Das ‚DIY Fernsehformat‘

Selbstgebaute Guckkastenbühnen und die Sache mit der Rätebewegung: Das Papiertheater Zunder spielte im Mai im Leondinger Dreierhof das Stück „Pannekoeks Katze“, eine Erzählung über die Idee einer radikalen Erneuerung der Gesellschaft nach sozialistischen und rätedemokratischen Vorstellungen. Die Zunder-Macherinnen Anna Leder, Andreas Pavlic und Eva Schörkhuber geben einen Innenblick über die Bretter des Papiertheaters, die vielleicht die Welt, auf jeden Fall aber die Sehgewohnheiten verändern.

Im September 2018 hat das Papiertheaterkollektiv Zunder im Rahmen des Stadt- und Kunstfestivals WienWoche sein Stück Pannekoeks Katze – Die Sache mit den Räten uraufgeführt. Mittlerweile tourt es durch die Bundesländer und wird an politisch-aktivistischen Orten ebenso gezeigt wie in Klassenzimmern, in Kunsträumen und bei Festivals. Der Titel des Stücks bezieht sich auf Anton Pannekoek (1873 – 1960), den bedeutenden niederländischen Astronomen, Astrophysiker und einen der wichtigsten Theoretiker des Rätekommunismus. Er arbeitete über die Sternverteilung in der Milchstraße und deren Struktur. Politisch war er ursprünglich in der SPD beheimatet, ab 1917 bekannte er sich zum Rätekommunismus und lehnte damit Parlamentarismus, Mitarbeit in den Ge­werk­schaften sowie jegliche Parteiherrschaft ab. Pannekoek hatte mit seinen Veröffentlichungen erheblichen Einfluss auf die rätekommunistische Bewegung in den Niederlanden und in Deutschland. Zu sei­nen wichtigsten Schriften gehört „Lenin als Philosoph“ und „Arbeiterräte“.
Im Stück kommt er u. a. mit folgenden Ge­danken zu Wort:
„Die Räte, schreibt er, sind keine Re­gie­rung; nicht einmal die zentralen Räte ha­ben regierungsartigen Charakter, denn sie verfügen über kein Organ, den Massen ihren Willen aufzuerlegen; sie besitzen kei­ne Gewaltmittel. So webt die Räteorganisation ein buntes Netz zusammenarbeitender Körperschaften in die Gesell­schaft hinein, die Leben und Fortschritt im Einklang mit ihrer eigenen freien Tatkraft regeln. Und alles, was in den Räten beraten und beschlossen wird, erhält seine wirksame Macht aus dem Wissen, dem Wollen und dem Handeln der arbeitenden Menschheit selbst …“

Der Konzeption und Umsetzung des Stückes, das sich mit der kaum bekannten Rätebewegung in Österreich beschäftigt, liegen Überlegungen zu Geschichtsschreibung im historisch-politischen wie im künstlerisch-emanzipatorischen Sinn zugrunde, die wir an dieser Stelle dokumentieren und reflektieren möchten: Wie sind wir zu diesem Thema gekommen? Was hat es mit der Form des Papiertheaters auf sich? Und wie können sich kollektive Schreib- und Inszenierungsprozesse ge­stalten, die darauf fokussieren, historische mit zeitgenössischen Gegen­geschichten zu verknüpfen?

Die Geschichte in der Geschichte
Nachdem die ersten Ankündigungen für das 100jährige Republiksjubiläum auftauchten, begannen wir im Sommer 2017 mit unseren Überlegungen, dieses Thema aufzugreifen. Unser Interesse galt jener breiten Bewegung, die 1918/1919 für eine radikale Erneuerung der Gesellschaft nach sozialistischen und rätedemokratischen Vorstellungen eintrat. Uns war klar, dass die hiesige Erinnerungs- und Gedenkkultur für diese Geschichte wenig übrighaben würde. So zeigte es sich dann auch: Prä­sentiert wurde eine rot-weiß-rote Erfolgsgeschichte. Ihre Kurzformel lautet: Ein gemäßigter Pragmatismus hat sich zu­nächst gegen jeglichen Extremismus durch­gesetzt. Dann kamen Faschismus und Nationalsozialismus als kurze katastrophale Abweichungen. Nachdem diese besiegt worden waren, ging der Erfolgs­lauf weiter – so als wären den bürgerlich-kapitalistischen Republiken nicht genau jene destruktiven und autoritären Kräfte inhärent, sondern als wären sie von außen gekommen. Wenn über die anfänglichen revolutionären Bewegungen gesprochen wurde, dann als Phantasiegespinst überdrehter Dichter*innen oder sonstiger Hitzköpfe.

Diese Art von Geschichtslosigkeit – nämlich der Darstellung der Repräsentativen Demokratie als dem Ende der Geschichte – versuchten wir aus zwei Richtungen zu begegnen. Einmal in Form einer Erzählung, die sich als Gegengeschichte oder Geschichte von unten versteht. Wir wollten, indem wir einzelne Protagonist*innen dieser Rätebewegung zu Figuren unseres Stückes machten, die ausgeblendeten Ereignisse in Erinnerung rufen und die damaligen Kämpfe sichtbar machen – unter anderem auch, um ein gebrochenes und weites „Wir“ zu bauen, das über die vergangenen 100 Jahre hinweg Ver­bin­dungen ziehen und knüpfen lässt.
Dementsprechend galt die zweite Richtung der Überlegung, welche Elemente einer Rätedemokratie heute noch von Bedeutung sein könnten. Neben dem Primat der Selbstverwaltung und Selbstbestimmung ist es die Aufhebung der Trennung von Politik und Ökonomie. Die Idee der Räte bedeutet, dass sowohl das alltägliche politische Leben als auch der Bereich der Ökonomie von den Menschen selbst und nicht über ihre Köpfe hinweg bestimmt wird.
Diese Aspekte der Rätebewegung gilt es in Erinnerung zu rufen und im Hinblick auf gegenwärtige Probleme zu aktualisieren, denn wie damals gilt es auch heute, Ant­worten auf drängende soziale, öko­no­mi­sche und ökologische Probleme zu finden.

Das Papiertheater, vom Kopf auf die Füße gestellt
Es war eine aus England stammende Mode, die seit dem Biedermeier „die Bretter, die die Welt bedeuten“ in die bürgerlichen Wohnzimmer Österreichs brachte. Vor allem im theaterbegeisterten Wien bastelten bürgerliche Familien aus Ausschneidebögen Kulissen und Figuren nach. Sogar ein eigener Verlag hatte sich auf die Produktion solcher Bögen spezialisiert. In selbstgebauten Guckkastenbühnen, die mit Schlitzen versehen waren, wurden die ausgeschnittenen Figuren hin- und herbewegt, Kulissen an der Rückwand und den Seiten angebracht. Sie gaben die Illusion von Tiefe und Raum der großen Bühnen wieder und ermöglichten einer faszi­nier­ten Anhänger*innenschaft, das zeitgenössische Repertoire der großen Theater und Opernhäuser nachzuspielen.
Das Papiertheaterkollektiv Zunder knüpft an dieser Tradition an, stellt es aber im emanzipatorischen Sinn ‚vom Kopf auf die Füße‘. Nicht mehr das bürgerliche Wohnzimmer, sondern eine an widerstän­digen Inhalten interessierte Öffentlichkeit ist nun die Adressatin dieses Formats. Das Stück kommt zu den Leuten: Jeder Wirts­haussaal, jedes Klassenzimmer, jede Betriebskantine eignet sich als Aufführungs­ort. Mit der geringen Größe der Bühne – sie ist nicht größer als ein Fernseher – ist die Zahl der Zuschauenden auf 20 bis 30 Menschen begrenzt. Auf solch engem Raum ist es möglich, miteinander in Kontakt zu kommen, miteinander zu spre­chen. Das ‚DIY Fernsehformat‘ Papiertheater verlangt von seinem Publikum, seine Sehgewohnheiten zu verändern, sich in theatraler Entschleunigung zu üben, auf der Basis des gelesenen Texts und der reduzierten Darstellung Bilder im eigenen Kopf zu entwickeln und sich so das Stück auf ganz persönliche Art anzueignen.
Die Leser*innen, aber auch sämtliche Handgriffe der Puppenspieler*innen, das Einsetzen und Bewegen der Figuren, das Wechseln der Kulissen, das Ein- und Ausschalten der Bühnenbeleuchtung sind für die Zuschauer*innen sichtbar. Dies kann durchaus als Aufforderung verstanden werden auch selbst zur Theaterproduzent*in zu werden. Eine Schuhschachtel und ein paar ausgeschnittene Figuren reichen für den Anfang. Zu erzählen gäbe es jedenfalls genug …

Kollektive Theaterpraxis
Was es wie für uns zu erzählen gab, hat sich im Laufe vieler Treffen entlang der Überlegungen zur Rätedemokratie und zum Format Papiertheater entwickelt. Die konkrete Arbeit am Stück begann mit einer mehrdimensionalen Zeitleiste, auf der historische Fakten ebenso verzeichnet wur­den wie Figurenporträts, die es erlaubten, die löchrigen Biografien der Protagonist*innen der Rätebewegung zu ergänzen, und mögliche Handlungs­strän­ge, die auch auf die Gegenwart verwiesen. Anhand dieser Zeitleiste ver­dichteten wir die historischen Ereignisse zu einzelnen Szenen und legten jene Orte und Zeit­räume fest, die wir auf die Bühne bringen wollten. Nachdem wir eine gemeinsame Grundlage für das Stück erarbeitet hatten, bildeten wir Arbeitsgruppen mit je eigenen Aufgaben- und Verantwortungsbereichen: Einige bauten an der Bühne, entwarfen die Kulissen und die Figuren, andere schrieben gemeinsam den Text. Bei den regelmäßigen Treffen wurden die Zwischenergebnisse diskutiert, erweitert und verändert.
Abgestimmt wurde dabei nicht, Fragen und Einwände wurden solange verhandelt, bis es zu einem Ergebnis kam, mit dem alle, zumindest halbwegs, einverstan­den waren. Diese Art der Zusammenarbeit wurde auch bei den Proben fortgeführt: Wie die einzelnen Figuren gelesen und bewegt, wie die Kulissen gewechselt werden und das Licht zum Einsatz kommt, wurde an langen Abenden ent­wi­ckelt, wobei es wiederum eine Person gab, an der es lag, den Überblick über die Inszenierung zu behalten. Einfälle und Einwände wurden von allen eingebracht und erwiesen sich, selbst wenn sie wieder verworfen wurden, stets als produktiv, da in jedem einzelnen Fall der Möglichkeitssinn geschärft und die Entscheidung für eine Variante nachvollziehbarer, ja, demokra­tischer wurde.

Die Arbeit an dem Papiertheaterstück hat Geschichte und Gegenwart, Inhalt, Form und Theaterpraxis derart miteinander verknüpft, dass die Frage, ob Theater po­litisch sein kann, darf oder soll, obsolet er­scheint. Es sind nicht die Bretter selbst, die die Welt verändern, sondern die Arten und Weisen, wie die Bretter bespielt werden und, vielleicht, über sich selbst hinaus verweisen auf etwas, das es zu tun gibt im Hinblick auf die drängenden sozialen, öko­nomischen und ökologischen Proble­me unserer Gegenwart.

 

Das Theaterstück ist im folgenden Buch abgedruckt:
Anna Leder, Mario Memoli und Andreas Pavlic (Hg.):
Die Rätebewegung in Österreich. Von sozialer Notwehr zur konkreten Utopie, Mandelbaum Verlag, 2019

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