Gira Zapatista

Die Referentin bringt seit mehreren Heften eine Serie über frühe kämpferisch-soziale Bewegungen und emanzipatorische Entwicklungen. In dieser Ausgabe geht es um die aktuellen Autonomieprozesse des Zapatismus. Über die ‚Reise für das Leben‘, die die Zapatistas heuer bis nach Tirol geführt hat, berichtet uva obstinada.

Die Reise für das Leben. Foto zapatirol

Menschen, die bereits in den 90ern politisch aktiv waren, werden sich noch gut an den Beginn des Jahres 1994 erinnern. In der Silvesternacht 1993 besetzte der Ejercito Zapatista de Liberación Nacional/EZLN mehrere Städte des im Süden von Mexiko gelegenen Chiapas und erklärte dem mexikanischen Staat den Krieg. Das Datum war sehr genau gewählt. Am 1. Jänner 1994 trat das Freihandelsabkommen NAFTA in Kraft, das für viele Kleinbäuer*innen, die bereits zu diesem Zeitpunkt in elenden Verhältnissen leben mussten, existenzbedrohende Folgen hatte. Mit zivilen Protestformen versuchten die indigenen Bewohner*innen der Selva Lacandona zuvor immer wieder auf ihre miserablen Lebensumstände aufmerksam zu machen, ohne Gehör zu finden 1. Nach 12 Tagen zog sich die bewaffnete Guerilla wieder in die Berge zurück. Die zapatistische Bewegung begann daraufhin mit dem Aufbau autonomer, auf Solidarität basierender und selbstverwalteter Gesellschaftsstrukturen. Als antiautoritäre Bewegung stellten sie sich dem Versuch, eine neue Welt zu erschaffen, ohne die Macht zu ergreifen. Dies geschieht über ein basisdemokratisches Rätesystem und dem Prinzip des gehorchenden Regierens: Entscheidungen werden an der Basis getroffen und durch jederzeit abwählbare Delegierte über mehrere Instanzen bis zum Rat der guten Regierung wei­tergetragen, der für die Umsetzung verantwortlich ist.
Die Zapatistas setzten von Beginn an auf Internationalismus und globale Vernetzung. Gleichzeitig bot der Autonomieprozess und die gelebte Revolution der Zapatistas emanzipatorischen Bewegungen Inspiration und neue Perspektiven. Damit stieß der Zapatismus große, weltweite Proteste wie die Antiglobalisierungsbewegung mit an.
In Folge der Wirtschaftskrise 2008 begann der weltweite Aufstieg rechtsextremer Demagog*innen und die globale Marginalisierung linker Bewegungen. Die Aufbruchstimmung der 00er Jahre verflog zunehmend und die Kämpfe der Zapatistas bekamen immer weniger Aufmerksamkeit.

Im Oktober 2020 informierte das Geheime Revolutionäre Indigene Komitee (CCRI) in einem Kommuniqué über den Plan, dass verschiedene zapatistische Delegationen die Welt bereisen werden, um sich mit linken Basisgruppen auszutauschen und Kämpfe gegen Kapitalismus, Patriarchat, Rassismen oder Umweltzerstörung zu vernetzen.
In den Kommuniqués erklären die Zapatistas ihre Beweggründe für die Reise für das Leben: Die weltweiten Zerstörungen des kapitalistischen Systems werden zunehmend zu einer Bedrohung für die gesamte Menschheit. Als wollten die Zapatistas mit ihren Texten in Erinnerung rufen, dass all die Herrschaftsstrukturen, die so viel Leid verursachen, von Menschen gemacht sind und damit auch durch Menschen zu Fall gebracht werden können. Deshalb suchen die Compañeroas den Austausch mit Gleichgesinnten, um Gemeinsamkeiten zu finden, Unterschiede anzuerkennen, voneinander zu lernen und Organisierungsprozesse zu stärken.
Die Delegation besteht mehrheitlich aus Frauen*, umfasst 450 Personen, und setzt sich auch aus Menschen anderer indigener Organisationen zusammen. 180 machten sich trotz enormer staatlicher Schikanen auf den Weg nach Europa.
Eine erste Vorhut aus sechs Personen erreichte bereits im Juni 2021 per Schiff europäisches Land. Als umgekehrte Eroberung und anti-koloniale Antwort auf die Conquista und die Gräueltaten der einstigen Kolonialmacht ging die Delegation „500 Jahre nach der angeblichen Eroberung dessen, was heute Mexiko ist“ in Spanien an Land und benannte den neuen Kontinent in Slumil K‘axemk‘op (widerständiges Land) um. „Wir werden dem spanischen Pueblo (…) sagen: Erstens: Dass sie uns nicht erobert haben. Dass wir weiterhin da sind und Widerstand und Rebellion fortsetzen. (…).“ 2
Die Neubenennung Europas legt nahe, dass es der zapatistischen Bewegung nicht nur um die Sichtbarmachung der eigenen Widerstandsgeschichte geht. „Existimos, porque resistimos“ (wir existieren, weil wir Widerstand leisten) richtet sich auch an alle linken Aktivist*innen, die für eine gerechtere Welt kämpfen und vielleicht auch an all jene, denen die Kraft ausgegangen ist oder die den Kampf für eine gleichberechtigte Welt bereits verloren gegeben haben.
Obwohl die Reise mehrmals durch staatliche Schikanen gefährdet schien, war es Mitte September dann doch so weit: 180 Delegierte landeten in Wien und wurden dort mit einer Kundgebung und Willkommensveranstaltungen begrüßt. Nach Erarbeitung eines Reiseplanes wurden Kleindelegationen in verschiedene Länder und Städte entsandt.
So kam am 24. September 2021 auch die freudigst erwartete Delegation aus 6 Frauen* und 6 Männern in Innsbruck an. Das Ankunftsdatum wurde wenige Tage zuvor bekanntgegeben und erforderte eine schnelle Fixierung aller Veranstaltungsideen.
Ungefähr 60 Menschen waren gekommen, um die Compañeroas am Hauptbahnhof willkommen zu heißen. Nach einem Anfangsapplaus wurde schnell klar, dass es keinen Ablaufplan gab. So standen sich für einen Moment alle verlegen gegenüber, bis ein Aktivist aus der ZapaTirol-Gruppe zu einer Willkommensrede ansetzte. An einem Haus wurde ein großes Banner mit der Aufschrift Hola Compas Zapatistas entrollt und die Delegation mit Transparenten und Willkommensschildern zu den wartenden Autos auf der anderen Straßenseite begleitet. Nach einem gemeinsamen Abendessen gab es ein erstes Plenum, um den Compas das Programm für die nächsten zwei Wochen vorzustellen. Sie entschieden sich nach gemeinsamer Rücksprache dazu, alle Einladungen anzunehmen und bedankten sich für die Möglichkeit hier zu sein.
Am nächsten Tag fand eine Kundgebung vor dem mexikanischen Honorarkonsulat in Wattens statt. Kurz vor Ankunft der Delegation rief die zapatistische Generalkommandantur wegen zunehmender paramilitärischer Angriffe und der Finanzierung von paramilitärischen Gruppen durch den mexikanischen Staat zu Protestaktionen auf. Diese Art der staatlichen Gewalt wird auch als Krieg niederer Intensität bezeichnet. Ein Drittel des gesamten Militärs ist im dünnbesiedelten Chiapas stationiert und umstellt die befreiten Gebiete. Es kommt immer wieder zu Angriffen von Bundespolizei, Militär und Paramilitärs, neuerdings auch von Narcos, mafiaähnlichen Strukturen im Bereich des Drogenhandels. Viel deutet daraufhin, dass Gewalteskalationen drohen.
An den Folgetagen fanden verschiedene kleine, manchmal auch größere Gesprächsrunden statt. Der Austausch umfasste politische Kampffelder, Organisierungsprozesse, Strategien und Werkzeuge des Widerstands, aber auch den Umgang mit Konflikten. Die Compas teilten die Idee des Compañerismo mit uns, bei dem es um Vertrauensbildung, das Tragen von Verantwortung füreinander und das Zusammenwachsen als Gruppe geht. Gerade das Zusammenführen von verschiedenen Kämpfen war – so die Compas – in den ersten Jahren ein langer, schwieriger und konfliktreicher Prozess. Die Notwendigkeit der Aushandlung eines konfliktreichen WIRs wird von den Compas heute durch die Überzeugung getragen, dass jede*r das Recht hat zu kämpfen und für ihre*seine Rechte einzutreten. Als konkretes Beispiel erzählten die Compas, dass ihre Bewegung zu Beginn sehr patriarchal strukturiert war. Frauen* mussten sich ihren Platz darin erst erkämpfen und führten in Folge die revolutionären Frauen* ge­setze ein, die für alle FLINTAs* ein gewaltfreies, selbstbestimmtes Leben bei voller politischer Partizipation ermöglichen sollen. Bei einem feministischen Austauschtreffen erzählten die Compañeras* von den Veränderungen in ihren Pueblos: Die Haltung und Verantwortungsübernahme des ganzen Dorfes führten dazu, dass Frauen* nur mehr sehr selten von Gewalt betroffen sind.
Die Bereitschaft zur Suche nach selbstreflexiven, lösungsorientierten und transformativen Wegen der Konfliktbearbeitung beschrieben die Compas als wichtigen Teil ihrer Organisierung, um zu einem Kollektiv zusammenzuwachsen und Spaltungen zu verhindern.
Die Delegation traf auch zu einem Erfahrungsaustausch mit Menschen zusammen, die besonders stark von Entrechtung, staatlicher Gewalt und polizeilichen Repressionen betroffen sind: mit Menschen aus Afghanistan, Armutsreisenden und Geflüchteten, die im Abschiebelager Bürgelkopf isoliert und festgesetzt werden.
Ein Kinoabend, an dem Der Aufstand der Würde gezeigt wurde, bot den Rahmen für eine große und offene Veranstaltung. Das Interesse war riesig, der Kinosaal ausverkauft. Die Dokumentation informiert über die zapatistische Bewegung und die selbstorganisierten Gesellschaftsstrukturen und wurde den Compas per Flüsterübersetzung gedolmetscht. Nach dem Film gab es Raum für Gespräche, Ergänzungen und Fragen.
Die Zapatistas organisieren sich u. a. in landwirtschaftlichen Genossenschaften, in Frauen*kooperativen, mit solidarischen Vertriebsstrukturen und leben von Subsistenzwirtschaft. Deshalb gab es beim Besuch einer SoLawi und einer Kräuterwanderung die Möglichkeit, agrarökologisches und naturmedizinisches Wissen auszutauschen.
Beim feministischen Kampftag und einer FLINTA*-Platzbesetzung konnten die Compañeras* leider nicht mehr dabei sein, weil sie bereits am Vortag weiterreisten. Wie bei den encuentros feministas, den feministischen Treffen in Chiapas, übernahmen solidarische Männer die Carearbeit. Abends fand eine Demonstration statt, die für alle offen war und von einem FLINTA*-Block angeführt wurde. Dem Aufruf Eine andere Welt ist möglich! Kämpfen im Herzen der Bestie folgten neben zahlreichen Menschen auch die verbliebenen Compas. Am Ende der kämpferischen Demo wurde der Platz ohne Namen vor dem Landestheater, der in Zeiten des faschistischen Terrors erst Dollfuß- und später Adolf-Hitler-Platz hieß, zum Ni Una Menos Platz benannt.
Nach 14 intensiven Tagen gab es eine Abschlussreflexionsrunde, die ein Aktivist mit der Feststellung schloss, dass es längst nicht mehr nur darum geht, ob eine andere Welt möglich ist. Stattdessen haben wir schon lange den Punkt erreicht, an dem eine andere Welt notwendig ist. Gehen wir’s an!

1 Christian Schwaiger: Reise der Zapatistas nach Europa. In: Kreidekreis 4/2021, S. 18
2 Sechster Teil: EIN BERG AUF HOHER SEE. In: Tierra y Libertad-Nr. 82, S. 6

zapatirol.noblogs.org
zapalotta.org

Die Serie in der Referentin ist auf Anregung von Andreas Gautsch bzw. der Gruppe Anarchismusforschung entstanden, siehe auch: anarchismusforschung.org

0 Kommentare

Hinterlasse einen Kommentar

An der Diskussion beteiligen?
Hinterlasse uns deinen Kommentar!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert