Im Winde verlogen

Lisa Spalt hat im Herbst in der Reihe maerz_sprachkunst aus ihrem aktuellen Roman gelesen und ist außerdem am Podium zum Themenkomplex Literatur und Politik gesessen. Für die Referentin schreibt sie über die grassierende unerträgliche Gleichsetzung von Fiktion und Welt und erläutert ihr „Manisoft des Psittacismus“.

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Im Jahr 1552 veröffentlicht Gerolamo Cardano, der Erfinder der Kardanwelle, seinen Traktat „De Subtilitate“. Darin erwähnt er die Möglichkeit eines Sprechens, das ohne entsprechendes Denken auftritt, und vergleicht es mit dem einer Elster oder eines Papageis. In den Jahrhunderten darauf taucht dieses „Sprechen wie ein Papagei“ bei verschiedenen AutorInnen und unterschiedlich definiert wieder auf, so – um nur dieses eine Beispiel zu nennen – bei Leibniz, der in „Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand“ (1703/04) erstmals den Terminus „Psittacismus“I verwendet, um den sinnentleerten Gebrauch von Wörtern zu bezeichnen. Er spricht in diesem Zusammenhang von Gedanken und Raisonnements, die nicht empfunden sind, sondern anderen nachgeplappert werden. Die Worte gehen mithin an den ursprünglichen Überlegungen, die sie hervorgebracht haben, vorbei und sind „im Winde verlogen“, wie der Philosoph sich ausdrückt.II

Nun stellt sich die Frage, wie ein derart negativ behafteter Begriff in der Kunst fruchtbar gemacht wird und wie er zu diesem Behufe verstanden werden könnte.

Vielleicht ganz von vorne: Die Poetin beschäftigt sich in meiner Vorstellung mit der Erprobung von Sprache. Sprache schafft im Alltag Fiktionen von Welt, die poetische Fiktion erprobt diese Fiktionen des alltäglichen Sprachgebrauchs. Ich wähle hier bewusst nicht den Begriff des Experiments: Für mich schafft die Poesie keine wissenschaftlichen Versuchsanordnungen. Dennoch arbeitet sie an den Grundlagen. Sie erprobt die Möglichkeiten, sich in Sprache zu bewegen, es geht ihr darum, Bewegungsmöglichkeiten zu finden, zu testen und vor allem zu genießen, so wird sie eher nicht feststellen, einkasernieren, einengen. Eine spezifische Möglichkeit solcher Poesie wäre es daher auch, wie ich jetzt einmal behaupten möchte, sich psittacistisch zu betätigen. Und ich möchte diese Betätigung hier probeweise als ein „absichtliches Vorbeisprechen an den Fiktionen von Welt“ in den Raum stellen. Dieses „absichtliche Vorbeisprechen“, das ist der Psittacistin wichtig, soll jedoch keine endgültige Definition des poetischen Psittacismus sein. Das Wort „Definition“ stammt schließlich vom lateinischen Wort für Grenze („finis“), und Grenzen aufzuweichen liegt der Psittacistin doch wesentlich näher, als sie zu setzen, obschon es auch in diesem Zusammenhang Ausnahmen geben wird. Das Vorbeireden der Psittacistin an dem, was ihr als (sprachgewordene) Welt erscheint, wäre, das möchte ich probeweise in den Raum stellen, eines, das vielleicht als Erstellung von Fiktion im Sinn der „Philosophie des Als ob“ von Hans Vaihinger zu verstehen wäre: Eine Fiktion ist bei ihm eine gedankliche Konstruktion, von der man annimmt oder zu wissen glaubt, dass sie nicht der Welt entspricht, die aber helfen kann, mit der Welt umzugehen und sie zu erforschen. Der „Horror vacui“, die Angst vor der Leere, mit der man einst erklärte, warum Wassermoleküle zusammenhalten, ist ebenso eine dieser Fiktionen wie wahrscheinlich die Erklärung über das Phänomen der KohäsionIII eine gewesen sein wird. Nichtsdestotrotz boten und bieten derlei Fiktionen Möglichkeiten, die unterschiedlich beurteilt werden können. Auch „das Gute“ kann beispielsweise als eine solche Fiktion angesehen werden, und ihre Verwechslung mit der sogenannten Realität bringt immer wieder Folgen der einen oder anderen Art hervor. Mit Hilfe poetischer oder allgemein künstlerischer Fiktionen aber können wir nun vielleicht ein bisschen erproben, welche Möglichkeiten des Denkens und der Sprache es gibt, Welt zu fingieren, wohin die Extremierung gängiger Denk- oder Sprechweisen führt, was geschieht, wenn wir einzelne Verfahren des Denkens oder Sprechens isolieren, absolut setzen, völlig außer Acht lassen, wir können hier befreiende Erfahrungen von Nutzlosigkeit, von genüsslichem Delirieren machen, die uns der Alltag nicht erlaubt, die sich aber vielleicht auch später als ihr Gegenteil entpuppen, wir können spüren, wie wir normalerweise „ticken“, denn die absichtliche, phantastische Fiktion lässt uns in der Abweichung von unseren gewöhnlichen Verfahrensweisen erleben, was wir, ohne es zu merken, als normal oder wahr setzen. Poesie ist vielleicht die Erfahrung der Herstellung von Sinn und Bedeutung – eine Erfahrung, die den Menschen auszeichnen könnte, die womöglich nur ihm zugänglich ist. Nun muss hier dem Einwand begegnet werden, dass der Psittacismus derzeit doch keineswegs in der Kunst, sondern vor allem in der Politik fröhliche Urstände feiere. Aus dem Slogan „Heimatrecht ist Menschenrecht“, den ursprünglich die Vertriebenenverbände formulierten, weil sie in die vor dem II. Weltkrieg bewohnten Territorien zurückkehren wollten, wird hierzulande neuerdings ausgerechnet ein Recht abgeleitet, die als Heimat bezeichnete Nation vor Migration zu schützen. Die Rolle der „Verteidiger Europas“ wird komplett sinnentleert von dezidierten Gegnern der Europäischen Union beansprucht, die wie selbstverständlich europäischen Werten wie der Gleichberechtigung der Geschlechter, der Gültigkeit von Rechten „ohne Ansehen der Person“ etc. gänzlich abhold sind. Man ruft nach Meinungsfreiheit, die man als Freiheit zu rassistischer, diskriminierender und geschichtsverfälschender Betätigung verdefiniert, man eignet sich Eigenschaftswörter wie „alternativ“ an und bedient sich überhaupt an jedem Sprech, der in irgendeiner Weise neue Anhänger generieren könnte. Und tatsächlich, diese politischen Psittacismen sind erfolgreich. Sie finden Anhänger, die – kaum zu glauben – noch gezielter an den Tatsachen vorbeigehen als ihre wirr redenden Propheten: In gänzlicher Verkennung der Situation laufen Scharen von Menschen diesen Führern nach, als würde man an den Schauplatz eines Unfalls rennen, um zu sehen, wie aus dem Fremden da am Boden das Blut herausrinnt. Man möchte rufen: „Das ist kein Schauspiel!“ Aber die verständnislosen Blicke der Umwelt lassen einen verstummen. Nicht selten könnte man als BetrachterIn dieser Auswüchse denken, man habe es nicht mehr nur im Netz mit den wahren Psittacisten der Stunde, nämlich mit Social Bots, zu tun – diesen kleinen Propaganda-Computerprogrammen, die die sozialen Netzwerke nach Reizwörtern durchsuchen und, wenn sie fündig werden, ihre aus einem vorgegebenen Pool zusammengeflickten Nachrichten platzieren. Nein, auch die Reden physischer Personen wirken bereits oft wie die von Robotern, die mit bedeutungsschwangeren sprachlichen Versatzstücken bis zum Platzen vollgestopft wurden. Warum hängt sich Hofer die Wendung „So wahr mir Gott helfe“ um? Man kennt sie hierzulande nur aus US-amerikanischen Filmen und Serien, in der österreichischen Angelobungsformel gibt es sie nicht. Will Hofer den Nimbus einer heldenhaften Filmfigur um sich breiten? Bedient sich der Mann bei Schwurformeln aus Ghana, der Türkei bzw. der Ukraine? Warum? Zu vermuten ist: Beim politischen Psittacismus geht es um einen im ursprünglichen Sinn des Wortes. Es geht um die Aneignung tönender Rede ohne jegliches Verständnis und ohne Verantwortungsbewusstsein gegenüber den Folgen ihres Einsatzes, um die verständnislose Gleichsetzung von Fiktion und Welt usw. Der poetische Psittacismus dagegen wäre einer, der vor seiner Verantwortung größten Respekt zu zeigen pflegt. Er entspringt dem Gedanken, dass wir Welt nicht erkennen, sondern nur immer wieder erproben und erfahren dürfen. Er schafft Fiktionen, die so beschaffen sind, dass sie auf keinen Fall für wahr gehalten werden können: Ja, poetische Fiktionen sind im Idealfall immer zu schön, zu schiefmäulig, zu wild, zu abwegig etc., als dass sie Wahrheit postulieren könnten. Und als liebenswürdige, sehr persönlich formulierte Versuchsballons gebieten sie, wie persönliche Erfahrungen gezeigt haben, fast jedem Hassposting Einhalt, was beweisen könnte, dass Bots mit Liebenswürdigkeit nun wirklich nicht umgehen können. Jedenfalls: Ja, auch die poetische Psittacistin hält es für einigermaßen erwiesen, dass wir trotz aller Skepsis Handlungen in dem Raum setzen müssen. Wir müssen, so sieht es aus, alltäglich und künstlerisch innerhalb dieser Sprachwelt agieren, in der ständig Fiktion und Tatsache verwechselt werden. Wir müssen damit umgehen, dass verständnislose verbale Kraftmeierei vorgibt, wohin die Welt rollt, dass diese nur mehr die Marschrichtung als einzige Himmelsrichtung kennt usw. Die so missbräuchlich verwendete Sprache ist und bleibt auch vermutlich das Medium, über das wir unsere Welt zu organisieren haben, auch wenn wir noch so sehr an ihrer Brauchbarkeit zweifeln. Umso mehr erscheint es der Psittacistin geboten, sich mit dieser Sprache und ihrer Kraft, Welt hervorzurufen, auseinanderzusetzen. Es erscheint ihr wertvoll, die (harten) Manifeste all dieser weltweit aufstehenden starken Männer, die den Globus zu ihrem Jahrmarkt erklärt haben, mit ihrem nahezu täglich umformulierten „Manisoft des Psittacismus“ ein bisschen aufzuweichen …

1 Das Manisoft des Psittacismus ist so ungefähr eine immer wieder versuchte Annäherung an etwas, was wir gerne ein bisschen beschreiben würden.

2 Die Psittacistin phantasiert in Anerkennung der Hypothese, dass der Mensch die Natur sein könnte, welche von der Natur nicht unbedingt etwas versteht, dass der Mensch die Natur sein könnte, welche von der Natur, die er ist, nicht wirklich verstanden wird.

3 Es gibt in der Welt der Psittacistin wahrscheinlich kein Alles und kein Nichts, ganz sicher ist das aber nicht.

4 Die Psittacistin nimmt daher nicht wenig ein bisschen ernst, hat aber zum Teil eine ansehnliche Abneigung gegenüber Aspekten des Wichtignehmens.

5 Die Psittacistin versteht einigermaßen wenig. Ihr Leitspruch: Scio me parvum scire.

6 Obwohl die Psittacistin kaum etwas durchschaut, sollte sie sich dennoch zumindest in Ansätzen zu Teilen des Lebens verhalten. Dieser Umstand, den sie unvollständig erkennt, beunruhigt sie einigermaßen.

7 Die Psittacistin möchte durchaus irgendetwas ein bisschen verbessern. Sie sucht daher nach halbwegs passenden Werten und stolpert im Zuge dessen nicht selten leicht orientierungslos herum.

8 Die Psittacistin spricht zuweilen schon in der Kindheit laienhaft am Leben vorbei. Dann macht sie dieses Laientum zum Teilzeitberuf, um zumindest ein wenig von ihrer Unfähigkeit zu profitieren.

9 Die Psittacistin beschäftigt sich mit der Schaffung von Fiktionen, welche Fiktionen als Instrumente der Alltagsbewältigung auf die Probe stellen.

10 Auch für Nicht-Psittacistinnen haben derart gesetzte psittacistische Handlungen recht gute Auswirkungen und daneben weniger gute oder umgekehrt. Manche Auswirkungen werden von der Psittacistin zum Teil ignoriert, zum Teil übersehen. Es seien daher alle, die sich mit dem Psittacismus beschäftigen, eingeladen, die Gedankengebäude weiterzudenken und um glückbringende Möglichkeiten zu erweitern.

I von Griechisch „psittacos“ für Papagei

II Das große Werk über den Psittacismus trägt den Titel „Le psittacisme et la pensée symbolique: Psychologie du nominalisme“ (1886) und stammt von Ludovic Ducas.

III Die „Kohäsion“ bezeichnet in Chemie und Physik die Kräfte, welche Atome oder Moleküle innerhalb eines Stoffes zusammenhalten.

 

Von Lisa Spalt erscheint im März 2017 im Verlag Czernin das Buch „Die 2 Henriettas“. Deutsche und Österreicher, die im 19. und 20. Jahrhundert in die USA auswandern, stehen im Mittelpunkt einer Geschichte, in der nichts erfunden, aber alles Fiktion ist. Ausgangspunkt der Recherche ist ein Konvolut von Fotografien aus dem Nachlass eines Verwandten. Die Erzählerin verwächst zusehends mit den historischen Henriettas und knöpft sich, verbal ungebremst, das World Wide Web vor – jene einzige Informationsquelle, die sich mit widersprüchlichen Daten zunehmend zwischen sie und ihre Vorfahren stellt. Die Sehnsucht nach Wahrheit, Hintergründen und Räumlichkeit prallt an dem flachen Gebilde ihres Bildschirms ab, den sie auf der Suche nach Informationen vor Augen hat.

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