Dreams are my reality …
Mit Ruth Beckermanns Die Geträumten und Patric Chihas Brüder der Nacht starten diesen Herbst/Winter zwei österreichische Filme in den heimischen Kinos, die die Grenzen dokumentarischen Erzählens ausloten und somit formal unverbindlich bleiben, während sie sich zweifelsfrei der Menschenliebe verschreiben. Von Peter Schernhuber und Sebastian Höglinger.
Der österreichische Film, so lässt sich etwa an seinen zahlreichen internationalen Festivalauftritten nachweisen, ist eine Erfolgsgeschichte. Eine jedoch mit Brüchen, geben die Zahlen am heimischen Box-Office doch nur einen dürftigen Widerhall der internationalen Lobgesänge. Diese ernüchternde Tatsache darf weniger als Aussage über die Qualität der Filme denn als Hinweis auf den Zustand des Kinomarkts mit seinen Verwertungslogiken interpretiert werden. Beiden widerfährt derzeit eine der gröbsten Veränderungen ihrer jüngeren Geschichte. Veränderungen, die in einem Land, in dem Kino und Fernsehen alleine schon strukturell verschränkt sind, notgedrungen auch Auswirkungen auf den ORF, den größten Arbeitgeber der Branche, haben. Diese kulturpolitische Debatte ist der Öffentlichkeit vor wenigen Wochen, anlässlich der Wahl des ORF-Generaldirektors, mit Sanftmut – quasi im Stille-Post-Modus – entgegengeblinzelt. Indirekt ist sie auch Gegenstand von Ruth Beckermanns neuestem Film. Mit ihrem hellwachen Sensorium gegenüber den Phänomenen ihrer Zeit ist Beckermann als Filmemacherin, Autorin und Künstlerin bekannt. Als sie 1987 ihren Film Die papierene Brücke vorstellte, lag die Waldheim-Affäre gerade erst ein Jahr zurück. Obwohl oder gerade weil der Film Beckermanns eigene Familiengeschichte und zugleich die Geschichte der mitteleuropäischen Juden zu erzählen suchte, fand dieses markante Wendejahr Eingang in den Film. 2001 porträtierte die Filmemacherin die Wiener Marc Aurel-Straße und wurde erneut Zeugin einer Zäsur für das republikanisch gestimmte Österreich: die Regierungsbeteiligung der extremen Rechten im Jahr 2000. Dass Beckermann fünfzehn Jahre später ihre jüngste Arbeit Die Geträumten in den Räumlichkeiten des Wiener Funkhauses, dem unlängst veräußerten architektonischen Bollwerk des intellektuellen ORF, ansiedelt, zeugt erneut von Beckermanns Gespür Zeitgeschichte en passant zu erzählen: Im großen Sendesaal treffen der Schauspieler Laurence Rupp und die primär als Musikerin bekannte Anja Plaschg aufeinander. In ihre Münder sind ihnen die Worte Paul Celans und Ingeborg Bachmanns gelegt. Ruth Beckermann inszeniert den todtraurigen und gleichwohl wunderschönen Briefwechsel, den die beiden Poeten in den Wirren nach dem 2. Weltkrieg bis zu Celans Suizid 1971 wort- und emotionsgewaltig geführt haben. „Im Wiener Funkhaus, wo die Gemälde an der Wand wie Fenster in die Welt wirken, lesen Plaschg und Rupp die Texte nicht nur ein – sie lassen zu, dass diese auf sie wirken, dass diese Liebe auf sie wirkt, in ihrem Rausch, ihrer Verlustangst, ihrem Entzücken, ihrem Erschrecken, ihrer intimen Nähe und schmerzlichen Fremdheit, aber auch in ihrem historischen Kontext der Nachkriegszeit“, schreibt die Filmjournalistin Alexandra Zawia im Katalog der Diagonale’16, wo der Film mit dem großen Preis für Spielfilm ausgezeichnet wurde. Über die Textpassagen hinaus verweilt Johannes Hammels Kamera bei den beiden Darsteller/innen und wird Zeuge, wie sich die gelesenen Worte setzen und sich ihr Nachwirken in Mimik und Gestik regelrecht abzeichnet, übersetzt. Beckermann verweigert die Suche nach schauspielerischer Entsprechung für Celan und Bachmann. Sie entscheidet sich dafür, den geschriebenen Worten der betörenden Liebesbriefe Körper zu geben, sie filmisch körperlich werden zu lassen. Dabei changiert Die Geträumten zwischen ruhigem Dokumentieren und feinfühliger Inszenierung. Es darf so gesehen auch nicht als Affront oder Chuzpe interpretiert werden, dass Die Geträumten nur wenige Wochen nach dem Spielfilmpreis beim Festival des österreichischen Films als bester Dokumentarfilm beim renommierten französischen Dokumentarfilmfestival Visions du Réel prämiert wurde. Beckermanns jüngste Arbeit, womöglich eine ihrer sinnlichsten, verweigert sich bewusst jeder Genrekategorisierung und ist doch ein deutliches Dokument ihrer Zeit. Mit Laurence Rupp, der dem Filmpublikum nebst TV-Auftritten vor allem aus Andreas Prochaskas Coming-of-Age-Genrearbeit In 3 Tagen bist du tot wohlbekannt ist – und Anja Plaschg alias Soap&Skin lädt Beckermann zwei zeitgenössische Künstler/innen ein, Worte – die über die Jahre weder Zauber noch politische Brisanz eingebüßt haben –, an einem Ort zu studieren, zu lesen, zu verkörpern, der lange Zeit für intellektuelle Besonnenheit und Gemächlichkeit stand (Attribute, die möglicherweise als Kern eines öffentlich-rechtlichen Rundfunkauftrags zu verstehen wären und gegenwärtig dem Zeitgeist geopfert werden). Beides gilt es gegenwärtig wieder verstärkt zu verteidigen. Gegen Marktlogik und einen ökonomisierten Kulturbegriff etwa, der zunehmend mit Schlagworten wie City-Branding hantiert.
Am anderen Ende einer solchen City liegen Schiffe am Donauufer vor Anker. Zur sehnsüchtigen Schwere einer Opernarie umarmt die Skyline das Wiener Nachtschwarz – und dieses wiederum die Protagonisten eines weiteren österreichischen Genrehybriden, der bei der Diagonale in Graz seine Österreichpremiere gefeiert hat: Brüder der Nacht von Patric Chiha rückt die Lebensrealität bulgarischer Stricher in den Fokus. In Wien verkaufen sie ihre Körper an wohlhabende Freier, gebären sich als Verführer und Gangster, stark und verletzlich zugleich. Obgleich sich ihre Leben beinahe diametral zu Rupp und Plaschg entfalten, finden sich doch Überschneidungen zu Beckermanns Die Geträumten: Ohne jeden Zweifel muss auch Patric Chihas Film – en passant – als hochgradig politisch gelesen werden; als Arbeit, aus der sich Aussagen über eine europäische Metropole im Spätkapitalismus ableiten lassen. In Chihas Interpretation sind die jungen Roma, die sich wie auf Theaterbrettern grazil durch diese politische Geographie bewegen, Popstars – sie glänzen, sind mächtig und (selbst-)verliebt. Sie sind „keine Schauspieler, auch wenn sie sich gern zur Schau stellen und spielen“, bemerkt er im Interview, „manchmal wie Tigerjungen, manchmal wie die schwulen Matrosen aus Rainer Werner Fassbinders Querelle, manchmal wie Marlon Brandos Enkel, die ihre Lederjacken wie Schutzhüllen tragen.“ Unter den dunklen, feuchten Brückenbögen und in den diffus beleuchteten Kaschemmen der Stadt ist ihre Selbstinszenierung emanzipatorische Geste, während sich nur wenige Kilometer entfernt zwei Schauspieler im Wiener Funkhaus einem Text annähern, und dabei zunehmend die eigene Rolle in Film und Alltag befragen. Während hier die bedächtige Reflexion und der Denkprozess zum Filmbild wird, dürfen Chihas Protagonisten in bester Bühnenmanier glitzern und leuchten. „Ich bin nicht die Polizei“, sagt Chiha selbst, „ich bin ein Filmemacher“, und so sind es nicht Gesetze, sondern sämtliche Regeln der Kunst, die er mit seiner ureigenen dokumentarischen Form, verspielt, aber niemals leichtfertig, auslotet. Paradoxerweise ermöglicht gerade dieser Bruch mit den Methoden eines authentizitätsfixierten Dokumentarismus sowie das Zugeständnis an Inszenierung und Überhöhung, dass Chiha den Protagonisten näherkommt, ihren Sehnsüchten, Hoffnungen und Träumen glaubhaft nachspürt. „Dreams are my reality“, hieß es schon in einer Pophymne zum Coming-of-age-Klassiker La Boum. Andere Baustelle. Doch letztlich ist Richard Sandersons eingängige Hook sowohl für Brüder der Nacht als auch für Die Geträumten geradezu trefflich. Dann nämlich, wenn der genuin immer schon träumende Pop nicht bloß als Hymne oder Soundtrack, sondern vielmehr als bedacht gesetzte Geste verstanden wird: Pop und Traum als Konzept und künstlerische Strategie. Hier die Künstlichkeit als dokumentarische Methode, da die Verschmelzung von Avantgarde und Pop, die Thomas Hecken als Avant-Pop beschrieben hat und sich vielleicht an keinem Ort so vollmundig inhalieren lässt, wie im Wiener Funkhaus, das bis dato sowohl Heimstätte von Radio Ö1 als auch Radio FM4, von Hoch- und Popkultur, U- und E-Musik war. Dass sich an diesem Ort die Biografien von Ingeborg Bachmann und Soap&Skin, einer der wohl progressivsten und meistbeachteten Musikerinnen dieses Landes, verweben, weist Schubladendenken schon generell als obsolet aus – ein Gedanke übrigens, der nur allzu gut mit dem Genrebruch der beiden besprochenen Filme korrespondiert. Neben diesem Status als Hybrid im Dazwischen der Konventionen ist ihnen dabei eine wahrlich zärtliche Nähe zu den Protagonist/innen und ihren Lebensrealitäten gemein. In einem Land, das unentwegt auf die dritte Republik zusteuert und das Miteinander zugunsten eines nationalstaatlichen Wir überwirft, ist das nicht nur ein Gewinn, sondern eine politische Geste des Aufbegehrens und Widerstands.
Man möge sich auf das Gedankenspiel einlassen, Laurence Rupp und Anja Plaschg nähmen nach ihrer Aufnahmesession im Funkhaus ein Taxi mit dem Ziel Donauhafen. Dort träfen sie auf Chihas junge Helden und verlören sich gemeinsam zwischen Textzeilen und flackerndem Licht, melancholischer Stille und sehnsüchtigen Beats einer Wiener Parallelwelt. Eine Zusammenkunft, die es freilich nie geben wird, außer – zeitlich getrennt – auf der Leinwand der heimischen Kinos. Dort sind beide Film diesen Herbst/Winter zu sehen. Eine dringliche Empfehlung.
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