Das gepanzerte „Wir“
Stephan Roiss steht auf der Longlist des diesjährigen Deutschen Buchpreises und hat für seinen damals noch unveröffentlichten Debütroman auch schon zwei Förderpreise bekommen. Kürzlich ist das Buch mit dem markanten Titel Triceratops erschienen. Es erzählt von einer Kindheit und Jugend, die durch familiäre Verstrickungen und Hypotheken belastet ist. Silvana Steinbacher mit einer Annäherung an das Buch und den Autor in sechs Fragestellungen.
WORUM geht’s in Triceratops?
Eine Familie im Ausnahmezustand: Die Mutter wechselt zwischen Aufenthalten in der geschlossenen Anstalt und dem Bemühen, zu ihren Kindern ein liebevolles Verhältnis aufzubauen. Der Vater ist tief gläubig und versucht in einem geregelten Alltag zu leben. Und die Tochter, von ihr wird nur am Rande berichtet, ist, vorsichtig ausgedrückt, verhaltensauffällig. Mitten in diesem Wahnsinn muss sich der Sohn, ein namenloser Protagonist, der von sich selbst in der ersten Person Plural spricht, irgendwie zurechtfinden.
Stephan Roiss erzählt in raschen – manchmal vielleicht auch zu raschen – Szenenwechseln von der Welt dieser als „Wir“ apostrophierten Person und deren Flucht in eine Phantasiewelt, ihrer Einsamkeit und dem familiären „Erbe“, dem sie kaum entkommen kann. Einziger Lichtpunkt ist die Aschbach-Großmutter, bei der der Protagonist Geborgenheit findet. Doch auch bei seinen Großeltern beiderseits wuchern die Katastrophen, von nationalsozialistischer Vergangenheit bis hin zum Selbstmord des Großvaters, den die Mutter von „Wir“ tot auf der Toilette entdeckt. Stephan Roiss entwickelt also eine vertrackte Familienaufstellung, in der der planlose und irritierte Jugendliche seinen Platz zu finden hofft.
WER ist der Autor Stephan Roiss?
Stephan Roiss ist ein vielseitiger, umtriebiger und origineller Künstler. Und das, obwohl erst 37 Jahre alt, schon sehr lange. Der gebürtige Linzer lebt als freier Autor und Musiker in Ottensheim und Graz. Sein literarisches Debüt legte er mit der Erzählung Gramding, erschienen in der Edition Linz vor, in der er in einer unprätentiösen Sprache den Alltag in einem Pflegeheim schildert. Er schreibt Prosa, Lyrik, Texte für Graphic Novels sowie szenisch-performative Texte. Sehr bald schon streckte er seine Fühler auch nach Deutschland aus, unter anderem durch eine Ausstellung in Hamburg, ein Studium am Literaturinstitut Leipzig oder den Förderpreis der Wuppertaler Literaturbiennale, mit dem er vor zwei Jahren ausgezeichnet worden ist. Auch Hörspiele wurden im SWR und Deutschlandradio Kultur gesendet. Stephan Roiss ist aber auch noch Vokalist, Performer und Texter und ganz offensichtlich findet er auch noch Zeit, um für die Referentin zu schreiben.
WIE nähert sich Roiss seinem Sujet?
Der Autor baut die Geschichte seines Protagonisten mit schnellen Orts- und Zeitwechseln und scharfen Schnitten, was durchaus reizvoll sein kann. In Triceratops geht das allerdings, so habe zumindest ich es empfunden, gelegentlich auf Kosten einer Atmosphäre oder Figur. Kaum tauche ich das eine oder andere Mal in eine Szene ein und lerne eine Figur kennen, wechselt der Autor schon wieder zu einem nächsten Schauplatz. So verkümmert so manche seiner literarischen Gestalten zur Statistin, wie beispielsweise die Schwester, von der ich gerne mehr erfahren hätte und über die es doch Wesentliches zu berichten gäbe …
An vielen Stellen gelingen ihm auch sprachlich starke, dichte Szenen, etwa jene in der Nervenklinik oder seine Ausflüge in die Fantasie.
Zitat: „Wir hätten uns nicht gewundert, wäre eines Abends ein Engel durchs Fenster in unser Zimmer geschwebt, um uns zu eröffnen, dass wir Gottes Sohn sind. Wir hätten ihn bloß gefragt, was genau unsere Aufgabe ist.“
Die Begegnungen des Protagonisten mit der blauhaarigen, schrillen Helix sind zum überwiegenden Teil von Leichtigkeit bestimmt, sie flitzt mit ihrem Skateboard nicht nur in diese Geschichte hinein, sondern bleibt auch ungreifbar für „Wir“, so wie überhaupt in Triceratops eine ständige Bewegung vorherrscht, und dem gleicht Roiss auch seinen Stil geschickt an. Ich vermute, es war seine Absicht, ein ständiges Fließen durch seinen Text zu erzeugen, der auch die Unruhe dieses „Wir“ unterstreichen sollte.
WAS steckt hinter dem Faszinosum der Familiengeschichte in der Literatur?
Die Familie, vor allem jene der Schriftstellerinnen und Schriftsteller als real präsentierte Familie entwickelte sich in den vergangenen Jahren mehr und mehr zum literarischen Genre. Oft resultiert daraus sogar eine Ahnenforschung mit oft jahrelangen Recherchen. Monika Helfer landete mit Die Bagage, ihrer Geschichte über ihre vorarlbergischen Großeltern einen Bestseller, die deutsche Schriftstellerin Helga Schubert erzielte mit ihrem Text Vom Aufstehen, der vom Leben und Sterben ihrer Mutter berichtet, den diesjährigen Bachmann-Preis. Was steckt hinter dem Phänomen, dass Autorinnen und Autoren ihre persönliche, ja oft intime Herkunftsgeschichte einem oft breiten Publikum anbieten? Ist der Trend gar ein Indiz dafür, dass wir uns mehr und mehr in einer restaurativen Zeit befinden? Und interessiert es die Leserinnen und Leser überhaupt? Offensichtlich sehr. Bei Roiss verhält es sich aber in einigen Facetten anders. Nicht seine Verwandten sind die Helden oder Antihelden seines Textes, und es ist auch nicht die eigene Familie, die hier im Mittelpunkt steht (was ihm im Falle seiner Roman-Familie auch zu wünschen ist), sondern ein Repräsentant der jungen Generation. Dennoch ist es die Familie, die auch für sein „Wir“ stets präsent ist, vor allem durch die Zumutungen, die der Protagonist innerfamiliär ertragen muss und die sich in seinen Handlungen widerspiegeln.
WAS könnte der Titel bedeuten?
Ich muss gestehen, die Bezeichnung Triceratops habe ich, bevor ich den Roman in Händen hielt, noch nie gehört. Der Triceratops war einer der letzten Dinosaurier, der am Ende der Kreidezeit ausstarb, klärt mich meine Recherche auf. Er wurde bis zu neun Meter lang und wog bis zu zwölf Tonnen. Als besondere Merkmale sind sein massiver Schädel und seine gewaltigen Zahnbatterien zu nennen. Für diesen Roman wird das riesige Tier als Metapher gewählt. „Wir“ imaginiert einen Panzer, um in seiner Welt bestehen zu können. Und bereits in seiner Kindheit üben die Urzeittiere eine Faszination auf ihn aus, die ihn über die oft tragischen Ereignisse und das Chaos in seiner Familie trösten.
Zitat: „Wir spielten am liebsten mit dem Dinosaurier mit dem Nackenschild und den Hörnern. Er aß nur Pflanzen, aber war unbesiegbar. Er war kompakt, schwer gepanzert, ein guter Krieger. Niemand konnte ihn in den Hals beißen, nichts konnte ihn umwerfen. Er stand fest auf der Erde.“
Und schließlich: WAS sagt der Autor zu seinem Buch?
Oder ein Schusswort des Autors zu seinem ersten Roman
„In meinem Roman taucht mehrmals ein Mosaik als Symbol auf. Die raschen Szenenwechsel waren mir auch deshalb wichtig, weil ich auch auf diese Weise seine spezifische, zersplitterte Art die Welt wahrzunehmen darstellen wollte.
Mein Protagonist ist durch seine Familie sehr belastet. Allgemein glaube ich wird die Familie immer ein Thema in der Literatur sein, einmal mehr, einmal weniger. Unserer Familie entkommen wir nicht, sie ist ein sozialer Mikrokosmos, der uns prägt.
So wie in meiner Erzählung Gramding habe ich mich auch in Triceratops auf Elemente, die ich aus meinem Leben kenne, gestützt und diese dann fiktionalisiert. Ich denke, das liegt mir am meisten. Mit einer klassischen Recherche um ein Thema aus dem 18. Jahrhundert beispielsweise würde ich mir, glaub ich, schwertun. Für mich ist die Realität als Basis wichtig, das Sprungbrett der Kunst führt mich dann in die Fiktion.“
Stephan Roiss
Triceratops
Krenmayr & Scheriau
208 Seiten
KomA Ottensheim
10. Oktober
Echoraum, Wien
10. November, 20.00 h
3sat-Lounge, Buch Wien
13. November, 15.00 h
Stifterhaus, Linz
17. November, 19.30 h
Mehr: stephanroiss.at
Hinterlasse einen Kommentar
An der Diskussion beteiligen?Hinterlasse uns deinen Kommentar!