Der Schrecken einer Stadt
Praktisch über Nacht nahmen die Dinge ihren Lauf: Eine fröhliche Stadt, bekannt für ihre automobilfreundliche Politik, versank im Chaos umweltschonender und menschenfreundlicher Mobilität. Johannes Staudinger visioniert das Szenario einer schrecklichen Hoffnung.
Der wachsende Druck seitens einer bisher verborgen gebliebenen Intelligenz zwang die Stadtregierung zum geschlossenen Rücktritt. Eine offenherzig, weltgewandte, hemdsärmelig agierende Politikerin wurde bestellt, übernahm ab nun an die Agenden der Stadt und läutete damit eine Ära unvorstellbaren Ausmaßes ein. Auslöser waren, aus bisher unverständlichen Gründen, der zu einem Politikum verkommene, längst überfällige Abriss einer historischen Brücke und die daraus entstandenen Unbequemlichkeiten für den motorisierten Individualverkehr. Die ansonsten so heiteren, der hiesigen Wirtschaft zuträglichen Autofahrer aus nah und fern mussten ein tägliches, von morgens bis abends stattfindendes Langsamfahren in Kauf nehmen. Die Regierung der Stadt kam damit aber ausgezeichnet zurecht und schritt aufrechten Hauptes in die Zukunft.Trotz alledem bündelten sich undurchsichtige Kräfte aus alternativen Kanälen, welchen bis dahin kaum Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Unterschätzte Kräfte, denen es gelang, eine Bewegung zu mobilisieren, die eine unvorstellbare politische Wucht erlangte, und das gesamte Regierungsteam zurücktreten ließ.
Somit war der Weg für eine rücksichtslose Umstrukturierung geebnet. Mit einer Frau an der Spitze und einem multikulturellen Team wurden neue Wege beschritten, deren Auswirkungen lange das Bild der Stadt prägen sollten. An erster Stelle wurden Baustopps für eine neue Brücke und die großen Autostraßenprojekte verordnet. Die dafür vorgesehenen Investitionen wurden einem neuen großen, allumfassenden Programm zugewiesen. Alle waren davon betroffen, die 200.000 Bewohnerinnen, die 100.000 Pendler, Kinder, Alte, Frauen, Geschäfte, Fabriken, Schulen, Universitäten und auch die Asylanten. Und alle machten sie mit!
Schritt für Schritt nahm die Stadt neue Gestalt an. Dort, wo vorher dem Auto größte Aufmerksamkeit geschenkt wurde, wurde auf sogenannten shared paths der Verkehr ausschließlich für Radfahrerinnen, öffentliche Verkehrsmittel und Zuliefer- und Einsatzvehikel freigegeben. Die maximal zulässige Höchstgeschwindigkeit wurde auf 20 km/h reduziert und Besitzer kraftstoffverbrennender Fahrzeuge wurde eine Citymaut in der Höhe von 250 Euro im Monat vorgeschrieben.
Wer sich trotzdem entschied, mit dem Auto durch das Zentrum zu fahren, musste durch die massiven Einschnitte mit einer Nettofahrzeit von einer Stunde rechnen. Als Alternative wurde ein Förderprogramm für den Ausbau des Fußgänger- und Fahrradverkehrs und des öffentlichen Verkehrs gestartet. In den öffentlichen Verkehrmitteln war es von Beginn an erlaubt, Fahrräder mitzunehmen, was unvorstellbar klingt, aber das war bei weitem noch nicht alles. Der gesamte öffentliche Verkehr wurde zur Freifahrt freigegeben. Für jede und jeden war das Mitfahren in Bus und Straßenbahn ab diesem Zeitpunkt gratis. Über die ganze Stadt wurde zusätzlich ein gratis Elektro-Minibus-System gespannt, wie man es aus Damaskus oder Helsinki kannte. Mittels smarter Technologie konnte man den Minibussen seine Position übermitteln, wodurch man von einem sich in nächster Nähe bewegenden Bus abgeholt und auf schnellstem Weg zu seiner Wunschdestination chauffiert wurde. Parallel zu all diesen Maßnahmen, überwucherten zwei kostenfrei zu nutzende Fahrradverleihsysteme die Stadt, welche aufgrund ihres kostenneutralen Betriebes als Vorzeigeprojekte international hofiert wurden.
Die Wirtschaft sprang ebenfalls auf den Zug auf und führte diese Programme auch in ihren Arealen ein. Die Pendler lud man ein, die mobilen Dienste der Stadt zu nutzen, an den modern eingerichteten Transferzonen, an den Schnittstellen Stadt-Land. Die Pendlerpauschale wurde abgeschafft und die dadurch frei gewordenen Mittel dem Ausbau der sanften Mobilität zugeführt. Der Handel gab für jede umweltfreundlich zurückgelegte Shopping-Fahrt einen Rabatt von 30 Prozent auf die gekaufte Ware. Die Logistik bediente sich ebenfalls der neu geschaffenen Konzepte, wobei massenhaft Lastenräder Waren und Menschen transportierten.
Die Stadtbewohnerinnen verbrachten ihre Lebens- und Freizeit in den neu geschaffenen, verkehrsberuhigten Superblock-Systemen, welche auf Kenntnissen aus Marokko und Italien beruhten. Kleine Stadt-in-Stadt-Systeme, in welchen sich spezialisierte Handels- und Handwerksbetriebe ansiedelten und sich alle Generationen im öffentlichen Raum zum Feiern trafen. Herkömmlicher Verkehrslärm gehörte der Vergangenheit an, nur das auf- und abschwellende Getratsche der Alten und das Kichern der Kinder ergaben die akustische Kulisse.
Am Ende kam es dann auch noch zum Bau einer neuen Brücke. Diese stand aber dem motorisierten Individualverkehr nicht mehr zur Verfügung, denn das alte Konzept entsprach der neuen Regierungstruppe in keiner Weise.
Als neues Wahrzeichen der Stadt diente das von Athen hergebrachte, abgewrackt alte, aber neu restaurierte Olympische Velodrom, welches nach neumodernen Aspekten nachhaltiger Architektur der breiten Öffentlichkeit für Freizeit- und Sportaktivitäten zur Verfügung gestellt wurde. Bei der feierlichen Eröffnung, an welcher über die Hälfte der Einwohnerinnen teilnahmen, gab der britische Sänger Richard Hawley ein Konzert, wobei sein Lied „Tonight the streets are ours“ zur Schreckens-hymne erhoben wurde.
Wie konnte eine Gesellschaft solch Einschränkungen, solch Horror ertragen?
PS: Keine Angst, wenn sich die Kinder nach dem nächsten Fahrradausflug erkundigen.
2. Bicycle Happening Linz, Fest der Fahrradkultur, Fr. 1. und Sa. 2. Juli 2016 beim Kunstmuseum Lentos/Linz
Talks, Aktivitäten, Filme, Ausstellungen, Kunst
www.bicyclehappening.at
Neue Zeit Fest – M8, Sa. 25. Juni 2016 in der Melicharstraße 8, 4020 Linz
Lastenfahrrad-Testride, Fahrradständertaufe, gratis Fahrradcheck mit Lastenfahrradwerkstatt von Rostiger Esel, Kinderprogramm, uvm.
www.facebook.com/NeueZeitFest
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