„Herausschälen, bis wir halbwegs zufrieden sind“

Mit Ende dieser Spielzeit kehrt Schauspielchef Gerhard Willert der Bühne des Linzer Landestheaters den Rücken und wird im Herbst durch den deutschen Regisseur Stephan Suschke abgelöst. Willert hat mit seinem Schauspielprogramm und seinen eigenen 55 Inszenierungen dem Linzer Theater eine unverwechselbare Note verliehen und das Theaterpublikum auch polarisiert.

Ein Jahr lang will sich Gerhard Willert nach Ende dieser Spielzeit einen Luxus gönnen, den er seit Beginn seiner Funktion in Linz 1998 kaum kannte: Ruhe und Entspannung, um Pläne für die Zukunft zu schmieden. Willert ist in der Nähe von Regensburg geboren und inszenierte unter anderem in Cardiff/Wales, München und Hamburg. 1993 wird er am Schauspielhaus Wien engagiert, für seine Inszenierung von Philip Ridleys Disney-Killer wird er mit der Kainz-Medaille ausgezeichnet. Als Schauspielchef und Regisseur in Linz habe ich Willert als leidenschaftlichen Theatermenschen kennengelernt, der manchmal wahre Theatererlebnisse auf die Bühne gebracht hat. Zu unserem Gespräch treffen wir uns in der Theaterkantine. Während eines verspäteten Mittagessens plant Willert mit seiner Assistentin die nächsten Tage, beide müssen umdisponieren und jonglieren, da dem Autor Christoph Nußbaumeder in seinem Stück Das Wasser im Meer, Willerts letzter Inszenierung in Linz, noch eine „Figur zugewachsen ist.“ Aus dem subjektiven Blickwinkel einer Theaterbesucherin, die seine Inszenierungen geschätzt hat, habe ich anschließend ein – vielleicht nicht objektives – Interview mit Gerhard Willert geführt.

Du siehst dich selbst als einen Theaterjunkie, was tut ein „Süchtiger“, wenn man ihm seinen Stoff nicht mehr gibt, also in diesem Fall die Bühne wegzieht?

Ich ziehe sie mir ja selber weg. Ich möchte jetzt mit dem Intendantenwechsel und bevor ich mich wieder neu orientiere noch in Linz bleiben, ruhiger treten und die Zeit nutzen, um zu lesen und zu schreiben.

Wirst du denn, um bei dem Bild zu bleiben, nicht bald deinen Stoff vermissen?

Ich denke spätestens im Herbst, wenn die Saison wieder beginnt, werde ich die Proben vermissen. Aber nicht allzu sehr, denn wenn ich jetzt schon an einem anderen Ort die neue Spielzeit hätte programmieren müssen, wäre das mit meiner Aufgabe in Linz nicht kompatibel gewesen. Inszenieren kann ich ja, auch ohne Direktor zu sein. Ich strebe jedoch wieder eine Leitungsposition an, allerdings frühestens ab der Spielzeit 2017/18. Ich lass mir Zeit, schließlich will alles gut vorbereitet sein. Bis dahin bleibe ich lieber hier als – wie so viele – nach Berlin oder München zu ziehen.

Hättest du gerne deinen Vertrag verlängert oder siehst du den Intendantenwechsel und deinen damit verbundenen Abschied aus Linz als willkommene Zäsur in deinem Leben?

Es ist eindeutig eine willkommene Zäsur. Das Landestheater hat sich durch das Neue Musiktheater verändert, ich meine das deskriptiv, nicht wertend. Es sind nicht mehr die Arbeitsbedingungen da, die mich interessieren. Da ich selbst keine Lösung für das Dilemma finde, ist es so das Beste. Das ist der Grund meiner Trennung vom Landestheater. Ich hätte außerdem ohnehin nie gedacht, dass ich so lange bleiben würde. Wenn mir jemand vor 18 Jahren gesagt hätte, dass ich 2016 noch immer hier sein werde, hätte ich ihm den Vogel gezeigt.

Wenn du an deine 18-jährige Zeit als Schauspielchef des Landestheaters zurückdenkst, was ist dir in erster Linie gelungen?

Vor sehr vielen Jahren gab mir der große Kollege Patrice Chéreau den Rat: Mach dir keine Gedanken über deinen Stil, das sollen andere tun. Auf deine Frage bezogen heißt das: wenn ich mich jetzt mit einer mittlerweile geflügelten Redewendung frage: „Wos woar mei Leistung?“, so würde ich zum einen sagen Stilpluralismus statt Monokultur, zum anderen aber und vor allem ist es das maximal emanzipierte Ensemble. Ich habe versucht, flache Hierarchien zu schaffen.

Was hättest du noch gerne umgesetzt?

Prinzipiell fällt mir inhaltlich dahingehend nichts ein, außer dass ich einige Stücke noch gerne gemacht hätte, oder um Shakespeares Zettel aus dem Sommernachtstraum zu zitieren: „Lasst mich den Löwen auch noch spielen.“ Baulich betrachtet hätte ich natürlich gerne das renovierte Schauspielhaus, das ich mitgeplant habe, eröffnet, und als kleine intime Spielstätte die Alte Tischlerei. Das eine hat das Denkmalamt verhindert, das andere unser neuer kaufmännischer Direktor. Aber bof … c’est la vie … Und ich habe letztes Jahr das Landestheater in das europäische Theaternetzwerk ETC überführt. Konkret profitieren davon werden jetzt meine Nachfolger, der Hermann und der Stephan, und das ist auch gut so.

Könntest du dich in Zukunft auch in einem anderen Beruf sehen, Gerhard Willert als Autor …

Ja, als Autor durchaus. Allerdings ohne das Theater aufzugeben.

Interessant, denn ich habe Autor eigentlich spontan und beispielhaft genannt.

Da ist dir wohl instinktiv das Richtige eingefallen. Doch, doch, literarisch zu arbeiten würde mich durchaus reizen, aber dazu fehlte mir neben dem Job bisher der Atem, übersetzen ging gerade noch. Ich war diesbezüglich manchmal neidisch auf Joël Pommerat, der beide Berufe zu verbinden weiß. (Anm.: französischer Schriftsteller und Regisseur, den Gerhard Willert für den deutschsprachigen Raum entdeckt und von dem er am Linzer Landestheater vier Stücke inszeniert hat.)

Könntest du dir vorstellen, Stücke zu schreiben?

Sagen wir so: Textsorten. Ich finde zu sagen, ich schreibe ein Stück ist bereits ein falscher Ansatz. Man muss prozesshaft arbeiten, die involvierte Energie muss die ihr adäquaten Formen finden. Wenn das dann aufgeführt wird, ist es ein Stück.

Als Schauspieldirektor eines großen Hauses verfügt man über eine nicht zu unterschätzende Machtfülle, wie bist du damit umgegangen?

Als ich nach Linz kam, war ich mir bewusst, was auch diesbezüglich auf mich zukommen wird. Aber man muss es in der Relation sehen. Seien wir ehrlich, das bisserl Macht über hundert Leute, was ist das schon? Ich bin fast sicher, dass ich da nicht gefährdet bin. Ich habe mich intensiv mit Michel Focault beschäftigt, auch andere Literatur zum Thema gelesen, ich hatte also eine Basis.

Ich hatte bereits Anfang der 1990-er Jahre das Angebot, Schauspielchef zu werden, da hat es mich noch nicht interessiert. Erste Leitungserfahrung hatte ich im Schauspielhaus Wien. Mich hat es an vielen Theatern genervt, wie mit Macht umgegangen wird, da gab es feindliche Lager, viele fühlten sich unterdrückt, die Direktoren agierten manchmal sehr willkürlich, die Regisseure standen in einem Konkurrenzverhältnis zueinander. Ich wollte ein freundschaftliches, kollegiales Klima. Von dieser Mission war ich erfüllt, als ich hierher kam, und es ist mir gelungen, sie umzusetzen.

Muss denn das nicht zwangsläufig Illusion bleiben, denn sobald Menschen miteinander arbeiten, entsteht doch Konkurrenz und daraus resultierend Konflikte. Ist Freundschaft für ein sachliches berufliches Klima nicht sogar eher hinderlich?

Das glaub ich ganz und gar nicht … und die jüngeren Erkenntnisse der Neurowissenschaften bestätigen meine Erfahrung … der Fisch stinkt vom Kopf her. Man kann durchaus mit Schauspielerinnen und Schauspielern arbeiten, mit denen man auch gut befreundet ist. Für mich war das noch nie ein Hindernis, im Gegenteil. Wenn ich einen Menschen sehr gut kenne, kann ich mir viele Worte sparen, ich weiß, wo ich anknüpfen muss, ich erinnere ihn an Situationen, die wir gemeinsam erlebt haben, und derjenige weiß dann genau, was ich meine.

Du hast, wenn ich mich zurück erinnere, öfters Stücke gewählt, die die orientierungslose westliche Gesellschaft des beginnenden neuen Jahrhunderts in den Mittelpunkt rücken, vor allem bei den Inszenierungen von Joël Pommerat, den du sehr schätzt. Gibt es deiner Meinung nach Themen, die aus politischen oder aktuellen Gründen auf die Bühne müssen oder muss dies nicht Aufgabe des Theaters sein? (Anm.: Willert hat beispielsweise knappe drei Monate nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 mit einer spontanen Änderung reagiert und das Stück Drei Wochen nach dem Paradies auf den Spielplan gesetzt.)

Klar, ich lebe ja in der Zeit, das hat alles mit uns zu tun. Doch wir finden die aktuellen Bezüge nicht nur in zeitgenössischen Stücken, wir finden sie auch beim Parasiten Tartuffe, der als Figur sehr aktuell ist, obwohl Molière ihn vor 350 Jahren geschrieben hat. (Anm.: Tartuffe ist noch bis 7. Juli in Willerts Inszenierung in den Kammerspielen zu sehen.)

Du hast, wie gerade angesprochen, einige Stücke gewählt, die sich am Puls der Zeit bewegen. Es gibt andererseits auch die Auffassung, gerade in politisch brisanten Zeiten sollte man in der Kunst Gegenpositionen aufbauen, nicht im Sinne des sogenannten Wahren, Guten und Schönen natürlich, aber dennoch eine Gegenwelt, die neue Räume der Phantasie eröffnet. Wie stehst du dazu?

Sowohl als auch, in der Ausschließlichkeit des einen oder anderen finde ich mich nicht wieder, für mich schließen sich die beiden Positionen nicht aus, sie lassen sich vereinen.

„Auf den Bühnen wagt man keine Grenzgänge mehr. Der Erfolgsdruck entmachtet die Phantasie“, schrieb der mittlerweile verstorbene Schauspieler Peter Kern bereits vor einigen Jahren in der FAZ. Teilst du sein hartes Urteil, hattest du in Linz manchmal den Eindruck, dass der Erfolgsdruck deine Phantasie entmachten könnte?

Nein gar nicht, ich kann diese Haltung nicht teilen. Den Theatern geht’s ja nicht schlecht im Allgemeinen, die meisten sind gut besucht und ich sehe auch sehr viele tolle Stücke. Die in den letzten etwa fünfzehn Jahren entstandenen Missstände liegen primär darin, dass die Subventionen bei nicht wenigen Häusern über das künstlerisch vertretbare Maß zurückgefahren wurden.

Das Theater Bremen beispielsweise hat mittlerweile bei gleichem Output nur noch 19 SchauspielerInnen statt 28 wie früher (wir in Linz haben immer noch 28). Es wurden außerdem aus finanziellen Gründen nur noch junge Schauspielerinnen und Schauspieler engagiert. Wenn Schauspieler wie am Fließband von einer Rolle zur nächsten durch die Spielzeit gehetzt werden, sind sie bald leer und ausgebrannt. Das kann keine Perspektive sein. Aber andererseits: Ich verfolge beispielsweise mit großer Freude die Arbeit von Falk Richter, der einst mein Assistent war. Das ist auch eine Freude, wenn eine Hoffnung, die man in jemanden steckt, aufgeht. Und ein toller Autor ist er auch noch geworden.

Was erwartest du von einer Schauspielerin, einem Schauspieler, mit der/dem du arbeiten möchtest?

Vom Handwerk müssen wir nicht reden, ich gehe davon aus, dass sie ihr Handwerk beherrschen. Mich interessiert an SchauspielerInnen, wie sie denken, ich mag intelligente Schauspielerinnen und Schauspieler, sie sollen sich einbringen, sich nicht verstellen, die spezifische Sensualität eines Textes für sich entdecken. Wobei das Denken und das Fühlen für mich als unbeirrbarer Anhänger von Diderot natürlich untrennbar verbunden sind …

Die sogenannten Figuren, die Schauspieler darzustellen haben, werden schon seit langem in Frage gestellt. Auch in Linz waren Stücke zu sehen, in denen keine Figuren im eigentlichen Sinne verkörpert, sondern eher Stimmen in Szene gesetzt wurden. Einige deiner Inszenierungen haben mich an Partituren erinnert, wenn ich an Das Gipfeltreffen vor acht Jahren denke. Wie schwierig ist die Erarbeitung mit den Schauspielern unter diesen Voraussetzungen?

Der Figurenbegriff ist ja überhaupt schwierig. Ich mag in diesem Zusammenhang eine Geschichte, die man sich über Michelangelo erzählt, recht gerne. Demnach soll er, als er für eine seiner Statuen gelobt wurde, geantwortet haben, er habe die Statue nicht im herkömmlichen Sinne geschaffen oder gemacht, er habe lediglich Überflüssiges aus dem Marmorblock entfernt. So ist es auch im Theater, man entfernt Überflüssiges, bis sich das herausschält, womit man halbwegs zufrieden ist. Es ist ein ständiger Prozess.

Das erfordert allerdings viel Zeit, die Bereitschaft zum Experiment und zur ständigen Auseinandersetzung mit dem Stück, der Regiearbeit und den einzelnen Schauspielerinnen und Schauspielern.

Ja, aber anders will ich es nicht und wollen es auch meine Mitarbeiter nicht. Ich finde, ein Regisseur, der „vom Blatt weg“ inszeniert, ist faul. Das ist nicht mein Ding, wir proben sieben bis acht Wochen lang. Die Zeit dürfen und müssen wir nützen.

Ich kenne Künstlerinnen und Künstler, die lange unter einer schlechten Kritik leiden, wie gehst du damit um?

Da steh ich mittlerweile drüber. Es ist ja die Frage, wer will oder kann wo hinhören und -sehen. Das Niveau von Kritik ist ja weitgehend zu einer Geschmackskritik verkommen, das ist mittlerweile leider austauschbar, das gilt für die Oberösterreichischen Nachrichten genauso wie den Mannheimer Morgen. Wir haben hauptsächlich eine peopleisation.

Um ein aktuelles Beispiel heranzuziehen, es war schon erstaunlich, dass keiner der Kritiker bemerkt hat, dass ich bei Tartuffe laufend Bildzitate verwendet und mit ihnen gespielt habe, warum und wie ich sie eingesetzt habe und was sie an dieser oder jener Stelle aussagen.

Sind die „lebendigen, wilden Theaterzeiten“ deiner Meinung nach vorbei, wenn ich beispielsweise an Peter Zadek oder Hans Gratzer denke, mit dem du auch intensiv gearbeitet hast?

Diese wilden Jahre waren schon eine besondere Zeit, es waren die 68-er und die Folgezeit. Die Regisseure sind mit der Devise „Wir brechen Sehgewohnheiten auf“ angetreten. Der Nachkriegsmief wurde weggeblasen, es wurde das erste Mal der Faschismus thematisiert. Es war enorm turbulent und lebendig, aber diese Art von Aufgeregtheit geht natürlich nicht immer. Schon gar nicht in Zeiten der Post-Histoire und des „anything goes“. Doch heute erweitert sich das Spektrum wieder. Milo Rau ist spannend, um einen Namen zu nennen, er interessiert mich. Aber auch die leiseren Töne zwischen Crimp und Lagarce und Pommerat und Thomas Arzt und Thomas Köck usw. werden wieder gehört …

Du hast dich in Linz mit einer Inszenierung eines zeitgenössischen, damals jungen Autors, nämlich Franzobel vorgestellt, und du verbeugst dich jetzt gewissermaßen mit einer Inszenierung eines Stücks eines jungen Autors, nämlich Christoph Nussbaumeder, von dem bereits einiges am Linzer Landestheater zu sehen war. Ist dieser Bogen bewusst gewählt oder einfach Zufall?

Nein, das ist kein Zufall, so was ist bei mir selten zufällig. Ich wollte auch unbedingt wieder mit einer Uraufführung enden. Ich war ja an der Entdeckung von Nußbaumeder maßgeblich beteiligt. In seinem neuen Stück Das Wasser im Meer (Anm.: 13. Mai bis 22. Juni), das er für uns geschrieben hat, erzählt er eine Geschichte, die an King Lear erinnert. Es geht um den 80. Geburtstag eines Heimatvertriebenen, der noch einmal ins Sudetenland, das Land seiner Kindheit zurückkehren will, um dort zu sterben. An seinem Geburtstag verkündet er seinen drei Töchtern, dass jene, die ihm dorthin folge, in seinem Testament besonders berücksichtigt werde. Christoph hat mit diesem Stück nicht nur ein bislang auf den deutschsprachigen Bühnen immer noch weitgehend tabuisiertes Thema angepackt. Er verknüpft es auch mit der aktuellen Flüchtlingsthematik. Sein Text ist für mich wie ein Geschenk. Nicht zuletzt, weil mein eigener Vater aus Mähren stammt.

Welche prägende Erinnerung an Linz wird dich immer begleiten?

Nicht die eine. Das letztlich Prägende sind die Kolleginnen und Kollegen, der Geist, die gute Atmosphäre, die hier herrscht. Ich wollte von Anfang an beweisen, dass es so geht, wie ich es mir vorgestellt habe, und das ist gelungen. Und nicht zuletzt: Das so vielgestaltige Publikum ging unsere verschlungenen Wege mit zunehmender Begeisterung mit. Ich gehe also mit Wehmut, das schon, aber ich gehe froh.

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