Das Nadelöhr der Anarchie
Letztes Jahr ist Wilfried Steiners Essay Gustav Landauer oder Die gestohlene Zeit erschienen. Andreas Pavlic hat die Geschichte über den Anarchisten Landauer gelesen.
Wilfried Steiner beginnt seinen Essay über Gustav Landauer mit einer biblischen Assoziation. „Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt. Doch eher gelangt ein Reicher in das Reich Gottes als drei Anarchisten ins Wittelsbacher Palais.“
Allen Unwahrscheinlichkeiten zum Trotz fand in der ersten Phase der Münchner Räterepublik, in der Woche vom 7. bis zum 13. April 1919, dieses außergewöhnliche Ereignis statt. Gustav Landauer, Erich Mühsam und Ret Marut schlüpften durch dieses Zeitfenster, walteten in eben diesem Palais ihres Amtes und ließen einen Hauch von Anarchie durch das Land wehen. Der Preis dafür war hoch. Landauer wurde von den konterrevolutionären Schergen ermordet, Mühsam kam in Festungshaft und Marut tauchte unter und floh aus dem Land. Der Zusammenbruch des vom Krieg brüchig gewordenen politischen Systems wurde zunächst von jenen Menschen beschleunigt, die über Jahre zuvor alternative Gesellschaftskonzepte propagiert hatten und sich in anderen Lebensweisen versuchten, bis sich eine neue Ordnung ihrer entledigte.
Steiner versucht diese Menschen zu zeigen. Sein Zugang ist, wie im Nachwort von Gunna Wendt ausgeführt, „einem persönlichen Magnetismus gehorchend“ Gustav Landauer von mehreren Richtungen aus nachzuspüren. Dabei geht es ihm weniger um seine anarchistische Theorie oder sein philosophisches Denken, sondern um den Kreis seiner Gefährtinnen und Freunde. So zieht es Steiner zu Landauers verschollenem Freund Ret Marut, der sich als anarchistischer Zeitungsmacher der Rätebewegung anschloss, sich der Verhaftung entzog und auf der anderen Seite des Atlantiks als B. Traven seinen literarischen Ruhm begründete. Oder zu Erich Mühsam, Schriftsteller, Bohemien und Anarchist, Freund und Kampfgefährte, der sich in den 1910er Jahren Landauers Sozialistischem Bund anschloss. Vor allem zieht es ihn zu Hedwig Lachmann, einer Schriftstellerin und Übersetzerin, die 1903 Landauer heiratete. Gemeinsam übersetzten sie Oskar Wildes Roman „Das Bildnis des Dorian Gray“ und führten ein prekäres Leben als Künstlerinnen und Intellektuelle in London, Berlin und schließlich in Krumbach in Bayern. Dort verstarb Lachmann an einer Lungenentzündung. Landauer saß an ihrem Sterbebett und verfasste darüber eine kleine Schrift. Nicht Landauers »Aufruf zum Sozialismus« oder sein philosophisches Werk „Skepsis und Mystik“ nimmt Steiner in seinem Essay in den Fokus, sondern dieser kleine Text ist es, der ihn zutiefst berührt. „Er heißt Wie Hedwig Lachmann starb und schildert auf ebenso beklemmende wie hingebungsvolle Weise die letzten sechsmal vierundzwanzig Stunden eines Mannes am Sterbebett seiner Frau. Ein derart konziser Text, auf jedes Wort bedacht und gleichzeitig ungestüm nach nicht verbrauchten Bildern für die Zumutung des Todes suchend, war mir noch nicht untergekommen.“
Die subjektive Hinwendung und vielschichtige Auseinandersetzung mit Landauer und seinem Umfeld ist die Stärke dieses sprachlich gekonnt umgesetzten Essays von Wilfried Steiner. Offen bleibt jedoch die Frage, welche Antworten Gustav Landauer uns heute geben kann, falls sich ein Zeitfenster für eine herrschaftsfreie Gesellschaftsordnung wieder einmal öffnen sollte.
Wilfried Steiner: Gustav Landauer oder Die gestohlene Zeit. Essay, Limbus Verlag, 2021
Wilfried Steiner liest außerdem aus seinem neuen Roman, der ein Wissenschaftskrimi zu sein scheint.
Wilfried Steiner „Schöne Ungeheuer. Roman“ Di 22. März, 19:30 h im Stifterhaus
Diese Rezension wurde ursprünglich für das Tagebuch verfasst: tagebuch.at
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