Der Abwärts­spi­rale entkommen

Im vergangenen Jahr erhielt Birgit Birnbacher den Bachmannpreis. Vor kurzem ist ihr erster Roman Ich an meiner Seite erschienen. Mit großem Respekt vor ihren Figuren stellt die Autorin auch in diesem Buch jene ins Rampenlicht, die sonst in unserer Gesellschaft ein Schattendasein fristen.

Silvana Steinbacher richtet ihren Fokus auf einige Aspekte, die sie an diesem Roman besonders überzeugt haben. Diesmal in alphabetischer Reihenfolge: von A wie Arthur bis Z wie Zufall.

Arthur: Er ist der Protagonist des Romans Ich an meiner Seite. Arthur ist ein intelligenter 22-jähriger Mann. Birnbacher steigt in sein Leben ein, als er im Jahr 2010 nach 26 Monaten im Gefängnis aus der Haft entlassen wird. Als Leserin erahne ich schnell: Zu einem „normalen“ glücklichen Leben wäre bei ihm nicht viel notwendig gewesen, etwas Zuwendung von zu Hause, ein Ort, an dem er sich aufgenommen fühlt, Geborgenheit. Innerhalb der über 270 Seiten umfassenden Geschichte wird Arthur plastischer, gewinnt an Konturen.

Börd: Ist es für einen Haftentlassenen erstrebenswert, bei einem Therapeuten wie Börd zu landen? Auch Arthur schwankt immer wieder bei der Beantwortung dieser Frage. Börd wirkt wie aus der Zeit gefallen. Alles an ihm scheint dubios, sein Lebenslauf, sein Therapieansatz, sein Aussehen, seine Wohnverhältnisse (Autowerkstatt), seine Funktion. Arthur ist eine der Testpersonen in einem Resozialisierungsprojekt. Von Börd erhält er den Auftrag, alles, was ihm zu seiner Kindheit und Jugend einfällt, aufzunehmen und an Börd weiterzuleiten. (siehe Punkt: Schwarzsprechen.)

Handlung: Das Buch bewegt sich zwischen Arthurs Geburt 1988 und 2010, dem Zeitpunkt seiner Freilassung aus der Strafjustizanstalt. Innerhalb dieses Zeitrasters jongliert Birgit Birnbacher zwischen Zeit und Ort, ohne die Handlungsfäden zu verlieren. Eine Erzählmethode, die der Autorin auch in Bezug auf das Tempo des Erzählten wichtig ist, wie sie mir in einem Interview, das wir nur per Mail führen konnten, mitteilt.

B. B.: „Ja schon. Ich persönlich mag es gerne, wenn es eher rasant dahingeht, aber auch auf Wechsel im Tempo oder Rhythmus achte ich. Wenn ein Text einen guten Sound hat, das ist schon etwas, was mir persönlich beim Lesen gut gefällt und ich freue mich, wenn jemand das auch in meinem Schreiben heraushört, weil es mir etwas wert ist.“

Arthur wächst ohne leiblichen Vater in Bischofshofen auf. Als er neun Jahre alt ist, wandert er mit seiner Mutter, seinem Stiefvater und seinem Bruder Klaus nach Andalusien aus. Mutter und Stiefvater gründen dort ein Hospiz auf Luxusniveau. Klaus verschwindet bald, der orientierungslose Teenager Arthur zermürbt sich in einer Dreiecksgeschichte, der ein tödlicher Badeunfall einer Freundin ein abruptes Ende setzt und Arthur ins emotionale Chaos stürzt. Das familiäre Auffangnetz fehlt Arthur, und so flieht er ohne jeden Plan nach Wien. Von existentiellen Nöten getrieben, lässt er sich auf eine kriminelle Handlung ein. Über zwei Jahre verbringt Arthur daraufhin im Gefängnis, dann folgen die Mühen der Resozialisierung: Therapie, Haftentlassenen-WG und vor allem Arbeitssuche. Und dabei muss Arthur wiederholt erkennen, dass er ohne lückenlose Biografie mit nachweisbaren Ausbildungs- und Berufsjahren kein effizientes Mitglied im neoliberalen Wirtschaftskreislauf sein kann.

Humor: Romane, die von Gefängnis und Resozialisierung erzählen, gibt es einige, und meistens handelt es sich um Anklagen des herrschenden Systems. Im vergangenen Jahr ist, um nur ein Buch der jüngsten Zeit zu nennen, der Roman Ich bin ein Schicksal von Rachel Kushner erschienen. Dieses Buch, das vom beinharten Gefängnisalltag in Amerika berichtet, entwickelte sich, mir nicht wirklich nachvollziehbar, zum internationalen Bestseller. Birgit Birnbacher lässt in ihrem Roman auch humoristische, skurrile Szenen zu, ohne der Geschichte ihre Ernsthaftigkeit zu nehmen. Eine gelungene Gratwanderung, die in anderen literarischen Texten nicht immer aufgeht.

B. B.: „Ich glaube, das liegt daran, dass ich immer großen Respekt vor meinen Figuren habe. Wenn Figuren einer Pointe zuliebe ausgeliefert oder in ihren Lastern und Schattenseiten vorgeführt werden, ist das nicht Meines. Wenngleich es natürlich dazugehört, auch diese Seiten zu zeigen. Aber auf das wie kommt es an, und lesbar muss es bleiben.“

Ich an meiner Seite: ist einfach ein toller Titel (siehe auch Punkt: Schwarzsprechen)

Lebenslauf von Birgit Birnbacher: Es war keineswegs abzusehen, dass Birgit Birnbacher literarisch schreiben würde. Geboren wurde sie 1985 in Schwarzach im Pongau. Nach einer Lehre arbeitete sie im Rahmen einer Entwicklungshilfe in Äthiopien und Indien. Nach Absolvierung eines Soziologiestudiums wechselte sie in die Praxis der Sozialarbeit, und diese Erfahrungen prägen auch ihre Literatur. Heute lebt sie in der Stadt Salzburg.

Lichtgestalt: Die glamouröse Lichtgestalt dieses Romans heißt Grazetta. Sie wandelt fast wie eine Märchenfigur durch dieses Buch der ansonsten harten Realitäten. Die ehemalige Schauspielerin wartet als schwerkranker Gast im andalusischen Luxushospiz auf ihren Tod und lernt dort Arthur kennen. Dann beschließt sie doch ihre letzten Tage in Wien zu verbringen und wird Arthur zur emotionalen Stütze. Es ist eine gelungene Ebene, die Birgit Birnbacher in ihre Geschichte einzieht und dieser so einen für die Leserin und den Leser unerwarteten „Fremdkörper“ hinzufügt.

Schwarzsprechen: Der Ansatz, den Arthurs unkonventioneller Therapeut entwickelt hat, lautet „Schwarzsprechen“ und so schickt Arthur regelmäßig Tonaufnahmen an Börd mit Berichten aus seinem Leben. Anhand dieser Aufnahmen entwickelt Börd eine optimale Version seines Klienten, stellt ihm ein ideales Ich zur Seite, das ihm in Konflikten helfen soll.
Dadurch baut Birgit Birnbacher zugleich geschickt eine weitere Erzählmethode ein, denn so erfährt die Leserin und der Leser auch gleich mehr über Arthurs Leben.

Sprache und Stil: Birnbachers Sprache in diesem Roman ist präzise und pointiert, in manchen Szenen gelingt es ihr, einen Drive, der an einen Stakkato-Rhythmus erinnert, zu erzeugen.
Hervorheben möchte ich vor allem auch ihre gewitzten Komposita – „Allgemeingartenmöbel“, Einfamilienhausthujenheckenidylle – und ihre Ausschmückung durch Adjektiva: „neongelber Schweißausbruch“

Strafanstalt: Erst relativ spät berichtet Birnbacher, welche Straftat Arthur überhaupt begangen hat, was zumindest ich keineswegs vermisst habe. Eher im Gegenteil. Dem brutalen Gefängnisalltag, in dem der neu Hinzugekommene nicht die besten Karten hat, streift Birnbacher nur und erhöht so die Eindringlichkeit der geschilderten Szenen. Von seinen drei Mitgefangenen in der Zelle wird Arthur gequält und verprügelt und muss die Regeln und Hierarchien unter den Häftlingen schnell kennenlernen. Den Gefängnisalltag kann er in Freiheit nicht abstreifen. Immer wieder überwältigen ihn die Flashbacks aus diesen 26 Monaten.

Zufall: Birgit Birnbacher führt in diesem Buch einen Aspekt vor Augen, der uns ohnehin allen bewusst ist, aber hier tritt er besonders markant und schmerzlich hervor. Nämlich die Frage: Wie würde unser Leben verlaufen, wenn wir schon früher abgebogen wären, uns anders entschieden hätten? Die Tatsache also, dass ein Leben unendlich viele Facetten in sich birgt und nur ein kleiner Schritt fatale Folgen nach sich ziehen kann. „Das kommt halt darauf an, wie sich der Mensch sein Schicksal erklärt. Ich persönlich bin nicht gläubig und gehöre keiner Religion an. Streng gesagt, glaube ich an das Faktische und an die Wissenschaft, was nicht heißen soll, dass ich Wunder grundsätzlich ausschließe, im Gegenteil! Das zeigt sich auch im Roman: Arthur hat Pech, aber er baut auch komplett selbstverschuldet Mist und er trifft ein paar falsche Entscheidungen. Doch Arthur verfügt über unglaubliche Kräfte, die er lernt, zu seinen Gunsten zu mobilisieren. Er enthebt sich aus der Abwärtsspirale, die sein Lebenslauf vorgibt. So wird er bereit für Wunder, auch wenn er nicht an sie glaubt. Letztlich passiert ihm dann ja auch ein kleines: Er knüpft dort an, wo er eigentlich alles hinter sich lassen wollte. Aber das steht alles im Buch.“

P. S.: Nur fünf Tage nachdem Birgit Birnbachers Roman im Handel war, mussten die Buchhandlungen aufgrund der Corona-Krise schließen und viele ihrer Lesungen wurden storniert. „Durch den Bachmannpreis habe ich eine Reserve und nichts zu jammern. Meine Verdienstausfälle durch Corona sind erst einmal enorm gewesen, aber viele der Lesungen werden wohl verschoben und ich habe großes Glück, weil mein Buch, wahrscheinlich vor allem durch den Bachmannpreis, wahrgenommen wird. Ich mache das Beste daraus. Abgesehen davon komme ich gut zurecht, ich meine: Während der letzten Jahre habe ich ein Buch geschrieben, Sommer wie Winter, bei jedem Wetter und in jedem Zustand. Dass ich jetzt noch ein halbes Jahr dranhänge und wieder nur zuhause bin, nutze ich dazu, gleich weiter zu schreiben. Das wäre während einer Lesereise nicht möglich gewesen.“

 

Birgit Birnbacher
Ich an meiner Seite
Zsolnay Verlag, Wien
272 Seiten

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