John Tylo: Trainrides and Walks

Karl Katzinger alias John Tylo alias Drago Torpedowicz starb am 2. April. Richard Wall über einen solitären Menschen und einen Geist, dessen Zuhause das Unterwegs-Sein war.

Von frühester Zeit an gab es welche, die auf den Straßen verschwanden.
Basho, Auf schmalen Pfaden durch das Hinterland

Karl Katzinger, der sich in seinen Aussendungen, Büchern und Manifestationen nie so genannt hat, ist nicht mehr: John Tylo alias Drago Torpedowicz starb am 2. April nach schwerer Krankheit, wie es in der Aussendung seiner zweitältesten Tochter, der Künstlerin Nana Tylo heißt, im Alter von 67 Jahren.
Unter Backwoodsmen Association veranstaltete er Auftritte von Künstlerinnen und Künstlern aus Europa, Afrika, Asien und den USA, zudem organisierte er Lesungen, Vorträge und Filmabende, zumeist in der Garage Drushba (Freundschaft) auf seinem Bauernhof in Harrachstal.
Karl und ich haben uns Anfang der 1970er Jahre als sogenannte Fahrschüler in der damals noch dampfbetriebenen Sum­merauer-Bahn kennengelernt. Er kam aus Lasberg, ich stieg in Katsdorf zu. Wir mussten täglich nach Linz pendeln, um nach der Hauptschule auf dem Land ein Oberstufengymnasium in der Landeshauptstadt besuchen zu können. Will damit auch sagen: Wie wir unser Leben angelegt haben, war uns keinesfalls in die Wie­ge gelegt, und das, was uns verband, war eine reflexartige Ablehnung von diktatorisch auftretenden Autoritäten und faschistoiden Strukturen; der damalige Ungeist an vielen Schulen bot genügend Anlässe, um sich an Lehrkräften, deren Menschen- und Gesellschaftsbild im Nationalsozialismus geformt worden war, zu reiben. Ich kann mich noch erinnern, dass er mir, auf mein Drängen hin, den Inhalt seiner Mappe gezeigt hat, mit der er in Bildnerische Erziehung maturierte. Ich war beeindruckt: Studien, griechische Tempelanlagen, Aquarelle. Nach der Matura verschwand er nach Wien, mit der Absicht, Geographie zu studieren, inskribierte dann doch Pharmazie. Damals liefen wir uns nur noch selten über den Weg. Erinnern kann ich mich noch an ein Gespräch übers Trampen. Er meinte, man müsse sich mit wenig Gepäck den Autofahrern anbieten; ergo habe er oft nur einen Schlafsack und sein Zahnbürstl bei sich. Aus einem Berufsleben im weißen Mantel wurde nichts; gesichert hingegen ist, dass er als Handverkäufer der Wiener Stadtzeitung Falter reüssierte.
Jahre später: Handgeschriebene Einladungen auf der Rückseite von Fotografien zu Veranstaltungen in die Garage Drushba. Gelegentliche Zusammentreffen in Freistadt und Linz. In Prag begegneten wir uns Anfang der 1990er Jahre zufällig im Wohnatelier unseres gemeinsamen Freundes, des Malers Zdenek Macku. In St. Petersburg haben wir uns im Jahr 1999 knapp verpasst. Kam er einem auf der Straße entgegen, war er mit seiner Körpergröße von nahezu zwei Metern schon von weitem auszumachen. Zudem lag ihm nicht viel an konventioneller Kleidung; ihn mit einer roten Hose oder einem gelben Sakko bekleidet zu sehen war nichts Außergewöhnliches. Er rauchte Zigarillos oder kubanische Zigarren, die er von seinen Reisen hinter den Eisernen Vorhang, nach 1990 aus dem nördlichen Nachbarland, wo er aus ökonomischen Gründen eine Zeitlang seine Post aufzugeben pflegte, mitgebracht hatte.
Unterwegs war er immer, in Gedanken und auch physisch, mit minimalem materiellem Einsatz. Er bereiste Europa, Teile Asiens und Afrikas mit der Bahn, per Schiff, Boot, Fahrrad und per Anhalter. Seine erste außergewöhnliche Reise, die nahezu ein Dreivierteljahr dauerte, unternahm er im Jahr 1987 mit seiner damaligen Lebensgefährtin Heide und der gemeinsamen, erst zwei Jahre alten Tochter Franziska. Der Trip begann in Griechenland und setzte sich fort im südlich gelegenen Kontinent. Von Nairobi (Kenia) reisten sie durch Steppen und kleinere Städte nach Mogadishu, der Küste entlang nach Kismaayo, auf einer Dau, einem traditionellen Segelboot, zu den Bajuni, einer Kette von Koralleninseln, und wieder retour nach Mogadishu. Weiter ging es durch Wüste und Steppe über Beled Weyne, einer Stadt in Zentral-Somalia, zum Golf von Aden, über den und dessen angrenzende Regionen auch schon Arthur Rimbaud, Blaise Cendrars und Annemarie Schwarzenbach berichtet haben. Weitere Stationen: Auf einem indischen Schiff nach Djibouti, per Flugzeug nach Sanaa in den Jemen, über Ibb und Taizz nach Mokha (nach dieser Stadt ist die spezielle Kaffeezubereitung benannt) und an den schwül-heißen Küstenstreifen Tihama …
Tylo führte, wie auf allen seine Reisen, Tagebuch. Ein Fotoapparat und eine Super-8-Kamera erweiterten sein Konzept des Notierens und Dokumentierens. Während man beim Schreiben mit sich, einem Bleistift und einem Notizbuch alleine ist, ermöglicht die Fotografie eine Form der Kommunikation mit Menschen, denen man begegnet. Es gibt nur wenige Fotos von Tylo, die ausschließlich eine Landschaft oder Bauten zeigen. Zumindest menschliche Spuren, auch wenn es nur Ruinen sind oder Telefonmasten, die durch eine kahle Steppenlandschaft stelzen, sind stets vorhanden. Beim Lesen seiner Bücher, in denen die Fotos mit seinen Notizen korrespondieren, erkennt man dann auch, dass er den Kontakt suchte, ihm das Handeln (auf Märkten) und Verhandeln (um Fahrpreise, Visagebühren, die Miete eines Zimmers) nicht immer ungelegen kam.
Viele dieser Aufnahmen und Filme sind meines Erachtens Kostbarkeiten, zumal einige der von ihm aufgesuchten Regionen und Staaten – wie Jemen, Somalia, die Ostukraine – aufgrund von militärischen Auseinandersetzungen oder der islamistischen Terrorgefahr derzeit nur unter Lebensgefahr bereist werden können. Es handelt sich um Dokumente, die er hin und wieder – vor allem seine Filme – gezeigt hat, die aber noch einer seriösen Würdigung und Darstellung im Kontext seiner Lebensführung und Kunst des Reisens harren.
Jahre später, 2010, erschien dann der Reisebericht unter Ausschluss der Wochen in Griechenland mit dem Titel Familienausflug nach Somalia und Jemen: Ein Titel, der an die Beschriftung eines biederen Fotoalbums von anno dazumal erinnert, der jedoch in Verbindung mit dem Coverfoto – die Reisenden gegen die Hitze vermummt in einer Steinwüste zeigend – dessen ironische Semantik offenbart. Ein Understatement, das auch seine Eintragungen kennzeichnet: Lakonie und Ironie, manchmal auch Sarkasmus, versus Pathos. Reisen dieser Art bringen auch, wie sollte es anders sein, ernüchternde Erfahrungen mit sich, weitab einer Idylle à la Tausendundeine Nacht. Sie erlebten beglückende Begegnungen, Hilfsbereitschaft sowie die Besonderheiten der Landschaften und Städte, aber auch Hitze und Krankheit, Schmutz und Korruption.
Die zweite, ebenfalls etwas längere Reise im Jahr 1995, konzeptuell angelegt, durch ehemalige Länder der Sowjetunion, hatte immer wieder folgende Ziele: Druckereien und Postämter, um tausende(!) Postkarten als MAIL ART verschicken zu können. Das Motiv der Karten bestimmte als Fotograf er selber: Nach dem Entwickeln des Films wurde eine Ansicht ausgewählt und in einer Druckerei, mit einem meist längeren, von Tylo verfassten Text auf der Rück­seite, vervielfältigt – in Moskau, Sotschi, Alma-Ata, Taschkent u. s. f. Pro Sendung kaufte er 500 Briefmarken, nicht immer problemlos wie man sich vorstellen kann, die dann auch geklebt werden mussten.
Im Verlauf der Reise geriet er u. a. in Kasachstan in eine internationale Kundgebung gegen Atomtests; kontrastierend zu einer Schwanensee-Darbietung in der Oper von Almaty, die er mit der Kritik „dämliches Herumgetrippel, extrem gefällig“ bedachte, um sich mit der Selbstaufforderung „nichts wie weg!“ für einen Tapetenwechsel zu entscheiden, er begab sich auf eine 5-tägige Trekking Tour. An diesem Abenteuer in den Nordkirgisischen Berge nahmen auch sein Neffe Daniel und sein jüngerer Bruder Werner teil. Stundenlange Anstiege auf Pässe bis zu einer Höhe von 4000 m, Querungen von Gletscherbächen im Einzugsgebiet der Flüsse Chon Kemin und Aksuu sowie die dünne Luft brachten ihn an den Rand des physischen Zusammenbruchs. Jeder europäische Trekking-Veranstalter hätte ihm aufgrund seiner unzulänglichen Kleidung und Ausrüstung die Teilnahme an der Tour untersagt. In Talas ließ er sich auf das mit Fahnen, Jurten, Lanzenreitern, Salutschüssen und uniformierten Ordnungskräften martialisch gestaltete Folklorefestival der Kirgisen beim Mana-Mausoleum ein (die Volksdichtung Manas ist ein turksprachiges Epos, das nicht weniger als 500 000 Verse umfasst).
Neben Begegnungen mit großartigen und gastfreundlichen Menschen, die mehr oder weniger mit Kunst und/oder mit der Kunst des Überlebens zu tun hatten, begleitete ihn ständig der Schrott „der alten heroischen Epoche“, verlassene Produktionsstätten nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion sowie der Verpackungsmüll der neuen, aus dem Westen importierten Konsumgüter.
Kunst war für Tylo nicht Zeitvertreib oder nur Vergnügen, nicht das Sträußerl am Hut nach Feierabend. Er suchte nach Entsprechungen zwischen Leben und Kunst – Kunst im Sinne einer schöpferischen Manifestation, die aus dem Leben kam und wieder auf das Leben zurückwirken sollte, wobei naturgemäß eine stringente Kausalität nicht ablesbar oder erkennbar sein kann. Er verstand Kunst nicht als Ware, sondern als ein das Leben befeuerndes Überlebensmittel. Er lebte ein anarchisch-einfaches Leben auf dem Lande, abseits geschwätziger Kulturgüter, philosophisch, politisch und ökologisch reflektiert, eine scheinbar idyllische Existenz, der er mit seinen Reisen einen Kontrapunkt verlieh.
Künstler sein ist ein Geistes- und Seelenzustand. Tylo war dem Exzess und der Ekstase nicht abgeneigt, war aber der geistigen und körperlichen Kasteiung ebenso fähig, wenn er es für nötig hielt oder ihm nichts anderes übrig blieb. Er hatte etwas von einem Zen-Meister an sich, vom Gestus Han Shans. Ich sehe ihn als eine solitäre Erscheinung, dessen Geist weit über den Tellerrand konventioneller Kleinkrämer sprühte und an den Konventionen zündelte. Die von ihm gewählten Formen des Ausdrucks entsprachen seinen Entdeckungen und Erfahrungen – einer zeitlosen Vitalität. Er lebte eine halbnomadische Alternative, die auf andere offensichtlich irritierend oder gar bedrohlich gewirkt hat.
John Tylo, dieser allzubunte Vogel hat den sich zunehmend verdunkelnden Planeten für immer verlassen. Sein Geist, der sich für so vieles begeistern konnte, schwebt über der Aist und fragt sich wohin. Das Unterwegs-Sein war sein Zuhause.

 

Literatur: GUSMAIL (1997), Familienausflug nach Somalia und Jemen (2010), beide Backwood Press.

Backwood Association: Karl Katzinger alias John Tylo betrieb in Harrachstal 8 bei Weitersfelden einen Kulturverein, der sich je nachdem Backwood/Backwood Associate/Backwood Association (Culturelle) nannte. www.backwood.at

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