Editorial
Keine Corona-Tagebücher mehr, keine Balkonkonzerte – der zweite Lockdown ist ja doch nicht nur schlecht. Aber im Ernst: Vor und hinter den Kulissen hat sich Ernüchterung breitgemacht. Wir machen ja eh weiter, aber im Untergrund formieren sich die Dinge in einer unglaublichen Gemengelage von Krisen neu – irgendwo zwischen einem guten radikal Neuen, das wir noch nicht kennen können und einem schlechten radikal Neuen, das wir hoffentlich nicht näher kennenlernen werden (frei nach Gramsci: Wir wissen noch nicht, welches Balg da noch nicht geboren werden kann, wir hoffen aber das Beste). Vielleicht fragt sich jetzt so manche Leserin, so mancher Leser: Muss man denn überhaupt von „gut“ und „schlecht“ reden, muss es denn immer gleich „radikal“ sein? Tja, einerseits gab und gibt es schon Vorgeschmäcker und Tatsachen, Stichwort diverse todesgetriebene Gesellschaftsordnungen, die man radikal ablehnen muss, andererseits zerrinnt uns derzeit die Natur und die Umwelt quasi zwischen den Fingern; jenseits jeder Conspiracy und jedes Pathos. Sprich, diese und noch mehr Realitäten stellen sich derzeit durchaus radikal und noch schlimmer: existenzbedrohend dar. Andererseits, stimmt schon, ja … zumindest scheint man mit herkömmlichen Radikalreflexen und den üblichen schnellen Antworten nicht weiterzukommen, weniger denn je. Selbst Herbert Kickl, Chef-Charismatiker des superrechten Kleinhäusler-Agitprop-Jargons schlechthin, jammert nur mehr dahin, so weinerlich, als ob er irgendwo am Weg sein Mojo verloren hätte. Das fällt schon auf. Mindestens eine tiefe Skepsis durchzieht jedenfalls die Entwicklungen, während sich die meisten ins Notwendige fügen. Schlimm genug.
Zum Heft: Barbara Eder analysiert einen Digitalisierungs-Diskurs ausgehend vom neuen Kunstuni-Studiengang „Critical Data“, und die wohlfeil kalkulierten Interessen von Politik, Wirtschaft und Industrie rund ums neue digitale Gold. Ingo Leindecker kritisiert aus der Warte der Freien Medien das enorme Missbrauchspotential, das mit den neuen, an sich wichtigen Hass-im-Netz-Regulierungsgesetzen einherzugehen vermag. Aus diesem Zusammenhang stammt übrigens der am Titel zitierte Begriff des „Overblockings“. Eine international angelegte Geschichte von Kunststreiks thematisiert die Publikation von Sofia Bempeza, die Vanessa Graf gelesen hat. Lokalen historischen BürgerInnenprotest in Lambach hingegen hat Silvana Steinbacher anhand des ebenfalls neu erschienenen Buches von Marina Wetzlmaier und Thomas Rammerstorfer ins Visier genommen. Was alles im Heft sonst noch zu finden ist: Minimalismus, Anarchismus, Musik, Literatur, bitte sich hier selbst ein Bild machen. Die Redaktion kann jeden einzelnen Beitrag empfehlen. Hier an dieser Stelle aber noch eine besondere Empfehlung für die Ausstellung Amor Vincit Omnia – das am Cover abgebildete Feminist Until Death stammt aus der Reihe No-Polit Poster von Linda Bilda, der die Retrospektive im Lentos gewidmet ist.
Kleines Detail: Interessant ist, dass beim Professionellen Publikum die Kunstuni-Ausstellung „Best off“ drei Mal getippt wurde. Die Redaktion vertraut aufs freie Spiel der angefragten professionellen Kräfte. Deshalb auch von dieser Seite, ganz im Sinne dessen, dass das Starke noch populärer gemacht werden soll, von Redaktionsseite ungeschaut hier Empfehlung Nummer 4: Unbedingt hingehen!
Und finally: Wir freuen uns sehr, einen Auszug aus Lisa Spalts kontradiktorisch dirigiertem Siegerinnen-Text der Floriana abdrucken zu können. Und beschließen das Editorial mit einer Textstelle aus Die grüne Hydra:
Tatsächlich dachte ich schon seit Längerem, man lasse uns leben. Ich meine: Man ließ uns leben, wie man uns früher arbeiten hatte lassen.
In dem Sinne: Leben Sie weiter.
Ihre Referentinnen, Tanja Brandmayr und Olivia Schütz
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