Die Welt neu denken …

… am Beispiel des libertären Kommunalismus. Die Referentin bringt seit mehreren Heften eine Serie über soziale Bewegungen und emanzipatorische Entwicklungen. Peter Haumer und Andreas Gautsch über den libertären Kommunalismus: Von der sozialen und ökologischen Katastrophe zu einem anderen Aufbau der Gesellschaft.

Foto Andreas Gautsch

Die Menschheit steckt mitten in einem gewaltigen Umbruchsprozess, dessen Ausgang offen ist. Die Abkehr vom, und die Überwindung des weltweiten Kapitalismus wird immer dringender und die Frage stellt sich, wie wir unsere Gesellschaft und Ökonomie am besten organisieren können, um weitere soziale und ökologische Verwüstungen unseres Planeten verhindern zu können. Aus der Geschichte können wir lernen, dass es immer wieder Zeitpunkte gegeben hat, in dem das herrschende System zusammengebrochen ist, und die Menschen sich neu organisieren mussten, um ihr Überleben sichern zu können. Einer dieser Versuche war auch die Pariser Kommune 1871, in der Karl Marx „die endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte“, sah. Die Kommune-, aber auch die Rätebewegung nach dem 1. Weltkrieg zeigen das Potential auf, welches direktdemokratische Strukturen in sich tragen, um die Fähigkeiten jedes einzelnen Menschen zur Entfaltung zu bringen.

Quellen und Verzweigungen einer Idee
Der libertäre Kommunalismus verortet sich in dieser Tradition und ist eine anarchistische Konzeption, welche die Gesellschaft dezentralisieren und über miteinander vernetzte Gemeinden organisieren möchte. Wichtige Vordenker:innen dieses Ansatzes sind Murray Bookchin (2006 verstorben) und Janet Biehl. Beide waren mit dem 1974 gegründeten Institut für Sozialökologie in Vermont (Massachusetts/ USA) verbunden. Dort lehrt und forscht seit einigen Jahrzehnten auch Chaia Heller. In einem von Oliver Ressler geführten Interview, das von Jens Kastner übersetzt wurde1, und hier immer wieder zitiert werden wird, erklärt sie die Grundstruktur dieses Modells und schildert die Entstehungsgeschichte des libertären Kommunalismus, den sie als „politischen Arm der Sozialökologie“ betrachtet.

Bevor wir auf ihre Schilderungen eingehen, noch ein kurzer Hinweis zu den beiden zuvor genannten Personen. Murray Bookchin, der 1921 in New York geboren wurde, gehörte zunächst der marxistisch geprägten Linken an, wandte sich vermehrt ökologischen Fragen zu und bekannte sich Anfang der 1950er Jahre zum Anarchismus. Bekanntheit erlangte er durch sein aufrüttelndes Pamphlet Hör zu Marxist!, in dem er schreibt: „Soziale Revolutionen werden nicht von Parteien, Gruppen oder Kadern gemacht, sondern sind das Resultat tief eingewurzelter geschichtlicher Kräfte und Widersprüche, durch die weiten Kreise der Bevölkerung zum Handeln gezwungen werden.“ Janet Biehl kam 1987 mit dem libertären Kommunalismus in Berührung, arbeitete bis 2011 am erwähnten Institut und veröffentlichte zahlreiche Bücher und Artikel zum Öko-Anarchismus und Öko-Feminismus. Die demokratische Neugestaltung des Norden Syriens bewog Biehl ab 2014 mehrmals nach Rojava zu reisen, um mit der dortigen revolutionären Bewegung in Austausch zu treten und darüber zu berichten. Im letzten Jahr veröffentlichte sie die Graphic Novel „Their Blood Got Mixed: Revolutionary Rojava and the War on ISIS“.

Welche Strukturen es benötigt, damit die Bevölkerung handeln kann, und wie dies mit der Umgestaltung des politischen Systems in Nordsyrien zusammenhängt, wird in der Folge entlang des Interviews mit Chaia Heller erläutert werden.

Das Modell des libertären Kommunalismus
Das Modell klingt in den Grundzügen einfach: Bürger:innen von Dörfern, Gemeinden und Städten sollen in die Lage versetzt werden, sich selbst zu regieren. Die Menschen finden sich als Bürger:innen in lokalen Versammlungen in ihren Stadtteilen oder Dörfern/ Gemeinden zusammen, beratschlagen und entscheiden über ihre Angelegenheiten. Biehl schreibt in ihrem Buch über den libertären Kommunalismus, dass in Städten die „im Rathaus angesiedelten Kompetenzen auf die einzelnen Stadtviertel oder Bezirke übergeben“ würden, in den „übersichtlichen Dorfgemeinden“ könnte auf eine „Dezentralisierung verzichtet werden“.

Egal ob in einer Versammlung in den Metropolen, Kleinstädten oder Dörfern, es wird darüber beratschlagt werden müssen, welche Institutionen (weiterhin) benötigt werden und wie diese zu gestalten sind. Wie wird die Abfallbeseitigung organisiert? Wie soll das Bildungssystem aussehen und wie ist dieses zu organisieren? All die Fragen des täglichen Lebens und jene darüber hinaus werden auf Basis eines Bottom-up-Prinzips ausverhandelt und organisiert.

Diese Körperschaften der Basis- oder Generalversammlungen, oder welchen Namen sie auch immer bekommen mögen, wären die treibende Kraft der Politik in der Gesellschaft. Die Idee ist, dass Entscheidungen im Namen der Bevölkerung bei derselben liegen und deshalb Politik von und für die Bevölkerung gemacht wird. Wer sich jedoch auf dieses Gedankenspiel einlässt, wird sofort bemerken, dass diese Form des Selbst-Regierens ein anderes Denken und neue Formen der sozialen Praxis erfordert.

Um die berühmte „Schrebergartenmentalität“ zu verhindern, die darin besteht, dass einzelne Gemeinden mehr oder weniger isoliert ihren Einzelinteressen nachgehen, und da bestimmte Fragen und Probleme überregionale bis globale Organisationen bedürfen, gibt es eine zweite Strukturebene: Die Föderation – also einen föderalen Zusammenschluss der lokalen Körperschaften nach dem Räteprinzip. Diese beiden Strukturprinzipien, die autonomen kleinen Basiseinheiten und die verbindende Föderation, bilden gleichsam ein Spannungsfeld. Zwar ist die lokale Körperschaft in der Föderation enthalten und die Föderation wird als Ergänzung zur lokalen Körperschaft gedacht, doch gehören sie zweier verschiedener Sphären an: dem Besonderen und dem Allgemeinen. Um die „Prinzipien von Autonomie und Kooperation in eine Balance zu bringen“, werden, so Heller, die lokalen Ebenen durch „ein größeres Kollektiv, die Föderation, eingeschränkt“. Die gegenwärtige Klima- und ökologische Krise bedarf beispielsweise auch einer globalen Perspektive und somit einer funktionierenden föderalen Struktur. Wie diese ausgestaltet sein müsste, ist ebenfalls keine geringe Herausforderung für neue Denk- und Handlungsweisen. Dass das Modell des libertären Kommunalismus eher vage gehalten ist, weiß auch Heller. Für sie ist es „Absicht“, denn es ist davon auszugehen, „dass die Beteiligten in den Bewegungen selbst darum kämpfen müssen, wie sie ihre allgemeinen Prinzipien der Nicht-Hierarchie, der Kooperation, der direkten Demokratie, der sozialen Gerechtigkeit und der Ökologie leben wollen.“

Eine Politik ohne Politiker:innen und eine demokratische Wirtschaft
Ein Schlüssel, um diese beiden Ebenen von lokaler Autonomie und Föderation stabil zu verbinden, ist die Rätestruktur. So würden die lokalen Körperschaften, um mit anderen Gemeindeverwaltungen oder mit der Föderation kooperieren und sich abstimmen zu können, Delegierte ermächtigen und entsenden. „Ein Delegierter ist einem Boten ähnlich“, so Heller, „er überbringt im Wesentlichen den Auftrag der Gruppe.“ Der/die Delegierte ist immer abrufbar. Die Funktion ist zeitlich befristet, unterliegt dem Rotationsprinzip und sollte nie professionalisiert werden. Dies bedeutet aber nicht, dass die Föderation die letzte Instanz ist. Diese kann wiederum Delegierte entsenden, um eine überregionale oder globale Föderation zu bilden. Mit Heller ist jedoch Folgendes zu beachten und zu unterscheiden: „Bei dieser gesellschaftlichen Ordnung handelt es sich keinesfalls um eine Abwandlung des bürgerlichen Staates, denn: Es gibt keine mit Entscheidungsmacht ausgestatteten Repräsentant:innen, und die Räte der Föderationen haben für sich genommen keine Entscheidungsbefugnis.“ Sie haben eine rein kommunikative und administrative Funktion. Die Berufsgruppe der Politiker:innen wäre demnach Geschichte, eine aktive Bürger:innenschaft würde in den Vordergrund treten. Die Bürger:innen würden für sich selbst sprechen, ihre Anliegen und Vorstellungen zur Diskussion stellen und in einen Aushandlungsprozess mit den anderen Beteiligten treten. Wie so eine Versammlung ablaufen könnte, beschreibt Biehl recht ausführlich. „Als erstes wird die Versammlung sich konstituieren und sich eine Satzung oder Geschäftsordnung geben. Darin wird festgelegt, wie Beschlüsse gefasst werden sollen, welche Ämter eingerichtet werden und wie diese besetzt werden …“. Auch die wirtschaftlichen Fragen würden in diesen zivilen Bürgerversammlungen diskutiert und entschieden werden.
Der Kapitalismus ist das Reich des Profits, welches durch den Konkurrenzkampf chaotisch geregelt wird. In diesem wird keine Rücksicht auf Umwelt und Menschen genommen. Daher würde so manche Produktion im libertären Kommunalismus sofort eingestellt werden. Die dadurch freiwerdenden Arbeitskräfte würden auf die nützlichen und notwendigen Produktionsketten aufgeteilt werden, was eine massive Arbeitszeitverkürzung ermöglichen würde. Die Menschen bekämen dadurch die Zeit, die sie brauchen, um direktdemokratisch ihre Welt verwalten zu können. Das bedeutet aber auch, dass Produktion und Verteilung nicht alleine in den Händen der Arbeiter:innen liegt, sondern in denen aller Bürger:innen.

„Der libertäre Kommunalismus befindet sich erst in einer experimentellen und embryonalen Phase. Er ist eine im Entstehen begriffene Idee, die auf ein gewisses Maß an Praxis in so genannten politischen Experimenten zurückgreifen kann“, so Heller. Gelebte Beispiele finden sich bei den Zapatistas in Chiapas2 (Mexiko) oder in Rojava (Nordsyrien), wo seit Jahren daran gearbeitet wird, eine demokratisch-ökologische Zivilgesellschaft zu schaffen. Angestrebt wird dabei nicht eine kurdische Eigenstaatlichkeit und auch keine Konföderation von Teilstaaten, sondern der Aufbau einer Selbstverwaltung durch kommunale Basisorganisierung und ohne die bestehenden Staatsgrenzen anzutasten. Diese soll erreicht werden durch eine gleichberechtigte Föderation von Regionen, Kantonen, Städten und Kommunen. Dieses gesellschaftliche und wirtschaftliche Experiment geschieht – trotz oder gerade wegen – eines zerstörerischen, lange anhaltenden Kriegszustandes in dieser Region. In einem Interview erzählt Janet Biehl 2016 von ihren ersten Eindrücken in Rojava, die sie erschütterten und zugleich beeindruckten. „For the first time I saw how the concentrated power of the collective human will can transform a social order in just a short time. (…) While Murray was alive, I had studied revolutionary history and helped him write books about it. But to see such a thing before my eyes—it was extraordinary.“3

Peter Haumer, Institut für Anarchismus­forschung, siehe auch: anarchismusforschung.org

Andreas Gautsch, Institut für Anarchismus­forschung, siehe auch: anarchismusforschung.org

1 www.anarchismus.at/texte-anarchismus/libertaerer-kommunalismus/6147-chaia-heller-libertaerer-kommunalismus (Stand, 22. 5. 22)
2 Siehe den vorletzten Beitrag der Serie zu der Reise der Zapatistas. playground233.servus.at/gira-zapatista
3 theanarchistlibrary.org/library/janet-biehl-thoughts-on-rojava-an-interview-with-janet-biehl (Stand, 22. 5. 22)

Die Serie in der Referentin ist auf Anregung von Andreas Gautsch, bzw. der Gruppe Anarchismusforschung entstanden, siehe auch: anarchismusforschung.org

Text Peter Haumer und Andreas Gautsch

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