In Cars We Trust

Das Tribute bei Crossing Europe ist heuer der Schauspielerin Angeliki Papoulia gewidmet. Beim Filmfestival, das Ende April startet, werden mehrere Filme mit der herausragenden Schauspielerin und Europäerin gezeigt, auch Silence 6-9 von Christos Passalis. Florian Huber hat den Film bereits gesehen und meint: Zahlreich sind die Todesmotive und dunklen Ahnungen.

In ihrem Tribute Angeliki Papoulia macht die diesjährige Ausgabe von Crossing Europe nicht nur mit der herausragenden Darstellungskunst der 1975 in Athen geborenen Theater- und Filmschauspielerin bekannt, sondern erinnert mit Filmen wie Dogtooth (2009) von Yorgos Lanthimos oder The Miracle of the Sargasso Sea (2019) von Syllas Tzoumerkas zugleich an ihre langjährige Zusam­menarbeit mit dem 1975 in Thessaloniki geborenen Schauspieler Christos Passalis. Mit The City and the City präsentierte Christos Passalis im Vorjahr in Linz eine erste, gemeinsam mit Syllas Tzoumerkas verantwortete Regiearbeit, auf die nun Silence 6-9 folgt. In Silence 6-9 agiert Regisseur Christos Passalis neuerlich auch als Hauptdarsteller an der Seite von Angeliki Papoulia. Der auch in der diesjährigen Com­petition Fiction vertretene Beitrag un­ternimmt eine filmische Erkundung des Unheimlichen, die in ihrer Episodenhaftigkeit und der Vorliebe für allegorische Motive bisweilen an den 2012 verstorbenen griechischen Ausnahmeregisseur Theodoros Angelopoulos denken lässt. Doch bereits der Titel seines Films macht deutlich, dass von Silence 6-9 mit filmkritischen Etikettierungsversuchen wie etwa der Rede von einer Greek Weird Wave nur un­genügend beizukommen ist. An die Stelle feststehender Begriffe und Sinnzuschreibungen tritt bei Passalis ein Kino der Andeutungen, das auch bei wiederholter Lektüre sein Geheimnis behält und so das Unheimliche – etymologisch plausibel – mit dem Geheimnis in Verbindung bringt: „When you talk about Greek films, implying they all belong to one ,wave‘, it is lazy. It’s a lazy approach to the peculiarity of every film. There is a new wave in terms of a new generation of artists, who talk differently about our reality, but I don’t like to slap labels on things. […]. But, as I said, understanding is overrated. All of my favourite films can only be ,understood‘ on an emotional level“1, bemerkt er in einem 2022 geführten Gespräch mit der Filmkritikerin Marta Bałaga.
Vielleicht hört man deshalb ein Meeresrauschen oder Zirpen am Beginn des Films. Womöglich Vögel oder Hundegebell, bevor Stimmengewirr und Liedfetzen die nahegelegene Stadt erahnen lassen, die täglich zwischen 6 und 9 zur Ruhe kommen muss, um die Stimmen ihrer einstigen Bewohner*innen auf Tonband zu bannen. Ob diese nur vorübergehend verschwunden oder längst schon verstorben sind, bleibt letztlich unbeantwortet. Zahlreich sind jedenfalls die Todesmotive und dunklen Ahnungen, die Silence 6-9 und seine Liebesgeschichte durchwirken. Der Angriff einer Krähe zu Beginn des Films verbindet sich mit dem wiederkehrenden Geräusch von Pulsmess- und Beatmungsgeräten und Szenen in einem in die Jahre gekommenen Hotel, das den Liebenden als Aufenthaltsort dient. Seinen prekären Status verbürgen nicht nur die fehlenden Gäste und der Umstand, dass das Haus in anderen Einstellungen als Hospital erscheint. Auch ansonsten dominieren in Silence 6-9 Orte des Transfers und Übergangs, die eine Unbehaustheit vermitteln und mithilfe des geglückten Sounddesigns und einer bestechend präzisen Kadrierung die Beziehung zwischen (un-)heimisch und (un-)heimlich ausloten. In den Fokus rücken Autostraßen, Tunnel oder Brücken, die ob ihrer demonstrativen Verlassenheit als idealer Resonanzraum für die Botschaften aus dem Jenseits erscheinen. Gott hat indes lange ausgedient, wie die Aufschrift IN CARS WE TRUST an einer Hausmauer mit gehöriger Ironie versichert. Die Gegenwart der Handlung markiert hingegen eine Zahlenangabe am Straßenrand: 22/23. Dazu fügt sich eine politische Brandrede, die auf einem Parkplatz als Publikum anstelle von Menschen vor allem Gebrauchtwagen adressiert. Die antike Diktion des Redners verbindet sich mit einer filmischen Ausstellung von Artefakten des Industriezeitalters wie Tonbandkassetten oder den Antennen zum Empfang der Tonspuren aus dem Totenreich. Die anachronistischen Versatzstücke werden zum Zeichen einer von der Philosophin Marina Garcés beschriebenen „postume Kondition“: „Unsere Zeit ist die Zeit, in der alles endet. Wir haben dem Ende der Moderne, der Geschichte, der Ideologien und der Revolutionen beigewohnt. Wir haben Schritt für Schritt das Ende des Fortschritts erlebt: der Zukunft als der Zeit der Verheißung, der Entwicklung und des Wachstums. Jetzt sehen wir, wie die Ressourcen versiegen, das Wasser, das Erdöl und die saubere Luft, und wie die Ökosysteme und ihre Vielfalt sterben. Kurz, in unserer Zeit endet alles, selbst die Zeit.“2 Vielleicht deshalb wirken die Menschen in Silence 6-9 in ihren Verrichtungen bisweilen schlafwandlerisch, wie auch das vor allem von kleinen Gesten und der Mimik getragene Spiel der beiden Hauptdarsteller*innen unterstreicht, das wie die Szene in einer nächtlichen Peepshow souverän zwischen intimer Nähe und kühler Distanz changiert. Das voyeuristische Linsen durch ein Loch in der Mauer ohne die Möglichkeit einer wirklichen Annäherung erinnert dabei nicht nur an die totale Vereinsamung des „postumen“ Menschen, son­dern provoziert auch die Frage, ob womöglich die in der Stadt Hinterbliebenen die eigentlich Toten und dem Vergessen anheimgefallen sind. Vielleicht denkt man an Franz Kafka, der im März 1922 an Milena Jesenská schreibt: „Wie kam man nur auf den Gedanken, dass Menschen durch Briefe mit einander verkehren können! Man kann an einen fernen Menschen denken und man kann einen nahen Menschen fassen, alles andere geht über Menschenkraft. Briefe schreiben aber heißt, sich vor den Gespenstern entblößen, worauf sie gierig warten.“
Dieser Skepsis gegenüber der medialen Vermittlung zum Trotz gelingt Passalis mit Silence 6-9 jedenfalls eine so vielschichtige wie subtile Kritik an den herrschenden Verhältnissen als Auseinandersetzung mit Verlust und Trauer, Erinnern und Vergessen, Natur und Kultur am Ende der postindustriellen Gesellschaft.

1 cineuropa.org/en/interview/427587/
2 Marina Garcés: Neue radikale Aufklärung. Aus dem Katalanischen von Charlotte Frei. Wien: Turia+Kant 2019 (2. Aufl. 2020), S. 17.

Crossing Europe, Filmfestival Linz
26. April – 01. Mai 2023
crossingeurope.at

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