Die Rädchen im Kulturbetrieb

Residenz – Frühe Jahre eines Literaturverlags im Stifterhaus und Die gezeichnete Welt der Emmy Haesele im Lentos: Florian Huber schreibt über zwei Ausstellungen und darüber, dass deren Protagonist*innen in symptomatischer Weise für die mangelnde Aufarbeitung der NS-Gewaltverbrechen im Österreich der Nachkriegszeit stehen. Oder: Manches kleine Rädchen im Kulturbetrieb hat zur NS-Zeit auch schon mal freiwillig an der Flag gestanden.

„Die Geschichte eines Verlags kann nichts anderes sein als die Geschichte seiner Bücher.“ Mit diesem Satz wirbt die Fassade des StifterHauses für seine derzeitige, von Bernhard Judex, Martin Huber und Manfred Mittermayer kuratierte Ausstellung „Residenz – Frühe Jahre eines Literaturverlags.“
Der Ausspruch stammt vom Verlagsgründer Wolfgang Schaffler (1919–1989), unter dessen Führung sich Residenz zu einem der wichtigsten österreichischen Literaturverlage entwickeln sollte, in dem etwa Autor*innen wie H. C. Artmann, Thomas Bernhard, Barbara Frischmuth, Peter Handke, Franz Innerhofer, Andreas Okopenko, Peter Rosei oder Julian Schutting publizierten. Für den jetzigen Anlass wurde die ursprünglich für das Literaturarchiv Salzburg konzipierte und dort bereits 2019 gezeigte Ausstellung um Materialien aus dem Vorlass Alois Brandstetter ergänzt, der dem Verlag als Herausgeber sowie Verfasser von Romanen und Kurzprosa seit Jahrzehnten eng verbunden ist. Die Geschichte eines Verlags als Geschich­te seiner Bücher präsentiert sich dementsprechend als Sammlung von Korrespondenzen und Manuskriptseiten, ergänzt um Fotografien und Erstausgaben aus dem Verlagsarchiv, deren Entstehungsprozess durch an Schreibtische erinnernde, von Gerold Tagwerker gestaltete Ausstellungsmöbel evoziert wird.
Wer sich allerdings Einblicke in die Gesprächszusammenhänge und vor allem die handwerklichen Seiten des Büchermachens verspricht, wird enttäuscht. Immerhin zeugen zahlreiche Buchcover von der Ästhetik der Buchgestaltung und ihrem zeit­lichen Wandel, der in der empfehlenswerten Begleitbroschüre zur Ausstellung allerdings eher registriert als diskutiert wird.
Stattdessen begnügt sich die prinzipiell sehenswerte Ausstellung mit einer anhand von Erscheinungsdaten und Spitzentiteln inszenierten Leistungsschau der österreichischen Nachkriegsliteratur, die mit der 1975 erfolgten Publikation von Die Ursache als erstem Band von Thomas Bernhards literarischer Autobiographie ihren Abschluss findet. In diesem Jahr trat auch Jochen Jung in den Verlag ein, der diesen später leiten und sein Programm bereits in den Jahren zuvor als Lektor prägen wird. Sein Wirken und die aktuelle Situation des einst in Salzburg und heute in St. Pölten beheimateten Verlags bleiben in der aktuellen Ausstellung weitgehend ausgespart. Dabei hätte gerade der Blick auf die jüngere Verlagsgeschichte und bedeutende Gegenwartsautor*innen wie Milena Michiko Flašar, Clemens Setz oder Michael Stavaric, die allesamt bei Residenz debütierten, eine Reflexion des in den letzten Jahrzehnten stattgefundenen Wandels der Produktions- und Rezeptionsbedingungen von Literatur und ihrer Auswirkungen auf den Kulturbetrieb ermöglicht.
Die Entscheidung, die Schau stattdessen mit „einem besonderen Höhepunkt“ im Verlagsprogramm abzuschließen, mag vielleicht auch dem Umstand geschuldet sein, dass für die Konzeption drei ausgewiesene Bernhard-Experten verantwortlich zeichnen. Sie verweist allerdings auch auf einen blinden Fleck der Schau, wie etwa ein Blick auf die Videoplattform YouTube offenlegt. Dort findet sich ein Gespräch mit Thomas Bernhard aus dem Jahr 1975 zur Ursache, in dem dieser feststellt, dass es den Salzburgern nach Ende des Zweiten Weltkriegs „sehr schnell“ gelungen sei, „Hitler in Christus umzuwandeln“.
Bernhards Behauptung von der Anpassungsfähigkeit der ehemaligen Nationalsozialist*innen an die neuen politischen Umstände provoziert nicht nur Fragen nach dem Vor- und Nachleben autoritärer Regime und ihrer menschenverachtenden Ideologien, die im konkreten Fall von den letzten Jahren der Donaumonarchie über den Austrofaschismus bis in unsere Ge­genwart reichen mögen. Es lässt sich vermutlich auch direkt auf seinen Gesprächspartner beziehen, den 1919 in Linz geborenen und 1990 in Salzburg verstorbenen Schriftsteller und Journalisten Rudolf Bayr, der ab 1961 als Berater, Lektor und Gutachter des Residenz Verlags fungierte und in der aktuellen Ausstellung dementsprechend prominent vertreten ist. Zur Sprache bringen die Ausstellungsmacher dabei nicht nur seine Rolle als Autor, der sich in den 1950er-Jahren einen Namen mit der Übertragung antiker Tragödien ins Deutsche machte, sondern auch die Anfänge seines beruflichen Wirkens als so genannter Schriftleiter für Kultur des Völkischen Beobachters in den Jahren 1940 bis 1944 in Wien. Dessen ungeachtet, konnte Bayr nach Kriegsende rasch zu einem der maßgeblichen Proponenten des Salzburger Kulturlebens aufsteigen, und schließlich von 1975 bis 1984 als Intendant des ORF-Landesstudios Salzburg firmieren. Seine Karriere war damit vielleicht weniger außergewöhnlich als symptomatisch für die mangelnde Aufarbeitung der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen im Österreich der Nachkriegszeit, die auch im Programm des Residenz Verlags ihre Spuren hinterließ. So würdigt die Ausstellung neben Thomas Bernhard mit Hans Lebert einen weiteren Residenz-Autor, der in seinem Werk bereits früh die Mitverantwortung an NS-Verbrechen thematisierte und damit im deutlichen Wi­derspruch zum gesellschaftlichen Mainstream der 1960er- und 1970er-Jahre stand. Im Gegensatz dazu enthielt sich Bayr „[n]ach der Katastrophe des Hitlerregimes und des Krieges […] jeglichem neuem Engagement“, wie Brita Steinwendtner in einer bereits 1999 entstandenen und in der Begleitbroschüre wiederabgedruckten Würdigung auf den verkannte[n]“ Schriftsteller und „große[n] Dichter“ festhält. Sein Lebensweg wird darin folgendermaßen resümiert:

„Geboren im Zusammenbruch aller Werte und politischen Strukturen, aufgewachsen in der Katastrophe des Nationalsozialismus, dessen Rädchen im Kulturbetrieb er wurde, Zeuge eines hemmungslosen Wiederaufbaus und schließlich kompromissloser Kämpfer gegen die Zerstörung der Umwelt, schrieb Rudolf Bayr Variationen der Verführbarkeit, des Verlustes und des verwalteten Menschen.“

Obwohl der Autor bereits 1938 der NSDAP beitrat, wird dieser zu einem „Rädchen im Kulturbetrieb“ verniedlicht. Dabei erinnert seine Biografie frappierend an die Erfolgsgeschichten anderer ehemaliger Nationalsozialist*innen wie Gertrud Fussenegger oder Karl-Heinrich Waggerl, mit dem Bayr befreundet war. Nicht zuletzt aus diesem Grund stellt sich die Frage, wie repräsentativ Bayrs Karriere für die österreichische Nachkriegsliteratur war und welche gesellschafts- und kulturpolitischen Versäumnisse mit dieser verbunden sind.
Das Archiv des Residenz Verlags und die Figur des angeblich verkannten Autors böten für diese Fragestellung zweifellos einen guten Ausgangspunkt. Statt der Zuflucht bei einem längst verblichenen, goldenen Zeitalter der österreichischen Literatur, bliebe damit vor allem die schmerzhafte Konfrontation mit ihren Schwächen und Ambivalenzen, die womöglich nicht nur Einsichten in die geistige Verfasstheit am Beginn der zweiten Republik, sondern auch unsere Gegenwart ermöglichen würde.

Eine Gelegenheit hierzu bietet auch die derzeit im Lentos Kunstmuseum stattfindende Retrospektive „Die gezeichnete Welt der Emmy Haesele“, die ebenfalls auf das publizistische Wirken von Brita Steinwendtner verweist. Schließlich trug die Salzburger Journalistin neben den aus den 1990er-Jahren stammenden Pionierarbeiten der Kunsthistorikerin Barbara Wally maßgeblich zur Wiederentdeckung der 1894 in Mödling bei Wien geborenen und 1987 in Bad Leonfelden verstorbenen Künstlerin bei. Ihr 2009 im Haymon Verlag publizierter Briefroman Du Engel Du Teufel widmet sich der unglücklichen, aber künstlerisch prägenden Liebesbeziehung Haeseles mit Alfred Kubin (1877–1959), die bis heute stark den Blick auf ihr zeichnerisches Lebenswerk bestimmt. Bereits 2010 unternahm das Nordico mit der Schau „Berührungen, Begegnungen“ den Versuch, den Blick auf ihr Werk zu erweitern, indem dieses und Kubins Schaffen in einen Zusammenhang mit ihren Zeitgenossinnen Clara Siewert (1862–1945) und Margret Bilger (1904–1971) gestellt wurde. Die damalige Ausstellung wurde wie die aktuelle Retrospektive von Brigitte Reutner-Doneus kuratiert, die sich diesmal anhand von Briefen, Fotografien, Tagebuchaufzeichnungen und Zeichnungen ausschließlich auf Haesele konzentriert, deren Nachlass durch eine Schenkung 2020 größtenteils an das Lentos gelangte. Die Lektüre des Ausstellungskatalogs plausibilisiert diese Entscheidung, indem sie an den Einfluss der Künstlerin auf die Ästhetik von Kubin erinnert. Dementsprechend zählt auch die Kuratorin Haesele „neben Margret Bilger, Hans Fronius, Hilde Goldschmidt, Fritz von Herzmanovsky-Orlando, Oskar Kokoschka, Alfred Kubin und und Wilhelm Thöny zu den Hauptvertreter*innen des späten Expressionismus in Österreich.“
So sehr diese Einschätzung mit Blick auf Haeseles Bildsprache einleuchten mag, sperrt sich ihr Lebensweg andererseits deutlich gegen eine solche Eingemeindung. Während etwa Goldschmidt, Kokoschka und Thöny bzw. ihre Angehörigen während der NS-Herrschaft verfolgt und ins Exil gezwungen wurden, handelt es sich bei Haesele um eine regimetreue Nationalsozialistin, die sich ab Oktober 1943 freiwillig als Flakhelferin engagierte, wie auch dem in der Ausstellung aufliegenden Saalheft zu entnehmen ist.
Umso mehr verwundert, dass dieser Umstand in der Ausstellung selbst nicht adäquat thematisiert wird, die stattdessen vom „Entwicklungsprozess einer Frau […], die nach langen, schicksalhaften Irrungen und Verwirrungen schlussendlich Frieden mit ihrem Leben schloss“ und von „tragische[n] Schicksalsschläge[n] in der Zeit des Zweiten Weltkriegs“ spricht. Wo sich das in der Ausstellung zur Lektüre aufliegende Saalheft und der Katalog um eine differenzierte Sicht auf Haeseles bemühen, wird ihre Biografie beim Gang durch die Ausstellung zum individuellen Leidensweg einer den Zeitläufen vermeintlich passiv und vollkommen ungeschützt ausgelieferten Künstlerin verklärt. Für diese Einschätzung sprechen nicht nur der problematische Einleitungstext, sondern auch die zahlreichen, unkommentierten Zitate aus Haeseles Tagebüchern sowie die den einzelnen Ausstellungsteilen bzw. Werkgruppen vorangestellten Kapitelüberschriften wie „Animus und Anima“ oder „Im Bann des Krieges“. Die Frage, ob und inwieweit rassisch-völkische und antisemitische Ideologien im Werk der Künstlerin ihre Spuren hinterließen, wird hingegen an das Saalheft bzw. den Ausstellungskatalog delegiert, während die Retrospektive selbst eher als Rehabilitierungsversuch einer zu Unrecht vergessenen Künstlerin der Nachkriegsmoderne erscheint. Das ist auch deshalb enttäuschend, da sich die problematischen Seiten von Haeseles Oeuvre keineswegs auf die Zeit des Nationalsozialismus beschränken lassen. Zu nennen wäre etwa die intensive Beschäftigung der Künstlerin mit Anthroposophie, Theosophie oder der Archetypenlehre von C. G. Jung, deren teils „rassistische und antisemitische Grundlagen“ und Einfluss auf ihre Bildsprache immerhin im Saalheft adressiert werden. In diesem Zusammenhang wäre es zudem lohnend gewesen, anhand von Haesele die Bedeutung spiritistischer Lehren innerhalb einer Kulturgeschichte der Moderne zu diskutieren, die etwa auch im Werk so unterschiedlicher Künstler*innen wie Paul Klee, Joseph Beuys oder Hilma af Klint ihre Spuren hinterließen. Im Saalheft wird etwa die Wertschätzung von Haeseles zeichnerischem Werk durch den Phantastischen Realismus erwähnt, was freilich auch die Frage provozieren mag, wie sich ihr Werk im Kontext der Kunst nach 1945 behaupten kann.

Wie im Fall des vermeintlich unterschätzten Schriftstellers Bayr, ist Haeseles künstlerisches Schaffen vermutlich weniger originell als stellvertretend für die Moderne mit ihren gesellschaftlichen und ideologischen Verwerfungen anzusehen. Es verwundert daher nicht, dass Thomas Bernhards Diktum sich auch mit Blick auf ihren Lebensweg als treffend erweist. 1950 konvertierte Haesele zum Katholizismus, der fortan auch ihr zeichnerisches Werk bestimmen sollte.

 

Residenz – Frühe Jahre eines Literaturverlags
Wie kaum ein anderer Verlag nach 1945 hat Residenz die zeitgenössische österreichische Literatur gefördert und geprägt. Seit Beginn des literarischen Programms in den späten 1960er Jahren entwickelte er sich zur führenden Adresse innerhalb Österreichs für die wichtigsten Autorinnen und Autoren aus diesem Land. Ausgangspunkt für die Ausstellung über die frühen Jahre des Residenz Verlags (bis 1975) sind zwei für diese Zeit wesentliche Persönlichkeiten: der Gründer Wolfgang Schaffler (1919–1989) und der in Linz geborene Autor, Lektor und Berater Rudolf Bayr (1919–1990).

Stifterhaus, noch bis 5. Oktober 2021
stifterhaus.at

Die gezeichnete Welt der Emmy Haesele
Emmy Haesele (1894–1987, geb. als Emma Helene Göhring) wächst in großbürgerlichen Verhältnissen in Wien auf. Nach dem Ersten Weltkrieg zieht sie mit ihrem Ehemann, dem Arzt Hans Haesele, in die kleine Salzburger Landgemeinde Unken bei Lofer. An Philosophie und Theosophie umfassend interessiert, beginnt sie im Alter von 36 Jahren, ihre Träume und Bilder des Unbewussten zu zeichnen. Bald darauf fädelt der befreundete deutsche Schriftsteller Oscar A. H. Schmitz ein Treffen mit Alfred Kubin ein. Nach mehrjähriger intensiver Beziehung zu dem als „Magier von Zwickledt“ bekannten Alfred Kubin verändert sich Haeseles Zeichenstil gravierend. Die überaus sensible Künstlerin lässt nun märchenhafte Chiffren zur Bewältigung von geschlechterspezifischen Konflikten aus ihrer Seele aufsteigen. Animus und Anima übernehmen die Hauptrollen in der bildlichen Darstellung ihrer Ängste und Drangsale. Auch tragische Schicksalsschläge in der Zeit des Zweiten Weltkriegs versucht Haesele mithilfe von C. G. Jungs Archetypenlehre zeichnerisch zu verarbeiten. In den 1950er- und 1960er-Jahren schlägt die Figur des menschenfreundlichen Harlekins schließlich einen versöhnlichen Ton in ihren Werken an.
Die Ausstellung gewährt berührende Einblicke in den Entwicklungsprozess einer Frau, die nach langen, schicksalhaften Irrungen und Verwirrungen schlussendlich Frieden mit ihrem Leben schloss.

Lentos Kunstmuseum, noch bis 03. Oktober 2021
www.lentos.at

0 Kommentare

Hinterlasse einen Kommentar

An der Diskussion beteiligen?
Hinterlasse uns deinen Kommentar!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert