Die Verortung von Erinnerung(en) im Raum

Das afo architekturforum oberösterreich fragt in der aktuellen Ausstellung zum Thema „Kontaminierte Orte“ danach, wie sich Gewalt und Kriminalität in Orte einschreiben oder wie die Rezeption solcher Orte aussieht – und ist gleichzeitig eine Geschichte darüber, jene zu erreichen, die sensibel genug sind, damit in „ange­messener Weise“ umzugehen. Bettina Landl hat die Ausstellung besucht.

Also es war immer dieses Lächeln, da hat man gewusst: Jetzt, o Gott, jetzt passiert irgendetwas Furchtbares.“, zitiert der Bildtext zu Stift Kremsmünster einen Konviktsschüler, der deutlich macht, dass es nicht ganz einfach ist, sich den dramatischen Ereignissen zu widmen, von denen diese Ausstellung auch erzählt.

Wer agiert wie mit dem Ort und dem Geschehen?
Die Ausstellung geht von Martin Pollacks wichtigem Essay „Kontaminierte Landschaften“ (2014) sowie von der anhaltenden Diskussion um Hitlers Geburtshaus in Braunau am Inn aus, spannt einen weiten historischen und geografischen Bogen und setzt sich mit 14 exemplarischen Orten in Oberösterreich auseinander. Von Architekturhistoriker und Kurator Georg Wilbertz wird der Blick auf jene Orte gerichtet, an denen Gewalt, Kriminalität, soziale oder ökonomische Verwerfung stattfanden, um sie vor dem Vergessen zu bewahren und die Kluft zwischen offizieller Geschichtsschreibung und kollektiver Erinnerung zu überbrücken. Aus einer unzähligen Fülle von Möglichkeiten wurden Orte ausgewählt, in verschiedene Kategorien der Gewalt und des Leidens eingeteilt und der Versuch unternommen, diese Methode epochenübergreifend anzuwenden.
Eingebettet ist das Thema in den umfang­reichen Diskurs zur Ortstheorie, wobei die Aspekte und Fragestellungen, die unmittelbar mit dem Thema der Gedenk- und Erinnerungskultur zusammenhängen, im Vordergrund stehen.
Individuelle Erinnerungen sind es, die unser Leben und unsere Persönlichkeit prägen. Das gilt auch für „Kollektivindividuen“, wie z. B. die Bewohner*innen einer Stadt bzw. einer Region oder auch für ganze Nationen. Insbesondere die verschiedenen Deutungen und Aneignungen der Orte im Laufe der Zeit, die Herausarbeitung ihrer Instrumentalisierung durch politische Gruppierungen sollen für die Manipulierbarkeit des kollektiven Gedächtnisses sensibilisieren.

Wie sieht die Rezeption von Ort und Geschehen aus?
Die Diskussion um Hitlers Geburtshaus dient der Ausstellung lediglich als Einstieg in die Thematik, die das oft beschworene Idyll Oberösterreichs durchbricht und den widersprüchlichen Umgang mit solchen Orten aufzeigt. Anhand der Einführung, einer Überblickskarte, einer künstlerischen Intervention und 14 exemplarischen Orten, die durch Gewalt, Leid oder kriminelle Handlungen geprägt waren und sind, wird das komplexe Thema vorgestellt. So ist beispielsweise das Kriegsgefangenenlager Marchtrenk, das von 1914 bis 1918 in Betrieb war und 1915 eine Höchstbelegung mit 35.000 Gefangenen verzeichnete und das aus einer umfangreichen Infrastruktur mit Verwaltungstrakten, Lagerspital, Quarantänelager, Schlachthof, Klärschlammverbrennung, Werk- und Arbeitsstätten sowie einem Lagerfriedhof bestand, Forschungsgegenstand und Teil der Ausstellung. Ebenso Teil der Ausstellung ist auch das Bettler-Haftlager in Schlögen, das von Sommer 1935 bis zum „Anschluss“ 1938 nach landesweiten Bettlerrazzien in Oberösterreich mit bis zu 739 Männern belegt war. Lager dien(t)en der Aussonderung, der Repression, der „Erziehung“. Sie ermöglich(t)en Gesellschaften und politischen Systemen, diejenigen sozial zu isolieren, die man als schädlich oder gefährdend identifiziert, und an dafür vorgesehenen Orten zu konzentrieren. Das 20. Jahrhundert wird immer wieder als „Jahrhundert der Lager“ bezeichnet. Verfolgt man aktuelle Debatten und Diskurse in rechtskonservativen Kreisen, scheint das „Lager“ als probates Mittel der Problemlösung eine bedenkliche „Renaissance“ zu erleben.

Erinnerungsorte
Zu den Orten, die mit dem Enthusiasmus der Reform, des Heilens und der philanthropischen Sorge um den Menschen verbunden sind, gehören etwa psychiatrische Einrichtungen (früher als Tollhäuser, Irrenanstalten etc. bezeichnet). Dass jedoch die wohlmeinenden Intentionen oft in ihr krasses Gegenteil verkehrt wurden, zeigen v. a. die psychiatrischen Einrichtungen des 18. und 19. Jahrhunderts. Diese sind häufig gekennzeichnet durch Verwahrlosung und Verrohung. Man sonderte die vermeintlich nicht integrierbaren Mitglieder einer Gesellschaft ab. So wurde beispielsweise das Prunerstift in Linz 1734–39 zuerst als Anstalt für Waisenkinder und Bedürftige erbaut, 1786 durch Joseph II. aufgelöst, dann bis 1833 zu einem Findelhaus und einer Gebäranstalt umfunktioniert, bis es von 1833 bis 1867 eine Irrenanstalt war (seit 1979 die Musikschule der Stadt Linz).

Weiters ermöglicht die Ausstellung eine Auseinandersetzung mit Orten wie dem Kriegsgefangenenlager in Mauthausen, der Psychiatrischen Klinik Niedernhart, dem Sozialpädagogischen Jugendwohnheim Wegscheid, dem Intertrading-Gebäude und dem Landesgericht in Linz, dem Benediktinerstift in Kremsmünster, der Jahnturnhalle in Ried im Innkreis, dem „Dichterstein“ in Offenhausen, der Siedlung Ennsleite in Steyr, dem Richtstättenweg in Lochen sowie dem Frankenburger Würfelspiel in Frankenburg.
All diese Beispiele machen deutlich, dass sich kollektive Erinnerungen immer in irgendetwas manifestieren, sei es in einem Ort, einer Persönlichkeit, einer mythischen Gestalt, einem Ritual, einem Brauch oder einem Symbol, also eine Gestalt annehmen bzw. einen begrifflichen Topos (wörtlich: einen Ort) bilden, in dem gemeinsame Assoziationen kondensieren. Erinnerungsorte sind identitätsstiftend. Dabei haben verschiedene gesellschaftliche Gruppen durchaus unterschiedliche Erinnerungsorte.

Ausstellen gegen das Ausschweigen und Verdrängen
In der Ausstellung werden Fälle seit der frühen Neuzeit exemplarisch beleuchtet, es wird das jeweilige Geschehen beschrieben und die Frage gestellt, wem Erinnerung nützt, wer sie verdrängt, wer sie steuert oder gar von ihr profitiert. Gleich ob Taten Einzelner oder jene staatlicher bzw. öffentlicher Institutionen eingeschrieben sind, beeinflusst die Kontamination von Orten unsere Rezeption der Geschichte. Manche Grausamkeit wandelte sich mit zeitlichem Abstand zu Folklore oder zum touristischen Event.
Falsch verstandene Erinnerung, das Exponieren als „faszinierender“ Ort des Gruselns oder der voyeuristischen Neugierde sind Indizien dafür, dass sich mit zeitlichem Abstand die Erinnerung und die Rezeption der Taten wandeln. Es gibt nicht DIE Erinnerung, nicht DIE Erzählung, die mit einem kontaminierten Ort verbunden sind.

Die Ausstellung zeigt, dass um Erinnerung, ihre Orte und die Interpretation historischer Ereignisse gesellschaftliche Auseinandersetzungen geführt werden. Es geht um Deutungsfragen, die konstituierender Teil unseres kollektiven Bewusstseins sind.
Der Verzicht auf kontaminierte Orte im Österreich der Nazizeit in der Ausstellung stellt eine bewusste Entscheidung dar. Sie ist begründet in der Dimension der Verbrechen von 1938 bis 1945 und der Tatsache, dass diese durch berufenere Institutionen, Gedenkstätten und Forschungseinrichtungen bereits sehr weit aufgearbeitet und dokumentiert sind.

Zur Aktualität von Geschichte(n)
Die Ausstellung hat eine eigene innere Ordnung, die sich aus Bezügen entwickelt hat und ist nicht, wie man annehmen würde, chronologisch aufgebaut. Vom Dokument bis zum Buch und Interviews mit Zeitzeugen wird der Zugang zum Thema bzw. zu den Themen auf vielfältige Weise ermöglicht.
Wenn gleichzeitig auf politische Inanspruchnahme oder den politischen Missbrauch bestimmter Begriffe und Phänomene hingewiesen wird, macht die Ausstellung anschaulich, dass einzelne Fragestellungen höchst aktuell sind.
Neben der Fülle der Aspekte und Fragen, die mit den konkret ausgewählten Orten und Bauten verbunden sind, geht es u.a. darum, möglichst viele Fragestellungen und Phänomene anhand der Einzelbeispiele exemplarisch zu erfassen und darzustellen. Ziel ist nicht nur die Darstellung eines möglichst breiten Spektrums, sondern die Erstellung eines „Katalogs“ der mit problematischen Orten verbundenen Aspekte und Herausforderungen.

„Kontaminierte Orte“ bietet bzw. bieten vielfältige Möglichkeiten der Rezeption. Die Spanne kann von der politisch-gesellschaftlichen Instrumentalisierung über Legitimations- und Identifikationsstrategien bis hin zur ökonomischen Nutzung reichen. Dem gegenüber stehen Interessen und Strategien des Vergessens, der Tilgung oder der Verdrängung. Beide Richtungen können je nach historisch-politischer Situation in ein dynamisches Wechselverhältnis treten. Ein spezifischer Aspekt ist die touristisch-ökonomische Nutzung derart problematischer Orte. Der in den letzten Jahren verstärkt geführte Diskurs zum Stichwort „Dark Tourism“ stellt bezüglich der Theoriebildung und theoretischen Aufarbeitung derartiger Orte einen wichtigen Beitrag dar. Damit wird in und mit der Ausstellung ein sensibler Umgang eingefordert und eingeübt und das notwendige Gespräch über diese Themen (weiter-)geführt.

 

Anmerkung Redaktion: Hinsichtlich Nazizeit und der Dimension der Verbrechen von 1938 bis 1945 findet sich in der aktuellen Versorgerin #124 ein Text über doch immer noch nicht so recht aufgearbeitete und dokumentierte Orte der Nazi-Verbrechen in Oberösterreich.

Kontaminierte Orte
Ausstellung bis 31. Jänner 2020
Mi–Sa 14.00–17.00 Uhr, Fr 14.00–20.00 Uhr
afo architekturforum oberösterreich
Herbert-Bayer-Platz 1, 4020 Linz
Kurator: Georg Wilbertz
Gestaltung: Leonie Reese
Produktion: afo

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