Es ist überhaupt nicht wurscht.

Pandemie und Lockdown: Otto Tremetzberger stellt gesellschafts­politische Beobachtungen an, wirft einen Blick auf die schon länger an­dauernde Misere eines kulturpolitischen Kennzahlenfetischismus – und thematisiert gerade in der Krise den Verlust von Kunst und Kultur als bedingungslosen Wert.

Die Kunst der Politik besteht darin, die Umstände, deren Urheber man häufig selber ist, im richtigen Augenblick zu beseitigen. Man beginne einen Krieg, um ihn zu beenden. Man sperre ein Tal, um die Eingeschlossenen zu befreien. Man setze die Daumenschrauben an, und lockere bei Gelegenheit. Die Umfragen, das Letzte, worauf er schaue, sagte unlängst der Kanzler, zeigen Erstaunliches. Lebensun­zufriedenheit und Zufriedenheit mit der Regierung korrelieren positiv. Arbeitslosigkeit und Zustimmung zur Regierung sinken. Ein Land, eine Gesellschaft im Stockholm-Syndrom? Hätte es schlimmer kommen können? Wahrscheinlich, sagen die meisten. Nein, sagen die Identitären, EsoterikerInnen, WutbürgerInnen, renitente 68er, HändewaschenverweigererInnen und linke wie rechte SektiererInnen.

„Widerstand“ ist generell kurz davor, sich auf den Faktor Empörung zu reduzieren. Linke und Rechte demonstrieren mancherorts Hand in Hand gegen ein System, das sich gegen Kritik weitgehend abschottet, koste es (Stichwort „Medienförderung“), was es wolle. Die Vernunft bleibt, wie so oft, auf der Strecke. Emotion ist die härteste Währung im politischen Geschäft. Die Bundesregierung investierte folgerichtig in Angst als Disziplinierungsmittel. Es ist dies, gewiss, nur die Spitze vom Eisberg jener polittaktischen, strategischen Überlegungen, deren sachliche Kritik gemeinhin als Verschwörung und Anpatzerei abgetan wird.

Von der Krise als „Katalysator“ war die Rede, womit die alte Reinigungsmetapher nur ein anderes, freundlicheres Gesicht bekommt. Aber dies hier wird auch nur eine weitere „Phase“ bleiben. Eine Phase hingegen, in der selbst in den kulturellen Leuchttürmen kein Licht brannte. Die großen Museen blieben, als ausgelagerte Kulturbetriebe den ökonomischen Prinzipien längst gesetzlich verpflichtet, mit den Touristenrouten geschlossen, weniger lange, hieß es, als sie es selbst wollten. „Wir Österreicher genügen wohl nicht“, zitierte der Standard einen Steuerzahler. Blockbuster verschoben. Theater zu. Die Albertina geschlossen. Auf die Idee, dass es im „Shutdown“ nicht nur um kulturtouristische, sondern eben auch kultur- oder gesellschaftspolitische Aspekte gehen könnte, kamen auffällig wenige. Die Diskussion über die Auswirkungen der Pandemie auf das künstlerische und kulturelle Leben kreiste weitgehend um Eigenfinanzierungsquoten, Einnahmenausfälle, Quadratmeter, Besucherzahlen und Deckungsbeiträge.

Die mancherorts geäußerte Hoffnung, dass die großen, und ohne den modernen Massentourismus, ins Schlingern geratenen Tanker, sich wieder ihrem „Kernauftrag“ als „wissenschaftliche Anstalten“, und nicht der ökonomischen Nutzenmaximierung besinnen würden (und die Politik dies ermögliche), ist naturgemäß genauso unsinnig und vergeblich, wie die Hoffnung, im Bordone-Saal des Kunsthistorischen Museums in Wien demnächst nicht Vierteltagestouristen aus Beijing, sondern auf Reger und Irrsiegler zu treffen. Albrecht-Schröder: „Ich kann dieser Rückbesinnung auf provinzielle Zustände nichts abgewinnen.“ Der Bordone-Saal, Reger und Irrsiegler existieren nur bei Thomas Bernhard; und den hat 2017 nicht einmal die Kultursprecherin der ÖVP wiedererkannt. Als ob man Ischgl wieder zur Heidi-Alm rückbauen könnte und wollte! Im Übrigen handelt es sich bei der Albertina und Ischgl nicht um Gegensätze, sondern um die beiden Seiten ein- und derselben Medaille.

Sollte man nicht gerade jetzt darüber reden, dass die Kommerzialisierung von Kunst und Kultur eine Sackgasse ist, wie Ischgl eine ist? Ist es nicht so, dass, wer sich den Zahlen ausliefert (und nicht selten damit prahlt), am Ende schwach ist und angreifbar? Und dass die Ökonomisierung (Umwegrentabilität) in der kulturpolitischen Diskussion ein Trugschluss ist? Hat man nicht viel zu lange den gesellschaftlichen Wert einer kulturellen Sache mit dem wirtschaftlichen verwechselt? Soll man nicht, gerade jetzt, wie es Rudolf Scholten kürzlich im Falter nahelegte, abseits der Debatte um Zahlen, um Relevanz, um Qualität, nämlich wieder bedingungslos und grundsätzlich die Bedeutung von Kunst und Kultur behaupten? Und ist es nicht verräterisch, wenn die Misere und die Lockerungen in der Kultur nahezu ausschließlich vor dem Hintergrund von Einnahmen oder Nichteinnahmen reflektiert werden? Als handle es sich nur um eine Variante der Schanigartenöffnung. Als seien Museen, Theater, Kinos und (irgendwo dann auch genannt) Kulturvereine nur eine andere Form von Wirtshaus.

Die sehr häufig sehr hämischen Kommentare in den Onlineforen lassen erahnen, dass, wie in der Finanzkrise, nun auch in dieser, die vielbeschworenen „Lehren“, die Politik und Gesellschaft daraus ziehen SOLLTEN und MÜSSTEN, überschaubar bleiben, dass sich „am System“ selbst wieder einmal nichts ändern werde, dass die Unverhältnismäßigkeiten und die Widersprüche generell und also auch im Kulturbereich weiter ver-, und nicht entschärft würden.

Niemand, auch der jugendliche Kanzler im alten Kreisky-Zimmer, kann wirklich wissen, wie die Welt nach Corona sein wird. Man muss, soll Michel Houellebecq gesagt haben, aber damit rechnen, dass wir nicht in einer neuen Welt aufwachen. Es werde weiterhin die gleiche sein, nur ein wenig schlimmer.

Auch von dieser Seuche wird behauptet, dass sie alle gleichmache und alle gleich treffe. Aber handelt es sich nicht schon jetzt vornehmlich um eine Krankheit der Schwächeren? Gesundheitlich, gesellschaftlich, wirtschaftlich, kulturell und sozial. Schon die zunehmend unverblümt gestellte Frage, ob das Leben von 85jährigen es letztlich wert sei, dass man eine Wirtschaft herunterfährt, lässt erahnen, wo die Reise hingeht. „Der teure Schutz der Alten“ und „Alles Riskieren für die Alten?“, schreibt der Standard. Noch nie, so Michel Houellebecq, sei mit einer solch gelassenen Schamlosigkeit zum Ausdruck gebracht worden, dass das Leben aller Menschen nicht denselben Wert habe. Wird man über „die Alten“ also demnächst unwidersprochen so reden und so urteilen, wie – nach der sogenannten Flüchtlingskrise – über diese? Die Kunst der Politik besteht mittlerweile auch darin, im ersten richtigen Zeitpunkt das zu sagen, was man (noch) nicht sagen darf, und das tun, was man nicht tun darf, aber demnächst eben schon, weil es dann „Mainstream“ ist. Wo heute Angst und Empörung groß sind, werden es morgen Gleichgültigkeit und Achtlosigkeit sein.

In den Tageszeitungen die Kulturseiten, die Not zur Tugend erklärend, sind so „kulturpolitisch“ wie noch nie. Schließlich fehlen die Events, die Blockbusterausstellungen, die großen Festivals, die großen Premieren in den großen Kinos und auf den großen Bühnen. Dutzende Journalisten haben sich abgearbeitet an Ulrike Lunacek. Am Finanzminister brauchte die Kritik nicht einmal abprallen.

Unlängst, während tausende Kulturschaffende und andere nicht unselbstständig Beschäftigte mitten in den Trümmern ihrer Existenz und an den Abgründen ihrer Zukunft standen, hat Wolfgang Katzian, Präsident des ÖGB, die nicht neue Forderung nach einem „Grundeinkommen“ im Interview mit Ö1 brüsk polternd vom virtuellen Tisch gewischt. Es würden die Konzepte fehlen. Der ÖGB hat, wie die allermeisten politischen Akteure in den vergangenen Monaten, den einfachen Kulturschaffenden nicht viel zu sagen.

Als man im März von heute auf morgen das Veranstalten und Verkaufen von Kultur unterband, wollte Ö1, auch nur konsequent, das „Kulturjournal“ sogleich einstellen. Womit der ORF nicht nur Sinn fürs Sparen bewies, sondern auch, dass man als kleiner Kulturschaffender jetzt und auch in Zukunft kaum mit ihm zu rechnen braucht. Traditionell steht die Kultur bei den Zahlenfuchsen auf der Streichliste an erster Stelle. Dieser halbe Schritt, ein Geständnis, brachte dem ORF völlig zurecht die wahrscheinlich 10.000ste Petition des Gerhard Ruiss.

Der laute Aufschrei in der Kultur täuscht. Viele, die Masse, die es nicht in die Zeitungen und Talkshows schafft, schweigt. „Von Nichts kommt nichts.“ Unter den Kulturschaffenden führen deshalb weitgehend die UnternehmerInnen das Wort. Die MacherInnen. Die ManagerInnen. Helga Rabl-Stadler darf sich als „Eisbrecherin“ rühmen. Als Anwältin der vielen freien, lange vor Corona nicht- und unterbezahlten Kulturschaffenden kennt man sie nicht. Wortgewaltige Fernsehkabarettisten sorgen für den nötigen Schmäh, für spärlich bekleidete junge Frauen im Bildhintergrund, und die Quote, ohne die nichts, schon gar nicht im ORF, mehr geht. Kulturpolitik im Interesse der eigenen Sache. Das breite Schweigen der Kulturzampanos und Kulturfunktionäre zu den eigentlichen gesellschaftlichen Entwicklungen hingegen ist skandalös.

Die Welt steht nimmer lang. Dieser notorisch österreichische Weltschmerz („Eh schon wurscht“) ist eingewoben in ein ziemlich reales Problem, das am 14. März für viele Kulturschaffende nicht erst begann, sondern, ist zu befürchten, endete. 20 Jahre hat sich kaum jemand um das leise Sterben der Kulturschaffenden gekümmert. Über die „Soziale Lage der Kulturschaffenden“ wurden Studien präsentiert, die Unglaubliches zu Tage brachten. So unglaublich wie die beschämende Bezahlung der Pflegerinnen und der Erntehelfer. In den Augen vieler handelte es sich bei deren Beschäftigung bisher aber nicht um Ausbeutung, sondern um „Wirtschaftshilfe“, oder (Stichwort „Streichen der Kinderbeihilfe“) um „Sozialbetrug“. Es wäre nun die Gelegenheit, auch diesen Widerspruch aufzulösen.

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