21. März 1919 stellte er ein 1200 Mann starkes Bataillon auf, an dessen Spitze er am Kampf gegen die Konterrevolution in Debrecen teilnahm. Er hatte versucht, in den Lauf der Dinge einzugreifen, und er fiel am 22. April 1919 gemeinsam mit mehr als 720 Genossen des 2. Internationalen Roten Regiments der Wiener Kommunisten in Ungarn.

… und die soziale Revolution.
November 1918: Die österreichische Revolution ist noch jung, unerfahren und voller Widersprüche. Rothziegel stand mit Gleichgesinnten an der Spitze der F. R. S. I., deren Zweck es war, alle revolutionär-sozialistischen Kräfte zusammenzufassen. In ihrer Wochenzeitung Der Freie Arbeiter schrieben sie: „Das Ziel ist die soziale Revolution, das heißt die Überführung des Grund und Bodens, der Produktions- und Verkehrsmittel aus den Händen der Kapitalisten in den Besitz der Arbeitenden. Wir erstreben die soziale Republik der Arbeitenden durch Abschaffung der Klassenherrschaft.“1
Ihr Tätigkeitsprogramm bestand aus vier Punkten: „1. Verbreitung sozialistischer Erkenntnis und Erweckung revolutionären Kampfwillens. 2. Nachweis der Nutzlosigkeit des Kompromisses mit den bürgerlichen Parteien. 3. Bildung von Propaganda- und Tatgruppen in den Betrieben und Kasernen. 4. Schaffung von sozialistischen Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräten.“2
Rothziegel versuchte in der dreiteiligen Artikelserie „Die soziale Revolution“ dieses Tätigkeitsprogramm zu erklären – auch um sich selbst besser begreifen zu lernen! Sie redeten schließlich nicht über theoretische Eventualitäten. Im Gegenteil, sie befanden sich mitten in einem Sturmgewitter, um sie herum überzogen nationale und politische Revolutionen Europa und Asien, im zaristischen Russland stürzte eine soziale Revolution die Kapitalisten und Gutsbesitzer! Junge Republiken erstanden aus den Trümmern der Monarchien – die nationale und politische Revolution war auf der ganzen Linie siegreich.

Doch Leo Rothziegel stellte fest, dass der bisherige Verlauf der Revolution an den Grundlagen des wirtschaftlichen Lebens nichts geändert habe. Es solle niemand glauben, dass neben der Ära der politischen Freiheit nun auch die Zeit sozialer Gleichberechtigung angebrochen sei. Wohl wurden die Grenzen verschoben, Regierungen gewechselt, Verfassungen geändert, wirtschaftlich seien die Verhältnisse dieselben wir vor und während des Ersten Weltkrieges. „Sollen sie anders werden, muss eine soziale Revolution die Gesellschaft von Grund auf ändern.“3 Er fragte, was denn „soziale Revolution“ heiße, und er antwortete, dass dies die Besitzergreifung des Grund und Bodens, der Produktionsmittel und Werkzeuge, Bergwerke, Fabriken, Häuser und Verkehrsmittel, kurz des gesamten gesellschaftlichen Reichtums durch das arbeitende Volk bedeute.

„Diesen Zustand zu verwirklichen setzt aber voraus, dass die bisher Ausgebeuteten nicht nur imstande sind den jetzigen Zustand zu beseitigen, sondern dass sie auch die Fähigkeit haben, die Produktion und die Verteilung des Volksreichtums zu übernehmen. Wer da glaubt, durch die Veränderung der Regierung und durch Erlässe derselben die Realisierung des Sozialismus herbeizuführen, vergisst, dass dies eben nur eine politische, nicht aber eine soziale Revolution bedeute.“4 Die Vorbedingung einer sozialen Revolution sei daher die Durchdringung des Volkes mit sozialistischen Ideen. Die ArbeiterInnen müssten bereit sein, die Verwaltung der Fabriken zu übernehmen. Rothziegel stellte fest, dass in diesen Zeiten der Umbrüche die Menschen in einigen Tagen mehr lernen, als sie sonst in Jahren erkannten und es wäre dringend notwendig, die ArbeiterInnen aufzufordern, sich in ihren Betrieben zu vereinigen und mit der Möglichkeit der Übernahme der Produktion zu rechnen. „Durch die Wahl von Arbeiterräten soll diese Entwicklung organisiert und beschleunigt werden.“5

Rothziegel, der in Wien als selbstbewusster Revolutionsführer galt – großmäulig und wortgewaltig, elastisch und ausdauernd – war kein Träumer, und er erkannte, dass bis jetzt keine Organisation der ArbeiterInnen sich mit der Frage der Übernahme der Produktion befasst hatte. Die Gewerkschaften und die Sozialdemokratie hatten sich nie mit derartigen Möglichkeiten beschäftigt. In der sozialdemokratischen Partei war bereits 1918 der Gedanke der sozialen Revolution tot, die Ideale des Sozialismus längst begraben. Von ihr zu erwarten, den Sozialismus auf irgendeine Art herbeizuführen, wäre eine törichte Illusion. Aber die Sozialisierung der Gesellschaft wäre nur möglich, wenn der Gedanke des Sozialismus im Geiste der ArbeiterInnenklasse lebt, schafft und wirkt. Was also tun, um die Gunst der Stunde nützen zu können?

Rothziegel stellte fest, dass vierzig Jahre österreichische Arbeiterbewegung nicht imstande waren, die Gedanken und Handlungen des Proletariats mit sozialistischem Geist zu erfüllen, so dass im gegenwärtigen, entscheidenden Augenblick jede Aktion lahmgelegt, oder von denen, die sich Sozialisten nennen, hintertrieben und unmöglich gemacht wurde. „Wir stehen auf Brachland, oder was noch schlimmer für uns ist: im Sumpf,“6 und man sei daher gezwungen, von vorne zu beginnen. Jetzt komme es darauf an, dass die Bewegung sich nicht damit begnüge, neue Theorien auszuhecken, sondern das als richtig Erkannte in die Tat umzusetzen. „Heißt Sozialismus, dass Grund und Boden und Häuser in den Besitz des Volkes übergehen, so muss das Volk sich des brachliegenden Bodens und der leerstehenden Häuser bemächtigen, dieses Land bebauen, die Häuser bewohnen; die Bewohner eines Mietshauses müssten das Haus als ihren Besitz erklären und alle Abgaben an den Hausherrn verweigern.“7

Eine solche Bewegung hätte die Zukunft für sich. Sei bisher durch jahrzehntelanges Organisieren nichts in Richtung Verwirklichung des Sozialismus geschehen, so würde durch eine solche Bewegung der sozialistischen Tat das, was bisher graue Theorie war, in das Leben des Volkes eindringen. Durch die Tat würde in wenigen Monaten ein besserer Anschauungsunterricht erteilt werden, als es jahrzehntelange Erziehung zu leisten imstande war.

Rothziegel resümierte abschließend: „Wir scheinen am Beginn der sozialen Revolution zu stehen. Dies ist kein Werk von heute auf morgen. Jahre wird es dauern, bis alle Schäden des kapitalistischen Systems verschwinden (…) macht in den Fabriken, in denen ihr robottet, in den Häusern, in denen ihr Zins zahlt, den Sozialismus zur Wirklichkeit.“8

Rothziegel bezahlte seinen Aufruf zur Propaganda der Tat mit seinem Leben. Viele seiner FreundInnen rieten ihm ab, nach Ungarn zu gehen, sein Talent als Redner und Agitator sei in Wien gerade in der sozialrevolutionären Phase der österreichischen Revolution bitter von Nöten. Das Zeitfenster für die soziale Revolution in Österreich schloss sich ungenutzt dann wieder mit August 1919. Leo Rothziegel erlebte dies allerdings nicht mehr.

 

1 Der Freie Arbeiter, Nr. 3, Wien, 23. 11. 1918, S. 24
2 Ebenda.
3 Der Freie Arbeiter, 23. 11. 1918.
4 Der Freie Arbeiter, 30. 11. 1918.
5 Ebenda.
6 Der Freie Arbeiter, 7. 12. 1918.
7 Ebenda.
8 Ebenda.

Die Serie in der Referentin ist auf Anregung von Andreas Gautsch bzw. der Gruppe Anarchismusforschung entstanden, siehe auch: anarchismusforschung.org

Werden wir uns wieder­sehen?

Der diesjährige und letzte Höhenrausch, kuratiert von Martin Sturm und Rainer Zendron, präsentiert 35 künstlerische Positionen, die den Begriff Paradies aus sehr unterschiedlichen Perspektiven ins Bild setzen. Eine der gezeigten Arbeiten trägt den Titel „RISE. Turnton2047“ und wurde vom Linzer Künstler:innenkollektiv Time’s Up detailreich im OK eingerichtet.

Time’s Up, seit 1996 im Linzer Hafen verankert, weitet verlässlich die gebräuchlichen Grenzen der Disziplinen Kunst, Technologie, Wissenschaft und Unterhaltung aus und vernetzt sie miteinander. Als Labor zur Schaffung experimenteller Situationen modelliert es dem Alltag entlehnte Wirklichkeiten im Verbund mit möglichen Zukunftsszenarien zu raumgroßen, begehbaren, haptisch erlebbaren Erzählungen. Die interaktiven, transmedialen Installationen sind durch die Rezipient:innen intuitiv und spielerisch erfahrbar. Mehrfach wurde Turnton bereits für Ausstellungen in Museen und Galerien „verzimmert“ – eine Wortkreation von Time’s Up – und als begehbare Erzählung oder auch Physical Narratives aufgebaut. Letzteres sind ebenfalls Begriffsbildungen von Time’s Up.

Kulissen und Architekturen
möglicher Zukünfte Unter dem Titel „Ein sicherer Hafen in nächster Nähe“ heißt es in der Wochenzeitung „Turnton Gazette“, einer dem Projekt zugeordneten Zeitungsfiktion vom 13.–19. September 2047: „Im vergangenen Jahr erlebte die Hafenschifffahrt im Hafen einen massiven Aufschwung. Nur in 28 der 52 Wochen des Jahres gab es eine Medusozoa-Pest, sodass Schleppboote und andere Hafenfahrzeuge über viele Wochen hinweg in Betrieb bleiben konnten. Von den 24 Wochen, in denen ein Betrieb möglich war, war die Algenpest an einem Drittel der Tage so gering, dass ein normaler Schifffahrtsbetrieb aufrechterhalten werden konnte.“ Damit verortet sich „RISE. Turnton2047“ in einen möglichen Alltag im Jahr 2047, ist Entwurf einer fiktiven Hafenstadt und zeigt als immersive Rauminstallation eine von Umweltkatastrophen dominierte Welt. Das lässt sich als Klimaperspektive lesen, die eine soziopolitische Utopie in der ökologischen Dystopie darstellt.

Wir haben uns bereits in Bewegung gesetzt
Weitere News der Gazette von 2047: „Die Turnton Medical Association (TMA) reagiert auf die anhaltenden Luftfeuchtigkeitsschwankungen mit einer großzügigen Aufstockung ihrer Notdienstmitar­beite­r:in­nen und der engmaschigen Einrichtung zusätzlicher Hitze-Notstellen im Stadtgebiet. Es ist kein schönes Bild, aber leider schon ein vertrautes: Wer an einem der auffällig oft auftretenden schwülen Tage in letzter Zeit in Turnton unterwegs war, konnte fast darauf wetten, wieder einen Hitzekollaps auf offener Straße mitzuerleben.“
Doch anstatt sich dieser Dystopie hilflos zu ergeben, imaginieren Time’s Up in ihrer „Experiential Future“ eine Gesellschaft, die die kommenden Dekaden dazu genutzt hat, das Miteinander anstelle des Gegeneinanders ins Zentrum des Zusammenlebens zu stellen; und Pfade einzuschlagen, die ein „besseres Leben für alle“ realisieren.
Umgesetzt mit an Theater- oder Filmkulissen erinnernden Elementen, erweitert um Licht-, Duft- und Tonlandschaften, mit Hörspielen und medial und haptisch aufbereiteten Requisiten, schafft die Inszenierung einen Rahmen, um in diese Erzählung einzutauchen. Ihr Mittelpunkt ist die Medusa Bar, in einer nicht allzu fernen Zukunft beliebter Treffpunkt für ein bunt gemischtes Publikum im Hafenviertel von Turnton. Durchreisende, Ankommende und in der Stadt angesiedelte Menschen treffen aufeinander, lernen sich kennen und tauschen sich aus. Beim Genuss der regionalen Quallenspezialitäten informieren sie sich über Aktuelles, teilen Gerüchte, Anekdoten und Legenden, bekunden ihre Ängste und Sorgen, offenbaren ihre Hoffnungen und Freuden. Und das Publikum ist mittendrin.

Immersive Strategien
„In unserer Arbeit spielt Immersion eine wesentliche Rolle. Wir möchten Räume so inszenieren, dass man sich als Besucher:in beteiligen kann und interaktiv eingebunden wird“, erzählt Tina Auer, Mitglied von Time’s Up. „Das Sinnliche am Erfahren war schon bei unseren interaktiven Medieninstallationen relevant, und wir haben irgendwann begonnen, uns mit begehbaren Erzählungen auseinanderzusetzen. Gesellschaftspolitische Themen und deren Narration(en) wurden immer wichtiger, und die Idee möglicher Zukünfte. Daraus entwickel(te)n wir Turnton, eine Storyworld mit vielen Facetten.“ So ist in der Gazette auch von den Stars der diesjährigen Fashion Show die Rede, von der wiederkehrenden Modenschau des Department for Slow Fashion & Smart Textile Department der Turnton University. Diese präsentiert Arbeiten der Studierenden und damit die letzten Trends im Fashion-Universum. „Der Schwerpunkt wird dieses Jahr auf Mode aus Quallen-Leder liegen – man darf also gespannt sein auf eine erquickliche Bandbreite von Tauchmode bis hin zu kompakter Wintermode. Berücksichtigt wurde dabei besonders die steigende Luftfeuchtigkeit, die – so viel dürfen wir bereits vorab verraten – wegen spezieller Imprägnierungsverfahren keine besondere Rolle mehr spielen dürfte.“

Wiederverwertungs­geschichte(n)
Der Zeitungsartikel „Die bionische Begrünung“ erklärt uns, was wir vom Dunkelkäfer lernen können und dass die Süßwasseraufbereitung in Wüsten ein weiteres Einsatzgebiet im südlichen Afrika gefunden hat – und nun eine ehemalige Steppenregion begrünt wird. Und wir erfahren vom Travelmotel Turnton, das Reisenden einen 24 Stunden zugänglichen Rückzugsort in unmittelbarerer Nähe zum Hafen und Transkontinentalen Hauptbahnhof bietet. Wir begegnen Figuren wie der ehemaligen Meeresbiologin Fenfang Lin, die in Turnton zur Barbesitzerin wurde, und dem Radical-Recycling-Spezialisten Baron Trashy, indem wir lesen können, was „seit letzten Donnerstag fix“ ist: „Die Global Authority for Sustainability (GAS) genehmigt die ambitionierten Umbaupläne für das Turnton Radical Recycling Werk ohne weitere Auflagen. Müllverwertungslegende Baron Trashy scheint im Siebten Himmel zu schweben, ‚Wir haben es geschafft! Alle unsere zukunftsweisenden Vorhaben wurden von der GAS vorbehaltlos genehmigt. Ich glaube, hier wird gerade Wiederverwertungsgeschichte geschrieben!’“ Und wir lernen die auf ihre Weiterreise wartende Dokumentaristin Nele Rahimi kennen, die seit Jahren den emotionalen Bindungen zwischen Menschen und Maschinen auf den Grund geht. Und wir hören von der eingetragenen Partnerschaft des Kellners Collin, einer Künstlichen Intelligenz, mit einem Menschen.

„Change was our only chance“
Das in „RISE. Turnton2047“ entwickelte Szenario ist ein im Prozess befindlicher Organismus, der davon ausgeht, dass das Ökosystem kollabiert ist. Totzonen haben sich ausgeweitet und das Meer wurde zu einem lebensbedrohlichen Ort, sodass dieses nur mehr zum Teil und mit besonderen Schutzmaßnahmen für die Menschheit nutzbar ist. Doch: Anhand bereits im Heute existierender Konzepte und Visionen skizziert Time’s Up Vorschläge, die sowohl einen nachhaltigeren Umgang mit unserem Planeten erlauben, als auch ein besseres, faireres Leben für alle ermöglichen. Sie denken eine mutige sozial-ökonomische und soziopolitische Utopie, in der zunehmende Ungleichheit und Ungerechtigkeit als grundlegendes Problem erkannt und unterbunden wurde.

„Change was our only chance“, ist Auer überzeugt. „Prognosen geben wir keine ab. Wir greifen lediglich aktuelle Trends und Signale auf und projizieren diese Visionen und Ideen in eine mögliche Zukunft; es ist eine Bewegung zwischen Utopie und Dystopie und eine ‚Futuring Exercise‘, in der es darum geht, die Vorstellungskraft zu trainieren. Wir verwenden dazu ein ‚Scenario Development Tool‘ und gehen von der Frage aus: Wie möchten wir, dass diese zukünftige Zeit aussieht und welcher Schritte bedarf es im Jetzt?“ Auer verweist auf die Vielzahl an Themen, die sich in Turnton verdichten: Umweltverschmutzung, Klimawandel, Transport, Arbeitsweisen, Konsumationsmuster, Wirt­schaftssysteme, Reiseverhalten, Migration.

Glücklicherweise ist uns ein Licht aufgegangen!
„In den kommenden Wochen macht das Zeitgenössische Kunstmuseum Turnton mit dem Genre der ‚Physical Narratives‘ bekannt.“, heißt es in der Gazette. Der Text erhellt damit das Szenario, indem auf die Kunstgattung, deren Name in den 2000ern vom Künstler:innenkollektiv Time’s Up selbst geprägt wurde, Bezug genommen wird: „‚Physical Narratives‘ ähneln Filmsets, Bühnen und Tatorten gleichermaßen. Stets menschenleer, sind sie doch von der starken, manchmal auch unheimlichen virtuellen Präsenz facettenreicher, fiktiver menschlicher Charaktere geprägt. Von deren Existenz zeugen die zurückgelassenen Spuren in den Szenarien, die sich vor den Besucher:innen auftun und betreten werden sollen und wollen. Es wirkt, als seien die Menschen nur eben kurz aus dem Bild gegangen, um Zigaretten zu holen; als sei jeden Moment mit ihrer Rückkehr zu rechnen. Mitunter halten sich die Protagonist:innen der Erzählung offenbar nebenan auf, wie durch die geschlossene Tür aus einem angrenzenden Raum zu hören ist. (…) Mit dem – auch buchstäblichem – Begreifen der sorgfältig ausgesuchten und hergestellten multimedialen Requisiten greifen die Besucher:innen nach und nach die verschiedenen Erzählstränge auf, gelangen an ihre Enden und Knotenpunkte – und so allmählich zu einem Verständnis der materiell gefassten Geschichte, die im Szenario steckt.“

 

Der letzte Höhenrausch im Paradies:
TIME’S UP RISE. Turnton2047, 2016-2021 Installation, begehbare Erzählung, erfahrbare Zukunft
HÖHENRAUSCH. Wie im Paradies Noch bis 17. 10. 2021 OÖ Kulturquartier, OK Platz 1, Linz www.ooekulturquartier.at

Welt künstlerisch entwerfen

„Es wird keine Bilder mehr geben“ hieß es 1965 wörtlich im „Antiobjekt-Manifest“. Es wird keine Bilder mehr geben! war auch der Titel einer Ausstellung im Atelierhaus Salzamt zu künstlerischen Manifesten. Studierende und Lehrende der Kunstuniversität Linz stellten im April und Mai dort aus. Anna Maria Loffredo und Andreas Zeising berichten als Lehrende.

Eine beeindruckende Fülle an Manifesten begleitet im 20. Jahrhundert den Auftritt der bildenden Kunst. Von Dada und Expressionismus über die politisierte Kunst der 1960er Jahre bis zur postmodernen Retro-Avantgarde nutzten und nutzen Künstler:innen das literarische Medium für ihre Weltentwürfe. „Mit dem Glauben an Entwicklung, an eine neue Generation der Schaffenden wie der Genießenden rufen wir alle Jugend zusammen, und als Jugend, die die Zukunft trägt, wollen wir uns Arm und Lebensfreiheit verschaffen gegenüber den wohlangesessenen älteren Kräften. Jeder gehört zu uns, der unmittelbar und unverfälscht das wiedergibt, was ihn zum Schaffen drängt,“ hieß es etwa 1906 in einem Manifest der Künstlergruppe Die Brücke, das die „Elbtaler Abendpost“ als Inserat druckte. In nur zwei Sätzen war hier das Credo eines jugendbewegten Aufbruchs umrissen, wie er das Anliegen der Avantgarde lange prägte. Im Namen eines imaginären „Wir“ ging es darum, die bestehende Verhältnisse in Frage zu stellen, eine Umwertung aller Werte einzuleiten und die baldige Wiedergewinnung der Einheit von Kunst und Leben zu proklamieren.

In der Neoavantgarde, die nach den Katastrophenerfahrungen des Zweiten Weltkriegs diesen Faden wiederaufnahm, fand die Tradition der Künstlermanifeste rege Fortführung. Häufig waren es nun sozialistische Gesellschaftsutopien, die im Lichtschein vitalistischer Ideen von künstlerischer Verjüngung interpretiert wurden und die evolutive Überwindung, Auflösung oder Zertrümmerung des bürgerlichen Kunstbetriebs in Aussicht stellten. Diesen betrachtete man sozusagen als Modellfall der allgemeinen zivilisatorischen Erschöpfung, welche nur im Rückgriff auf die vermeintlich ursprüngliche Kreativität von Kinderzeichnungen, der „Bildnerei von Geisteskranken“ oder der Kunst nicht-westlicher Ethnien zu überwinden war. „Unsere Kunst ist die Kunst einer Umbruchperiode, gleichzeitig die Reaktion auf eine untergehende Welt und die Ankündigung einer neuen“, hieß es entsprechend 1948 im Manifest der Gruppe COBRA. Im Umkreis der Protestbewegungen und politischen Revolten der 1960er Jahre, die im Zeichen linker Ideale gegen das bürgerliche Establishment Sturm liefen, fanden solche Gedanken weithin Resonanz. Mehr und mehr wurde das Manifest zu einer eigenständigen künstlerisch-literarischen Gattung, deren utopisches Potenzial mit den Mitteln der Kunst im Grunde kaum noch einzuholen war.

Auf der Basis eines Close Readings ausgewählter Künstlermanifeste haben sich Studierende der Kunstuniversität Linz im Rahmen eines Projektseminars im Rahmen des Programms Art Researcher in Residence mit der Geschichte, Argumentation und Ästhetik von Künstlermanifesten beschäftigt. Gemeinsam haben sie Form, Stilistik und Rhetorik dieser oft eigenwilligen Programme erörtert, über deren gesellschaftlichen und künstlerischen Anspruch reflektiert und über ihre Anschlussfähigkeit an unsere Gegenwart diskutiert: Was soll und was kann Kunst aus Künstlersicht leisten? Welche Ansprüche behauptet Kunst, wenn sie sich nicht auf den ästhetischen Standpunkt eines l’art pour l’art zurückzieht? Wie und auf welche Weise erfüllt sich der im Manifest formulierte Anspruch letztlich im Werk, und welche Relevanz kommt diesem faktisch zu in unserer kulturellen Gegenwart, in der womöglich völlig andere Dinge tonangebend sind?
Die Residency als Format der Lehre besteht seit 2018 als Kooperationsvereinbarung zwischen der Kunstuniversität Linz und dem Atelierhaus Salzamt Linz. Außeruniversitäre Impulse können so in das Curriculum episodisch eingebunden werden, und die künstlerisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse werden in eine Ausstellung überführt, um öffentlichkeitsbildenden Austausch in der Stadt zu schaffen. Studierende aller Studienrichtungen finden sich interdisziplinär mit dem Residence-Gast, in diesem Jahr Andreas Zeising der Technischen Universität Dortmund, zusammen, lernen multiperspektivisch zu denken und miteinander Sachverhalte diskursiv auszuhandeln. Dabei ging die Initiative für diese Residency von der Abteilung Fachdidaktik in der künstlerischen Lehrerbildung aus, die seit 2015 von Anna Maria Loffredo an der Kunstuniversität Linz geleitet wird, um eine Klammer zwischen Leben und Kunst im Bildungsverständnis zu eröffnen.
In der Auseinandersetzung ging es heuer nicht darum, die Texte kunsthistorisch zu erläutern und noch weniger darum, eigene Künstlermanifeste zu verfassen, sondern diese als Impuls zum Weiterdenken zu begreifen und sie aus künstlerischer Sicht zu befragen – gleich ob nun in kommentierender, kritischer oder ironischer Absicht, um sie als historische Artefakte in den Blick zu fassen, oder aber in Form eigenständiger künstlerischer Versuche oder Experimente, die sich auf unsere gegenwärtige Lebenswelt beziehen. „Die Auseinandersetzung mit den künstlerischen Manifesten ist eine Bereicherung für meinen eigenen künstlerischen Prozess“, beschreibt der Student der Bildnerischen Erziehung und Inklusionspädagogik Rafael Kampl seine Antwort auf die gelesenen Künstlermanifeste, bei der er multisensuell ein eigenes Manifest geschrieben, vertont und dann in eine spiegelnde Setzung zu seiner großformatigen Malerei in der Ausstellung gebracht hat. Die Ausstellung macht bewusst nicht die historischen Texte zum zentralen Gegenstand. Sie gewährt vielmehr den Arbeiten der Studierenden Raum, die in einer offenen Versuchsanordnung in einen Dialog mit historischen Textzitaten treten. Zusammenhänge sind wie Spuren ausgelegt, die sich indes verlieren und überkreuzen.
Yara Bartel, Studierende der drei Studienrichtungen in der Lehrerbildung der Kunstuniversität Linz (nämlich Bildnerische Erziehung, Gestaltung: Technik. Textil sowie Mediengestaltung) stellt nach acht intensiven Arbeitswochen fest: „Das Untersuchen von Manifesten zeigte uns, und besonders mir, einen anderen Blickwinkel auf die Kunst der Avantgarde. Die Sprache als komplexes Konstrukt erzeugt neue Bilder und ist gerade in unserer bildhaften medialen Welt ein Kontrast.“ Dabei hat Bartel das „Manifest für die Mutter aller Schmerzen“ multilingual entworfen, lehnt den Weltschmerz der historischen Manifeste an die gegenwärtige Fatiguegesellschaft an und lässt regionale Bezüge zu den Sieben Schmerzen der Madonna auf dem Pöstlingberg anklingen. Steigende Leistungsanforderungen im Alltag bringen in uns neue Glaubensgrundsätze hervor. Der Glaube an den Wirkstoff gegen das Unheil, das Böse oder den Schmerz hilft uns, unseren Alltag zu ertragen und gesellschaftliche Normen zu erfüllen. Raphael Bella, Student der Fotografie & Visuellen Kommunikation nutzt den symbolischen Gehalt von Manifest-Positionen, indem er handelsübliche Stühle einer Gemeinde skulptural ineinander verkeilt und eine eigene Un-Ordnung erzeugt. Sie zu verfolgen und zu deuten, ist eine Aufgabe, die den Besucher:innen überlassen ist.
Der Titel unserer Ausstellung, „Es wird keine Bilder mehr geben!“, spielt dabei mit Bedeutungsebenen und pendelt bewusst zwischen den Polen der gewaltsamen Beseitigung, der dissidenten Verweigerung und der evolutionären Überwindung. Vor allem die Neoavantgarde der 1950er und 1960er Jahre lebte in der Überzeugung, dass in einer Zeit technischen Fortschritts, wie er damals durch die Kernphysik, die Raumfahrt und die Informationstechnologie verkörpert war, das klassische Tafelbild ausgedient habe. „Wir leben im Zeitalter der Physik und der Technik. Bemalte Pappe und aufgestellter Gips haben keine Daseinsberechtigung mehr“, verkündete Lucio Fontana 1948 mit dem Brustton der Überzeugung in seinem „Weißen Manifest“: „Durch Funk und Fernsehen werden wir künstlerische Ausdrucksformen von ganz neuer Art ausstrahlen.“ Heute, da sich die Kommunikation fast vollends in die Welt der Netze verlagert hat und die Wirklichkeit hinter digitalen Displays mehr und mehr verschwindet, mag man sich fragen, welche Rolle und Bedeutung der Kunst als materiellem handwerklichen Artefakt eigentlich noch (oder erneut) zukommt.
„Es wird keine Bilder mehr geben“ hieß es 1965 wörtlich im „Antiobjekt-Manifest“ der beiden Künstlergruppen SPUR und WIR. Ihnen ging es nicht allein um technische Innovationen, sondern auch um ein revolutionäres Denken – die Überzeugung, dass Malerei und Plastik mit der Überwindung der Beschränkungen, die der bürgerliche Kunstbegriff ihnen auferlegte, Potenziale gesellschaftlicher Veränderung entfalten würden: „Sie sind kein dekorativer Fleck an der Wand, sondern vielmehr Ausdruck einer Vitalität, die den Rahmen jeder isolierten Kunstform sprengt, um neue Kulturformen vorzubereiten.“ Dieses Spannungsverhältnis von Ich und Wir, Ego vs. Nos greift beispielsweise Lehramtsstudent Michael Kramer auf, der auch die 3D-Ausstellungstour zur Ausstellung im Salzamt erstellt hat, indem er einen Soundzirkel mit dem Ausruf „WIR“ für die Besucher:innen farbgesättigt inszeniert.
In den 1960er Jahren, einer Zeit politischen Aufruhrs, war das nicht nur eine unverbindliche Phrase. Die Situationistische Internationale um Guy Debord hat damals die widerständige Kraft des ästhetischen Spiels unterstrichen. Heute leben diese Ideen fort in subversiven Strategien wie Urban Intervention und Cultural Hacking, um im Zustand postdemokratischen Stillstands Veränderung von unten anzustoßen. Andere Künstler:innen der 1960er Jahre artikulierten ihren Protest gegen die Konsumgesellschaft in Form rigider Verweigerungsmanifeste. Der Erwartungshaltung eines Publikums, das seine bürgerlichen Normvorstellungen verabsolutierte, setzten sie eine minimalistische Reduktion von Zeichen, Gesten oder Formen entgegen, die den Betrachtenden radikal auf sich selbst verwies. Yvonne Rainers „No Manifesto“ kündet davon ebenso wie das Credo „Wir sind keine Maler“ der Gruppe B.M.P.T. um Daniel Buren, die 1967 eine Vernissage veranstaltete, bei der sie eben nicht ausstellte. Das mutet heute eher rührend an, verstand sich aber im damaligen Zeitkontext von Konsum-, Medien- und Systemkritik als eine eminent politische und provokante Haltung.

Bei alledem ist der Anspruch nach politischer Einmischung und Veränderung des gesellschaftlichen Status Quo nicht obsolet. Vielmehr spielt er im zeitgenössischen Kunstbetrieb, der sich an Globalisierung, Neoliberalismus, Postkolonialismus und anderen Problemen unserer unübersichtlich gewordenen Gegenwart abarbeitet, eine so bedeutsame Rolle, wie kaum jemals zuvor. Selten, soviel ist sicher, gab es mehr Anlass für Manifeste. Womöglich also eine gute Zeit, das literarische Format neu zu entdecken: www.keinebilder.at.

 

Es wird keine Bilder mehr geben! Eine Ausstellung von Studierenden und Lehrenden
Im vergangenen April und Mai 2021, Atelierhaus Salzamt, www.keinebilder.at
Ausstellung per 360°-Rundgang noch online: www.keinebilder.at/tour

Versuch einer Visuali­sierung des Unfassbaren

Es ist schwer, sich diesen Film anzuschauen. Surviving Gusen von Gerald Harringer und Johannes Pröll läuft dieses Jahr bei Crossing Europe als einer der Eröffnungsfilme. Eindrücke von Melanie Letschnig.

Noch bevor eine Aufblende die gewaltig schäumende Gischt des Meeres aus Vogelperspektive zeigt, hören wir das Rauschen. Überlagert von sphärischer Musik, spricht ein Überlebender im Voice-over zu uns: „My name is Karl Littner. I was born in Auschwitz in Poland at January 15, 1924. I tell you something …“. Und er erzählt, dass ihm Ruth 1998 einen Computer gekauft hat, er aber keinen braucht, wofür braucht er einen Computer, fragt Karl Littner. Zu diesem Zeitpunkt befinden wir uns bereits in seiner Wohnstraße in Los Angeles, eine Kamerafahrt führt zu seinem Haus und da sitzt er und berichtet, dass er im Alter angefangen hat zu schreiben. Worüber, wird sich im Laufe des Films herausstellen.

Karl Littner ist einer von drei im Film porträtierten Menschen, die Gusen überlebt haben. Er, Stanislaw Leszczynski und Dušan Stefancic sind die Zeitzeugen, mit denen die Filmemacher Gerald Harringer und Johannes Pröll in Surviving Gusen sprechen. Der Ort, der heute um die 800 Einwohner_innen zählt, liegt in der Nähe von Linz, im Mühlviertel. 1939 wurde der Bau des Konzentrationslagers in die Wege geleitet. Gusen I und II und Gusen III in der Ortschaft Lungitz – nur wenige Kilometer entfernt – galten als sogenannte Nebenlager des KZ Mauthausen. Von 1939 bis 1945 wurden mindestens 71.000 Menschen nach Gusen deportiert. Wo früher die Lager I und II standen, wurde nach dem 2. Weltkrieg eine Einfamilienhaussiedlung errichtet. Die Regisseure veranschaulichen dies durch das Einblenden eines historischen Schwarz-Weiß-Fotos, dessen Areal mit den Häusern in Farbe überlagert wird. Die ehemalige Stätte der Menschenvernichtung wurde auf ein kleines Areal des Gedenkens zusammengeschmolzen, der Rest Opfer der Ortsgestaltung.

Todeswege, Lebenszeit
Ein Phantom Ride in der Nacht, der den Hintergrund für den Vorspann bildet, schält sich in einen trüben Tag, der eine Schneelandschaft freilegt. Ein Zug gleitet durch sie hindurch und die Stimmen von Peter Simonischek und Maria Hofstätter sprechen den ersten Augenzeug_innenbericht – unprätentiös ist der Ton der beiden Schauspieler_innen den gesamten Film über, kein betroffenes Outrieren, kein Dramatisieren. Was die beiden vortragen, ist von sich aus gewichtig. Die Rede ist von Zügen, die in Bahnhöfen stehen bleiben, weil das Lager Mauthausen überfüllt ist. Dazu erneut eine Vogelperspektive, die mehrere Schienenstränge ins Blickfeld rückt – ein abstrahierender Verweis darauf, dass das ab nun Gesagte mit Bildern eigentlich nicht zu fassen ist. Berichtet wird über die Kälte und das Zusammengepferchtsein im Waggon, über das Töten der Schwächeren, um Platz zu schaffen, während die Kamera ruhig, langsam und bestimmt über die Winterlandschaft zieht. Das Textmaterial, das mit den Bildern arbeitet, entnehmen die Regisseure biographischen Aufzeichnungen wie jener von Karl Littner, Büchern über die Geschichte der Zeit des Nationalsozialismus im Mühlviertel, Briefen, Interviews, einem Polizeibericht vom Jänner 1945 über die Maurerwirtin in Rainbach im Mühlkreis, die einen bei ihr durch die SS inhaftierten Häftling verbotener Weise mit Essen versorgte.

Die Visualisierungen und Klänge, mit denen Gerald Harringer, Johannes Pröll und Fadi Dorninger (verantwortlich für Musik und Sounds) die Unmenschlichkeit von Gusen vermitteln, sind vielschichtig. Sie evozieren Stimmungen und appellieren an ein wachsames Geschichtsbewusstsein. Beispielsweise, wenn historische Fotografien des Lagers Gusen mit Bildern der jüngsten Vergangenheit aus demselben Blickwinkel überblendet werden. Dort, wo früher das Jourhaus – der Haupteingang – von Gusen I stand, befindet sich nun ein herrschaftlich anmutendes Wohnhaus.1 Es ist nicht die Banalität des Bösen, die hier gezeigt wird, sondern die Architektur eines Staates, der Wiederaufbaucamouflage als Bewältigungsstrategie kultiviert. Durch die langsame Annäherung der Kamera und die wechselnden Perspektiven – aus der Luft, auf Augenhöhe, durch Fahrten – wird der Eindruck vom Ortsbild Gusens immer dichter.

Eindringlich und erschütternd sind die Schilderungen der Überlebenden vor der Kamera. Dušan Stefancic, der auf einer Parkbank sitzend erzählt, wie er im sogenannten Bergkristall-Stollen, zu dessen Errichtung die KZ-Häftlinge gezwungen wurden, für die Nazis in der Messerschmitt-Flugzeugproduktion zwangsarbeiten musste, als eine Sirene losgeht. Der Überlebende macht eine wissende Geste, schaut auf die Armbanduhr, sagt „Mittag“, und blickt in die Kamera. Es ist spürbar, in welcher Form sich dieses Geräusch in Dušan Stefancics Gedächtnis eingeschrieben hat und wie unbedeutend, höchstens nervig es für uns ist, die wir den Krieg nicht erlebt haben.
Stanislaw Leszczynski, der erzählt, wie er entkräftet während des Tragens von Schienensträngen zusammenbrach und auf einen Haufen Toter geworfen wurde, und wie ein Hilfskapo gesehen hat, dass er noch lebt, ihn vom Haufen runterzog und gemeinsam mit einem Anderen in die Donau tauchte, damit er sein Bewusstsein wiedererlangt.
Karl Littner, wie er in die Kamera sagt, sein Widerstand bestand im Überleben. Für alles andere fehlte die Kraft.

Immer wieder klingt diese schwerwiegende Erschöpfung durch, die die Menschen auf den Märschen und in den Lagern erfasst. Ein Augenzeug_innenbericht beschreibt den Wunsch, sich am Wegesrand niederzulassen und erschossen zu werden, weil Körper und Geist das qualvolle Sterben nicht mehr ertragen können. Kälte ist allgegenwärtig. Leben oder Tod entscheidet sich in den letzten Tagen des Krieges innerhalb nur eines Tages, als die SS-Leute das Lager schon verlassen, die Alliierten noch unterwegs sind.
Der Film endet dort, wo er begonnen hat – in Santa Monica, Los Angeles. Wir sehen das ruhige Meer und den wunderschönen Himmel, den weitläufigen Strand und hören, wie Peter Simonischek jene Passage aus Karl Littners Memoiren ‟Life Hanging on a Spider Web – From Auschwitz-Zasole to Gusen II“2 vorliest, in der der Autor seiner Liebe und Begeisterung für seine neue Heimat Ausdruck verleiht. Eine Überlebensgeschichte, die uns als Zuschauer_innen teilhaben lässt an dieser Freiheit.

Wir müssen
Es ist schwer, sich diesen Film anzuschauen. Aber wichtig ist es auch. Sehr wichtig. Weil die Zeug_innenschaft der Menschen, die sprechen und gesprochen werden, mit dem Fortschreiten der Zeit an Gewicht zu verlieren droht. Leugnung und Relativierung durch rechte Gruppen, auch durch die sogenannte Mitte wirkt seit Jahrzehnten an einer Aushöhlung von Substanz mit, die die systematisch Ermordeten und die Überlebenden Zeit ihres Lebens tragen müssen. Die derzeit allerorts um sich greifende Formierung demokratiefeindlicher Gruppen, die sich selbst über einen kruden Hyperindividualismus als Entrechtete definieren und damit die Geschichte derer in den Dreck ziehen, die getötet wurden, ist nur ein hinzugekommener Baustein in dieser Verdrehung der Sicht auf historische Ereignisse. Es ist zu begrüßen, dass sich von ziviler Seite Protest dagegen formiert. Die staatlichen Instanzen sind im Setzen von Maßnahmen gegen diese brandgefährlichen Tendenzen bekanntlich eher zögerlich.
Ignoranz, egal von wem, ist unangebracht. „Die Wahrheit muss gesagt werden“, so Stanislaw Leszczynski in einer der letzten Szenen des Films. Er sagt auch, es braucht Versöhnung, und für Versöhnung braucht es Vertrauen. Dieses Vertrauen setzt Dušan Stefancic in junge Generation, wie er Alexander van der Bellen in einem Gespräch mitteilt, das 2017 am Rande eines Gedenktreffens in Gusen stattfand.
Wir müssen diese versöhnliche Großzügigkeit der Überlebenden annehmen. Sie ist ein übermenschliches Geschenk.

 

1 An dieser Stelle sei auf die Webseite zum Film verwiesen, die neben den Produktionsdaten Hintergrundmaterial zur Verfügung stellt, das den_die User_in in den Komplex Gusen einführt www.surviving-gusen.com, aufgerufen am 1. Mai 2021.
2 Das Buch wurde herausgegeben von Rudolf A. Haunschmied und ist 2011 bei BoD – Books on Demand erschienen.

Das Filmfestival Crossing Europe wurde am 1. Juni in Linz eröffnet. Mehr zu allen Eröffnungsfilmen, zur diesjährigen Programmierung, zu Programmschienen und Schwerpunkten, zum Bewerb und zum Festival selbst unter: www.crossingeurope.at

18 Jahre Crossing Europe

Mit Crossing reist sie mit uns durch Europa: Christine Dollhofer kennt den europäischen Film wie kaum jemand sonst. 18 Jahre hat die gebürtige Welserin und Kosmopolitin das Festival Crossing Europe in Linz geleitet, ab Anfang November wird sie den Filmfonds Wien übernehmen. Silvana Steinbacher hat Christine Dollhofer getroffen.

Countdown und diesjähriger Festivaltrailer: GRÜN IN von Laurien Bachmann.
Foto Laurien Bachmann, Still Crossing Europe

Heuer werden Sie Crossing Europe zum letzten Mal leiten. In diesem Jahr startet das Festival pandemiebedingt erst am 1. Juni. Wie sehr müssen und mussten Sie denn inhaltlich gesehen das Festival reduzieren?
Das ganze Team und auch ich sind schon in Vorfreude ein physisches Festival abhalten zu können, und aus heutiger Perspektive schaut es ja gut aus. Wir haben diesmal „nur“ 123 Filme, etwas weniger als vergangenes Jahr. Konzeptuell hat sich wenig verändert. Wir haben die Highlights aus Europa, die Jugendschiene, die Local Artists also Filme mit Oberösterreich-Bezug, Filme zum Thema Arbeitswelten, Architektur und Gesellschaft. In allen Sektionen wurde etwas gekürzt, aber das Programmschema ist nach wie vor gleichgeblieben, so wie in den vergangenen Jahren.

Vom Ablauf können Sie nur eingeschränkt agieren, aber Sie haben sich Alternativen einfallen lassen.
Wir haben ein ausgeklügeltes Präventionskonzept, dass sich natürlich nach den gesetzlichen Vorgaben richtet: 50 Prozent Auslastung in den Spielstätten, Maske, Abstand, „Schachbrett-Platzvergabe“, aller Wahrscheinlichkeit Eintrittstests etc. Zum Glück können wir heuer das Central Linz als zusätzlichen Saal anbieten. Die Sperrstunde um 22 Uhr wird natürlich unsere Programmierung einschränken, die Spätvorstellungen müssen aus diesem Grund entfallen, aber stattdessen gibt es Frühstücksfestival ab 9:30 Uhr. Wir werden Talks, Preisverleihung auch auf DORFTV streamen: Für all jene, die noch nicht den Drang haben, ein Festival zu besuchen, stellen wir von 6. Juni bis 6. Juli auch ein Online-Angebot auf der österreichischen Streamingplattform KINO VOD CLUB zur Verfügung, das war mir sehr wichtig.
Bei den Einladungen der Filmgäste müssen wir natürlich auch Vorsicht walten lassen, und konzentrieren uns eher auf die Nachbarländer. Wir freuen uns aber, dass sich unter den gegebenen Umständen bereits zahlreiche Film- und Branchengäste akkreditiert haben.

Welche Bilanz dieser vielen Jahre, die Sie Crossing Europe geleitet haben, würden Sie ziehen?
Es war ein Pionierprojekt auf Initiative von Wolfgang Steininger, der mich nach meiner Leitung der Diagonale gefragt hat, ob ich nicht ein Festival in Linz aufbauen möchte. 2003 haben wir dann das Festival aus dem Boden gestampft. Wichtig war mir der Blick über die Grenzen hinaus, der Europaschwerpunkt, das innovative Kino aus Europa, vorwiegend Filme zu zeigen, die im regulären Kino nicht zu sehen sind; schließlich werden pro Jahr in Europa 1600 Kinofilme produziert. Es war die kuratorische Aufgabe, neue Blickwinkel auf Europa zu werfen, und wir wollten lokale Player mit an Bord haben. Innerhalb dieser 18 Jahre sind schöne Beziehungen entstanden. Rückblickend gesehen hatten wir viele Erstlingsfilme von Regisseur*innen im Programm, die mittlerweile eine internationale Karriere gemacht haben, beispielsweise Alice Rohrwacher, Maren Ade oder Ruben Östlund. Natürlich haben wir nicht deren Karrieren beeinflusst, aber doch ein gutes Gespür bewiesen.

Ist die Frage Ihrer Nachfolge schon entschieden?
Es wird noch einige Wochen dauern, bis wir eine Entscheidung über die Nachfolge getroffen haben. Das Moviemento als Hauptgesellschafter und Crossing Europe werden das über den Sommer gemeinsam erarbeiten. Jetzt gilt es zuerst einmal diese schwierige Festivalausgabe erfolgreich zu meistern.

Haben Sie eigentlich innerhalb dieser 18 Jahre, die Sie das Festival geleitet haben, einen ästhetischen Wandel, eine neue Herangehensweise an Filme beobachtet?
Es werden mehr Dokumentarfilme fürs Kino produziert, das liegt hauptsächlich an ökonomischen Bedingungen, denn die Produktionsmittel sind geringer und besser verfügbar, für Spielfilme benötigt es größere Budgets, und auch einen größeren MitarbeiterInnenstab. Dokumentarfilmkonzepte sind wendiger und können rascher auf aktuelle Ereignisse reagieren. Aber generell verschwimmen auch die Kategorien Dokumentarfilm und Spielfilm, der hybride Film ist stark im Trend, also das Arbeiten mit Laiendarsteller*innen, reale Settings werden fiktionalisiert.
Es wird auch viel mehr koproduziert, weniger Europudding, sondern mehr Augenmerk auf die Zusammenarbeit von Kreativen auf allen Ebenen, hier haben sicherlich auch die Creative Europe Programme der EU Vorschub geleistet.

Vergangenes Jahr musste Crossing Europe – wie auch andere Kulturfestivals – im Netz stattfinden. Wie würden Sie dahingehend Ihre Erfahrungen beschreiben?
Wir mussten kurzfristig alles absagen. Daraufhin haben wir zwei Angebote geliefert. Zuerst eine kleine Online-Edition, ein Querschnitt aus dem geplanten Programm. Im Herbst haben wir die Crossing Europe Extracts Reihe gestartet, und konnten dadurch noch zwei Drittel unseres Programms vor Publikum im Kino präsentieren.
Vergangenes Jahr waren alle froh, dass es Alternativangebote gab, jetzt freuen wir uns, wenn das Festival mit Publikum stattfinden kann.

Ein Schwerpunkt ist bei Crossing Europe den Arbeitswelten gewidmet. Welche Themen sind denn derzeit im Film virulent?
Auch schon in den Anfangsjahren stand der Strukturwandel – ein Dauerthema – im Zentrum. Weiters haben RegisseurInnen unter anderem den organisierten Kampf der ArbeiterInnen auf die Leinwand gebracht, Industrieregionen, die sich neu organisieren müssen. Hinzu kommen Dokus über Bewerbungsgespräche, Weiterbildung, die Ich-AGs, das „Sich-besser-verkaufen-Müssen“, die Abgehängten, die bei diesem rasanten Wandel nicht mehr mitkommen, Digitalisierung, Jugendarbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit. Doch es sind nicht nur problembehaftete systemrelevante Themen: Viele Filme stellen in verschiedenen Ausformungen ein Empowerment in den Mittelpunkt, Entwicklungen, die MutmacherInnen und „Best practice“-Modelle in den Vordergrund rücken.

Kommen wir zu Ihrer neuen Funktion, die Sie mit Anfang November beginnen werden und zu der ich Sie hier beglückwünschen will. Der Start in eine Leitungsposition, welcher Art auch immer, ist meist mit neuen Ideen und Konzepten der neuen Leitung verbunden. Welche sind Ihre Schwerpunkte in Wien?
Derzeit leitet Gerlinde Seitner noch den Filmfonds Wien, insofern möchte ich nicht mit Konzepten und Ideen reingrätschen. Eine Förderinstitution arbeitet gemäß den gesetzlichen Richtlinien, und somit sind Änderungen auch nur in Abstimmung mit der Politik und dem Kuratorium möglich.
Wir wissen, die gesamte Branche verändert sich rasant. Ich denke an die Streaming-Plattformen, die einen enormen Marktzuwachs verzeichnen. Auch bei den Fernsehkanälen beobachten wir einen Übergang vom vorgegebenen Sendeschema zur individuellen Auswahl durch deren Mediatheken. Nischenprodukte und Nischenanbieter sind wichtig geworden, die Herausforderung bleibt dabei sein Publikum zu finden. Auch für das Publikum ist es unübersichtlich geworden, sich zurechtzufinden. Die Kernfrage, die sich stellt, lautet daher: Wie findet das Publikum mich und ich mein Publikum?
Aufgrund dieses vielgestaltigen und rasanten Wandels ist der Blick in die Zukunft unvermeidlich. Modelle müssen entwickelt werden, wie man auf diese Veränderung reagieren kann.

Ich habe manchmal den Eindruck, manche TV-Filme könnten bezüglich des Drehbuchs und der Regie mutiger agieren. Ist der Ansatz, einen TV-Film auf ein Durchschnittspublikum „zuzuschneiden“, nicht von Anfang an zum Scheitern verurteilt?
Es hat jede und jeder andere Bedürfnisse. Manche wollen beim Einstieg schon wissen, was sie bekommen, andere lassen sich lieber überraschen. Daher hat der Unterhaltungsfilm genauso seine Berechtigung wie der innovative oder eher exzentrischere Film. Global gesehen ist mehr Diversität, Gendergerechtigkeit und Inklusion vor und hinter der Kamera, also auch inhaltlich ein Bestreben der Film- und Medienbranche.

Der Filmfonds Wien bezeichnet sich selbst mit 11,5 Millionen Euro Fördersumme pro Jahr als eine der höchstdotierten regionalen Filmförderstellen Europas. Dennoch sind immer wieder Klagen seitens der Filmschaffenden zu hören, es sei schwierig, in Österreich einen Film, welcher Art auch immer zu realisieren. Worauf führen Sie das zurück?
Ein klassischer Kinospielfilm braucht verschiedene Finanzierungssäulen, und das macht die Herstellung eines Films so komplex und langwierig. Es werden auch viel mehr Projekte eingereicht als noch vor einigen Jahren. Im Schnitt werden 50 Prozent der eingereichten Projekte gefördert. Der Wettbewerb ist generell überall sehr groß.

Das Kino wird seit Jahrzehnten totgesagt, jetzt durch die Pandemie und die monatelangen Schließungen haben sich diese Diskussionen noch einmal zugespitzt, wie stehen Sie dazu?
Ich denke es ist ein Zusammenspiel von zwei Komponenten. Ein Kinobesuch, so wie wir ihn kennen, bedeutet sich gemeinsam etwas anzuschauen, man besucht einen Ort, den man schätzt, wo man weiß, ich bekomme ein Programm geboten, das mir entspricht, ich treffe Gleichgesinnte. Kino ist niederschwellig, man muss sich nicht schön anziehen, kann sich spontan entscheiden. Das Kino der Zukunft muss sich immer wieder überlegen, wie kann ich mein Publikum erweitern, welche Angebote inhaltlicher und struktureller Natur – zum Beispiel auch gastronomische – soll ich schaffen.
Trotzdem, und das muss uns bewusst sein, wird sich einiges ins Netz verlagern, es wird eine Filmauswertung auch parallel stattfinden und sich die Rezeption von Filmen verändern. Aber auch die Theater, die Oper wurden schon totgesagt und genauso wie diese Orte der Kultur nach wie vor Bestand haben, wird auch das Kino überleben. Es wird das Eventkino mit seinen Special Effects, der tollen Tonqualität und Riesenleinwand genauso geben wie das „personalisierte“ Programmkino, das diverse Zielgruppen im Auge hat und stark kuratorisch arbeitet. Das muss jedoch auch entsprechend finanziell unterstützt werden.

Gibt es eigentlich Filme, die Sie nachhaltig geprägt oder fasziniert haben?
Meine Lieblingsfilme verändern sich immer wieder, dadurch fällt es schwer einzelne herauszugreifen. In jungen Jahren war das Fernsehen mit seinen vier Kanälen zentrale Bildungsanstalt. Hinzu kam das reale Kinoerlebnis, welches während meiner Studienzeit in Wien durch das große Angebot an Bedeutung gewonnen hat. Schließlich wurde die Liebe zum Film zum Beruf, beginnend mit der Leitung des Programmkinos Filmcasino in Wien.
Ich kann prinzipiell sagen, dass ich alle filmischen Formen und Genres schätze, in der Vielgestaltigkeit dieses Mediums liegt die Anziehungskraft. Mir ist ein handwerklich gesehen unvollkommener Film, der etwas wagt, im Zweifelsfall lieber als ein „perfekter“, bei dem ich nach ein bis zwei Szenen sofort weiß, welches „Strickmuster“ vorliegt und was in weiterer Folge passiert.

 

www.crossingeurope.at

CROSSING EUROPE Filmfestival Linz: 1. – 6. Juni 2021

CROSSING EUROPE VOD-Premieren auf KINO VOD CLUB: 6. Juni – 6. Juli 2021

Ab 20. Mai: Programm online & Start des Online-Ticketverkaufs

Nach dem Stillstand

Im Rahmen des Festivals FMR 21 wurde in den ersten Junitagen ein Symposium an einem ephemeren Ort des Donauufers eingerichtet: ein Büro für nützliche Fiktionen, ein Bahnhof und Flugplatz für neue Er­zählungen. Gloria Meynen und Gaby Hartel geben einen Vorgeschmack auf das Symposium mit dem Titel Dass die Welt auf ON springt. Utopien nach dem Stillstand. Und beleuchten hier Utopien, die es bereits vor dem Stillstand gab.

Das Festival FMR bietet digitale Kontexte. Bild Giacomo Piazzi / LINZ FMR

Utopien sind Orte, die man nur im Gedanken bereisen kann. Sie sind häufig durch das Meer vom Festland getrennt. Die Pandemie ist indes der Pazifik – das stille Meer, das Magellan in sechs Monaten und zwanzig Tagen durchquerte „mit nichts als Himmel und Salzwasser vor Augen“. Kein Ort, ein Zustand. Sie lässt uns müde und ratlos zurück, ganz so als blickten wir auf ein Meer ohne Inseln. Eine wüste, salzige Welt, soweit das Auge reicht. Der Schriftsteller Samuel Beckett hat in seinen Stücken, den späteren Prosatexten und Fernsehgedichten immer wieder den erzwungenen Rückzug in eine verwüstete Landschaft, in ein Zimmer, in einen Kopf oder Mund durchgespielt. Die Fünfziger- und frühen Sechzigerjahre lasen die kargen Weiten als atomare Trümmerfelder. Ab den Siebzigerjahren erinnerten die Gesichter der wüsten Landschaften und starren Figuren zunehmend an die Seelenzustände Traumatisierter. So verstörend wie Becketts Figuren zunächst wirken mögen, in den späteren Werken blitzt in Momenten der Lähmung und des Stillstands häufig die Möglichkeit einer Erzählung auf, einer Erinnerung und Reise im Kopf – starr und erschöpft beginnen sie zu träumen. Sie reisen in ein Land, das man nur im Gedanken erreichen kann. Also eine Utopie? Beckett würde es gewiss anders nennen. Ein Fenster in eine andere Welt? Eher ein erinnertes Bild, ein Ausblick, entstanden im Kopf seiner Figuren, in der Stille, die sie umgibt, der Starre, die sie befallen hat. Jede Generation liest Beckett anders, jede Zeit entwirft mit Becketts Texten eigene Bilder und Räume im Kopf. Von heute aus gesehen scheint es fast, als habe Beckett uns mit diesen Situationen Erzählexperimente und Übungsräume hinterlassen wollen. Können wir aufbrechen, die eigenen Innenwelten verlassen, um die Welt in zahlreichen Alternativen aus der Gegenwart, dem Meer der Erinnerung auftauchen zu lassen?

Die Gesichter verpixelt, die Bewegungen eingefroren. Ein Zimmer, ein Fenster. Und noch ein Fenster. Kein Ausblick, sondern ein Einblick in Fenster und fremde Zimmer. Die Gegenwart ist ein Warteraum zu noch mehr Zimmern und Fenstern, ein Leben in der Warteschleife. „Nichts … nichts … und wieder nichts“. So lautet auch Clovs Fazit in Samuel Becketts zweitem Theaterstück Endspiel, als er durchs Fernrohr den Ozean vor seiner Bleibe betrachtet. Und auch das Land auf der anderen Seite seines Beobachtungsfensters gibt nichts anderes her als einen gesichtslosen Nicht-Ort, irgendwo in einem grenzenlos sich ausdehnenden Nirgendwo. Nichts geschieht, außer, dass die Figuren Sprachfloskeln wiederholen, den Alltag in leeren Ritualen einrichten. Keine Frage: Clov und drei weitere Bewohner*innen eines nicht näher beschriebenen Schutzraums sitzen fest, auf einer Insel, die Zeit fließt zäh vorbei. Zwar spüren sie vage, dass „etwas seinen Lauf nimmt“, doch sie haben keinen Einfluss auf diese minimal kleine Entwicklung, sondern verharren im Warten darauf, dass ihre Situation einfach aufhören möge. Ihre Vorläufer in Becketts erstem Stück Warten auf Godot hängen auf einem kargen Plateau herum, müde und entmutigt, in der Hoffnung, dass ein Herr Godot sie abholt und in die alte Zeit wie den gewohnten alten Raum zurückbringt.

Wo liegt die alte Zeit? Wo ist der alte Raum begraben? Auf Godot warten wir immer noch. Und das schon ziemlich lang. Als Watts Erfindung das Reisen um 1840 unter Dampf setzte, sahen wir Godots Schatten, wenn auch nur einen Rockzipfel lang. Je engmaschiger die Linien der Eisenbahnen, Dampfschiffe und Flugzeuge die Welt umrundeten, desto mehr schwand seit dem frühen neunzehnten Jahrhundert die Überzeugung, dass Reisen ein Ziel, ein Stachel, ein Duft, ein Versprechen, eine einmalige und überraschende Erfahrung sei. Wartete man früher ungeduldig, dass die Reise begann, so glich von den ersten Eisenbahnnetzen bis zu Ryan Air das Reisen bald mehr dem Warten. Und das nicht nur an der Bushaltestelle, dem Security Check, in der Abfertigungshalle – sondern, Knie an Sitz, im Flugzeug, ohne jedes Gespür für Raum und Zeit. Jules Vernes Roman In 80 Tagen um die Welt hat das Warten sogar auf das Titelblatt gehoben. Wir warten 80 Tage, bis Phileas Fogg um den Erdball einen exakten Kreis gezogen hat – nach 37 Kapiteln den Zirkelschlag in der Savil Row, London, vollendet hat. Fogg, mehr Uhrwerk als Mensch, hat stets die kürzeste Verbindung gesucht. Ihn quälen weder Fernweh noch Neugier. Die Weltkarte kannte er auswendig, alle Wege waren ihm bekannt, die Ferne vertraut. „… und war ein Ort auch noch so weit entfernt, Phileas Fogg schien detaillierte Kenntnisse über ihn zu besitzen“. Der Blick in den Fahrplan nimmt die Ankunft schon vorweg. Jules Vernes Manuskript enthält die Abschrift eines Fahrplans. Mit Bradshaws Continental Railway Guide hat er die Reiserouten seiner Figuren in einem fiktiven Reisebüro geplant und gebucht. Seine Figuren reisen nicht, sie kommen an. Pauschalreisen, Postkarten, Fahrpläne und selbst der Lonely Planet, die Reiseführer für Individualreisende haben alle möglichen Routen, auf denen man den Erdball umrunden kann, schon durchgespielt. Soweit wir auch reisen – am fernsten Ort der Erde wurden wir vor der Pandemie schon erwartet, ehe wir einen Gedanken in die Ferne setzen können.

Der britische Schriftsteller Herbert George Wells, Essayist, Zukunftsforscher und auflagenstarker Vertreter der beschleunigten Fortbewegung, bezeichnet schon um 1900 die dampfbetriebenen Schwellen der Eisenbahnen und Schiffe Greater Britains als „transistory empires“. Ephemere Königreiche halten die Fremde auf Abstand. Eisenbahnabteile und Schiffskabinen sind Transiträume, provisorische Königreiche auf Zeit. Sie schicken das Empire auf Reisen, die die Inselbewohner*innen bis an die Enden der Welt transportieren. Die Folgen der Kolonialisierung haben sie nie am eigenen Leib erfahren müssen. Reiseabteile sind häufig Rückzugsorte – Schutzräume, die jene gegen die vermeintlichen Gefahren der Fremde isolieren soll, die die gleiche Sprache sprechen, dieselbe Hautfarbe besitzen, die Geld und Herkunft verbindet. Michel de Certeau findet in den reisenden Zimmern der transistory empires Spuren von Dürers Melancolia: „Im Innern die Unbeweglichkeit einer Ordnung. Hier herrscht Ruhe und wird geträumt. […] Draußen, eine andere Unbeweglichkeit, die der Dinge: aufragende Gebirge, weitläufige Grünflächen, stillstehende Dörfer, Gebäudereihen, schwarze Silhouetten im Gegenlicht der Sonne, das Glitzern von nächtlichen Lichtern auf dem Meer, das vor oder nach unseren Geschichten liegt“. Die Innenwelten der Fortbewegung sind Zeitkapseln, in denen die Geschwindigkeit gegen Null tendiert. Vor dem Stillstand reisten wir in Zeitkapseln, unsere Komfortinseln mussten wir nur selten verlassen.

Die Königreiche des Transits hat der Anthropologe Marc Augé „Nicht-Orte“ genannt und damit die ephemeren Schwellen und Zonen des Übertrags mit einer Negation bezeichnet. Die Nicht-Orte erschaffen eine Welt, „in der die Anzahl der Transiträume und provisorischen Beschäftigungen unter luxuriösen oder widerwärtigen Bedingungen unablässig wächst (die Hotelketten und Durchgangswohnheime, die Feriendörfer, die Flüchtlingslager, die Slums, die zum Abbruch oder zum Verfall bestimmt sind), … eine Welt, die … der einsamen Individualität, der Durchreise, dem Provisorischen und Ephemeren überantwortet ist“. Die Welt als Durchreise ist ein Nicht-Ort. Eine gesichtslose Schwelle, die selbst kein Ort ist, aber Orte verbindet, Beziehungen zu neuen Orten herstellt und verwaltet. Nichtorte sind Flughäfen, Bahnhöfe, Raumstationen, Drive-Ins, Freizeitparks und Einkaufszentren, so Augé, Orte, die jetzt seit über einem Jahr verwaist und leer sind.

Die ersten Autoren der Science-Fiction, Jules Verne und H. G. Wells, haben sich in den Warteräumen der Beschleunigung eingerichtet, die Vestibüle der Dampfmaschine mit Fauteuils, Aquarien und Kristalllüster möbliert. In Von der Erde zum Mond werden Vernes Figuren in einem Kanonenrohr zum Mond geschossen, in 20.000 Meilen unter den Meeren reisen die Passagiere der Nautilus auf einer dampfbetriebenen Schwelle. Draußen fliegende Landschaften, drinnen erstarrt die Zeit. Der Stillstand war schon vor dem Stillstand da, ein Effekt einer zunehmenden Beschleunigung, der mit den modernen Reisen aufkam. Doch jetzt ist alles anders. „Zusammenfahren ist lange her, wir fahren allein“, singen im Mai 2021 zahllose Busfahrer*innen der Berliner Verkehrsbetriebe in einem Werbespot. Seitdem die Pandemie die Innenwelten der transistory empires nach außen gekehrt hat, ist der Stillstand weder Ruhe noch Rückzugsort, sondern rasende Vernetzung: Kein Tag ohne blassblau erleuchtete Gesichter. Ein Zimmer, ein Fenster. Und noch ein Fenster. Die Fortbewegung in den rasenden Zimmern, den transistory empires, ist ein Reisen in und um die Zimmer gewichen. Die Träume der Innenwelten sind zerschlissen. Die Mythen der Beschleunigung können uns nicht mehr erreichen. Die Vermutung, dass seine Nicht-Orte mit den Utopien verwandt seien, die seit der Antike einsame Inseln bewohnen, hat Marc Augé 2019 auf einer Wiener Bühne fahrig zurückgewiesen. Seine Nicht-Orte kann man nicht nur im Gedanken, sondern mit Ticket und Koffer bereisen. Augé hat im Weichbild des Mauerfalls, jenem Augenblick, in dem die letzten Inseln des Reiseverbots vom Erdboden verschwanden, die Metamorphose der Orte und Nicht-Orte, das Provisorische und das Ephemere, die „verworrenen“ Spiele der Identität und Relation, als Gegenstand für eine Ethnologie der Nähe beschworen. Die Nähe ist eine wunderbare Insel, die wir seit wenigen Tagen wieder erreichen können.

 

Biennales Kunst-Festival FMR 21 – Kunst in digitalen Kontexten
1.–6. Juni, Mühlkreisbahnhof Linz-Urfahr
Heuer findet die zweite Ausgabe von FMR, dem biennalen Festival für Kunst in digitalen Kontexten und öffentlichen Räumen, statt. Mit FMR 21 wird das Areal rund um den Linzer Mühlkreisbahnhof von internationalen und lokalen Künstler:innen in einen Festivalraum verwandelt. Der Hauptteil des Programms besteht aus einer Ausstellung im öffentlichen Raum. Zu sehen sind Arbeiten aus den Bereichen Bildende Kunst, Medienkunst, Internet Art und Performance. Das Festivalprogramm umfasst außerdem eine Reihe von Künstler:innengesprächen, eine Aufführung von aufgezeichneten und live gestreamten Konzerten – und ein hochkarätig besetztes Symposium.

Symposium
Dass die Welt auf ON springt. Utopien nach dem Stillstand.
4.–6. Juni 2021, FLUT – Freiluft­universität am Urfahraner Marktgelände
Die Abteilung Medientheorien an der Kunstuniversität Linz ergänzt FMR 21 um ein Symposium, u. a. besetzt mit Richard Sennett, Gloria Meynen, Thomas Macho, A K Dolven, Adam Merki und weitere Expert:innen. Sie werden über Utopien nach dem Still­stand sprechen. Das Symposium findet von 4. bis 6. Juni 2021 in Verschränkung mit der „Open University“ der Kunstuniversität Linz statt, am Urfahraner Marktgelände.

linzfmr.at/de