Gläserne Museumsdecken

Zwischen investigativer Recherche und feministischem Manifest – seit dem 1. Mai ist Die Quote online und zeigt: In den Kulturinstitutionen des Landes OÖ und der Stadt Linz mangelt es Frauen an beruflichen Aufstiegsmöglichkeiten. Ebenso wird offengelegt, wie wenige Menschen schlussendlich unser „Kulturland“ prägen. Lisa-Viktoria Niederberger berichtet und spoilert: Es sind Männer.

Gläsern und hoch oben. Foto Die Referentin

„Auch wenn wir gerne alle lieber im Postpatriarchat Postfeministinnen sein wollen – die Quotenforderung ist immer noch notwendig” – sagt Oona Valarie Serbest, Künstlerin und Geschäftsführerin von Fiftitu%, einer Beratungsstelle für Frauen* in Kunst und Kultur. Warum es die Quotenregelung immer noch braucht, das zeigt das aktuelle Projekt Die Quote. Auf der gleichnamigen Homepage, dem Ergebnis ausführlicher Recherchearbeit, wird die Geschlechterverteilung in den großen kulturellen Einrichtungen des Landes Oberösterreich und der Stadt Linz mit intuitiven und leicht verständlichen Grafiken sichtbar gemacht. Die Landesmuseen, das Landestheater, der Posthof – Kulturstätten gestalten Gesellschaft, prägen und vermitteln Werte: Sie tragen zur Entstehung einer öffentlichen Meinung bei. Wollen wir eine offene, pluralistische Gesellschaft, in der Frauen, genauso wie marginalisierte Gruppen, eine hörbare Stimme haben und repräsentiert werden, muss dieser Leitgedanke einer offenen, pluralen Gesellschaft sich nicht nur in Sammlungen, Programmheften und Sonderausstellungen widerspiegeln, sondern auch in den Menschen, die diese Programme erstellen und Sammlungen kuratieren.

Die Quote zeigt, wie utopisch dieser Wunsch ist, wie realitätsfern. Beginnen wir bei Ergebnissen zu den Institutionen des Landes Oberösterreich. Seit der Umstrukturierung von der Landeskulturdirektion hin zur OÖ Landes Holding im Frühjahr 2020 wurden Tätigkeits- und Zuständigkeitsbereiche massiv verschoben. Das Ergebnis dieser Veränderung ist am deutlichsten bei der Landeskultur GmbH ersichtlich. Denn ihr alleinvertretungsberechtigter Geschäftsführer ist jetzt gleichzeitig auch wissenschaftlicher Direktor und Leiter von 22 Sammlungen, sowie aller 16 Standorte des Landesmuseums. „Ich sehe Die Quote primär als Materialsammlung, als Werkzeug um notwendige Fragen zu stellen”, erklärt Oona Valarie Serbest. Kritische Fragestellungen ergeben sich aus dieser neuen Struktur des Landesmuseums genug, beispielsweise: Kann das ein Mensch leisten? Fachlich? Zeitlich? Logistisch? Kann jemand tatsächlich Leiter von all diesen Sammlungen und Häusern sein? Was heißt das für die künstlerische Vielfalt? Wenn eine Person einzig und allein für alle Landesmuseen verantwortlich ist, ist sie gleichzeitig auch maßgeblich verantwortlich für die Kulturlandschaft des Landes. Diese Kulturlandschaft wird nun primär geprägt vom Kunstbegriff eines Individuums. Diese Riesenaufgabe trägt nicht nur eine große moralische Verantwortung, sondern ebenso eine finanzielle: Es stehen diesem Menschen dafür bis zu 36 Millionen Euro Steuergelder jährlich zur Verfügung. Und wer kontrolliert, was damit passiert? Im Gegensatz zur OÖ Theater und Orchester GmbH verfügt die Landeskultur GmbH über keinen Aufsichtsrat. Sie hat den alleinvertretungsberechtigten Geschäftsführer als Zentralgestirn.
Oona Valarie Serbest resümiert: „Es ist der Landeskultur GmbH wirklich sehr daran gelegen, dass diese Struktur so nirgends aufscheint. Die Vermutung liegt nahe, dass man als Holding nicht zu offensichtlich zeigen möchte, dass es da um eine Person geht, die eben nicht nur so viele Posten, sondern auch viel Geld verwaltet!“ Alle Zahlen, auf die sich das Projekt bezieht, sind im Internet auffindbar, nichts davon ist per se geheim, aber die Aufbereitung durch den Verein Fiftitu% zeigt: Hier gibt es Erklärungs- und Änderungsbedarf. Dem Zentralgestirn eine co-künstlerische Leitung w/d an die Seite zu stellen, nicht als seine Untergebene, sondern ebenso fix verankert in der GmbH wie er, wäre ein wichtiger erster Schritt und ist eine ebenso dringende Forderung des feministischen Vereines, wie die ehestmögliche Einsetzung eines Aufsichtsrates.

Die leere Mitte
Auch kaum zu übersehen: die leere Mitte, die im Zuge von Umstrukturierungen weniger werdenden Jobs in der mittleren Führungsebene. Wo sind sie, die Sammlungsleiterinnen, Kuratorinnen, die künstlerische Leitung? Und ja, auch wenn diese Entwicklung Männer und Frauen betrifft, hier wird bewusst ein generisches Femininum verwendet, denn diese Berufe, die auch in der Landesholding weniger zu werden scheinen, werden zu einem sehr großen Teil von Frauen ausgeübt. Der Frauenanteil in den Geistes- und Kulturwissenschaften liegt derzeit in Österreich bei 71 %. Was heißt das konkret für Frauen in Linz, die im Kunst- und Kultursektor Karriere machen wollen, und zwar nicht in der freien Szene, sondern etwa als Landesangestellte? Es gibt kaum Jobs! Schlichtweg, weil etwa Jobs einer Sammlungsleitung zu einer Projektleitung „downgegraded“ scheinen. Schlecht in einer Stadt, die mit Studiengängen wie Kulturwissenschaften, Kunstwissenschaften oder Medienkultur und Kunsttheorien jährlich hochspezialisierte und qualifizierte Absolvent*innen in die Arbeitswelt entlässt. Es werden ergo in Linz nach wie vor Menschen ausgebildet für Berufe, die sie in den bestehenden Strukturen kaum oder nur massiv erschwert ausüben können, weil es schlichtweg immer weniger Posten für sie gibt. Alleine der Wegfall der mittleren Führungsebene in den Landesmuseen: über ein Dutzend Arbeitsplätze für Geisteswissenschaftler*innen, die jetzt nicht mehr da sind. Das sieht auch Oona Valerie Serbest höchst kritisch: „Es muss eine zentrale Forderung von uns Kunstschaffenden bzw. Kunststudierenden sein, dass diese Posten wieder frei gemacht werden. Wir haben auch ein Recht auf Karriere!“

Hier erlebt man das Scheitern der neoliberalen Erzählung: Es ist eben nicht so, dass du ganz nach oben kommst, wenn du gut bist, dich bemühst, auch als Frau. Die Faktenlage zeigt: in dieser Branche, in diesem Bundesland, hast du keine Chance. Und das ist ein Armutszeugnis für ein Land, erst recht dann, wenn die Landeshauptstadt darin sich noch immer mit dem schon etwas verjährten Titel „Kulturhauptstadt“ rühmt. Parallel dazu der vom Land OÖ ausgeschriebene und auf 2000€ dotierte Frauenförderpreis für Unternehmen: Ein Witz, der wehtut.

Hausarbeit ergo Verwaltung
„Moment mal!“, könnten Kritiker*innen jetzt empört aufrufen, „Die Quote zeigt doch auch, dass sich der Frauenanteil in der Landesholding im Vergleich zu 2007 um ganze 19,9 % erhöht hat, jetzt bei 61,8 % liegt“. Ja, aber: Hier wird klar ersichtlich, dieses tradierte Köpfe-Zählen, um zu zeigen, dass eine Geschlechterausgewogenheit in Unternehmen besteht, ist der falsche Weg. Natürlich gibt es Frauen auch in den hiesigen Kulturinstitutionen: ab der unteren Führungsebene und als Mitarbeiter*innen in den Shops, als Garderobieren und als Museumsaufsichten – den schlecht entlohnten Jobs primär, den körperlich anstrengenden mit Arbeitszeiten abends und/oder am Wochenende. Das alleinige Vorhandensein einer hohen Frauenquote ist kein Garant dafür, dass diese Frauen auch in allen Positionen vertreten sind, oder eine valide Karriereoption haben. Der Anteil von Frauen in Führungspositionen beträgt in der OÖ Landesholding 9 %. Man findet die Frauen stattdessen in Bürotätigkeiten, sie gehen ans Telefon und koordinieren die Besuche von Schulklassen – „In institutions, housework is called administration“, wird hierzu auf Die Quote die feministische Theoretikerin Sarah Achmed zitiert.

Alles Einzelfälle?
Ein Vergleich mit Institutionen der Stadt Linz zeigt: auch hier vorwiegend „Boyclubs“, mangelnde Transparenz und ein großer Rechercheaufwand, um Männerüberschuss in Führungspositionen sichtbar zu machen: „Das AEC verwendet beispielsweise in seinem eigenen Organigramm nur Nachnamen, sodass mensch nicht merkt, dass es hier kaum Frauen gibt!“, erklärt Oona Valarie Serbest dazu. Das Unternehmen Ars Electronica Linz GmbH setzt in der obersten Führungsebene ebenso auf zwei Männer, beide sind außerdem eingetragene Geschäftsführer der übergeordneten Kreativität, Kultur & Veranstaltungen der Stadt Linz Holding GmbH. Zusätzlich ist einer der beiden noch Co-Geschäftsführer sowie künstlerischer Direktor des Ars Electronica. Auch hier werden also insgesamt drei Führungspositionen von ein und derselben (männlichen) Person besetzt. Von zehn möglichen Führungspositionen ist ausschließlich die administrative Leitung weiblich im „Museum der Zukunft“.
Es ginge aber auch anders, wie das Stadtmuseum Nordico zeigt: Sobald es Frauen in den oberen Führungsebenen gibt, findet man sie auch im Mittelbau, gibt es plötzlich eine weibliche Museumsleitung. Wir brauchen diese Positivbeispiele ganz dringend. „We rise by lifting each other up“, wird häufig auf feministische T-Shirts und Demoschilder geschrieben. Und natürlich: Solidarität und Support unter Frauen ist wichtig, aber das nimmt uns nicht das Schleudertrauma, wenn wir regelmäßig mit dem Kopf gegen gläserne Decken krachen.

Dass diese gläsernen Decken existieren, Posten für Frauen frei gemacht werden müssen, hat die Quote schmerzhaft sichtbar gemacht. Sie zeigt aber auch, wie wichtig Fiftitu% und ähnliche Vereine sind. Nur unabhängige Strukturen wie sie können derlei Missstände aufzeigen. Sie sind eine demokratiepolitische Wichtigkeit, der es durch den permanenten Kampf um Existenzberechtigung und Niedrigst-Förderungen massiv erschwert wird, noch mehr von dieser essenziellen, aufklärerischen Arbeit zu leisten. Und falls Fiftitu% nächstes Jahr zufällig die Subventionen von Stadt oder Land gekürzt werden sollten, dann wissen wir jetzt, warum.

http://diequote.at

diequote.at

Über die Gegenfröhlichkeit …

… und die Gemeinschaft der Schreibenden: In diesem Frühjahr erschienen zwei inspirierende Bücher von Ilse Kilic und Eva Schörkhuber. Die Autorinnen erzählen über gerissene und verbindende Fäden, das Glück, darüber, was es mit Schelminnen auf sich hat und warum es neue Erzählungen braucht. Das Crypt-Pad-Gespräch führte Andreas Pavlic.

Liebe Ilse, in deinem neuen Buch „Fadenspannung. Eine Verbündung“ reflektierst du sehr persönlich dein Schreiben, Lesen und deine politischen Positionierungen. Gleich zu Beginn schreibst du: „Früher fürchtete ich mich, wenn jemand einen Text von mir las, dass er oder sie ihn beurteilen oder gar verurteilen könnte.“ Und in der Folge sich dieses Urteil auch auf deine Person erstreckt. Wie geht es dir heute mit dieser Furcht? Ist sie einer Lust gewichen?
IK: Also, es ist nicht ganz einfach, einen Text unter die Mitmenschen zu bringen und dabei ganz unabhängig von deren Urteil zu sein. Man dürfte sich ja dann „eigentlich“ auch nicht freuen, wenn der Text lobende Worte bekommt. Sobald ich mich über Lob freue, bin ich schon in Gefahr, den Tadel zu fürchten. Und, ja, es passiert mir beides. Ich freue mich über Lob und ich fürchte den Tadel. Immer noch. Aber vielleicht anders als früher, es stellt mich weniger infrage, als Person und als Schreibende. Und ich kann mir auch denken, naja, ist halt eine Meinung einer anderen Person, die kann ich einfach stehenlassen.

Und die Lust?
Ja die Lust. Also sicher ist es schön, wenn ich sehe, der Text spricht in anderen Menschen etwas an, das mir wichtig ist, sie verstehen es so ähnlich wie ich. Es ist die Lust des Teilens, die ich darin erlebe. Die Lust, sich zu begegnen auf dieser Lese- und Schreibebene.

Liebe Eva, dein neuer Roman „Die Gerissene“ ist ein Schelminnenroman mit Mira als Hauptfigur. Mit Geschick und Köpfchen schlägt sie sich durch, findet stets eine neue Geschäftsidee und reist von einem Land mit großer Revolutionsgeschichte zum nächsten. Die Enttäuschung folgt ihr auf dem Fuß. Es scheint, sie ist gleichsam auf der Suche nach individueller Befreiung und einem Eintauchen in eine revolutionäre kollektive Bewegung. Wie siehst du ihre Reise und wie geht sie weiter?
ES: Miras Reise führt genau an dieser Grenze entlang – sie befindet sich auf der Suche nach individuellem Glück und möchte dabei auch die Welt verändern. Ihre Vorstellungen davon, wie sie etwas Neues in Umlauf bringen, eine neue revolutionäre Bewegung in Gang setzen könnte, sind an historischen Überhöhungen beziehungsweise Verkürzungen ebenso geschult wie an dem neoliberalen Grundsatz, jede*r ist des eigenen Glückes Schmied*in. Diese Vorstellung, dass eine soziale Bewegung von Einzelpersonen ausgelöst oder „geführt“ werden könne, gerät auf ihrer Reise immer mehr ins Wanken. Schließlich bekommt sie eine Ahnung davon, wie kleinteilig und dezentral soziale Bewegungen organisiert sind, was wiederum mit den tradierten Helden- und viel seltener Heldinnen-Mythen kollidiert.

Eure Buchtitel – Fadenspannung und die Gerissene – scheinen miteinander zu kommunizieren und auf eine entgegengesetzte Richtung zu verweisen. Die verbindenden und gerissenen Fäden … hier das Anknüpfen an Erinnerung und Kolleg*innen und dort das Abbrechen von Beziehungen und der Aufbruch an neue Ufer. Was denkt ihr über diese beiden Bewegungen?
IK: Also ja, in meinem Buch – und das wäre ja eine Parallele – geht es auch darum, dass eben Verbindungen hergestellt werden zwischen Schreibenden, die die Kritik und Verbesserung der Welt zum Thema machen. Es geht einerseits um das Miteinander, die Anwesenheit der Anderen, die meinen Text erst vollständig machen. So wie alle Bemühungen letztlich ein Zusammenspiel ergeben, ein Zusammenspiel unserer Bemühungen, kleinteilig und doch – oder deswegen – sehr umfassend und, vielleicht – unendlich, weil es ja immer neue und weitere auffindbare Teile und Fäden gibt, an die ich anknüpfen könnte und die an mir und meinen Worten anknüpfen und ziehen, vielleicht auch zerren oder reißen.

ES: Mira knüpft ja auch buchstäblich Fäden, indem sie an den verschiedenen Orten, die sie bereist, mit Stoffen hantiert, die ihr wiederum erlauben, in Kontakt mit anderen Menschen zu treten – auf mitunter recht unterschiedliche Weisen. Das ist sozusagen die inhaltliche Ebene. Und dann gibt es auch in meinem Buch die Ebene, dass viele Texte von anderen miteingewoben wurden – allerdings stillschweigend und nur für diejenigen erkennbar, die die anderen Texte schon gelesen haben und deren Spuren im Roman finden können. Es ist einerseits schön zu wissen, dass ich beim Schreiben, obwohl es eine Tätigkeit ist, die ich alleine am Schreibtisch ausübe, nicht einsam bin: Ich bin in Begleitung vieler Texte und Autor*innen – Ilse, du nennst das in deinem Buch „die Gemeinschaft der Schreibenden“. Andererseits ist es im Falle so eines Romans auch eine Aneignung, die eben nicht das Gemeinsame mitverhandelt, sondern es stillschweigend voraussetzt.

IK: Ja und eine inhaltlich wichtige Frage, die sich in beiden Büchern auf verschiedene Weise stellt, ist jene nach dem erstrebten und imaginierten individuellen Glück. Wie kann es sich im Leben verwirklichen, wie sind die Vorstellungen davon. Und wie kann es zu einer positiven Kraft werden, die wiederum über das Glück des einzelnen Menschen hinausgeht, das es ja streng genommen nur gibt, wenn es eben nicht „individuelles Glück“ ist.

Dein Buch, Ilse, hat einen wunderbar sachlichen und lakonischen Tonfall. In einem Kapitel erzählst du eine Schlüsselszene, einen Wendepunkt in deinem Leben, und schreibst dann: „Oder auch nicht. Oder doch. Erinnerung ist das eine, Erzählung ist das andere.“ In mir stiegen sofort Erinnerungen hoch – Schlüsselszenen aus meinem Leben. Deine Verbindung von Tonfall und Gedanke ist sehr stimmig und lädt zum Mitdenken und Erinnern ein. Ist es die Melancholie oder die Schelmin, die dich im Schreiben führt?
IK: Ja, die Schelmin, die bin ich in gewisser Weise selber. Ich führe mich in die Irre und mache Kurven. Ein Labyrinth mit rotem Faden, ich weiß nicht genau, ob ich einen Ausgang suche oder einen Ausweg aus den Widersprüchen oder ob es vielmehr darum geht, sie aushalten zu können. Sich an einem Bier zu erfreuen im Bewusstsein der Widersprüche in den bitteren so genannten real existierenden Wirklichkeiten. Und mir darüber klar zu sein, dass ich diese Bitterkeit aushalten muss, die eigenen Problematiken und alle anderen, die ich nicht auflösen oder ad hoc verändern kann. Die Schelmin ist eine schillernde Person, die Heiterkeit, Zorn und Ironie vereinigt und auch manchmal sorglos tanzen oder springen möchte. Die Melancholie ist sozusagen eine Basis für die Fröhlichkeit, eine Art „Gegenfröhlichkeit“.

Dein Buch, Eva, beginnt mit einem melodischen Prolog, der uns und die Protagonistin vom Universum auf die Erde führt. Mira wächst in einem österreichischen Dorf auf, zieht als Jugendliche nach Marseille, dann nach Algerien, von dort in die Wüste und schließlich nach Kuba. Als Lesende reisen wir mit, im Kopf voller Bilder fremder Landschaften, Städte und Menschen. Wie gingst du beim Schreiben mit den kolonialen, post- und antikolonialen Bilderwelten um?
ES: Mira hat, wie sich im Verlauf ihrer Reisen herausstellt, ein Bild von der Welt im Gepäck, das Europa ganz selbstverständlich als den Nabel dieser Welt darstellt: Erst im Zuge unterschiedlicher Begegnungen fällt ihr auf, dass sie sich unter vorteilhafteren Umständen durch diese Welt bewegen kann als andere. Sie ist zunächst nicht einmal in der Lage, diese Unterschiede wahrzunehmen. Ich denke, das ist bezeichnend für ein europäisches Selbstverständnis, das in den Kolonialgeschichten begründet ist. Dieses Selbstverständnis gerät ins Wanken und das ist wiederum die Voraussetzung dafür, postkoloniale Verhältnisse und ihre Konsequenzen für Menschen, die im globalen Süden leben, zu begreifen.

Ilse, du schreibst in deinem Buch, dass wir neue Erzählungen brauchen. Was denkt ihr, brauchen wir auch ein neues Verlagswesen und neue Leser*innen?
IK: Also, ja neue Erzählungen, das heißt, wir tasten uns da mal vor. Es ist nichts Fertiges, wo ich jetzt sage, so geht das, das brauchen wir. Die Frage ist vielleicht auch, wer das „wir“ ist. Generell – aber das ist jetzt etwas verschwommen – könnte ich vielleicht sagen, wir brauchen einen anderen Begriff von Kunst, einen, der viel mehr Menschen miteinbezieht, also sowohl als Kunstschaffende als auch als Rezipierende, aber auch als jene, die in der Kunst vorkommen, also etwa in Büchern und auf Bildern, und deren Lebensrealitäten Thema werden dürfen. Es soll nicht so sein, dass ein Buch sich dann eben als Thema nimmt: „Jetzt spielt einmal eine behinderte Person mit“, und dann ist ihren Problemen der Text gewidmet, Thema „Behinderung“. Es müsste ganz normal sein, dass in Texten usw. eben ganz unterschiedliche Personen vorkommen, Menschen verschiedener Geschlechter, kranke und gesunde, alte und junge Menschen aus verschiedenen Weltgegenden.

ES: Insofern brauchen wir auch ein Verlags- und Vertriebswesen, das sich nicht an mehrheitlich durchgesetzten Repräsentationsformen orientiert – denn repräsentiert wird eben nicht „die Mehrheit“, die viel diverser ist als gängige Figurenrepertoirs, die sich immer noch häufig an einem ganz spezifischen sozialen Typus (weiß, männlich, globaler Norden) orientieren. Die Begründung, dass sich Geschichten mit diesem Figuren-Typus eben „gut verkauften“, basiert immer noch auf der Vorstellung, es handle sich dabei um ein „Universal“. Damit sollten wir gemeinsam aufräumen, in Verbindung von Künstler*innen, Institutionen, Leser*innen und eben auch Verlagen.

 

Die beiden Bücher:

Ilse Kilic, Fadenspannung. Eine Verbündung, Ritter Verlag, 2021

Eva Schörkhuber, Die Gerissene, Edition Atelier, 2021

Ilse Kilic ist Schriftstellerin, Zeichnerin, Film- und Radiomacherin, betreibt zusammen mit Fritz Widhalm das fröhliche Wohnzimmer („dfw.at) und ist Präsidentin der Grazer Autorinnen Autorenversammlung (GAV).
Eva Schörkhuber ist Schriftstellerin, Literatur- und Kulturwissenschaftlerin, Redakteurin von PS: Anmerkungen zum Literaturbetrieb/Politisch Schreiben und Mitglied im Papiertheaterkollektiv Zunder. 

John Tylo: Trainrides and Walks

Karl Katzinger alias John Tylo alias Drago Torpedowicz starb am 2. April. Richard Wall über einen solitären Menschen und einen Geist, dessen Zuhause das Unterwegs-Sein war.

Von frühester Zeit an gab es welche, die auf den Straßen verschwanden.
Basho, Auf schmalen Pfaden durch das Hinterland

Karl Katzinger, der sich in seinen Aussendungen, Büchern und Manifestationen nie so genannt hat, ist nicht mehr: John Tylo alias Drago Torpedowicz starb am 2. April nach schwerer Krankheit, wie es in der Aussendung seiner zweitältesten Tochter, der Künstlerin Nana Tylo heißt, im Alter von 67 Jahren.
Unter Backwoodsmen Association veranstaltete er Auftritte von Künstlerinnen und Künstlern aus Europa, Afrika, Asien und den USA, zudem organisierte er Lesungen, Vorträge und Filmabende, zumeist in der Garage Drushba (Freundschaft) auf seinem Bauernhof in Harrachstal.
Karl und ich haben uns Anfang der 1970er Jahre als sogenannte Fahrschüler in der damals noch dampfbetriebenen Sum­merauer-Bahn kennengelernt. Er kam aus Lasberg, ich stieg in Katsdorf zu. Wir mussten täglich nach Linz pendeln, um nach der Hauptschule auf dem Land ein Oberstufengymnasium in der Landeshauptstadt besuchen zu können. Will damit auch sagen: Wie wir unser Leben angelegt haben, war uns keinesfalls in die Wie­ge gelegt, und das, was uns verband, war eine reflexartige Ablehnung von diktatorisch auftretenden Autoritäten und faschistoiden Strukturen; der damalige Ungeist an vielen Schulen bot genügend Anlässe, um sich an Lehrkräften, deren Menschen- und Gesellschaftsbild im Nationalsozialismus geformt worden war, zu reiben. Ich kann mich noch erinnern, dass er mir, auf mein Drängen hin, den Inhalt seiner Mappe gezeigt hat, mit der er in Bildnerische Erziehung maturierte. Ich war beeindruckt: Studien, griechische Tempelanlagen, Aquarelle. Nach der Matura verschwand er nach Wien, mit der Absicht, Geographie zu studieren, inskribierte dann doch Pharmazie. Damals liefen wir uns nur noch selten über den Weg. Erinnern kann ich mich noch an ein Gespräch übers Trampen. Er meinte, man müsse sich mit wenig Gepäck den Autofahrern anbieten; ergo habe er oft nur einen Schlafsack und sein Zahnbürstl bei sich. Aus einem Berufsleben im weißen Mantel wurde nichts; gesichert hingegen ist, dass er als Handverkäufer der Wiener Stadtzeitung Falter reüssierte.
Jahre später: Handgeschriebene Einladungen auf der Rückseite von Fotografien zu Veranstaltungen in die Garage Drushba. Gelegentliche Zusammentreffen in Freistadt und Linz. In Prag begegneten wir uns Anfang der 1990er Jahre zufällig im Wohnatelier unseres gemeinsamen Freundes, des Malers Zdenek Macku. In St. Petersburg haben wir uns im Jahr 1999 knapp verpasst. Kam er einem auf der Straße entgegen, war er mit seiner Körpergröße von nahezu zwei Metern schon von weitem auszumachen. Zudem lag ihm nicht viel an konventioneller Kleidung; ihn mit einer roten Hose oder einem gelben Sakko bekleidet zu sehen war nichts Außergewöhnliches. Er rauchte Zigarillos oder kubanische Zigarren, die er von seinen Reisen hinter den Eisernen Vorhang, nach 1990 aus dem nördlichen Nachbarland, wo er aus ökonomischen Gründen eine Zeitlang seine Post aufzugeben pflegte, mitgebracht hatte.
Unterwegs war er immer, in Gedanken und auch physisch, mit minimalem materiellem Einsatz. Er bereiste Europa, Teile Asiens und Afrikas mit der Bahn, per Schiff, Boot, Fahrrad und per Anhalter. Seine erste außergewöhnliche Reise, die nahezu ein Dreivierteljahr dauerte, unternahm er im Jahr 1987 mit seiner damaligen Lebensgefährtin Heide und der gemeinsamen, erst zwei Jahre alten Tochter Franziska. Der Trip begann in Griechenland und setzte sich fort im südlich gelegenen Kontinent. Von Nairobi (Kenia) reisten sie durch Steppen und kleinere Städte nach Mogadishu, der Küste entlang nach Kismaayo, auf einer Dau, einem traditionellen Segelboot, zu den Bajuni, einer Kette von Koralleninseln, und wieder retour nach Mogadishu. Weiter ging es durch Wüste und Steppe über Beled Weyne, einer Stadt in Zentral-Somalia, zum Golf von Aden, über den und dessen angrenzende Regionen auch schon Arthur Rimbaud, Blaise Cendrars und Annemarie Schwarzenbach berichtet haben. Weitere Stationen: Auf einem indischen Schiff nach Djibouti, per Flugzeug nach Sanaa in den Jemen, über Ibb und Taizz nach Mokha (nach dieser Stadt ist die spezielle Kaffeezubereitung benannt) und an den schwül-heißen Küstenstreifen Tihama …
Tylo führte, wie auf allen seine Reisen, Tagebuch. Ein Fotoapparat und eine Super-8-Kamera erweiterten sein Konzept des Notierens und Dokumentierens. Während man beim Schreiben mit sich, einem Bleistift und einem Notizbuch alleine ist, ermöglicht die Fotografie eine Form der Kommunikation mit Menschen, denen man begegnet. Es gibt nur wenige Fotos von Tylo, die ausschließlich eine Landschaft oder Bauten zeigen. Zumindest menschliche Spuren, auch wenn es nur Ruinen sind oder Telefonmasten, die durch eine kahle Steppenlandschaft stelzen, sind stets vorhanden. Beim Lesen seiner Bücher, in denen die Fotos mit seinen Notizen korrespondieren, erkennt man dann auch, dass er den Kontakt suchte, ihm das Handeln (auf Märkten) und Verhandeln (um Fahrpreise, Visagebühren, die Miete eines Zimmers) nicht immer ungelegen kam.
Viele dieser Aufnahmen und Filme sind meines Erachtens Kostbarkeiten, zumal einige der von ihm aufgesuchten Regionen und Staaten – wie Jemen, Somalia, die Ostukraine – aufgrund von militärischen Auseinandersetzungen oder der islamistischen Terrorgefahr derzeit nur unter Lebensgefahr bereist werden können. Es handelt sich um Dokumente, die er hin und wieder – vor allem seine Filme – gezeigt hat, die aber noch einer seriösen Würdigung und Darstellung im Kontext seiner Lebensführung und Kunst des Reisens harren.
Jahre später, 2010, erschien dann der Reisebericht unter Ausschluss der Wochen in Griechenland mit dem Titel Familienausflug nach Somalia und Jemen: Ein Titel, der an die Beschriftung eines biederen Fotoalbums von anno dazumal erinnert, der jedoch in Verbindung mit dem Coverfoto – die Reisenden gegen die Hitze vermummt in einer Steinwüste zeigend – dessen ironische Semantik offenbart. Ein Understatement, das auch seine Eintragungen kennzeichnet: Lakonie und Ironie, manchmal auch Sarkasmus, versus Pathos. Reisen dieser Art bringen auch, wie sollte es anders sein, ernüchternde Erfahrungen mit sich, weitab einer Idylle à la Tausendundeine Nacht. Sie erlebten beglückende Begegnungen, Hilfsbereitschaft sowie die Besonderheiten der Landschaften und Städte, aber auch Hitze und Krankheit, Schmutz und Korruption.
Die zweite, ebenfalls etwas längere Reise im Jahr 1995, konzeptuell angelegt, durch ehemalige Länder der Sowjetunion, hatte immer wieder folgende Ziele: Druckereien und Postämter, um tausende(!) Postkarten als MAIL ART verschicken zu können. Das Motiv der Karten bestimmte als Fotograf er selber: Nach dem Entwickeln des Films wurde eine Ansicht ausgewählt und in einer Druckerei, mit einem meist längeren, von Tylo verfassten Text auf der Rück­seite, vervielfältigt – in Moskau, Sotschi, Alma-Ata, Taschkent u. s. f. Pro Sendung kaufte er 500 Briefmarken, nicht immer problemlos wie man sich vorstellen kann, die dann auch geklebt werden mussten.
Im Verlauf der Reise geriet er u. a. in Kasachstan in eine internationale Kundgebung gegen Atomtests; kontrastierend zu einer Schwanensee-Darbietung in der Oper von Almaty, die er mit der Kritik „dämliches Herumgetrippel, extrem gefällig“ bedachte, um sich mit der Selbstaufforderung „nichts wie weg!“ für einen Tapetenwechsel zu entscheiden, er begab sich auf eine 5-tägige Trekking Tour. An diesem Abenteuer in den Nordkirgisischen Berge nahmen auch sein Neffe Daniel und sein jüngerer Bruder Werner teil. Stundenlange Anstiege auf Pässe bis zu einer Höhe von 4000 m, Querungen von Gletscherbächen im Einzugsgebiet der Flüsse Chon Kemin und Aksuu sowie die dünne Luft brachten ihn an den Rand des physischen Zusammenbruchs. Jeder europäische Trekking-Veranstalter hätte ihm aufgrund seiner unzulänglichen Kleidung und Ausrüstung die Teilnahme an der Tour untersagt. In Talas ließ er sich auf das mit Fahnen, Jurten, Lanzenreitern, Salutschüssen und uniformierten Ordnungskräften martialisch gestaltete Folklorefestival der Kirgisen beim Mana-Mausoleum ein (die Volksdichtung Manas ist ein turksprachiges Epos, das nicht weniger als 500 000 Verse umfasst).
Neben Begegnungen mit großartigen und gastfreundlichen Menschen, die mehr oder weniger mit Kunst und/oder mit der Kunst des Überlebens zu tun hatten, begleitete ihn ständig der Schrott „der alten heroischen Epoche“, verlassene Produktionsstätten nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion sowie der Verpackungsmüll der neuen, aus dem Westen importierten Konsumgüter.
Kunst war für Tylo nicht Zeitvertreib oder nur Vergnügen, nicht das Sträußerl am Hut nach Feierabend. Er suchte nach Entsprechungen zwischen Leben und Kunst – Kunst im Sinne einer schöpferischen Manifestation, die aus dem Leben kam und wieder auf das Leben zurückwirken sollte, wobei naturgemäß eine stringente Kausalität nicht ablesbar oder erkennbar sein kann. Er verstand Kunst nicht als Ware, sondern als ein das Leben befeuerndes Überlebensmittel. Er lebte ein anarchisch-einfaches Leben auf dem Lande, abseits geschwätziger Kulturgüter, philosophisch, politisch und ökologisch reflektiert, eine scheinbar idyllische Existenz, der er mit seinen Reisen einen Kontrapunkt verlieh.
Künstler sein ist ein Geistes- und Seelenzustand. Tylo war dem Exzess und der Ekstase nicht abgeneigt, war aber der geistigen und körperlichen Kasteiung ebenso fähig, wenn er es für nötig hielt oder ihm nichts anderes übrig blieb. Er hatte etwas von einem Zen-Meister an sich, vom Gestus Han Shans. Ich sehe ihn als eine solitäre Erscheinung, dessen Geist weit über den Tellerrand konventioneller Kleinkrämer sprühte und an den Konventionen zündelte. Die von ihm gewählten Formen des Ausdrucks entsprachen seinen Entdeckungen und Erfahrungen – einer zeitlosen Vitalität. Er lebte eine halbnomadische Alternative, die auf andere offensichtlich irritierend oder gar bedrohlich gewirkt hat.
John Tylo, dieser allzubunte Vogel hat den sich zunehmend verdunkelnden Planeten für immer verlassen. Sein Geist, der sich für so vieles begeistern konnte, schwebt über der Aist und fragt sich wohin. Das Unterwegs-Sein war sein Zuhause.

 

Literatur: GUSMAIL (1997), Familienausflug nach Somalia und Jemen (2010), beide Backwood Press.

Backwood Association: Karl Katzinger alias John Tylo betrieb in Harrachstal 8 bei Weitersfelden einen Kulturverein, der sich je nachdem Backwood/Backwood Associate/Backwood Association (Culturelle) nannte. www.backwood.at

Re: In Trauer um Karl Katzinger

Ein vielstimmiger Nachruf auf den Künstler, Kulturarbeiter und Umweltaktivisten Karl Katzinger, John Tylo.

„Nach dem Tod unseres Vaters haben uns zahlreiche Mails mit Worten der Anteilnahme, Erinnerungen und Fotos erreicht. Speziell für die Referentin ist nun aus den Zusendungen eine Collage aus Textfragmenten entstanden.“ Zusammengestellt von Franziska, Nana, Leon und Kurt

Fadi Dorninger „Ich habe Karl als John 1999/2000 im OK kennengelernt. Mit schrillem Outfit und gewagten Aktionen, was ihn mir gleich sympathisch gemacht hat. Ich bin damals nach Vilnius geflogen, John ist ewig lang und abenteuerlich mit dem Zug gefahren. Ich habe abgekürzt, er wollte aus dem Vollen schöpfen, wenn es schon um den DIALOG Vilnius – Linz ging. Das habe ich an ihm bewundert. Den eigenen Weg gehen, sich nicht anpassen oder sich kaufen lassen, kostet sehr viel Kraft, weil dafür im System Kunst nichts vorgesehen ist. Seine für mich ‚verwegenen‘ Veranstaltungen im eigenen Haus haben ihm sicher jene Energie gegeben, sich immer wieder der Kunst zu stellen, sich immer wieder einzubringen, meist kompromisslos. […]“

Fritz Diesenreiter „[…] Karl war ein extrem wichtiger Mensch für mich, der mich als Jugendlicher alleine schon durch sein Auftreten neugierig auf seine Person gemacht und beeindruckt hat. […] Karls Veranstaltungen in der Garage waren immer ein Garant, liebe, spannende und neue Leute zu treffen, besondere Musik zu hören, oder andere aufregende Projekte zu sehen. Unglaublich wie er das geschafft hat, sowas in einem Nest wie Harrachstal aus dem Boden zu stampfen und so lange Zeit am Leben zu halten. […] Ohne Karl und seine backwoodsman association würde es backlab nicht geben. Und ohne backlab würde es ganz viele Freundschaften nicht geben. […]“

Lorenz Posch „[…] Ich war 2012 als damals 12-Jähriger bei dem „verbotenen“ Landlertanzkurs dabei und habe später Karl immer wieder auf diversen Festen (sunnseitn etc) getroffen und immer wieder sehr anregende Gespräche mit ihm führen dürfen. Karl war menschlich ein großes Vorbild für mich, seine Art, das Leben zu leben hat tiefe Spuren in mir hinterlassen und in mir einige Gedanken ausgelöst, wie ich denn mein Leben leben möchte.“

Antonella Pulicicchio „Ich war seine Italienischlehrerin in der VHS Freistadt, die Gruppe war für mich wie eine Familie, deshalb bin ich von Linz jeden Dienstag dorthin gefahren, zwei Jahre lang. Karl war immer dabei, mit seiner Ironie, Intelligenz, Sympathie, Sensibilität, Eleganz – er war geliebt von uns allen, […]“

Mischa Jäger & Elisabeth Loibl „[…] Er passte gut in unsere etwas kopflastige Gründermannschaft, weil er offen war, zupackend, witzig und widerständig – a ‚wüda Hund‘, wie wir damals zu sagen pflegten. Was im Übrigen nicht nur dem sprachlichen Eigensinn seiner gelegentlichen redaktionellen Beiträge zugutekam, sondern auch seiner Einsatzbereitschaft im damals angesagten Kampf gegen das polizeiliche Unverständnis für allerlei Besetzungs- und Befreiungsaktionen im öffentlichen Raum. Unvergesslich: Katzingers Siegerlächeln bei einem Auftritt in der Redaktion mit angeknackstem Nackenwirbel und Halskrause, die er nach einer spätsommerlichen Schlacht um Rasenfreiheit im Wiener Burggarten wie eine Trophäe trug. Und dann war da noch diese Schrift an der Wand, die uns jeden Morgen auf dem Weg in die Redaktion von der Gartenmauer eines Innenstadt-Palais entgegenlachte, und sich rasch in der ganzen Stadt verbreitete. […] ‚Ölt die Frösche!‘. […]“

Peter und Hedi Kuthan & ARGE Zimbabwe Freundschaft „[…] Wieder daheim in Österreich war Karl mit seiner Backwood Association und der Garage Drushba wiederholt Partner und Anlaufpunkt im Kulturaustausch, den insbesondere unsere afrikanischen Gäste geschätzt haben, weil damit ein ganz anderes Bild von Europa als das so oft verklärte vermittelt wurde. Mit Karl ist ein widerständiger und rastloser Geist von uns gegangen, der zwar meist ‚im Hinterwald‘ gelebt, aber doch weltoffen und weltläufig war, nicht zuletzt aufgrund seiner Reisen in Afrika und auf dem Balkan.“

Günther Rabl „Es gibt Menschen, die alleine durch ihre Existenz Ruhe und Frieden verbreiten. Auch wenn es in unmittelbarer Nähe nicht immer so ausgesehen haben mag – Karl war für mich so jemand! Wir haben uns oft Monate nicht gesehen oder gesprochen. Ich konnte mich darauf verlassen: es gibt ihn! Und das soll jetzt nicht mehr sein!!! Mir fehlt ein Ästhet, ein Philosoph, ein begnadeter Fotograf und vielfach (sogar von ihm selber) unterschätzter Schriftsteller – ein Mensch!“

Anatol Bogendorfer „[…] Im Winter 2018 sind meine Freundin und ich spontan einer Einladung gefolgt, […], man möge doch die wunderbaren Apfelsorten, die aus einem nahegelegenen Obsthain stammen und nun in seinem Obstkeller lagerten, zu einem günstigen Kilopreis bei ihm kaufen. In seiner Oldschool-Küche hat er uns dann die alten Sorten verkosten lassen. Wir haben wieder Kaffee getrunken, haben Äpfel en masse mitgenommen und sind aufgrund eines heftigen Schneesturms nur beschwerlich zurück in die Stadt gekommen. […]“

Josef Gaffl „[…] und das mit nur einer Hand am Lenker, denn mit der anderen winkte er mir freundlich zu, ganz so als würden wir uns jeden Morgen an dieser Stelle begegnen. Noch immer sehe ich seine langen Haare und sein offenes Hemd um die Wette im Wind flattern, noch immer sehe ich sein freundliches Lächeln, und noch immer erinnere ich mich an die unbändige Leidenschaft, die ihn in diesem Moment vorwärtstrieb. Später hab ich erfahren, dass sich Karl an diesem sonnigen Morgen auf den Weg nach Albanien gemacht hatte. So war er eben. Unglaublich. […]“

Titus Feuerzwang „Der Karl und ich haben uns über die Sensenmähkurse, die er im Schaugarten der Arche Noah in Schiltern gehalten hat, kennengelernt und sofort wunderbar verstanden. […] Er war ein unverwechselbarer Mensch mit großem inneren Reichtum und einer starken Ausstrahlung, der es geschafft hat, sein Leben nach seinen Überzeugungen zu leben.“

Claudia Ascher-Cuscoleca „[…] Gestern fiel mir durch Zufall oder eben doch nicht Karls Buch ‚Ein Familienausflug nach Somalia und Jemen‘ in die Hände und ich habe begonnen es zu lesen!“

Uli Böker „Durch das Festival der Regionen lernte ich Karl Katzinger kennen. Ob als Backwoodsman oder als John Tylo, beim emissionslosen Sensenmählehrgang gemeinsam mit seinem Vater, oder in der Garage in Harrachstal, ein zutiefst Suchender und Finder, ein Mensch, der mich in seiner Kompromisslosigkeit, in seiner Art zu leben fasziniert hat, oftmals ausbrechend aus dem doch oft sehr engen Mühlviertel, ein sich gegen den vorgeschriebenen, gesetzlichen Kanal-Anschlusszwang Kämpfender, ein besonderer, ein faszinierender Mensch, der sich davon gemacht hat … ich danke dafür, dass ich ihn zumindest ein bisschen kennen lernen durfte – ich drücke mit diesen Zeilen mein Beileid aus, ich wusste nichts von seiner Krankheit … das Mühlviertel, die Welt braucht viel mehr Karl Katzingers […]“

Thomas Pflügl, Alpenverein Freistadt „Ich hatte ab und zu die Gelegenheit mit ihm zu diskutieren, meistens auf der Braunberghütte. Er war ein interessierter und interessanter Mann, der nicht nur klassische Wege beschritten hat.“

Peter Arlt „[…] hab immer wieder mit ihm zu tun gehabt, privat wie ‚beruflich‘. fürs festival der regionen habe ich ein hör­feature zu karls kanalanschlußzwang (‚karl k. und der behördenapparat‘) angefertigt – personen und orte leicht anonymisiert, aber ausschließlich aktenverkehr verwendet, mit schauspieler (u. a. mit ferry öllinger) und eigener musik aufgenommen. […] oder mein ‚vortrag‘ am 19. 10. 14 in der garage drushba, auf meiner webseite hab ich dazu festgehalten: ‚wenn man leute einlädt, die alle etwas machen – kochen, musizieren, bauen – dazu ein paar sachen (materialien) zur verfügung stellt sowie fürs leibliche und seelische wohl sorgt, dann entsteht etwas, wovon die alten fluxus-künstler immer geträumt haben, aber mit ihrem kunststress kaum hinbekommen haben: REAL FLUXUS ! … Und für alle, die es noch nicht mitbekommen haben: im gar nicht so stillen harrachstal lebt seit ewigen zeiten OÖ größter fluxus-meister ever. ämter aller abteilungen: gebt ihm endlich das goldene verdienstkreuz und eine professur gleich noch dazu. aber schnell! das ist natürlich nicht passiert.“

Volodja Vorontsov „Ich bin tiefst mit dieser Nachricht geschlagen. Karl ist mein näherster Freund zu wem ich absolute Vertrauen habe. Er ist Mensch und eine der beste Teil der Menschheit. Meine Frau hat immer über ihn gesagt, dass mit ihm war immer einfach zu unterhalten wie mit niemanden von Österreicher. Ich stimme es auch zu. Er war wirklich ein großer Mensch in unserem Erdevolk. Mein Beileid zu euch. Ich bin momentan in Moskau. […]“

Gottfried Gusenbauer „[…] Karl, bzw John, war so ein toller Typ, und er war mir in Sachen Kunst + Kulturarbeit ein großes Vorbild. Schade, dass ich ihm das nie gesagt habe. Vielleicht auch deshalb, weil er für mich ohnedies immer war und sein wird. Auch jetzt.“

Herbert Zellhofer „[…] eine Bereicherung für die Welt, die nun um einen Karl ärmer ist und sehen muß, wo sie sowas wieder herkriegt. Denn er wird fehlen. Euch, die ich so gut wie nicht kenne, vermutlich, und mir bestimmt. Er verdient einen Preis für sein Lebenswerk (aber dafür ist es jetzt zu spät) und ein Museum. […] Behaltet ihn in euren Herzen.“

Andi Wahl „Karl war wirklich ein wunderbar widerborstiger Mensch wie er einem nur selten unterkommt. Mit seiner Widerborstigkeit und seiner Originalität hinterlässt er euch ein reiches ideelles Erbe.“

Eine solidarische Union der Räte

Die Referentin bringt seit mehreren Ausgaben eine Serie über frühe Anarchist_innen und frühe soziale und politische Bewegungen, die im Zeichen von kämpferischer Befreiung standen. Eva Schörkhuber in dieser Ausgabe über die Kronstädter Rebell*innen und wie sie vor 100 Jahren versuchten, die Russische Revolution vor dem Scheitern an sich selbst zu bewahren.

„Revolutionen sind Öffnungen der Geschichte“, schreibt Bini Adamczak zu Beginn des Kapitels Eventualgeschichte in ihrem Buch Der schönste Tag im Leben des Alexander Berkman. Sie untersucht darin, angesichts welcher konkreten Bedingungen sich aus einer Vielzahl an historischen Möglichkeiten einige durchsetzen konnten und andere nicht. Im Fall der Russischen Revolution stellt sie auf mehreren Ebenen die Frage, welchen anderen Ausgang diese hätte nehmen können, wenn sich ihr Verlauf an bestimmten Momenten verändert hätte. Sie sucht nach „Auswegen“, nach unterschiedlichen Blickwinkeln, die es erlauben, im Scheitern der Russischen Revolution, das sich spätestens im stalinistischen Terror offenbarte, „die Möglichkeit eines Gelingens aufscheinen“ zu sehen. Dabei geht es nicht darum, die Vergangenheit umzuschreiben, neu zu erfinden und in eine utopische Luftspiegelung zu verwandeln. Das, was Bini Adamczak als „Eventualgeschichte“ bezeichnet, „muss vielmehr fest in der Realgeschichte verankert werden“. Erst auf diese Weise lassen sich jene Wendepunkte ausmachen, an denen andere soziale und politische Bewegungen, die vom historischen Verlauf verdeckt, verdrängt und mitunter auch vernichtet wurden, wieder sichtbar werden.
Es sind drei „Auswege“, die Adamczak perspektiviert und sorgfältig entlang historischer Fakten, sozialer und politischer Gegebenheiten aufrollt: Sie befragt die Umstände des „prekären Friedens“, den die Sowjetunion nach dem Ersten Weltkrieg und am Ende des Bürgerkrieges ausverhandelt hat; sie setzt jene Möglichkeiten auseinander, mit denen das Verhältnis von Stadt und Land, der Umgang mit den Bäuer*innen und somit auch die Verteilung von Grund und Bodenerträgen anderes hätten gelöst werden können, als vom bolschewistischen Regime realisiert; und sie verhandelt angesichts des Kronstädter Aufstandes von 1921 das System der Räte, der Sowjets, das in seiner ursprünglichen, allerdings bereits kurz nach 1917 von einer zentralistischen Machtlogik usurpierten Form ebenfalls ein Gelingen der Russischen Revolution hätte „aufscheinen“ lassen können.

Perspektivenwechsel
Der titelgebende schönste Tag im Leben des Alexander Berkman bezieht sich auf einen Tagebucheintrag, in dem der Anarchist Alexander Berkman, der gemeinsam mit 249 anderen politischen Gefangenen, darunter auch die Anarchistin Emma Goldman, im Jänner 1920 von den USA nach Russland abgeschoben wurde, seine Ankunft in der Sowjetunion schildert:
„Ein Gefühl von Erhabenheit, von Ehrfurcht überkam mich. So mussten sich meine frommen Vorfahren gefühlt haben, als sie zum ersten Mal das Allerheiligste betraten. […] Mir war danach, die ganze Menschheit zu umarmen, ihr mein Herz zu Füßen zu legen, mein Leben tausendfach im Dienst der sozialen Revolution hinzugeben. Es war der schönste Tag meines Lebens.“
Die beinahe ekstatisch-religiöse Verzückung, die Berkman bei seiner Ankunft in der Sowjetunion, die im Übrigen auch eine Art Rückkehr darstellte – er war wie Emma Goldman in Russland geboren und aufgewachsen – empfand, wich einer gewissen Skepsis gegenüber der bolschewistischen Realpolitik. In seiner 1922 im Exil in Berlin verfassten Broschüre dokumentiert er Die Kronstadt Rebellion, ihren Verlauf und ihre brutale Niederschlagung. Darin schildert er auch, wie wohlwollend er trotz einiger Vorbehalte den Bolschewiki noch im März 1921 gegenüberstand: Zu diesem Zeitpunkt hatten Arbeiter*innen in Petrograd in Form von Streiks und Versammlungen, die allesamt unterdrückt, verboten und mit Polizei- und Militärgewalt aufgelöst wurden, gegen die autokratische Regierung protestiert; die Matros*innen in Kronstadt hatten sich mit den städtischen Arbeiter*innen solidarisiert und ihrerseits eine Resolution verfasst, die sich gegen die Zensur und gegen die Politbüros wandte und für eine freie, geheime Wahl der Sowjet-Delegierten sowie für Versammlungsfreiheit und eine gleiche Aufteilung der Lebensmittelrationen für alle eintrat. Als am 4.3.1921 der Petrograder Sowjet zusammentrat, um eine rigorose Vorgehensweise gegen die offiziell als konterrevolutionär denunzierte Kronstädter Rebellion zu beschließen, kam Alexander Berkman, wie er rückblickend „gesteht“, „eher zugunsten von Zinowjews [Vorsitzender des Petrograder Sowjets] Gesichtspunkt gestimmt zu dieser Sitzung: ich war auf meiner Hut vor der leisesten Möglichkeit gegenrevolutionären Einflusses in Kronstadt. Aber Zinowjews Rede selbst überzeugte mich, daß die kommunistischen Anklagen gegen die Matrosen reine Mache waren ohne einen Funken von Wahrheit.“
Der Eindruck, dass es sich bei der Kronstädter Bewegung um gegenrevolutionäre Tendenzen handle, wurde von der offiziellen sowjetischen Presse massiv geschürt. Von einem Komplott der alliierten Siegermächte war dabei die Rede, von ausländischen Spionen und einem korrupten General, der diese Konterrevolution anführen solle.

Die Kronstädter Bewegung für freie Sowjets
Die mediale Propaganda, die den Kronstädter Aufstand diffamierte, konzentrierte sich darauf, die Bedrohung als eine äußere, vom kapitalistischen Ausland gelenkte zu beschreiben. Tatsächlich handelte es sich vielmehr um eine innere Bewegung – die Matros*innen, die federführend an der Resolution beteiligt waren, wollten die Sowjetunion, für die sie jahrelang gekämpft hatten, keineswegs unterwandern oder durch eine andere Staatsform ersetzen, im Gegenteil: Ihre Forderungen reichten zurück zu den Grundsätzen der Russischen Revolution, die von den Bolschewiki selbst sukzessive außer Kraft gesetzt worden waren. Darin bestand die eigentliche Bedrohung aus Sicht der regierenden Partei.
Die Aufstände sowohl der streikenden Arbeiter*innen in Petrograd als auch jener in Kronstadt richteten sich gegen die zusehends autoritäre Regierungspolitik der Bolschewiki. Die zentrale Forderung der Kronstädter Matros*innen, Soldat*innen und Arbeiter*innen bestand darin, die Geschicke der Revolution wieder zurück in die Hände der Bevölkerung zu legen, indem die Räte frei gewählt werden konnten, um dadurch die Regierungsmacht zu dezentralisieren. In der am 1. 3. 1921 verabschiedeten Resolution lautete die erste Forderung:
„Angesichts der Tatsache, daß die gegenwärtigen Sowjets den Willen der Arbeiter und Bauern nicht ausdrücken, sofort neue Wahlen mit geheimer Abstimmung abzuhalten, wobei die vorherige Wahlkampagne volle Agitationsfreiheit unter den Arbeitern und Bauern haben muß.“
Von diesen Wahlen sollten Parteifunktionär*innen keineswegs ausgeschlossen werden, gefordert wurde lediglich, dass sich alle unter denselben Voraussetzungen zur Wahl stellen konnten. Insofern handelte es sich bei der Dritten Revolution, wie der Kronstädter Aufstand von seinen Akteur*innen bezeichnet wurde, um eine Demokratiebewegung, der sich Menschen mit unterschiedlicher politischer Haltung anschlossen. Es gab Solidaritätsbekundungen der Linken Sozialrevolutionär*innen ebenso wie der Anarchist*innen. Und als die Regierung mit ihren Repressionen gegen die Kronstädter Bewegung begann – es wurden etwa Familienmitglieder von Rebell*innen in Geiselhaft genommen –, bekundeten auch viele Bolschewiki ihr Missfallen, indem sie aus der Partei austraten und ihren Austritt in der Zeitung Izvestia, dem Organ der Dritten Revolution, begründeten. Die Lehrerin Maria Nikolajewna Schatel schreibt am 8. 3. 1921, als die militärische Offensive der Bolschewiki gegen die Kron­städ­ter*innen bereits begonnen hatte: „Das kommunistische Schlagwort ‚Alles für das Volk‘ begeisterte mich mit seiner Würde und Schönheit, und im Februar 1920 trat ich in die Russische Kommunistische Partei als Kandidatin ein. Aber der ‚erste Schuß‘, abgefeuert gegen die friedliche Bevölkerung […] erfüllt mich mit […] Schrecken […]. Ich fühle, daß ich nicht länger an das, das sich selbst durch eine teuflische Tat geschändet hat, glauben und es propagieren kann.“

K/Ein Ausweg aus der binären Kriegslogik
Die „teuflische Tat“ bestand in der brutalen Niederschlagung des Kronstädter Aufstands. Beim Ablauf des Ultimatums, das die Regierungspartei den Kronstädter*innen gestellt hatte, verlautbarte der Vorsitzende des Revolutionären Militärsowjets Leo Trotkzi: „Ich werde euch wie Fasanen niederschießen.“ Alexander Berkman erläutert in seiner Broschüre, wie die blutige Niederlage der Dritten Revolution hätte verhindert werden können: Eine militärische Offensive seitens der Aufständischen hätte, wie im Falle der Pariser Commune, die Regierung überraschen und in die Defensive zwingen können. Doch wie die Kommunard*innen wollten die Kronstädter Rebell*innen kein Blutvergießen, sie wollten keinen weiteren Bürger*innenkrieg, sondern eine breite aktive Beteiligung der Bevölkerung an der Revolution – über die immer engeren Grenzen der Partei hinweg. Dadurch hätten sie die Geschichte der Russischen Revolution öffnen, einen „Ausweg“ aus der „binären Logik des Krieges“, wie sie Bini Adamczak beschreibt, finden können. „Eine binäre Dialektik von Revolution und Konterrevolution […] homogenisiert die Pole und verschweigt deren innere Differenzen.“ Die Verdrängung, Verleugnung und schließlich Vernichtung der inneren Widersprüche zeigte sich sowohl in der bolschewistischen Anti-Kronstadt-Propaganda als auch in der äußersten Polizei- und Militärgewalt, die aufgewandt wurde, um die Macht der Sowjets nicht umverteilen zu müssen. Dieser Weg führte die Russische Revolution in jene Paranoia, die im stalinistischen Terror gipfelte.
Hätte die Kronstädter Bewegung für freie Sowjets einen anderen Ausgang genommen, dann wäre die Einreise in die Sowjetunion nicht der schönste Tag im Leben des Alexander Berkman gewesen: „In einer solidarischen Union der Räte hätte er noch schönere Tage erlebt.“

 

Bini Adamczak: Der schönste Tag im Leben des Alexander Berkman. Vom möglichen Gelingen der Russischen Revolution. Münster: edition assemblage 2017.

Alexander Berkman: Die Kronstadt Rebellion. Berlin: Verlag Der Syndikalist 1923.

Die Serie in der Referentin ist auf Anregung von Andreas Gautsch bzw. der Gruppe Anarchismusforschung entstanden. Siehe auch: anarchismusforschung.org

Darwins Polyethylen

Mehrere Orchideen, sowie „der sichtbare oder verborgene Antagonismus von Natürlichkeit und Künstlichkeit“ sind noch bis 9. April 2021 in der Galerie Maerz zu sehen. Georg Wilbertz hat die Ausstellung von Rainer Noebauer-Kammerer besucht.

„Was immer sonst die Schönheit abbilden mag, zuallererst bildet sie die Sterblichkeit ab.“ (Robert Harrison)

Am Beginn seines wunderbaren Buches „Gärten. Ein Versuch über das Wesen der Menschen“ beschreibt der amerikanische Literaturwissenschaftler Robert Harrison den Garten Eden als langweiligen Ort des dauerhaften Genusses und des puren Konsums. Das Paradies sagt vor allem Adam zu, während Eva sich langweilt und letztendlich erkennt, dass dies nicht alles sein kann. Dass Hingabe, Emotion und wirkliche Beziehungen in diesem Zustand, den wir irrtümlicherweise als paradiesisch bezeichnen, unmöglich sind. Eva will mehr; da kommen Sündenfall und Vertreibung aus der paradiesischen Öde gerade recht. Wir kennen die Geschichte. Aus ihr resultieren für Harrison wesentliche und im Vergleich zur christlichen Deutung ausschließlich positive Aspekte menschlichen Seins. So stellt die Vertreibung aus dem Garten Eden den Beginn der Wahrnehmung von Zeit dar. Das Erkennen zeitlicher Abläufe ist die unabdingbare Voraussetzung für die Entwicklung von Ratio und Emotion. Was menschliches Sein ausmacht, ist in Zeit und dem Bewusstsein für ihr Vergehen gebettet. Gleiches gilt für die Zyklen der Natur und deren Bedeutung für den Menschen. Für Adam hat dies laut Harrison massive Konsequenzen: „Aus dieser Ausweitung des Ichs in die Welt [durch die Vertreibung] wurde die Liebe zu etwas anderem als ihm [Adam] selbst und damit die menschliche Kultur als solche geboren.“ Geboren wurde auch das Prinzip der Cura, der Sorge, des Sich-Kümmerns, das den Menschen – richtig verstanden – in ein verantwortungsvolles Verhältnis zu den Dingen und Phänomenen außerhalb seiner selbst setzt.

Rainer Noebauers Ausstellung „Darwins Polyethylen“ handelt von vielem: der Frage nach „Original“ und Fälschung, den Potentialen von Imitation und Kopie und vor allem dem sichtbaren oder verborgenen Antagonismus von Natürlichkeit und Künstlichkeit. Und nicht nur, weil sie coronabedingt die bisher am längsten (nicht-) gezeigte Ausstellung in der Maerz ist (gehängt wurde sie am 3. November 2020), handelt sie vor allem von der Zeit, ihrem Verlauf, ihrem Vergehen und ihrer Wirkung auf Existenz. Mit dem Rauswurf aus dem Paradies wurde der Mensch in den endlosen Zyklus aus Befruchtung, Wachsen, Blüte, Reifung und Vergehen gestellt. Wollte er aktiver Teil dieses Zyklus werden und sich in das einpassen, was wir Natur nennen, musste er handhabbare kulturelle Techniken und Mechanismen entwickeln. Am Beginn dieser Entwicklung steht eben jene Cura, mit der sich der Mensch seiner Umwelt und seinesgleichen widmet. Fasst man Harrisons Thesen etwas brachial zusammen, so ist die Cura bzw. die Notwendigkeit, sie zu pflegen, die unmittelbare Folge der Vertreibung und die existentielle Voraussetzung für alles, was dann kommt. Die Fähigkeit zur Sorge bestimmt, dem Titel seines Buches folgend, das „Wesen des Menschen“. Rainer Noebauers Ausstellung „Darwins Polyethylen“ zeigt mit logischer Konsequenz (und entsprechend eindrücklich), was passiert, wenn wir die Cura auslassen oder versuchen, sie uns durch die „Kultivierung“ synthetischer Kopien des Lebendigen zu ersparen. Denn natürlich: sich sorgen macht Arbeit. Das fängt bei der kleinsten Blume an.

Kunst als Dokumentation
Noebauer wählt für seine Darstellung eine in den Naturwissenschaften längst etablierte Methode: die fotografisch dokumentierte Langzeitbeobachtung. An Tag 1 stehen sich zwei nahezu ident aussehende Orchideen gegenüber. Die Linke lebt und bedarf außerhalb der „freien Wildbahn“ der Sorge, die rechte ist aus Polyethylen. Nach 533 Tagen ohne Wasser und Düngung ist von der linken Orchidee nichts mehr übrig. Sie hat sich nach einem langen Prozess des Absterbens ins Nichts verflüchtigt, während sich ihr Plastikpendant einer ungebrochenen artifiziellen Frische erfreut. Nur Hausstaub könnte ihre visuelle Wirkung beeinträchtigen (dagegen gibt es allerdings -kein Scherz- Pflegemittel). Noebauers Polyethylen-Orchidee hat sich optisch dem Faktor Zeit (und damit Leben) entzogen. Sie ist damit nichts anderes als ein kleines Paradies in Plastik.

Und genauso skeptisch wie Eva dem Dauergenuss der immer gleichen Paradiesesfrüchte gegenüberstand, stehen wir der Plastikorchidee gegenüber. Möge sie noch so täuschend „echt“ wirken, dass man sie durch bloße Anschauung kaum als unnatürlich entlarven kann: es fehlt jedweder an den Faktor Zeit gebundene Prozess.

Darwin wörtlich genommen
Nähme man den Darwin aus Rainer Noebauers Ausstellungstitel ernst und reduzierte ihn auf die rein äußerliche Erscheinung beider Orchideen, hätte jene aus Polyethylen den „struggle for life“ für sich entschieden. Dies würde aber eine erneute, haarsträubende Vulgarisierung der Thesen Darwins bedeuten. Die Geschichte des Darwinismus ist voll davon. Womit eine der vielen möglichen politisch-gesellschaftlichen Konnotationen der Ausstellung angesprochen wäre.

Darwin entwickelt sein Konzept der Auslese und des Überlebens durch Anpassung und Zuchtwahl während der Ära der explodierenden Industrialisierung. Also genau zu der Zeit, als es dem Menschen durch wissenschaftlich-technischen Fortschritt vermeintlich gelingt, sich mehr und mehr aus der Abhängigkeit natürlicher Faktoren und Rahmenbedingungen zu lösen bzw. diese mitzugestalten (nicht umsonst sprechen wir rund 200 Jahre später vom Anthropozän). Die Industrialisierung entwickelt nicht nur die synthetischen Stoffe (Polyethylen ist seit 1898 bekannt) aus denen schließlich eine Plastikblume wird, sie schafft auch die Produktionsbedingungen, die ihre massenweise Herstellung und Verbreitung ermöglichen. Der Aspekt der Quantität ist neben der Imitationsqualität nicht zu vernachlässigen. Erst die Möglichkeit, massenweise künstliche Natur zu produzieren, erlaubt es uns, sie als Surrogat für die „echte“ Natur, die ja genau durch diese Produktions- und Konsumprozesse gefährdet wird, ernstlich als „Ersatz“ in Erwägung zu ziehen. Dies schließt durchaus die digitalen und medialen Surrogate der jüngeren Zeit ein.

Ginge es also ausschließlich um das bloße „Überleben“ der visuell erfahrbaren Form, hätte die Plastikorchidee aus Noebauers Versuch in einem vulgärdarwinistischen Sinne „gewonnen“. (Darwinistisches) Leben definiert sich jedoch durch ein extrem komplexes Zusammenspiel aus Anpassungs-, Integrations- und Destruktionsprozessen. „Synthetische“ (künstlich oder mit Gewalt hergestellte) Gleichförmigkeit (Uniformität), Rassenreinheit, Volkszugehörigkeit etc. scheinen diese, für viele beängstigende Dynamik zwar auszuschließen oder zumindest zu mindern. Daraus erwächst aber die schon beschriebene Langeweile und „Reinheit“. Beziehungsweise: Für manche politisch-gesellschaftliche Kreise erfüllen sich die Utopien der Reinheit beispielsweise in Gebilden wie Österreich, Deutschland oder wie auch immer die nationalen „Paradiese“ auch heißen mögen.

Ästhetik des Vergänglichen
Am Ende des dokumentierten Sterbeprozesses der echten Orchidee bleibt von ihr ein leerer Blumentopf. Und trotz der Leere (oder gerade wegen ihr) strahlt diese „Fehlstelle“ mehr Würde aus, als es die lächerliche Starre der künstlichen Blume je vermöchte. Um sie zum Verschwinden zu bringen, bedarf es eines deutlich größeren, aggressiveren Aufwandes, als es die „nur“ natürlichen Zersetzungsprozesse je bieten könnten. Genauso artifiziell, wie die Polyethylenorchidee geschaffen wurde, muss man ihr zu Leibe rücken, will man sie wieder loswerden (in der Natur dauert dies eine kleine Ewigkeit). Noebauer wählt das Mittel der „thermoplastischen Verrottung“ bei 120, 500 und 1200 Grad. In beiden letzteren Fällen kommt es zwar zu teilweise heftigen, fast karikaturhaften Verformungen, die grundsätzliche Materialität bleibt jedoch – erkennbar – erhalten. Da hilft dann nur noch schreddern.

All diese Phänomene und Prozesse unterzieht Rainer Noebauer in seiner Ausstellung einer Ästhetisierung, die mit den fast klassischen Mitteln von Rahmung, Hängung und Präsentation im Raum der Maerz die Versuchsanordnung und das künstlerische Ergebnis auf nahezu ideale Weise erfahrbar macht. Ergänzt wird die fotografische Dokumentation des Orchideen-Verfalls durch aus der Wissenschaft bekannte Formen der Systematisierung und Katalogisierung. Wenn Noebauer aus den Resten der echten und der künstlichen Orchidee jeweils farblich sortierte Substrate gewinnt, diese in Reagenzgläser füllt und in der Ausstellung zeigt, wird der ironische Unterton des gesamten Unternehmens deutlich.

Bis zur Erfindung fotografischer, synthetischer oder digitaler Surrogate von Natur war es in vormodernen Zeiten der Kunst und dem Handwerk vorbehalten, „Momentaufnahmen“ des Natürlichen in Form von zwei- oder dreidimensionalen Abbildern zu konservieren und mit künstlerischer Bedeutung aufzuladen. Zwischen der Natur und ihrem Abbild bestand eine klar definierte Grenze, auch wenn das Ideal der perfekten, mimetischen Naturnachahmung bis zu den Frühphasen der Moderne zumindest als wirksamer Hintergrund künstlerischer Produktion eine bedeutende Rolle hatte. Auch mit diesem Aspekt spielt Rainer Noebauer in seiner Ausstellung, die aufgrund tiefgreifender natürlich-viraler Effekte das Schicksal anderer „Geisterausstellungen“ teilen muss. Aber vielleicht steckt ja sogar darin ein tieferer Sinn.

 

Darwins Polyethylen
Rainer Noebauer-Kammerer
Galerie MAERZ
Ausstellung noch bis 9. April 2021
Aktuelle Bestimmungen bez. Corona-Maßnahmen: Ein Besuch der Ausstellung ist mit FFP-2-Maske während der Öffnungszeiten möglich.

Weitere Infos: www.maerz.at/event/darwins-polyethylen-rainer-noebauer-kammerer

Ein Netzwerk von Bedeutungen

Mit „Transformation und Wiederkehr“ zeigt das Lentos Kunstmuseum ab März verschiedene künstlerische Positionen zur Kontinuität und Re­präsentation radikaler Nationalismen. Marina Wetzlmaier über Ausstellung und Hintergründe.

Franz Kapfer, Tanz den Wolf, 2019. Foto Bildrecht, Wien 2021

Schicht für Schicht legen die abgerissenen Papierfetzen neue Motive frei. Schicht für Schicht hat der Künstler Markus Proschek Verbindungen zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart hervorgeholt. Von einem Gemälde aus der Zeit des Nationalsozialismus zu den Symbolen der neuen Rechten. „Laminat“ lautet der Titel dieser Arbeit, eines der Kunstwerke der Ausstellung „Transformation und Wiederkehr – Radikale Nationalismen im Spiegel der zeitgenössischen Kunst“, die von 24. März bis 6. Juni 2021 im Kunstmuseum Lentos zu sehen ist. Gerade für Linz mit seiner Geschichte sei die Auseinandersetzung mit rechten Ideologien ein spannendes Thema, sagt die Lentos-Direktorin Hemma Schmutz. Gemeinsam mit Markus Proschek kuratiert sie die Ausstellung.

In einer Kombination aus Malerei und Installation beschäftigt sich Proschek in „Laminat“ mit der ideologischen Verwendung von Bildern und Kontexten. Zu sehen ist eine Plakatwand, die Wilhelm Dachauers Gemälde „Aus dem Opfer des Krieges entsteht das neue Europa“ reproduziert. Der oberösterreichische Künstler Dachauer machte zur Zeit des Nationalsozialismus Karriere – bis hin zur Professur an der heutigen Akademie der bildenden Künste in Wien. Auf Proscheks Plakatwand sind immer wieder Teile des Bildes abgerissen, und darunterliegende Motive kommen zum Vorschein, eine ständige Decollage und Decoupage. Schließlich tauchen auf einem Posterteil die Insignien der Identitären auf. „Die Identitären sind sehr bemüht sich von der Kontinuität eines Neonazitums abzugrenzen, aber wenn man genauer hinschaut und hinhört, ist die Camouflage sehr schlecht“, kommentiert Proschek. „Diese Arbeit ist ein Beispiel für die direkte Verklammerung von Vergangenheit und Gegenwart“, sagt Hemma Schmutz.

In der Psyche der Gesellschaft
Die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Stadt Linz und Oberösterreichs ist ein Jahresschwerpunkt, den das Lentos gemeinsam mit dem Stadtmuseum Nordico gesetzt hat. „Es war uns wichtig, dass wir direkt an die spezifische Region hier anschließen“, sagt Schmutz. Mit der Ausstellung „Der junge Hitler. Prägende Jahre eines Diktators 1889–1914“ fragt das Nordico nach den Anfängen von Militarismus, Rassenhass und Antisemitismus in der Gesellschaft und zeichnet die Biografie Adolf Hitlers nach. Währenddessen zeigt „Transformation und Wie­derkehr“ im Lentos, inwieweit rechtsextreme Ideen von zeitgenössischen Künstler*innen bearbeitet werden. In den vergangenen Jahren tat sich eine Reihe von österreichischen und internationalen Künst­ler*innen hervor, die in der Ausstellung vertreten sind: Monica Bonvicini, Keren Cytter, Martin Dammann, Ines Doujak, Riccardo Giacconi, Franz Kapfer, Erez Israeli, Laibach, Annika Larsson, Henrike Naumann, Markus Proschek, Roee Rosen, Dennis Rudolph und Christina Werner.

Aktuelle, gesellschaftliche Tendenzen zu verhandeln und zur Diskussion zu stellen gehöre laut Schmutz zu den Aufgaben öffentlicher Museen wie dem Lentos. Es ginge dabei nicht nur darum, diese Tendenzen bei anderen aufzudecken, sondern nachzudenken, inwieweit unsere Gesellschaft selbst darin verstrickt ist. Mit psychoanalytischen Methoden wird gefragt, welche Ansätze in uns selbst liegen. Wie treten rechte Positionen auf und erzeugen Faszination und Abstoßung zugleich?

Bedeutungen und Symbole im Wandel
Psychoanalytisch beginnt die Ausstellung gleich mit einer Vitrine, in der die Publikation „Massenpsychologie des Faschismus“ von Wilhelm Reich zu sehen ist. In einem Zitat daraus wurde die These herausgegriffen, dass die Attraktivität des Hakenkreuzes von einer verborgenen sexuellen Symbolik ausgehe. Reich interpretierte den Nationalsozialismus als Ersatzventil einer kollektiven, pathologisch unterdrückten Sexualität. Anhand dieser These ließe sich fragen, ob es sich um eine neutrale Beobachtung handle oder ob hier schon Fiktion über den Faschismus anfängt, erklärt Proschek. Das Verhältnis zwischen realen Phänomenen und der Fiktion darüber stellt einen Kernpunkt der Ausstellung dar. Die Aneignung traumatischer und bedrohlicher Sachverhalte in fiktiver Form schaffe Raum Themen neu zu verhandeln, heißt es im Konzept der Ausstellung. Auch kann sie ein Versuch sein, Kontrolle darüber zu erlangen und den Kontext selbst zu bestimmen. Geschichte wird damit zum formbaren Material.

So schreibt sich der israelische Künstler Erez Israeli selbst in Fotografien von Hans Surén ein. Nackt und eingeölt posierend ließ sich Surén, der „Fitnesspapst“ der NS-Zeit ablichten und verherrlichte den „arischen“, mittels Sport und Gymnastik fit gemachten Körper, u. a. in dem Buch „Mensch und Sonne“. Israeli ließ sich in denselben Posen fotografieren und gab seiner Arbeit den Titel „Showing my Jewish Body to the World“. Dieser Idealisierung gegenüber stehen Fotografien, die der Berliner Martin Dammann aus Archiven zusammengetragen hat. Es handelt sich um Privataufnahmen deutscher Wehr­machtsoldaten bei unterschiedlichen Anlässen, etwa beim Karneval, wo die Soldaten in Frauenkleidern zu sehen sind.

Zentrales Thema der Ausstellung ist auch das komplexe Verhältnis zwischen Symbolen und ihrer Verwendung. „Uns ist wichtig, dass man den Bedeutungswandel der Symbole zu begreifen versteht“, sagt Hemma Schmutz. Am deutlichsten wird dieser Wandel am Beispiel des Hakenkreuzes. So können wir ein Hakenkreuz nicht mehr betrachten und sagen, es sei eigentlich nur ein Sonnensymbol. Wie etwa jene Swastika, die auf einer Inkaschale dargestellt ist. Vor dem Hintergrund der europäischen Geschichte ist eine neutrale Betrachtung dieses Symbols unmöglich geworden. „Wir wollen damit auch eine Reflexion über dieses Zeichen anregen, über das Aufladen von Zeichen und den Wandel und Verlust von Bedeutung“, so Schmutz.

Bedrohliches Europa
Augenmerk liegt aber nicht nur auf historischen Materialien, sondern die Künstler*innen bearbeiten genauso aktuelle Symbole und Tendenzen. Ebenso bleibt der Blick nicht auf Linz oder Österreich beschränkt. Christina Werner geht in ihrer Arbeit auf das „Neue Europa“ ein und begann bereits im Jahr 2010 Material darüber zu sammeln. Das Ergebnis ist ein Heft, das Fotografien von Tatorten rechtsextremistisch motivierter Gewalt in Deutschland enthält. Die dazugehörigen Texte sind aufs Notwendigste reduziert: Datum, Ort, Name des Opfers und Todesursache. Die Fotos sind in nüchternem Schwarz-Weiß gehalten. Dazwischen die Bilder von Fernsehauftritten rechtspopulistischer Politiker*innen. Mimik und Gestik treten in den Vordergrund: der ehemalige Front National-Chef Jean-Marie Le Pen mit ausgebreiteten, nach oben gestreckten Armen, seine Tochter Marine Le Pen mit geballter Faust. H. C. Strache mit schwenkender Österreich-Flagge umgeben von seinen Anhänger*innen, Geert Wilders aus den Niederlanden im Konfetti-Regen. Ein bedrohliches „neues Europa“. Für „Transformation und Wiederkehr“ wurde Werners Heft neu aufgelegt und kann von den Besucher*innen mitgenommen werden.

Auch in anderen Arbeiten wie in der Videoinstallation „The Boys Are Back“ hat sich Werner mit der medialen Präsenz und Repräsentation rechtsextremer Netzwerke in Europa auseinandergesetzt. Eine mutige Arbeit, wie Schmutz sagt, denn es sei nicht selbstverständlich, sich mit diesem Thema so zu exponieren.

Als mutig kann auch die Arbeit von Franz Kapfer bezeichnet werden, der im Jahr 2018 mit viel Literatur im Gepäck nach Istanbul reiste. Zurück kam er mit einem Koffer voller Sturmhauben, Zierwaffen und Schmuckstücke, die alle die Symbole der „Grauen Wölfe“ tragen. Am Flughafen in Istanbul ließen ihn die Sicherheitsbeamten bei der Ausreisekontrolle mit einem Lachen durch, berichtet Kapfer. Selbst Macheten mit scharfen Klingen konnte er mühelos nach Österreich bringen.

Im Lentos lässt Kapfer diese Ausstellungsstücke an Fäden von der Decke hängen. Wie böse Geister schweben sie in einer eigens errichteten Holzhütte. Diese stellt ein sogenanntes „Idealistenheim“ dar, wie die Grauen Wölfe ihre Ausbildungsstätten nennen. Im türkischen Hinterland dienen sie als Rückzugsorte für ihr paramilitärisches Training, für den Drill an der Waffe. In Österreich findet in den „Idealistenheimen“ der Grauen Wölfe das Vereinsleben statt. In Linz ist „Avrasya“ einer von etwa zwanzig Vereinen in Österreich. Darüber hinaus gibt es einen weiteren Bezug zu Linz: Über eine hier ansässige Firma läuft der europaweite Vertrieb von Filmen, die in großen Kinos die Propaganda der türkischen Rechtsextremen verbreiten.

Teil der Alltagskultur
In der Türkei sind die Grauen Wölfe in der „Partei der Nationalistischen Bewegung“ (MHP) organisiert und derzeit in einem Regierungsbündnis mit dem Erdogan-Regime. Während seiner Istanbul-Reise war Kapfer die Präsenz der Grauen Wölfe allgegenwärtig: Er sah Polizisten, die auf dem einen Ärmel das Stadtwappen trugen und auf dem anderen das Symbol der Grauen Wölfe. Männer mit dem typischen Graue-Wölfe-Bart in der U-Bahn und deutschsprachige Türken, die auf dem Markt Uniformen in Kindergröße kauften. Auf demselben Markt, wo Kapfer seine Sturmhauben und Waffen erwarb. Von da an sei ihm das Logo der Grauen Wölfe überall begegnet: nicht nur in Istanbul, auch in Wien, Leipzig oder Berlin. „Wenn man die Symbole kennt, sind sie sehr präsent“, sagt Kapfer.

Nationalistische Symbole sind laut Hemma Schmutz Teil unserer Alltagskultur: „Wir sehen sie und können sie vielleicht nicht immer richtig deuten. Je mehr Informationen wir dazu haben, desto besser können wir damit umgehen.“ Die Ausstellung „Transformation und Wiederkehr“ soll dem Publikum auch eine Art Hilfestellung bieten, Symbole zu erkennen und zuzuordnen. In einem Ausstellungsführer wird jede Arbeit der Künstler*innen detailliert beschrieben. Für Begleittexte zog man auch externe Expert*innen hinzu, wie den Autor Thomas Rammerstorfer, der die Hintergrundinfos zu den Grauen Wölfe verfasste. Durch Hintergrund- und Kontextwissen werden schließlich neue Schichten sichtbar.

Transformation und Wiederkehr – Radikale Nationalismen im Spiegel der zeitgenössischen Kunst,
24. 03. – 06. 06. 2021,
Kunstmuseum Lentos
lentos.at

„Es wird keine Bilder mehr geben!“

Zwischen radikalem Statement und Vermittlungskonzept: Das KünstlerInnenmanifest steht im Frühjahr im Atelierhaus Salzamt im Mittelpunkt. Anna Maria Loffredo von der Kunstuni Linz im Gespräch mit Andreas Zeising, der demnächst als Art-Researcher-in-Residence im Salzamt zum Manifest arbeiten wird. Gemeinsam mit Studierenden wird dann Ende April die Ausstellung zu KünstlerInnenmanifesten der Avantgarde und Neoavantgarde eröffnet. Ein Preview im Vorfeld der Ausstellung.

Manifest der Künstlergemeinschaft Brücke (1905). Bild Ernst Ludwig Kirchner

Loffredo | Lass uns mal ein bisschen spekulieren, was wohl das Ergebnis deines Aufenthalts in Linz sein könnte. Deine Residency kreist ja um das Thema Künstler:innenmanifeste. Was wird am Ende unserer gemeinsamen Arbeit mit den Studierenden stehen?

Zeising | Also, wenn ich mich jetzt frage, was letztlich als Ausstellung herauskommen könnte, ohne das schon genau zu wissen, würde ich denken, dass das junge Menschen sind, die einerseits Interesse an eigener künstlerischer Arbeit und an Fragen haben, die unsere Gegenwart beschäftigen, und andererseits – da sie an die Fachdidaktik angebunden sind – auch an Fragen der Vermittlung von künstlerischer Arbeit. Vielleicht ist es vorstellbar, dass sie versuchen, sich selbst schreibend mit dieser speziellen Materie auseinanderzusetzen? Denn eine wichtige Feststellung für dieses ganze Projekt ist, dass unsere Ge­genwart die beste Zeit für Manifeste ist!

Loffredo | Ich sehe das zweischneidig von der Möglichkeit, dass Studierende ihr eigenes Manifest schreiben. Wir könnten sie zu sehr herausfordern, sich einer Textart mit ihrem Namen öffentlich zu widmen, was nicht immer unproblematisch ist. Ich muss meine Studierende ja ein Stück weit schützen.

Zeising | Mir kam das in den Sinn, weil ich das Thema schon einmal in Bremen an der Hochschule für Künste als Seminar verfolgt habe. Das war damals interessant, weil es eine doppelte Spiegelung gab. Auf der einen Seite war da eine Herangehensweise aus der Distanz der Lektüre her­aus. Andererseits aber auch der Versuch, sich den eigenwilligen Duktus dieser Tex­te anzueignen, um sich selbst in künstlerischer Weise zu aktuellen Zeitfragen zu äußern. Denn die wenigsten dieser Manifeste haben ja den Charakter von Sachtexten. Viele sind politisch und fokussieren auf gesellschaftliche Zeitfragen, andere sind völ­lig ichbezogen und absurd narzisstisch.

Loffredo | Tja, und Lehrer sind für andere da, anders als beim Künstler. Wenn ich mir das Manifest von Jonathan Meese anschaue, dann fällt auf, dass es zu einem Instrument wird zu dieser schwierigen Ant­wort auf die Frage: Was ist Kunst? Ein Manifest hat demnach die Funktion, dass man seine Gedanken wie in einem Tagebuch ordnet … muss ich es aber direkt Ma­nifest nennen und damit öffentlich gehen?

Zeising | Meese lebt ja in einer Zeit, also unserer Gegenwart, in der solche hochfliegenden künstlerischen Entwürfe eigentlich nicht mehr möglich sind. Auf den Bedeutungsverlust der Kunst reagiert er mit einer Art kindlichem Trotz, indem er nicht nur pausenlos immer neue Manifeste produziert, sondern sie auch mit Bedeutung geradezu überfrachtet, von der Kunst als „totalster Lebensbejahung“ bis hin zur „Diktatur der Kunst“. Aber das alles besitzt im Grunde keinerlei Referenz, ist lediglich narzisstische Selbstbespiegelung. Ähnlich übrigens bei Marina Abramovic, die in ihrem Manifest ein Künstlerinnenselbstbild formuliert – „An artist should suffer“ oder „An artist should not repeat himself“ –, das klingt, als hätte es die Post­moderne nie gegeben. Aber wenn man sieht, wie sie das live vor Publikum vorträgt, dann ist es genauso ironisch wie bei Meese. Da muss sie selber lachen, wenn sie so etwas sagt. – Aber um noch einmal darauf zurückzukommen, was man mit den Studierenden ausstellen kann: Ich wür­de erst einmal sagen, wir arbeiten nicht auf ein bestimmtes Ziel hin, sondern schau­en, was im Prozess entsteht. Das kann eine historische Auseinandersetzung mit den Gegenständen sein. Es kann aber auch der Versuch sein, sie zu befragen und auf ihren aktuellen Gehalt hin zu überprüfen.

Loffredo | Was sind eigentlich die Gemeinsamkeiten von Manifesten?

Zeising | Die Texte selbst können sehr unterschiedlich von ihrer Form her sein: superkurz oder ewig lang, sachlich oder konfus, aus der Ich-Perspektive verfasst oder in einem imaginären „Wir“ formuliert. Es können Thesen und Schlagworte sein oder seitenlange theoretische Erörterungen. Meistens gibt es eine Verbindung als eine Kritik an der Zeit, an den „Verhältnissen“ und an der Kunst – und eine Antwort darauf, die oftmals radikal ausfällt und einen revolutionären Wandel anzustoßen versucht. Zeitlich kann man die Texte in drei Blöcke einteilen. Zunächst die Klassische Avantgarde, also die Zeit bis 1933 bzw. bis zum Zweiten Weltkrieg, mit Bewegungen wie Expressionismus und Futurismus. Dann die Nachkriegsepoche und die Neoavantgarde, die vieles wieder aufgreift, aber vor der Folie der Erfahrungen des Faschismus, der drohenden atomaren Zerstörung und des politischen Aufruhrs der ’68er deutet. Schließlich das, was man im weitesten Sinne als Postmoderne bezeichnen könnte, also die Zeit von den 1980er Jahren bis heute.

Loffredo | Siehst du denn bei den älteren Texten Anknüpfungspunkte an unsere Zeit?

Zeising | Absolut, und gerade das finde ich interessant! Was Künstler:innenmanifeste immer wieder konstatieren, ist ja eine tiefgreifende Krisis des „Systems“ und ein Lähmungszustand der Politik, dem sich nur durch eigene Aktion und kreatives Handeln beikommen lässt. Wir selbst leben in einer Zeit, die einerseits geprägt ist durch das, was Colin Crouch mit der Vokabel der Postdemokratie bezeichnet hat, also einer Bedeutungslosigkeit der politischen Institutionen, da Entscheidungen faktisch durch die kapitalistischen Interessen der globalisierten Wirtschaft bestimmt werden. Auf der anderen Seite erleben wir allerorten Prozesse politischer Partizipation und Graswurzelbewegungen, von Greta Thunberg und linken Aktivisten bis hin zu Corona-Demos, auf denen Wutbürger, rechte Ideologen und alternative Spinner zueinander finden. Alle möglichen Leute, die aus einer Form der Skepsis gegenüber den Verhältnissen heraus wieder die Straße für ihre Manifestationen benutzen. Ich stelle mir vor, dass wir nicht nur ein Seminar machen, das einen rein historischen Fokus hat, sondern uns immer auch kritisch fragen, was machen die da eigentlich vor der Folie dessen, was wir gerade erleben.

Loffredo | Beispielsweise welche Anknüpfungspunkte gibt es aus der Alltags- und Populärkultur? Ich bin von deinem Themenvorschlag Manifeste begeistert gewesen, weil ich zu dem Zeitpunkt auf Netflix die Geschichte vom „Unabomber“ geguckt habe. Da gibt es eine Anknüpfung vom Jetzt zum Früher.

Zeising | Ich habe das Seminar schon ein paar Mal gemacht und deswegen beobachtet, wie die Teilnehmer:innen überrascht sind, weil man denkt, das seien so eine Art Begleittexte zu künstlerischer Produktion. Aber eine der Grundthesen fast aller dieser Manifeste, zumindest der Avantgarde und der Neo-Avantgarde, ist, dass beklagt wird, dass die Kunst zu unpolitisch ist, dass sie in lebensferne Nischen einer rein ästhetischen Betrachtung isoliert worden ist. Die Grundforderung lautet deshalb, diese künstliche Trennung von Kunst und Leben aufzuheben: „Es wird keine Bilder mehr geben!“ Kunst soll politisch werden! Allerdings sind es natürlich nur Worte. Die Texte sind oftmals utopisch oder visionär und greifen zu den Sternen, die Kunst hinkt dann manchmal doch ziemlich hinterher. Das werden wir uns näher anschauen.

Loffredo | An einer Kunstuniversität – Aufschrei! Ai Wei Wei wäre auch eine Person, die wiederholt Manifeste herausgebracht hat, dass ich denke: Ja, lieber Ai Wei Wei, reicht denn eigentlich nicht deine Kunst als Statement?

Zeising | Ganz offensichtlich reicht sie nicht mehr – oder vielleicht ist sie auch einfach nicht mehr verständlich und bedarf der Vermittlung. Künsterler:innenmanifeste sind ganz klar ein Phänomen des 20. Jahrhunderts. Denn im 19. Jahrhundert, am Beginn der Moderne, hat es so etwas noch nicht gegeben. Zu dieser Zeit schreiben Künstler:innen zwar schon viel, sie kommentieren ihre eigenen Werke, produzieren Kunsttheorie oder sind so etwas wie Kunstkritiker:innen …

Loffredo | Oder verfassen Briefwechsel!

Zeising | Zum Beispiel! Es gab damals auch Künstler:innen, die bemerkenswerte Theoretiker:innen sind. Ein großer Unterschied ist allerdings, dass das Manifest eine literarische Form ist, die völlig unabhängig von dem zu rezipieren ist, was künstlerisch gemacht wird. Zum Beispiel am Anfang der Avantgarde das „Brücke“-Manifest von 1905: Ein ganz kurzer Text, der in drei Sätzen alles Mögliche fordert: kreative Erneuerung, Aufbruch der Jugend, schöpferischer Umsturz! Das Wort Kunst kommt dabei gar nicht vor. Man könnte das Manifest verteilen, und die Leute würden nie im Leben darauf kommen, dass es ein Künstler:innenmanifest ist. Kunst im bürgerlichen Verständnis, also im hübschen Goldrahmen und als folgenloser ästhetischer Genuss einer gebildeten Elite, ist immer wieder das Feindbild, um das es geht. Auch die Futuristen schreiben: Brennt die Museen ab – denn da stirbt das Leben! Es wird eine Revitalisierung gefordert, die Kunst und Leben zu einer Lebenskunst macht. Besonders deutlich zeigen das die ersten Manifeste nach dem Zweiten Weltkrieg von 1948, die unter dem Eindruck von Millionen Toten und der ganzen Trümmerwüste verfasst sind. Natürlich kann es in dieser Situation nicht mehr darum gehen, irgendwelche abstrakten Bilder zu malen, wie in den 1920er Jahren, weil das Projekt der Moderne mit dem politischen Zusammenbruch gescheitert ist. Stattdessen interessiert man sich plötzlich – und das ist ein Aspekt, der pädagogisch interessant ist – für Kinderzeichnungen, also vitale Impulse eines vermeintlich unverfälschten Menschseins. Die Künstlergruppe CoBrA bezieht sich darauf oder auch Jean Dubuffet. Die Nähe zur Kunstpädagogik liegt für mich auf der Hand. Künstler:innenmanifeste haben sehr oft pädagogischen Charakter. Sie sind keine Didaktik, mit der die eigene Kunst vermittelt werden soll, sondern eine Pädagogik, die beim Leser ein anderes Bewusstsein bewirken will. Daher lassen sich die Texte auch lesen, wenn man wenig über die Künster:innen weiß. Man kann in einem zweiten Schritt erst fragen: Was haben die jetzt eigentlich für Bilder gemacht? Oft ist man überrascht, weil man sieht, dass all die hochfliegenden Ideen mit den Mitteln von Leinwand und Farbe gar nicht mehr einzuholen sind. Das Manifest ist selbst das Kunstwerk!

 

28. April, 18 Uhr –12. Mai 2021
Es wird keine Bilder mehr geben!
KünstlerInnenmanifeste der Avantgarde und Neoavantgarde
Atelierhaus Salzamt
Ein Ausstellungsprojekt von Prof. Anna Maria Loffredo (Kunstuniversität Linz) und Prof. Andreas Zeising (Kunsthistoriker aus Siegen, Gast im Salzamt) mit Studierenden. Auf der Basis eines Close Readings ausgewählter KünstlerInnenmanifeste sollen Argumentation, Rhetorik und Gestaltung dieser oft eigenwilligen, kuriosen oder poetischen Programme untersucht, ihr gesellschaftlich-künstlerischer Anspruch überprüft und der entscheidenden Frage nachgegangen werden: Was soll und was kann Kunst aus KünstlerInnensicht leisten?
blog.salzamt-linz.at

Eine Reflexion über das Ausstellungsprojekt „Es wird keine Bilder mehr geben! KünstlerInnenmanifeste der Avantgarde und Neo­avantgarde“ gibt es in der Referentin #24 zu lesen.

Nach den Lockdowns: Museumsbesuch per Klick?

Neue Studien ergeben, dass rund 20 Prozent der Menschen, die vor den Lockdowns Kulturveranstaltungen besucht haben, für zumindest einige Zeit auch für die Museen und Galerien verloren sein werden. Dieses Publikum hat offenbar die Angebote im Netz zu schätzen gelernt und will auch künftig Ausstellungen bequem von zu Hause besichtigen. Silvana Steinbacher hat bei den Verantwortlichen der Linzer Museen und Kunst­häuser allerdings zupackenden Optimismus bemerkt.

Situation im Winter 2021, z. B.: Memphis Light Box Extra, Barbara Juch & Lara Konrad. Foto Memphis

„Ich denke das Live-Erlebnis wird wieder an Bedeutung gewinnen.“ „Es funktioniert nicht, wenn Formate lediglich ins Internet verschoben werden.“ „Die Menschen warten bereits sehnsüchtig darauf endlich wieder ins Museum gehen zu können.“

Zukunftsängste sehen anders aus. Von einigen Linzer Museums- und Kunsthausleiterinnen und -leitern, (Lentos Kunstmuseum, Kunst- und Projektraum Memphis, Nordico Stadtmuseum und Atelierhaus Salzamt) mit denen ich zu diesem Thema Kontakt aufgenommen habe, ist jedenfalls niemand besorgt, dass das Publikum nur noch das Online-Angebot besucht. Die verordneten Schließungen strapazierten auch das Leben der Kunstanbieterinnen und Kunstanbieter und es ist noch kein Ende absehbar. Von Lockdown zu Lockdown mussten die Verantwortlichen mit geplanten Ausstellungskonzepten jonglieren und ihre Galerien oder großen Häuser in Geister-Stätten verwandeln, während zuletzt Schifahrende dicht an dicht auf ihre Gondeln warteten.

Als es noch möglich war, habe ich mir ganz und gar unbesorgt an einem Dienstagnachmittag eine Ausstellung in einem Linzer Museum angesehen. Ich begegnete zwei Besuchern in mehr als ausreichender Entfernung und konnte die Schau rundum entspannt auf mich wirken lassen.

Österreichs Bundesmuseen verzeichneten im vergangenen Jahr einen Publikumsrückgang von 71 Prozent. Einen Kollateralschaden für die Kulturanbieterinnen und Kulturanbieter erwartet Klaus Albrecht Schröder und sieht dunkle Wolken am Kunsthimmel aufziehen. Der Vorsitzende der Bundesmuseen-Konferenz und Direktor der Albertina in Wien befürchtet, dass die besagten Kollateralschäden in ihrem Ausmaß derzeit in keiner Weise absehbar seien und sich die Menschen den Besuch von Kultureinrichtungen ganz einfach abgewöhnen würden (Ö1-Mittagsjournal am 11. 1. 2021). Schröder erwähnt in diesem Zusammenhang die Online-Angebote, um die es uns hier geht, allerdings nicht.

Doch es gibt auch eindeutige Gewinnerinnen und Gewinner des Lockdowns auf diesem Gebiet. Die Geschäfte im Netz florieren, Kunstverkäufe haben sich bisher im Gegensatz zu „Normalzeiten“ verdreifacht.

Während der Lockdowns dürften die Besucherinnen und Besucher von Museen die intensivierten Präsentationen im Netz entdeckt, einzelne Werke von zu Hause aus und ohne Eintrittsticket genossen haben. Die Vermutung liegt also nahe, dass ein Gewöhnungseffekt eingetreten sein könnte und das betrifft nicht nur Museen, sondern den Kunst- und Kulturbereich insgesamt. So ist diese Perspektive seit den Lockdowns auch für die rund 15 Museen der Stadt Linz sowie die Galerien noch realistischer geworden als davor. Clemens Mairhofer, Mitarbeiter im Atelierhaus Salzamt, bringt es auf den Punkt:
„Ich denke, dass der Lockdown für sehr viele Menschen und auch Institutionen so etwas wie ein Online-Crashkurs war. Das Online-Angebot von Museen und Ausstellungsräumen hat sich erweitert und verbessert, netzbasierte Formate wurden entwickelt und das Streamen von Veranstaltungen wurde zum Standard. Die allgemeinen Computerkenntnisse haben sich verbessert.“

Dass die Vermittlung vor Ort durch diese Entwicklung möglicherweise obsolet sein könnte und somit auch ein Publikumsschwund einsetzen könnte, glaubt die Leiterin des Nordico Stadtmuseums Andrea Bina allerdings nicht.
„Die Vermittlung wird auf keinen Fall obsolet sein, aber das Angebot wird sich verändern, da die Anzahl der teilnehmenden Personen geringer sein wird. Wir haben bereits auch andere Angebote entwickelt wie etwa das Take-away Atelier.“ (Ein Take-away Atelier ist eine Box zum Mitnehmen, die Bezug auf die Ausstellung des jeweiligen Hauses nimmt, auch bietet sie die Möglichkeit selbst kreativ zu sein.)

Um ihr Stammpublikum fürchtet die künstlerische Direktorin des Linzer Kunstmuseums Lentos Hemma Schmutz auch nach den Schließungen nicht. Sie glaubt vielmehr, dass sich physisches Erleben von Kunst und Museen und digitale Vermittlung eher gegenseitig verstärken, wie sie konstatiert, doch gibt sie zu bedenken:
„Nicht zu vergessen ist natürlich auch der ökonomische Aspekt dieses Themas. Bis dato sind ja die meisten digitalen Angebote kostenfrei und die Museen finanzieren sich natürlich auch über Eintritte.“

Der Linzer Kunst- und Projektraum Memphis als Ort der offenen Kommunikation und Diskussion will als Kunstverein eine Schnittstelle zwischen Kunst- und Filmschaffenden, Theoretikerinnen und Theoretikern und Publikum sein und einen Raum zur kritischen Betrachtung bieten. Jakob Dietrich rechnet nach wie vor mit seinem Publikum. Das Memphis-Team an der Unteren Donaulände nutzte die Zeit ohne Publikum und Ausstellungen, um Konzepte zu überdenken, den Kontakt zu jungen Künstlerinnen und Künstlern aufrechtzuerhalten und im Rahmen des Möglichen nach Ausdrucksformen zu suchen, unter anderem durch einen Leuchtkasten an der Außenfassade des Kunstraums, der sich auf der stark befahrenen Straße mit einer künstlerischen Wortmeldung zur Pandemie äußert.

Bereits vor mehr als 20 Jahren prophezeite der Kunstkritiker und Philosoph Boris Groys, ein relevanter Theoretiker der Geistes- und Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts, dass die Kunst innerlich bereit sei, den Verlockungen des Medienzeitalters zu folgen, aus dem Museum auszuziehen und sich durch die neuen medialen Kanäle verbreiten zu lassen. (Boris Groys, Logik der Sammlung. Am Ende des musealen Zeitalters, 1997)
Diese Prophezeiung hat sich im Laufe der vergangenen Jahre zwar angebahnt, ist aber noch nicht ausschließlich realisiert worden. Es existieren unterschiedliche Thesen zu der Frage, ob das herkömmliche Museum jemals obsolet und zur Gänze durch „mediale Kanäle“ oder virtuelle Präsentationen ersetzt würde. Vor allem in den Vereinigten Staaten spricht einiges dafür, dass das Netz zumindest den ersten Kontakt zum Museum darstellt: Erst dem „virtuellen“ Besuch durch die Userinnen und User folgt der lokale durch die Besucherinnen und Besucher. Als Befund lässt sich feststellen, dass virtuelle Präsentationen vor allem die jüngere Generation anziehen.

Kehren wir nach Linz zurück: Das Atelierhaus Salzamt an der Oberen Donaulände zielt auch auf Begegnung und Vermittlung. Es bietet fünf Ateliers für internationale Kunstschaffende und vier für regionale, setzt auf Kunstvermittlung durch Gespräche und Atelierbesuche. Dieses Konzept ist durch Auftritte im Netz nur unzureichend zu ersetzen und somit wurde das Salzamt durch die Lockdowns besonders beschnitten, sagt Clemens Mairhofer.
„Einige internationale Künstlerinnen und Künstler konnten ihre Residencies auf Grund von Reisewarnungen nicht antreten. Grundsätzlich muss man aber festhalten, dass eine Residency zur Ausübung des Kunstberufs gehört, das heißt auch momentan ist eine Einreise aus beruflichen Zwecken möglich. Voraussetzung ist natürlich ein negativer PCR-Test und 10-tägige Quarantäne.“

Die künstlerische Direktorin des Lentos Hemma Schmutz stellt fest, dass digitale Angebote heute oft klassischere Vermittlungsstrategien ersetzen würden, so wie es früher Kataloge oder Texte in Ausstellungen geboten hätten. Perfekt, so Schmutz, seien sie für die Vor- bzw. die Nachbereitung eines realen Besuchs in einem Museum. Die Leiterin des Nordico Andrea Bina stimmt diesem Mix zu.
„Die Kombination von Ausstellungsbesuch und ‚Nacharbeiten‘ daheim zum Thema finde ich ideal. Gerade bei unseren kulturgeschichtlichen Präsentationen im Nordico Stadtmuseum Linz ist das relevant, da wir komplexe Stadterzählungen anbieten. Alle unsere Filmbeiträge und Interviews, die wir zu unseren Ausstellungen produzieren, sind auf unserer Homepage abzurufen. Gerade diese Form der Auseinandersetzung schätze ich sehr. (Man sollte grundsätzlich neugierig bleiben, das Museum ist nach wie vor die ideale Plattform für „lebenslanges Lernen“ und mehr.) Ich hatte gerade in den letzten Wochen sehr schöne Rückmeldungen von ‚Stamm‘-BesucherInnen, die schon gespannt auf unsere kommenden Ausstellungen, auf weitere vertiefende Auseinandersetzung mit unserer Stadt warten.“

Lassen wir hier beiseite, wie stiefmütterlich die Regierung die Kunst an sich behandelt hat, so als sei sie ihr herzlich egal. Versuchen wir vielmehr uns auch erfreuliche Perspektiven aus der Situation heraus vorzustellen, was zugegebenermaßen vermessen klingt. Könnte das Engagement, die Kompetenz und die Originalität, mit denen einige Verantwortliche der Museen und Galerien ihr Angebot vermehrt online präsentiert haben, möglicherweise dazu beitragen, dass das Publikum sich im Netz anregen lässt, um dann die Ausstellungen in den Hallen oder auch kleinen Galerien real zu erleben, die Hängung der Werke, die Architektur der Häuser auf sich wirken und dann im Café, sofern es eines gibt, den Nachmittag ausklingen zu lassen?

Wie geht es weiter? Die Vermutungen sind natürlich unterschiedlich. Ob für manche Häuser tatsächlich der besagte Kollateralschaden eintritt oder das Publikum seine Häuser vermisst hat, werden erst die nächsten Monate zeigen, und dies ist ebenso wenig abzuschätzen wie dieses Virus, das so gänzlich unvorhersehbar ist und hoffentlich bald gewesen sein wird.

www.memphismemph.is
lentos.at
blog.salzamt-linz.at
nordico.at

Aka Eric big Clit, aka Mushido

Bereits im vergangenen Herbst ritt Eric big Clit für die Ausstellung „Sattelt die Pferde, ihr HERRscher!“ in den Kunstraum Goethestraße ein. Anlass für ein Porträt der gendergefluiden Künst­ler*in dahinter: Theresa Gindlstrasser hat mit Alice Möschl gespro­chen.

Eric big Clit ist ehemaliger General. Früher toxisch maskulin, heute „Sohnin des Matriarchats“ inklusive all der zähen Widersprüche einer brüchigen Biografie. Im September 2020 reitet Eric für die Ausstellung „Sattelt die Pferde, ihr HERRscher!“ in den Kunst­raum Goethestraße ein. Trägt blaue Uniform mit glänzenden Knöpfen, einen opulenten Bart und deklamiert: „Du musst ein Mann sein, du musst stark sein“. Einen nackten Oberkörper, viel glänzendes Olivenöl und noch viel mehr bunte Federn später, heißt’s dann aber: „Wir müssen die Pferde absatteln“.

Alice Möschl, genderfluide Künstler*in hinter der Kunstfigur, beschäftigt sich mit und performt Eric (2020 in Graz übrigens als erster Mister Tuntenball geehrt) seit mittlerweile zwei Jahren. Keine Liebe auf den ersten, aber eine auf den soundsovielten, sei es für ihn*sie gewesen. „Mit Eric bringe ich Veränderung, die ich mir für die Gesellschaft wünsche, als Work in progress auf die Bühne“. Der kontroverse Charakter habe in der Drag-Community zu Diskussionen geführt: Trägt so jemand wie Eric zu viel Patriarchat in den Safe Space hinein? Aber Möschl sieht seine*ihre Aufgabe als Künstler*in genau darin – im Aufzeigen von Widersprüchen und Aushalten von Unangenehmen. Sich selbst als „Medium zur Verbreitung von Messages“ verstehend, erteilt Möschl schnellen Lösungen und glatten Biografien eine Absage, formuliert hemdsärmelig-zukunftsfroh: „Es wird immer Baustellen geben“.

Geboren 1989 in Salzburg Land, studierte Möschl zunächst Soziale Arbeit, dann Experimentelle Gestaltung an der Kunstuniversität Linz. Umtriebig im Spannungsfeld feministischer/queerer Kunst und Politik zeichnet er*sie verantwortlich für Performances am Donaufestival in Krems, im Posthof und Landesmuseum Linz genauso wie für die Mit-Organisation der ersten queeren Donnerstagsdemo in Wien oder eines Drag-King-Workshops mit dem Linzer Kunst- und Kulturraum Pangea. Ob als Vorstandsmitglied bei der KUPF Oberösterreich oder bei der HOSI Linz, als Community Managerin oder als Post-Pornografie Darsteller*in – Möschl nimmt Rollen, Klischees und soziale Normen auseinander und propagiert Selbstreflexion, Neugierde und Selfcare.

„Ich wünsche allen Cis-Männern Zärtlichkeit! Aber wir haben noch viel Detox vor uns bis vielleicht irgendwann sexuelle Orientierungen und Identitäten wurscht geworden sein werden. Bis vielleicht irgendwann Menschen, Tiere und Pflanzen zur Community werden. Community! Ein wichtiger, wenn nicht der wichtigste, Begriff in meiner Arbeit. Es gilt, nicht nach unten oder zu Seite zu treten, sondern die herrschende Klasse nachhaltig zu verunsichern. Meine Auftritte in Mainstream-Medien wie der Barbara-Karlich-Show versuchen eine Aufmerksamkeit zu schaffen für nicht-binäre Personen. Es geht um Repräsentation. Damit wir irgendwann endlich vorkommen in der Welt“.

Ein anderer von Möschl entworfener und gelebter Charakter heißt Mush Room. Ist ein Zwischenwesen aus Mensch, Alien und Pilz, kommt jedenfalls aus der Zukunft und hat mit restriktiven Konstruktionen nichts mehr zu tun. Deutlich utopischer als Eric big Clit, feiert Möschl anhand von Mush Room das Ende heteropatriarchaler Phantasien, die den Menschen als Zentrum des Universums ansehen. Und dann wäre da noch Mushido, klar adressiert gegen den Rapper Bushido, ein Charakter, der per Drag Rap sexistische Songtexte über-appropriiert.

Auf seine*ihre Situation als Künstler*in in Corona-Zeiten hin befragt, antwortet Möschl mit Mushido-Schnauze: „Nehmt ihnen die Sudoku-Hefte weg, dreht ihnen das Radio ab – Kunstproduktion ist kein Hobby. Kunst ist lebensnotwendig. Und immer schon politisch“.

Eric big Clit alias Alice Moe im KunstRaum Goethestrasse xtd. www.kunstraum.at/index.php/sattelt-die-pferde-ihr-herrscher-alice-moe