„… nicht den Zusammenhang mit dem Leben verlieren“
Die Referentin bringt seit mehreren Heften eine Serie von Porträts über frühe Anarchist_innen und den Anarchismus als eine der ersten sozialen Bewegungen überhaupt. Über die 1882 geborene Schneiderin und Anarchistin Vilma Ritschel schreiben in dieser Ausgabe Peter Haumer und Andreas Gautsch.
Im Dezember 1930 schrieb Leopold Spitzegger1 unter seinem Pseudonym L. Krafft-Wien im Fanal – Organ der Anarchistischen Vereinigung, herausgegeben von Erich Mühsam2, dass der Anarchismus in Österreich im letzten Halbjahr über ansehnliche Erfolge berichten könne. „Der angekündigte Zusammenschluß der Opposition gegen Klosterneuburg (gemeint ist Rudolf Großmann3, der in Klosterneuburg lebte), der der FANAL-Richtung nahestehenden Genossen, ist zustande gekommen. Ein Monatsblatt „Contra“ (Zuschriften und Bestellungen an Vilma Ritschel, Wien X, Rotenhofgasse 106, bisher 7 Hefte) erscheint vorläufig im Vervielfältigungsverfahren und bringt beachtenswerte Beiträge.“4
Wer war diese Vilma Ritschel, die Eigentümerin, Herausgeberin und Verlegerin der anarchistischen Zeitschrift Contra war? Die mit einer Gruppe Gleichgesinnter diese „neue Monatsschrift der anarchistischen Opposition in Österreich welche jeder antiautoritären Richtung dienen will“5 im ganzen deutschsprachigen Raum vertrieb?
Vilma Steinacher wurde am 6. Oktober 1882 in Wien als uneheliches Kind geboren, wuchs dann aber im Heimatort ihrer Mutter, in Reichenau an der Rax, auf. Später erzählte sie über sich: „Die Leute sagten, ich sei überspannt. Ich habe mir auch angewöhnt, Märchen zu erzählen, und war jähzornig.“6 Sie bezeichnete sich selbst als sehr empfindsam und wissbegierig. Nach dem Besuch der Volksschule erlernte sie das Schneider_innenhandwerk.
Im August 1902 heiratete Vilma in Stockerau den Ulanen-Wachtmeister und späteren Privatbeamten Gustav Ritschel. Mit ihm hatte sie den bereits im Februar 1902 in Stockerau geborenen Sohn Gustav Steinacher, legitimierter Ritschel. Als Vilma Ritschel ihn „unter dem Herzen trug, schoß auf sie ihr Stiefvater, aus Zorn über die Tochter, die sich den Ulanenwachtmeister Ritschel in den Kopf gesetzt hatte“, heißt es dann mehr als 20 Jahre später im Wiener Tagblatt, das am 17. Mai 1924 über eine handgreifliche Auseinandersetzung mit tödlichem Ausgang berichtete, am dem dieser Sohn Gustav beteiligt war – dazu aber weiter unten. Jedenfalls hatte sie mit ihrem Mann noch einen zweiten Sohn, Alfred, der jedoch mit fünf an Masern verstarb.
1904 übersiedelte Vilma Ritschel mit ihrer Familie nach Wien, wo sie als Hausnäherin tätig war. Sie wohnte zunächst in Wien-Erdberg, musste aber nach dem frühen Tod ihres Ehemannes nach Wien-Favoriten, Rotenhofgasse 106 übersiedeln, wo sie in unmittelbarer Nähe auch einen Schrebergarten in der Favoritenstraße besaß. Ihr Mann verstarb 1910 im 37. Lebensjahre an Schlagadernerweiterung, was auf seinen früheren Alkoholmissbrauch zurückgeführt wurde. Vilmas Sohn Gustav war damals acht Jahre alt. Als sie eine Stellung annehmen wollte, musste sie ihn zu seiner Großmutter Marie Grabner, die Gattin eines Eisendrehers war, bringen. Während der Kriegszeit kam er wieder zur Mutter nach Hause. Mit vierzehn Jahren musste Gustav eine Mechanikerlehre beginnen, obwohl er studieren wollte.
Gustav Ritschel hatte ein „abenteuerliches Proletarierschicksal“7. Er litt an offener Tuberkulose, und trotzdem war er immer wieder auf der Walz in Deutschland, Ungarn, Rumänien und Italien. Im Sommer 1919 ging Gustav Ritschel zur Roten Armee nach Ungarn,8 kurze Zeit darauf kehrte er wieder nach Wien zurück. Er nahm an den Betriebsbesetzungen in Italien 1920 teil – er arbeitete 6 Monate lang in einem Fiatwerk in Brescia in der Lombardei – und infolge des gescheiterten Generalstreiks im März 1921 ging er nach Wien zurück. Er bezeichnete sich selbst als Sozialisten, der die Russische Revolution verteidigte.
Vilma Ritschel weilte seit August 1922 wieder einmal als Hausnäherin und Wäscherin beruflich am Semmering. Während dieser Zeit kam es in ihrer Wohnung in der Rotenhofgasse zu einer tödlichen Auseinandersetzung ihres Sohnes mit dessen Untermieter, dem Studenten Robert Staudacher aus Bozen. Nach Aussage von Gustav stritten sie sich beim Schachspiel über die Russische Revolution, die der Student verurteilte, Gustav hingegen verteidigte. Staudacher, der Mitglied der Studentenverbindung „Eisen“ war, verhöhnte Gustav und ging auf ihn los, der ihn daraufhin mit einem Gewehrkolben erschlug. Das ist – kurz zusammengefasst – die Version von Gustav Ritschel. Die Geschworenen jedoch befanden ihn einstimmig schuldig einen meuchlerischen Raubmord begangen zu haben. Gustav Ritschel wurde am 16. Mai 1924 zu 18 Jahren schweren Kerkers verurteilt.
Vilma Ritschel trat bei dem Prozess gegen ihren Sohn als Zeugin auf. Im Prozessbericht des Neuen 8 Uhr Blattes wurde sie als eine nervöse Frau beschrieben und als „eine schlanke, zarte Frauengestalt. Der hübsche Kopf ist von blondem Haar umrahmt. Mutter und Sohn sehen sich sehr ähnlich. Sie betont auch in ihrer Aussage mehrmals, daß er so wie sie sehr empfindsam sei.“
Mitte der 1920er Jahre stieß Vilma Ritschel zur anarchistischen Bewegung. Die dominante Persönlichkeit zu dieser Zeit war der bereits erwähnte Pierre Ramus. „Sein“ Bund herrschaftsloser Sozialisten hatte nach Eigenangaben zu dieser Zeit über 4.000 Mitglieder. Ramus rigorose Haltung in der Gewaltfrage führte jedoch zu Konflikten innerhalb der anarchistischen Bewegung und schließlich zur Gründung der oppositionellen Gruppierung Contra. Diese war gegen einen rein gewaltfreien Anarchismus und gegen die herrschende gesellschaftliche Ordnung. Vilma Ritschel dürfte eine der treibenden Kräfte gewesen sein, zumindest war sie neben dem Redakteur Oskar Grünwald die Hauptverantwortliche für die gleichnamige Zeitschrift. Die erste Ausgabe der Contra erschien im April 1930, die letzte im September 1931. In den Beiträgen wurde sowohl die Situation in Österreich als auch in Deutschland diskutiert, hinzu kamen historische und theoretische Artikel. Als Autor_innen traten u. a. der Vagabund Artur Streiter, der Schriftsteller Rudolf Geist in Erscheinung, es gab auch übersetzte Artikel wie den von der japanischen Feministin Takamure Itsue.
Ritschel verlegte zudem die Schriftenreihe Propaganda Broschüre. Allerdings erschien nur ein Heft mit zwei Aufsätzen des französischen Anarchisten Élisée Reclus. Wie die Zeitschrift wurde auch die Broschüre auf einer Schreibmaschine getippt und mit einem Rotationsvervielfältiger von Ritschel selbst hergestellt. Lediglich die letzte Ausgabe der Contra wurde gedruckt, teilweise sogar in Farbe, was für einen größeren finanziellen Spielraum der Gruppe spricht. Da die letzte Nummer nicht als solche deklariert ist, dürfte das Ende der Zeitschrift so nicht geplant gewesen sein. Vilma Ritschel selbst verfasste insgesamt drei Artikel für die Contra.
Die Lebenssituation muss für Ritschel und die anderen der Gruppe schwierig gewesen sein. Die Wirtschaftskrise hatte bereits voll eingesetzt, die Arbeitslosigkeit war enorm, Banken gingen pleite und wurden gerettet, während der Staat an allen Ecken und Enden sparte. Dieses bis heute praktizierte Vorgehen kommentierte Ritschel im Artikel Rauf ma euer Gnaden, der in der 2. Nummer 1930 erschien: „Seitdem in Österreich der Staat saniert wurde, geht es begreiflicherweise dem Volke schlecht.“ Für die politisch, trotz Zugewinne bei den Wahlen in die Defensive geratene Sozialdemokratie hatte sie nur wenig übrig. Trotz ihrer Kampfrhetorik, so Ritschels Kritik, „wünscht sie gar nichts mehr, jetzt will sie nur hüten und bewahren, gegen etwaige Angriffe verteidigen. Damit darf sich eine Arbeiterbewegung nicht begnügen.“ Aber auch die anarchistische Bewegung hatte ihre Hochphase schon hinter sich und nur wenig Einfluss auf die Arbeiter_innenschaft. Daher wurde versucht, in der sich organisierenden Arbeitslosenbewegung an Einfluss zu gewinnen.
Im Artikel Vernunft und Herz in der Arbeitslosenbewegung vom Juni 1931 schrieb Ritschel, die sich als Revolutionärin verstand, über den Zwiespalt zwischen den partikularen, reformistischen Forderungen der Arbeitslosen und dem Bewusstsein, dass es einer radikalen und umfassenden gesellschaftlichen Veränderung bedarf. Ritschel sprach sich gegen eine instrumentalisierende Haltung revolutionärer Kräfte aus. Nur zu gern sehen diese „in den Massen der Notleidenden den Brennpunkt, von dem aus die ganze heutige Ordnung in Brand gesetzt werden kann“. Sie plädierte für Solidarität. „Hunger tut weh. Helfen und unterstützen wir die Anstrengungen der Arbeitslosen um nicht den Zusammenhang mit dem Leben zu verlieren.“ Gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten Hans Detter engagierte sie sich in dem 1931 gegründeten „Selbsthilfeverband der Arbeitslosen Österreichs“.
Selbst arbeitslos geworden zog Vilma Ritschel 1934 in ein Gartenhaus in Wien-Donaustadt, wo sie sich als Subsistenzbäuerin betätigte. Aus ihrem weiteren Leben ist wenig bekannt. Sie überlebte die NS-Zeit und es gibt Hinweise, dass sie sich auch nach dem Krieg in den kleinen anarchistischen Kreisen bewegt hat. Am 26. 12. 1960 verstarb sie in Wien.
1 Leopold Spitzegger (24. 12. 1895 – 15. 11. 1957; Pseudonyme: Leopold Egger, L. Krafft-Wien) war Bibliothekar, anarchistischer Publizist und Dichter.
2 Erich Kurt Mühsam war ein anarchistischer deutscher Schriftsteller, Publizist und Antimilitarist. Er war 1919 an der Ausrufung der Münchner Räterepublik beteiligt, wofür er zu 15 Jahren Festungshaft verurteilt wurde, aus der er nach 5 Jahren freikam. 3 Rudolf Großmann (15. 4. 1882 – 27. 5. 1942; Pseudonym: Pierre Ramus) war ein österreichischer Anarchist und Anhänger von Leo Tolstoi.
4 Fanal, Jg. 5, Nr. 3, Dezember 1930, S. 62.
5 Fanal, Jg. 5, Nr. 10, Juli 1931.
6 Arbeiter-Zeitung, 17. 5. 1924
7 Die Stunde, 16. 5. 1924, S. 2.
8 Die Ungarische Räterepublik wurde am 21. 3. 1919 ausgerufen und bestand bis 1. 8. 1919. Mehr als 1200 Österreicher schlossen sich der ungarischen Roten Armee an, um die Räterepublik zu verteidigen.
Die Serie in der Referentin ist auf Anregung von Andreas Gautsch, bzw. der Gruppe Anarchismusforschung entstanden.
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