Eine solidarische Union der Räte

Die Referentin bringt seit mehreren Ausgaben eine Serie über frühe Anarchist_innen und frühe soziale und politische Bewegungen, die im Zeichen von kämpferischer Befreiung standen. Eva Schörkhuber in dieser Ausgabe über die Kronstädter Rebell*innen und wie sie vor 100 Jahren versuchten, die Russische Revolution vor dem Scheitern an sich selbst zu bewahren.

„Revolutionen sind Öffnungen der Geschichte“, schreibt Bini Adamczak zu Beginn des Kapitels Eventualgeschichte in ihrem Buch Der schönste Tag im Leben des Alexander Berkman. Sie untersucht darin, angesichts welcher konkreten Bedingungen sich aus einer Vielzahl an historischen Möglichkeiten einige durchsetzen konnten und andere nicht. Im Fall der Russischen Revolution stellt sie auf mehreren Ebenen die Frage, welchen anderen Ausgang diese hätte nehmen können, wenn sich ihr Verlauf an bestimmten Momenten verändert hätte. Sie sucht nach „Auswegen“, nach unterschiedlichen Blickwinkeln, die es erlauben, im Scheitern der Russischen Revolution, das sich spätestens im stalinistischen Terror offenbarte, „die Möglichkeit eines Gelingens aufscheinen“ zu sehen. Dabei geht es nicht darum, die Vergangenheit umzuschreiben, neu zu erfinden und in eine utopische Luftspiegelung zu verwandeln. Das, was Bini Adamczak als „Eventualgeschichte“ bezeichnet, „muss vielmehr fest in der Realgeschichte verankert werden“. Erst auf diese Weise lassen sich jene Wendepunkte ausmachen, an denen andere soziale und politische Bewegungen, die vom historischen Verlauf verdeckt, verdrängt und mitunter auch vernichtet wurden, wieder sichtbar werden.
Es sind drei „Auswege“, die Adamczak perspektiviert und sorgfältig entlang historischer Fakten, sozialer und politischer Gegebenheiten aufrollt: Sie befragt die Umstände des „prekären Friedens“, den die Sowjetunion nach dem Ersten Weltkrieg und am Ende des Bürgerkrieges ausverhandelt hat; sie setzt jene Möglichkeiten auseinander, mit denen das Verhältnis von Stadt und Land, der Umgang mit den Bäuer*innen und somit auch die Verteilung von Grund und Bodenerträgen anderes hätten gelöst werden können, als vom bolschewistischen Regime realisiert; und sie verhandelt angesichts des Kronstädter Aufstandes von 1921 das System der Räte, der Sowjets, das in seiner ursprünglichen, allerdings bereits kurz nach 1917 von einer zentralistischen Machtlogik usurpierten Form ebenfalls ein Gelingen der Russischen Revolution hätte „aufscheinen“ lassen können.

Perspektivenwechsel
Der titelgebende schönste Tag im Leben des Alexander Berkman bezieht sich auf einen Tagebucheintrag, in dem der Anarchist Alexander Berkman, der gemeinsam mit 249 anderen politischen Gefangenen, darunter auch die Anarchistin Emma Goldman, im Jänner 1920 von den USA nach Russland abgeschoben wurde, seine Ankunft in der Sowjetunion schildert:
„Ein Gefühl von Erhabenheit, von Ehrfurcht überkam mich. So mussten sich meine frommen Vorfahren gefühlt haben, als sie zum ersten Mal das Allerheiligste betraten. […] Mir war danach, die ganze Menschheit zu umarmen, ihr mein Herz zu Füßen zu legen, mein Leben tausendfach im Dienst der sozialen Revolution hinzugeben. Es war der schönste Tag meines Lebens.“
Die beinahe ekstatisch-religiöse Verzückung, die Berkman bei seiner Ankunft in der Sowjetunion, die im Übrigen auch eine Art Rückkehr darstellte – er war wie Emma Goldman in Russland geboren und aufgewachsen – empfand, wich einer gewissen Skepsis gegenüber der bolschewistischen Realpolitik. In seiner 1922 im Exil in Berlin verfassten Broschüre dokumentiert er Die Kronstadt Rebellion, ihren Verlauf und ihre brutale Niederschlagung. Darin schildert er auch, wie wohlwollend er trotz einiger Vorbehalte den Bolschewiki noch im März 1921 gegenüberstand: Zu diesem Zeitpunkt hatten Arbeiter*innen in Petrograd in Form von Streiks und Versammlungen, die allesamt unterdrückt, verboten und mit Polizei- und Militärgewalt aufgelöst wurden, gegen die autokratische Regierung protestiert; die Matros*innen in Kronstadt hatten sich mit den städtischen Arbeiter*innen solidarisiert und ihrerseits eine Resolution verfasst, die sich gegen die Zensur und gegen die Politbüros wandte und für eine freie, geheime Wahl der Sowjet-Delegierten sowie für Versammlungsfreiheit und eine gleiche Aufteilung der Lebensmittelrationen für alle eintrat. Als am 4.3.1921 der Petrograder Sowjet zusammentrat, um eine rigorose Vorgehensweise gegen die offiziell als konterrevolutionär denunzierte Kronstädter Rebellion zu beschließen, kam Alexander Berkman, wie er rückblickend „gesteht“, „eher zugunsten von Zinowjews [Vorsitzender des Petrograder Sowjets] Gesichtspunkt gestimmt zu dieser Sitzung: ich war auf meiner Hut vor der leisesten Möglichkeit gegenrevolutionären Einflusses in Kronstadt. Aber Zinowjews Rede selbst überzeugte mich, daß die kommunistischen Anklagen gegen die Matrosen reine Mache waren ohne einen Funken von Wahrheit.“
Der Eindruck, dass es sich bei der Kronstädter Bewegung um gegenrevolutionäre Tendenzen handle, wurde von der offiziellen sowjetischen Presse massiv geschürt. Von einem Komplott der alliierten Siegermächte war dabei die Rede, von ausländischen Spionen und einem korrupten General, der diese Konterrevolution anführen solle.

Die Kronstädter Bewegung für freie Sowjets
Die mediale Propaganda, die den Kronstädter Aufstand diffamierte, konzentrierte sich darauf, die Bedrohung als eine äußere, vom kapitalistischen Ausland gelenkte zu beschreiben. Tatsächlich handelte es sich vielmehr um eine innere Bewegung – die Matros*innen, die federführend an der Resolution beteiligt waren, wollten die Sowjetunion, für die sie jahrelang gekämpft hatten, keineswegs unterwandern oder durch eine andere Staatsform ersetzen, im Gegenteil: Ihre Forderungen reichten zurück zu den Grundsätzen der Russischen Revolution, die von den Bolschewiki selbst sukzessive außer Kraft gesetzt worden waren. Darin bestand die eigentliche Bedrohung aus Sicht der regierenden Partei.
Die Aufstände sowohl der streikenden Arbeiter*innen in Petrograd als auch jener in Kronstadt richteten sich gegen die zusehends autoritäre Regierungspolitik der Bolschewiki. Die zentrale Forderung der Kronstädter Matros*innen, Soldat*innen und Arbeiter*innen bestand darin, die Geschicke der Revolution wieder zurück in die Hände der Bevölkerung zu legen, indem die Räte frei gewählt werden konnten, um dadurch die Regierungsmacht zu dezentralisieren. In der am 1. 3. 1921 verabschiedeten Resolution lautete die erste Forderung:
„Angesichts der Tatsache, daß die gegenwärtigen Sowjets den Willen der Arbeiter und Bauern nicht ausdrücken, sofort neue Wahlen mit geheimer Abstimmung abzuhalten, wobei die vorherige Wahlkampagne volle Agitationsfreiheit unter den Arbeitern und Bauern haben muß.“
Von diesen Wahlen sollten Parteifunktionär*innen keineswegs ausgeschlossen werden, gefordert wurde lediglich, dass sich alle unter denselben Voraussetzungen zur Wahl stellen konnten. Insofern handelte es sich bei der Dritten Revolution, wie der Kronstädter Aufstand von seinen Akteur*innen bezeichnet wurde, um eine Demokratiebewegung, der sich Menschen mit unterschiedlicher politischer Haltung anschlossen. Es gab Solidaritätsbekundungen der Linken Sozialrevolutionär*innen ebenso wie der Anarchist*innen. Und als die Regierung mit ihren Repressionen gegen die Kronstädter Bewegung begann – es wurden etwa Familienmitglieder von Rebell*innen in Geiselhaft genommen –, bekundeten auch viele Bolschewiki ihr Missfallen, indem sie aus der Partei austraten und ihren Austritt in der Zeitung Izvestia, dem Organ der Dritten Revolution, begründeten. Die Lehrerin Maria Nikolajewna Schatel schreibt am 8. 3. 1921, als die militärische Offensive der Bolschewiki gegen die Kron­städ­ter*innen bereits begonnen hatte: „Das kommunistische Schlagwort ‚Alles für das Volk‘ begeisterte mich mit seiner Würde und Schönheit, und im Februar 1920 trat ich in die Russische Kommunistische Partei als Kandidatin ein. Aber der ‚erste Schuß‘, abgefeuert gegen die friedliche Bevölkerung […] erfüllt mich mit […] Schrecken […]. Ich fühle, daß ich nicht länger an das, das sich selbst durch eine teuflische Tat geschändet hat, glauben und es propagieren kann.“

K/Ein Ausweg aus der binären Kriegslogik
Die „teuflische Tat“ bestand in der brutalen Niederschlagung des Kronstädter Aufstands. Beim Ablauf des Ultimatums, das die Regierungspartei den Kronstädter*innen gestellt hatte, verlautbarte der Vorsitzende des Revolutionären Militärsowjets Leo Trotkzi: „Ich werde euch wie Fasanen niederschießen.“ Alexander Berkman erläutert in seiner Broschüre, wie die blutige Niederlage der Dritten Revolution hätte verhindert werden können: Eine militärische Offensive seitens der Aufständischen hätte, wie im Falle der Pariser Commune, die Regierung überraschen und in die Defensive zwingen können. Doch wie die Kommunard*innen wollten die Kronstädter Rebell*innen kein Blutvergießen, sie wollten keinen weiteren Bürger*innenkrieg, sondern eine breite aktive Beteiligung der Bevölkerung an der Revolution – über die immer engeren Grenzen der Partei hinweg. Dadurch hätten sie die Geschichte der Russischen Revolution öffnen, einen „Ausweg“ aus der „binären Logik des Krieges“, wie sie Bini Adamczak beschreibt, finden können. „Eine binäre Dialektik von Revolution und Konterrevolution […] homogenisiert die Pole und verschweigt deren innere Differenzen.“ Die Verdrängung, Verleugnung und schließlich Vernichtung der inneren Widersprüche zeigte sich sowohl in der bolschewistischen Anti-Kronstadt-Propaganda als auch in der äußersten Polizei- und Militärgewalt, die aufgewandt wurde, um die Macht der Sowjets nicht umverteilen zu müssen. Dieser Weg führte die Russische Revolution in jene Paranoia, die im stalinistischen Terror gipfelte.
Hätte die Kronstädter Bewegung für freie Sowjets einen anderen Ausgang genommen, dann wäre die Einreise in die Sowjetunion nicht der schönste Tag im Leben des Alexander Berkman gewesen: „In einer solidarischen Union der Räte hätte er noch schönere Tage erlebt.“

 

Bini Adamczak: Der schönste Tag im Leben des Alexander Berkman. Vom möglichen Gelingen der Russischen Revolution. Münster: edition assemblage 2017.

Alexander Berkman: Die Kronstadt Rebellion. Berlin: Verlag Der Syndikalist 1923.

Die Serie in der Referentin ist auf Anregung von Andreas Gautsch bzw. der Gruppe Anarchismusforschung entstanden. Siehe auch: anarchismusforschung.org

0 Kommentare

Hinterlasse einen Kommentar

An der Diskussion beteiligen?
Hinterlasse uns deinen Kommentar!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert