Es geht verdammt nochmal ums Geld

Von Sexarbeit wird erwartet, was wenig Berufe leisten können: selbstbestimmt und zwanglos zu sein. Pauli ist seit 3 Jahren in verschiedenen Bereichen der Sexindustrie zu Hause und gibt hier Perspektiven auf diese Arbeit, um internalisierten Vorurteilen die Stirn zu bieten.

Foto Pauli Dares

Neulich outete sich im Gespräch ein Mensch, den ich gerade erst kennengelernt hatte als Kunde von Sexdienstleistungen. Das fand ich gut, denn auch Kunden von Sexarbeitenden leiden unter einem Stigma. Die Frage, woher er denn wissen könne, ob die gebuchte Sexdienstleisterin das gerade aus Spaß macht und woran er erkenne, dass sie nicht ausgebeutet wird, kam im Gespräch immer und immer wieder auf.

Genau dieser Zugang zum Thema Sexarbeit offenbart eine Logik, die dem kapitalistischen System inhärent ist: Es kann nur erlaubt sein, was komplett selbstbestimmt ist. Und was erzwungen ist, sollte verboten werden. Die Debatte um Freiwilligkeit bzw. Selbstbestimmtheit ist eine Falle im Kapitalismus.

Ich widme diesen Text allen (dezidiert männlichen) Konsument*innen von Sexdienstleistungen und allen Menschen, die sich von ihren Vorurteilen noch nicht lösen konnten und immer noch verkürzte Kapitalismuskritik betreiben, wenn sie sich um andere sorgen. Bitte hört auf, euch um uns Huren zu sorgen, oder fangt an, euch auch um Fleischfabrikarbeitende, Erntehelfer*innen, Bauarbeitende, Call-Center Agent*innen, Pflegekräfte, Kassierer*innen und noch viel mehr Arbei­te­r*in­nen zu sorgen.

Unsere Gesellschaft ist auf das Überleben und das minimale Wohlergehen ihrer Mitglieder angewiesen. Dazu benötigt es Menschen, die kochen, die pflegen, einkaufen, waschen, trösten, zuhören, in den Arm nehmen und sich sorgen. Wenn auch nicht für alle in gleichem Maße wichtig, gehört auch sexuelle Befriedigung zu diesen Grundbedürfnissen. Damit ist nicht der Quickie gemeint, sondern die sexuelle Befriedigung als Bestandteil menschlicher Zuwendung. All das nennen wir Care-Arbeit. Die Systemrelevanz dieser Arbeiten wurde den meisten Menschen (leider erst) durch Corona unmittelbar bewusst. Ebenso, dass deren Ausübung neben Ausbeutung, schlechter (oder gar keiner) Bezahlung oft auch noch mit Stigmatisierung einhergeht.

Der Neoliberalismus des 21. Jahrhunderts ist ein System, in dem Menschen überall auf der Welt ausgebeutet werden, in dem meist Frauen* und Migrant*innen auf dem Kontinuum „Pflege-Reinigung-Sexarbeit“ arbeiten. Ein System, in dem Fähigkeiten und Ausbildungen von Geflüchteten und Migrant*innen nicht so viel wert sind, wie die derjenigen, die hier geboren wurden. Ein System, in dem Cis-Männer die meisten Führungspositionen besetzen, und in dem Frauen*, die eine selbstbestimmte Sexualität und Körperautonomie haben, von Gewalt und Diskriminierung betroffen sind.

Sexarbeit kann in der Tat selbstermächtigend sein, aber darum geht es nicht. Es geht verdammt nochmal ums Geld. (Kitty Carr) 

Aber wir können nun mal nicht den gesamten Kapitalismus auf einmal abschaffen. Wie die meisten Menschen versuchen wir Sexdienstleister*innen unter den gegebenen Verhältnissen durchzukommen. Jede Arbeit hat ihre ganz eigenen Vorzüge und Ärgernisse.

Den wenigsten Menschen auf der Welt ist das Privileg gegeben, Lohnarbeit aus Selbstverwirklichung zu machen – das ist ein neoliberaler Mythos.

Aber wir Sexarbeitende sind immer wieder von der Unfähigkeit der Gesellschaft betroffen, sich dessen bewusst zu werden. Einer Gesellschaft, gefangen in der christlichen Moral. Das äußert sich in paternalistischen Helfer*innen-Symptomen, in „besorgten“ Kommentaren, in Abwertungen, die nicht als solche gemeint sind, und in Gewalt und offener Diskriminierung.

Ja, es gibt privilegierte und glückliche Huren wie mich, die sich den Beruf aussuchen, weil er trotz guter Ausbildungen und vieler anderer Möglichkeiten im gutbürgerlich und angepassten System der Job ist, der weitestgehend glücklich macht und die Möglichkeit der Entfaltung und Horizonterweiterung bietet. Und es gibt auch Menschen, die unter falschen Versprechungen in andere Länder gelockt werden. Zwischen diesen Realitäten liegen Welten und alle Geschichten haben ihre Berechtigung.

Kommentare wie: „Woher weiß ich, ob sie glücklich ist und nicht ausgebeutet wird“, setzen falsch an. Diese Art von Kommentar wäre nur akzeptabel, wenn er für alle Arten von Arbeit und mit der Zielsetzung und Bereitschaft gemacht werden würde, sich für den Kampf für die Überwindung des Kapitalismus einzusetzen.

„Auch Sexarbeit ermöglicht es Menschen, sich in unserer von Zwängen durchzogenen Welt ein bisschen Handlungsmacht zurückzuerobern: Sofort Geld auf die Hand, und das ohne Berufsausbildung oder größere Investitionen, hohe Mobilität, wenn gewollt. Sicher, der Preis dafür ist hoch: Stigmatisierung, (gesundheitliches) Risiko, anstrengende Kunden. Es gibt gute Gründe, nicht in Bereiche der Sex­arbeit zu gehen. Es gibt aber auch viele gute Gründe dafür“, so Theo Meow, Aktivist der Szene. Sexarbeit ist definitiv kein Job wie jeder andere und nicht für jede*n geeignet. Es braucht Voraussetzungen, Talente und Kenntnisse, um den Beruf erfolgreich und unbeschadet ausüben zu können. Jeder Teilzweig (Straßenstrich, Escort, Laufhaus, Massagestudio, Caming etc.) erfordert besondere, jeweils andere Kenntnisse, verschiedene Trainings- und Weiterbildungen. Die „Wahl“, in welchem Bereich Geld verdient wird, sei allen selbst überlassen.

Migrant*in zu sein verändert alles, denn der Entscheidungskorridor ist schneller schmaler bemessen als für andere.

Armut, rassistische oder sexistische Marginalisierung, fehlende Papiere, unzureichende Sprachkenntnis, Probleme bei Behördengängen oder der Eröffnung eines inländischen Kontos – Migrant*in zu sein verändert alles, denn der Entscheidungskorridor ist schneller schmaler bemessen als für andere.
Das ist in der Sexarbeit so, wie in allen anderen Berufen auch. Die persönliche Wahlfreiheit wird drastisch eingeschränkt und all das erleichtert es, in ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen zu landen. Egal, in welchem Tätigkeitsbereich.
Die Diversität der Sexindustrie und der Menschen, die in ihr tätig sind, bedeutet auch, dass Sexarbeiter*innen unterschiedliche Privilegien besitzen und unterschiedliche Formen von Diskriminierung erfahren.
Gesellschaftliche Sichtweisen drängen der Sexindustrie, zusätzlich zu Stigmatisierung und Ausgrenzung bestimmter Gruppen von Sexarbeiter*innen, eine moralisch motivierte Hierarchie auf, die auf folgenden Kriterien beruht: Migrant*in­nen­status, ethnische Herkunft, Geschlecht, Alter, sexuelle Orientierung, Dro­genkonsum, Arbeitsbereich bzw. Art der angebotenen Dienstleistungen sowie psychische und physische Gesundheit. Sogar unter Sexarbeiter*innen gibt es Personen, die diesen Sichtweisen zustimmen. Es ergeben sich verschiedenartige intersektionale Diskriminierungserfahrungen.
Eine Sexarbeiter*in ohne gesicherten Aufenthaltsstatus kann zum Beispiel keine Anzeige bei der Polizei erstatten, wenn sie Gewalt erfährt. Wobei sich ohnehin nur die wenigsten Sexarbeitenden freiwillig bei der Polizei melden, da sie, egal ob mit und ohne Aufenthaltserlaubnis, Diskriminierung erfahren. Dadurch erfährt sie eine andere Form von Marginalisierung als ihre Kollegin mit gesichertem Aufenthaltsstatus oder österreichischem Pass.
Wir Huren, die uns einen Aktivismus erlauben können und für unsere Arbeitsrechte kämpfen, kämpfen immer noch gegen Stigmatisierung und Doppelmoral, repressive politische Regelungen in Bezug auf Migration und die dadurch entstehenden negativen Konsequenzen für Sexdienstleister*innen an. Es bestehen nach wie vor mehr Pflichten als Rechte. Achtung: Oft sind wir, die es repräsentieren, nicht repräsentativ – dennoch sind wir mitzudenken in der riesigen Welt der Sexindustrie. Auch unsere Geschichten haben Berechtigung.

Benachteiligungen aufgrund von moralischen Bedenken dürfen nicht akzeptiert werden.

Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass sich in der gesellschatlichen Betrachtung von Sexarbeit kapitalistische, patriachale und rassistische Strukturen manifestieren. Probleme, die nicht gelöst werden durch strukturelle Gewalt und verkürzte Kapitalismuskritik oder gar ein Verbot eines Berufes.

Also, willst du ein guter Kunde sein?

Und nun zurück zu meinem Gespräch mit dem gerade geouteten Kunden. Du willst ein guter Kunde sein und sichergehen, dass es der Sexdienstleister*in mit dir gut geht? Hier ein paar Tipps, die dabei helfen können und die du prinzipiell auf jede Dienstleistung anwenden kannst:

Meine „Lieblingskunden“ sind diejenigen, die mich und meine Auswahlverfahren mit Respekt behandeln, mich wie besprochen bezahlen, mich nicht schikanieren oder stalken. Mich nicht ihren rassistischen Tiraden aussetzen, während von mir erwartet wird, zu lächeln und zu nicken.

Meine Favoriten lesen mein Profil richtig, informieren sich über meine Arbeitszeiten, Honorare, Dienstleistungen und wie ich es vorziehe, kontaktiert zu werden. Sie meckern nicht, wenn ich eine Anzahlung verlange, und sie verlangen keine Dienstleistungen, die ich nicht anbiete. Sie respektieren meine Zeit. Sie rufen nicht mit Schwänzen in der Hand für einen kostenlosen sexy Chat an oder tauchen zu spät auf.

Sie kommunizieren gut und kommen wieder: Je länger ich jemanden treffe, desto mehr Spaß haben wir, weil wir Vertrauen aufbauen.

Sie informieren sich selbst über Geschlechtskrankheiten, wie sie übertragen werden und überlassen diesen Teil nicht nur mir als Dienstleister*in.

Sie geben mir immer die Möglichkeit, NEIN zu sagen, auch wenn wir schon mitten drin sind. Nur weil sie für etwas bezahlt haben, bedeutet das nicht, dass sie das Recht haben, über meinen Körper zu verfügen.

Sie fragen nach, anstatt nur anzunehmen. Sie zeigen ihren Corona-Test vor, ohne dass ich danach fragen muss.

Sie erkennen und akzeptieren, dass ich als Sexarbeitende im Rahmen meiner Arbeit manchmal Dinge tue, die mir nicht wirklich Spaß machen oder Lust bereiten und dass ich dennoch explizit dazu bereit bin, es zu tun und gute Gründe dafür habe – das nennt man nicht-enthusiastische Zustimmung.

Also, wie bei anderen Käufen oder Konsumwegen auch: Mache dir vorab Gedanken über deine Bedürfnisse und überlege dir, welche sexuelle Dienstleistung am besten dafür geeignet ist, deine Bedürfnisse zu erfüllen. Kenne deine Grenzen und respektiere die Grenzen der Dienstleister*in. „Der Kunde ist König“ – einfach, nö!

Sexarbeit ist Arbeit – Respekt!

 

Podcasts
Weitere Tipps für Kund*innen in der Podcastfolge „Das Date“ meiner Kolleg*innen llleonie und lllil:
mitzunge.podigee.io
Paulis jüngstes Interview zum Thema, Beschreibungen, Kenntnisse und Talente und Sexpositivität:
open.spotify.com/episode/2NUdcxSBMY8aQ01jMjMNc7?si=61213568318c4ea0

Filmtipp
Gerade arbeite ich mit zwei Kolleg*innen an einem länderübergreifenden Sexworker-only-Filmprojekt. Auf Grund unseres Berufes, dem damit behafteten Stigma und internalisierten Vorurteilen sind wir S_xarbeitende oft mit toxischen Beziehungsdynamiken konfrontiert und finden uns oftmals in Situationen wieder, in denen wir unsere Partner*innen weiterbilden müssen. Und das natürlich nur, wenn wir uns dazu entschließen, offen mit unserem Beruf umzugehen. Unser Kurzfilm soll unseren Beziehungsmenschen dabei helfen, ihre Vorurteile zu bearbeiten und gleichzeitig unsere Community stärken. Wir S_xarbeitende sind die Expert*innen in Fragen zu unserer Arbeit. Leider wird uns dies nach wie vor selten anerkannt. Mit diesem Projekt beleuchten wir unsere Themen innerhalb von Beziehungen und schaffen uns Gehör. Wir verstehen dieses Video als Bildungs- bzw Aufklärungsmaßnahme für die Mehrheitsgesellschaft. Darüber hinaus kann es als didaktisches Material für die Ausbildung verschiedener Berufe (Sozialarbeit, Erwachsene Bildung, Psychotherapie usw.) zur Destigmatisierung von sexarbeitenden Personen verwendet werden. Der Film ist ab September 2021 auf der Webseite der Postproduzent*in zu sehen:
www.smo-s.com

Veranstaltungstipp
Vom 22. bis 25. September findet in Wien das Projekt „RED RULES Vienna“ statt, bei dem Menschen die Möglichkeit geboten wird, Einblicke in verschiedene Bereiche und Themen der Sexarbeit-Industrie zu erlangen. Am 22. September gibt es die Premiere der Performance „City Of Whores“, die dann noch bis 25. abends läuft. Die Konferenz zur Sexarbeit findet vom 23. bis 25. September von 11–17 Uhr statt. Tickets und weitere Informationen: ntry.at/redrulesvienna

Die kleine Referentin

Bild Terri Frühling

Three Peaks Bike

Lokaler Radverkehrsverdruss oder internationale Fahrradlust? Magnus Hofmüller fiel die Wahl nicht schwer: Er interviewte Jana Kesenheimer und Gerald Minichshofer, die gerade vom einem wunderbaren Rad­rennen quer durch Europa zurückgekehrt sind.

MH: Ihr habt beide ein unglaubliches Langdistanzrennen hinter euch. Und zwar das von Adventure Bike Racing organisierte Three Peaks Bike Race, das heuer von Wien nach Barcelona geführt hat. Du, Jana, hast das mit dem fünften Platz beendet (7 Tage, 11 Stunden und 37 Minuten) und du, Gerald, als Achter (8 Tage, 4 Stunden und 8 Minuten). Wie kommt man dazu, sowas zu machen?
JK: Ich hatte nie das Ziel, mit meinem Radfahren bei solchen Formaten mitzumachen. Ich bin da eher hineingestolpert und dann ist es irgendwann eskaliert. Ich komme aus einer sportbegeisterten Familie mit einem Radsport-Vater, und wuchs mit Tour de France im Fernsehen auf. Die Radtouren meiner Kindheit lösten bei anderen Leuten oft Verwunderung aus. Nach jugendlicher Radsport-Verweigerung und einem Exkurs in Marathon und Triathlon musste ich meinem Vater recht geben und fahre seitdem nur mehr Rad.
GM: Ich habe begonnen Brevets zu fahren. Das sind Distanzfahrten von 200, 400, bis hin zu 600 Kilometern. Es sind keine Rennen und es gibt nur eine Maximalzeit und keine Wertung. Das bekannteste ist der Klassiker Paris-Brest-Paris mit 1200 km. Über einen Freund bin ich dann auf das Three Peaks Bike Race gekommen – er hat gemeint: „Das schaffst du auch!“

MH: Wie kompetitiv ist ein solches Format oder ist es letztlich nur ein Rennen für oder gegen sich selbst?
GM: Mein Ziel ist, ins Ziel zu kommen und die Platzierung ist daher nebensächlich. Ich fahre nicht gegen die MitfahrerInnen, sondern gebe einfach mein Bestes. Während des Rennens orientiere ich mich nur, wer vor und hinter mir ist – rein als Ansporn. Im Gegenteil, man ist viel alleine am Weg und freut sich über jede Begegnung. Aber es ist trotzdem ein Rennen – auch natürlich gegen sich selbst.
JK: Spannende Frage. Es ist sehr unterschiedlich. Kommt auf die Person drauf an. Ich komme aus dem Radmarathon und der ist mega-kompetitiv. Richtig bissig – auch unter den Frauen. Mit echt oft fiesen Kommentaren. Nach meinem Sturz wollte ich weniger striktes Training und begann mit Bikepacking. Und so kam es zur ersten Anmeldung zum Three Peaks Rennen im Vorjahr. Und da war die Stimmung unter den Leuten gleich ganz anders. Extrem nett und unterstützend. Es geht stark drum, sich selbst was zu beweisen und man fährt meist alleine und gegen sich. Jedoch ist mir ein guter Platz schon wichtig und ich bin stolz drauf. Aber ohne Top-Platzierung als Ziel.

MH: Wie sieht der Tagesablauf während des Rennens aus? Gibt es Strukturen oder Tagesabläufe? Das Format des Rennens gibt ja nichts vor, außer so schnell wie möglich das Ziel zu erreichen.
GM: Das einzige wirkliche Fixum ist, dass ich 3 Stunden pro Tag schlafen muss. Der Rest ist nicht planbar. Die ersten beiden Tage vielleicht – aber danach übernimmt das Rennen. Es entscheidet die Tagesverfassung und das Gefühl, wie es mir geht. Wichtig ist ein gute Routenplanung.
JK: Bei meiner ersten Fahrt war ich sehr planlos unterwegs. Machte kurze Power-Naps und hatte keine längeren Schlafphasen; und so wurde die Müdigkeit zum größten Gegner. Dieses Jahr war der Plan, einen festen Rhythmus zu etablieren und das ist mit auch gelungen. Ich habe mich immer zwischen 23 und 1 Uhr hingelegt und mindesten 3 Stunden geschlafen.
Dann bin ich nach 3 oder 4 Stunden losgefahren und bin dann nur mehr am Rad gesessen. Die Morgenstunden waren am schwierigsten. Die Zeit zwischen 7 und 10 Uhr. Ich habe auch die Pausen gestrichen, bin nur in kleine Geschäfte oder Tankstellen gegangen und habe am Rad gegessen – damit ich keine Zeit liegen lasse.

MH: Ein weiterer wichtiger Faktor: Erholung und Ernährung. Wie sieht es mit der Nahrungszufuhr und der Unterbringung aus? Gels und Powerbars? Isotonische Spezialmischungen? Oder das, was die Tankstelle hergibt?
JK: Ich esse keine Sportnahrung. Gels und Riegel habe ich nicht. Am liebsten esse ich gekochte Kartoffeln am Rad [lacht]. Während der Fahrt esse ich, was es „schnell auf die Hand“ gibt – Obst, Brot mit Käse, Snickers und Gummibärchen. In Frankreich gab es zum Beispiel gute Quiche oder Baguettes mit Belag.
GM: Ich lasse das auf mich zukommen, brauche aber keine Spezialgels oder ähnliches. Ich vertrage normales Essen auch in dieser Situation gut und brauche es auch, dass es schmeckt. Die Qualität – überhaupt Bio und viel Gemüse – ist mir sehr wichtig. Ich möchte hier meine alltäglichen Gebräuche nicht über Bord werfen. Meine Ernährung ist zum Großteil vegetarisch. Ich habe aber den Fehler gemacht, in den ersten Tagen wegen der einfachen Verfügbarkeit McDonalds zu besuchen. Das tat mir überhaupt nicht gut. Da sind mir landwirtschaftliche regionale Angebote wie die 24h-Ackerbox bei Villach viel lieber – obwohl ich das am Wurzenpass mit 18% Steigung aufgrund des Gewichts etwas bereut habe. Auf der weiteren Route, zum Beispiel in der Schweiz, sind die Tankstellen sehr gut ausgerüstet und in Frankreich sind Pains au chocolat meine Hauptnahrung. Die Schlafplätze waren recht in Ordnung – immer entlang der Route im Biwaksack. Wichtig ist, gute Plätze zu nützen und nicht zu lange weiterzufahren. Das verschwendet oft Kraft und letztendlich auch Zeit.

MH: Zum Setup. Gerald, du fährst ein Stahlrad (von Alex Singer) mit Felgenbremsen und 650B Reifen, hast zudem Taschen aus gewachster Baumwolle (von Gilles Berthoud). Jana, du fährst einen Carbon-Renner (von Specialized) mit Bikepacking-Ausrüstung, wie der sogenannten Arschrakete und Rahmentaschen. Könnt ihr mir etwas zu eurem Equipment sagen?
GM: Es ist ein klassisches Ranndoneur-Rad. Ursprünglich wäre ein maßangefertigtes, etwas leichteres Stahlrad geplant gewesen, aber aufgrund der Liefersituation bin ich mit dem Rad aus 1976 gefahren. Das funktioniert für mich am besten, da ich einen flexiblen Rahmen brauche, der meinen Rhythmus zulässt. Das Gewicht ist für mich zweitrangig. Und mir ist Alu oder Carbon zu steif – und ich bekomme schnell Probleme in den Knien. Die Reifenbreite, die ich fahre, ist 37 mm und das bietet guten Komfort auch auf schlechten Straßen.
In den Taschen ist der Biwaksack, Regenkleidung, eine echte Wolljacke – die benötigt am meisten Platz, war aber nötig, weil es auf den Pässen empfindlich kalt wurde. Eine Reflektorweste, Armlinge, Beinlinge, Handschuhe, kleines Werkzeugset und Licht. Zahnbürste, Seife und Sonnencreme. Und Fruchtriegel – als Notration. Hose hatte ich nur eine – und die hatte ich an.
JK: Ich habe seit dem Vorjahr Unterstützung von Specialized im Bereich Material und fahre gefühlt das leichteste Rennrad, das es am Markt gibt. Gerade bei meinem Körpergewicht sind 2–3 Kilo Ersparnis schon sehr deutlich zu spüren. Mit Gepäck hatte es zirka 15 kg. Ich habe ein sehr minimalistisches Setup: Schlafsack, Isomatte, Rettungsdecke, Armlinge, Knielinge, Handschuhe und Regenjacke. Ich wollte ohne Extrakleidung (kurze Shorts und T-Shirt) fahren – davon hat mich mein Freund aber abgebracht. Im Gegensatz zum Vorjahr hatte ich nur Satteltasche, Rahmentasche und kleines Bag am Oberrohr. Und keine Lenkertasche mehr.

MH: Welche Übersetzung fährst Du?
GM: Kettenblätter 48/30 – Zahnkranz 12/28
JK: Kettenblätter 50/34 – Zahnkranz 12/34

MH: Was steht nächstes Jahr am Programm?
GM: Das Silk Road Mountain Race oder Atlas Mountain Race würden mich interessieren. Also auch mehr ins Gelände oder Off-Road. Oder Rennformate wie French Divide oder Slovakia Divide sind auch sehr spannend.
JK: Ich wollte heuer noch die Transpyrenees fahren – das Rennen wurde aber leider abgesagt. Jetzt fahre ich einfach so zum Radeln hin. Und den Ötztaler Radmarathon fahre ich auch noch.

 

Gerald Minichshofer, *1994 in Linz (AT), lebt in St. Marien und ist Fahrradmechaniker im Fahrradladen „Zum Rostigen Esel“ in Linz. Er interessiert sich für Fahrradgeschichte und nimmt regelmäßig an Brevets und Bikepackingrennen teil. Der tägliche Arbeitsweg mit dem Fahrrad bildet nach eigenen Angaben die Grundlage für seine Kondition.

Jana Kesenheimer, *1994 in Freudenstadt (DE), lebt seit vier Jahren in Innsbruck und ist Doktorandin der Sozialpsychologie. Sie beschäftigt sich beruflich mit Umweltverhalten und verbringt die restliche Zeit meist auf dem Rad. Weil sie am liebsten bergauf fährt, kommt die Kondition ganz von allein.

Hefte für neue Prosa, Nr. 14

Don’t judge a book by its cover, lautet eine Binsenweisheit der Literaturkritik. Anders verhält es sich im Fall der Idiome – Hefte für neue Prosa, die nicht allein durch ihren Titel, sondern auch durch ihre Cover­­ge­staltung einen besonderen Sinn für die Eigenheiten poetischen Sprachgebrauchs verraten. Florian Huber über die aktuelle Ausgabe und das besondere Interesse am literarischen Experiment.

Während auf der Umschlagrückseite der neuesten, vierzehnten Ausgabe Namen wie Urs Allemann (*1948), Zsuzsanna Gahse (*1946), Hartmut Geerken (*1939) oder Elisabeth-Wandeler-Deck (*1939) ein besonderes Interesse für das literarische Experiment signalisieren, präsentiert die Vorderseite der einmal jährlich erscheinenden Zeitschrift eine Reihe von Icons zum Begriff „Glocke“, die unterschiedliche Redensarten und Verwendungsweisen, aber auch die damit verbundenen Geräusche evozieren. Obwohl die Bilder recht schematisch anmuten, stellt die Suche nach einem ihnen jeweils angemessenen sprachlichen Ausdruck vor einige Schwierigkeiten, aus denen Bodo Hell (*1943) in einem Beitrag zum Wortpaar MAERZ und MERZ poetische Funken schlägt. Von der Widerständigkeit der Bilder und dem Reichtum ihrer literarischen Beschreibung zeugen aber auch die Einlassungen von Birgit Schwaner (*1960), die in Kopf / Schrift Kurzfilme von Mara Mattuschka (*1959) und zugleich das poetische Nachleben von Konrad Bayer (1932–1964) in den Blick nimmt. Die Materialität der Bilder und die Möglichkeiten ihrer sprachlichen Reproduzierbarkeit prägen zudem Margret Kreidls (*1964) Prosa Ohne Titel in Idiome 13, die sich der Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte von Gemälden der kanadisch-US-amerikanischen Künstlerin Agnes Martin (1912–2004) annimmt, während der Komponist Peter Ablinger (*1959) im aktuellen Heft in seinem in Blockschrift und -satz gehaltenen Text den Klangereignissen während einer Zug- bzw. Autofahrt nachspürt. Die einzelnen Beiträge verbindet dabei vielleicht weniger ein gemeinsamer Gattungsbegriff als der Anspruch, konventionelle Vorstellungen vom literarischen Text auf ihre poetische Verwendbarkeit zu überprüfen beziehungsweise hinter sich zu lassen. Im Editorial zur neuen Idiome-Ausgabe ist dementsprechend von „einer Poetik avancierter Prosa“ die Rede, die in Texten und Bildstrecken „zur Diskussion“ steht. Das ist auch deshalb zu begrüßen, da Prosa als Gattung im Gegensatz zur Lyrik nicht auf literarische Rede- und Schreibweisen beschränkt ist, sondern auch den alltäglichen und wissenschaftlichen Sprachgebrauch umfasst. 
Für die Textauswahl verantwortlich zeichnet der 1972 in Wels geborene Autor Florian Neuner, der die „Hefte für neue Prosa“ 2007 gemeinsam mit seiner Linzer Kollegin Lisa Spalt (*1970) begründete und inzwischen gemeinsam mit Ralph Klever in dessen gleichnamigem Verlag herausgibt. Besondere Erwähnung verdienen in diesem Zusammenhang auch die den Idiomen gewidmeten, regelmäßigen Veranstaltungen, die Neuner in Linz als Kurator der Reihe „maerz_sprachkunst“ der Künstlervereinigung MAERZ organisiert. Diese bieten nicht zuletzt den eingeladenen Autor*innen die Möglichkeit zum Dialog über unterschiedliche Vorstellungen vom geglückten literarischen Kunstwerk, die etwa auch Sabine Hassingers (*1958) Annäherungen an die im Januar 61-jährig verstorbene Barbara Köhler durchziehen. Dem Gespräch mit anderen Schreibenden und Lesenden ist auch Christian Steinbachers (*1960), u. a. gemeinsam mit Studierenden der Universität entstandene, Auseinandersetzung mit dem Werk von Lew Rubinstein (*1947) im aktuellen Heft verpflichtet, während Friederike Kretzen (*1956) in der vorangegangenen Ausgabe Von Räubern und ihren Verschleppungen bei Robert Walser (1878–1956) erzählt. Beiden Beiträgen ist ein kurzer Abriss ihrer Entstehung vorangestellt, der dem von den Herausgebern intendierten „Werkstattcharakter“ der Idiome entspricht und etwa auch in dem ebenfalls im Vorjahr erschienenen „Küchenbericht“ von Erhan Altan (*1963) zur Übersetzung deutschsprachiger experimenteller Dichtung ins Türkische spürbar wird. Fragen nach Übersetz- und Lesbarkeit liegen auch dem Gespräch zwischen Neuner und dem Philologen Jürgen Link (*1940) zur „Aktualität Friedrich Hölderlins“ zugrunde, das dadurch auch die gesellschaftliche Dimension literarischer Produktions- und Rezeptionshaltungen adressiert. Die Wirkmacht begrifflicher Rede bildet auch den Ausgangspunkt von Mariusz Latas (*1981) Prosa Fix, die bereits im Titel den Anspruch, mit Literatur Wirklichkeit erfassen und festhalten zu wollen und die damit verbundenen Erkenntnisse und Risiken inszeniert. Latas poetische Erkundungen plausibilisieren damit auch den mit Blick auf Barbara Köhler formulierten Befund der Herausgeber, „daß politische […] Bewußtseinsschärfung in der Literatur nur dann gelingen kann, wenn sie auch ästhetische Konsequenzen hat.“ So besehen wollen die Idiome auch in deutlichem Widerspruch zu einem Feuilleton gelesen werden, dessen Urteilsvermögen weniger ästhetischen als vielmehr sozioökonomischen Erwägungen entspringt. Dazu fügt sich die programmatische Rede von „neuer Prosa“, die nicht allein auf bis dato unpublizierte Texte oder eine jüngere Autor*innengeneration, die in den letzten beiden Idiome-Ausgaben etwa durch Thomas Ballhausen (*1975), Marlene Hachmeister (*1983) oder Philipp Kampa (*1987) vertreten war, verweist. Im Licht der Lektüre mündet die Suche nach literarischen Innovationsmöglichkeiten in Fragen nach der spezifischen Erkenntniskraft der Literatur, die sich dabei weniger kurzlebigen gesellschaftlichen Trends als einer konsequenten Auseinandersetzung mit der Geschichte verpflichtet sieht. Auf einer einzigen Seite demonstriert die Text-Bildmontage los von Fritz Lichtenauer dementsprechend nicht nur die ungebrochene Produktivität und ästhetische Beharrlichkeit des inzwischen 75-jährigen Linzer Künstlers, sondern auch seine herausragende Stellung innerhalb der jüngeren Avantgardegeschichte. Zudem erinnert die aktuelle Ausgabe anhand der Fotografien von Jörg Gruneberg (*1966) an den im Februar im Alter von 89 Jahren verstorbenen Urs Jaeggi, der trotz seiner 1981 erfolgten Auszeichnung mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis von der Literaturkritik zuletzt kaum beachtet wurde, aber dafür regelmäßig in den Idiomen publizierte. Auch an diesem Umstand wird die Skepsis der beiden Herausgeber gegenüber den Usancen des zeitgenössischen Literaturbetriebs und seinen Protagonist*innen deutlich, die in ihrer Vehemenz bisweilen irritieren oder Widerspruch erwecken mag. Das ist wahrlich kein geringes Verdienst und Grund genug, auch der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift und den darin enthaltenen Fragestellungen in Bildern und Texten gebührende Aufmerksamkeit zu schenken.

 

Idiome. Hefte für Neue Prosa Nr. 14.
Herausgegeben von Florian Neuner (Berlin) und Ralph Klever (Wien). Mit Beiträgen von: Peter Ablinger, Urs Allemann, Thomas Ballhausen, Wolfgang Bleier, Jörg Burkhard, Zsuzsanna Gahse, Hartmut Geerken, Jörg Gruneberg, Sabine Hassinger, Bodo Hell, Mariusz Lata, Fritz Lichtenauer, Ronald Pohl, Wilfried A. Resch, Franz Martin Riegler, Katharina Riese, Jürgen Schneider, Karin Schöffauer, Birgit Schwaner, Karin Spielhofer, Christian Steinbacher, Mathias Traxler, Elisabeth Wandeler-Deck.
Idiome Nr. 14, Hefte für Neue Prosa 112 Seiten, € 12, ISBN 978-3-903110-67-0

Fix

Für sich stehende Kurzprosa von Mariusz Lata und Leseprobe aus Idiome – Hefte für neue Prosa, Nr. 14.

Weisungen, Anweisungen, Ausweisungen, Einweisungen. Das Büro trifft die Gedärme. Anweisungen an die Krähen laufen. Anweisungen langen im Gekröse an. So ausgewiesene Wichtigkeiten, die darauf hinweisen, was abgewiesen wurde. Herzrasen, naturgemäß grün. Oder postalisch. Geflüsterte Auskünfte, ob derbroh oder nicht, sind Hinweise auf Gewesenes. Gewesenes ist. Hinweise sterben & sind Anweisungen. Du da! Kinderruf, der stirbt. Weil Gewesenes ist, sitzt die Rote, die Köpfe machte, Butterbrote schmierte, auf Bänken saß, wo die Rote ab & an eine Pulle Pils trank. Sie gab, sie gibt Anweisungen an Kinderrufe, die mit ‹Du da!› sich ausweisen. Gewesenes ist & ist gar nicht mehr, der rote Faden verheddert sich, geht verloren in der Röte des Biographienblödsinns, was dann zum Überbleibsel wird, darin der Faden: gut aufgehoben. Anweisungen an die Hundeschnauze laufen. Mit dem Kopf, nicht mit den Köpfen, die sie machte frisierte, die alsdann Butterbrote aßen, oder doch, mit den Füßen zuerst, wurde Biographienblödsinn außer Haus geschafft. Die Rote kannte jede & jeden, die Rote kannte jede & jeder. An keinem schwarzen oder roten Brett hing der Hinweis darauf, daß dieser Stadtteil nun verstorben sei.

Wir sollen Viten haben, vor allem am Tag des Tods. Kontaktblümchen im Kosmos. Inmitten des Lebens. Inmitten des Tods. Wir sollen gemacht haben. Wir sollen haben. Wir haben Körper. Die gleichen sich. Da hausen Ideen drin.

So putzig, Schillers Idealismus, daß ich Schiller, lese ich „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“, die ganze Zeit trösten möchte. Er wußte darum, um seine fixen Ideen, die diese Sprache verhüllt, als gelte es die fixen Ideen zu verstecken. Vor den Anwenderinnen. Vor Sichtungen.

Briefe treffen auch nach dem Tod ein. Vom „Deutschen Roten Kreuz“ vom „Tierschutzbund“. In Briefkästen landen Ausweise. Könige sollen tausende von Pfund Medienbeitrag an den BBC überweisen, obgleich sie tot sind. Mit ihnen ist aber nicht die Idee des Souveräns gestorben. Der geistert noch durch die Fiktionen als Fiktion. Potenzierte Fiktionen, & in Televisionen Radioapparaten auf You­Tube in Büchern spuken Heldinnen herum mit Namen, Viten etc. Die Königinnen sind tot, es leben die Souveräne.

Es stirbt. Ein Mensch. Es stirbt ein Stadtteil. Es ersterben Rauchzeichen. Es stirbt das Viertel, wenn ein Mensch stirbt, & steigen keine Rauchzeichen auf. Es waren einmal Rauchzeichen. Es werden Brotlaibe in Müllkübeln gefunden. Es werden Brotlaibe auf dem Marktplatz gefunden. Es stirbt – : ein Mensch.

In Märchen – : der gerechte Krieg, der gerechte Mord; aufgelesen. Die Königin ist tot, es erlese sich die Souveränin, die sich aufgelesen. Märchengleich schwappt das Bier nicht über die Bank, schäumt auf dem Tisch, daß Schaumkrone, Gischt, Geburt etc. Inmitten des Tods greifen Flechten Geflechte Kontaktblumen nach der Gischt, die die Heldin umspült. Ich versuche das zu ordnen, kann aber seit einem Jahr ein Buch nicht finden, aus dem ich nur einen Abschnitt brauche, der die fälschliche Verwendung des Schimpfworts „Schwein“ nacherzählt, der nachweist, warum Schwein nie & nimmer ein Schimpfwort sein sollte. Ich ziehe meine Fühler ein. Ich brauche den Abschnitt gar nicht, weil ich noch weiß, was drinstand, will ihn nur sehen. Ich & Genese.

Morgens mit der fixen Idee aufgewacht, die Geschichte wäre ganz anders gelaufen, sagten wir: die Velocipedistinnen.

Ein Stadtteil kann gar nicht sterben, der besteht aus x mal x vielen Menschen, manchmal aus Zehntausenden; der kann absterben verarmen vermüllen verwahrlosen verlottern & Gesichter verlieren, nicht aber sterben. Nicht einmal die Ideen verrecken, kommen immer wieder zurück, sind nicht zu ermorden. Die kommen gefleddert gerupft oder unverändert zurück, die Ideen. Fast schon eine Sicherheit, daß Menschen kämen, die ästhetisch erziehen wollten, wenn eine Gegend vermüllt. Die sammelten & sammelten Kippen auf, klaubten Papier auf mit diesen Greifdingern etc.; die glaubten an die Souveränen an Viten an Hokuspokus, & wenn sie es nicht mehr täten, seien sie gefährdet, sich gegen oder unter Züge zu werfen von Brücken zu springen sich aufzuhängen sich auszubluten etc. Ganz klar, die fixen Ideen, das, was nie aufgehen wird, sie sind lebensverlängernd, & allein deswegen überleben sie, weil sie Überleben sichern. Die Ideen wollen nicht verrecken. Menschen, die nie auf die Idee kämen, Schiller trösten zu wollen, weil die Ideen in ihren Leibern wohnen. Sofern jenes Überlebenwollen der Idealistinnen das Überleben der fixen Ideen sichere, ließe sich nichts dagegen machen. Wer spricht, verspricht sich. Solche Ideen könne niemand aus den Körpern herausoperieren; aber die blieben nicht in den Körpern, die sie bewohnten; aus Mündern versprächen sie sich, vermehrten sie sich. Dagegen könne nichts gemacht werden, daß das sich gegenseitig befruchte, was nie & nimmer fruchten werde, was nie gefruchtet habe. & da sei zu singen, die Ideen seien frei, denn sie sitzen in den Leibern Brotlaiben fest. Die fixen allzu fertigen Ideen sind da sind der rote Faden, in dem die Leiber aufgehen wie am Schnürchen, zu einem Leib der Generationen werden. Tu dies zu unserem Gedächtnis. Laß das für uns. Entlang der Ideen sich hangeln.

Traum von einem Pamphlet des Inhalts: „Die Demokratie der Friedhöfe“. Nur hatte die Verfasserin oder der Verfasser des Pamphlets das Prächtige, den Prunk marmorner Gräber übergehen wollen. Es log da eine, einer ganz dreist sich was zusammen. Das Pamphlet wollte nicht – ums Verrecken wollte es nicht! – sich zerreißen lassen.

Ich gehe in die Seitenstraße, deren Namen ich nicht weiß, die auch keinen bräuchte, so kurz ist sie, um in die Fenster der Roten zu schauen, wo sich das Blau spiegelt, die Bläue der Ideen; wo ich Wolken im Glas finde, die Gardinen noch stören. Gar nicht denke ich an Kontaktblumen, Biographienblödsinn; ich denke an Szenen, wie alles zusammenschnurrt, wie einzelne Gesten, Sätze sich verhärten, & daß davon dann nur mehr die Bilder bleiben, daß das Harte sich auflöst, & daß allein das Weiche bleibt. Als wäre das Weiche das, worauf wir gehen, worin wir einzusinken drohen, weil dieses Weiche unnachgiebig ist in seinem Einverleiben; völlig nasse Erde, oder ein Schlamm-, Sumpfgebiet, & womöglich sind wir längst versunken, sind nicht Geherinnen, sondern allezeit, alle Jahre nichts anderes als Taucherinnen in diesem Sumpfgebiet gewesen. Wir sind Taucherinnen gewesen. Tauchten in namenlosen Seitenstraßen, härteten Sätze, die mit uns ab-, auftauchten. Einzelne Eigentümlichkeiten dann, die sich doch an anderen Leibern & deren Verhalten wieder finden ließen. & doch die fixe Idee, in den Spiegeln der Bläue könnte ich womöglich mehr sehen, etwas übersehen, ginge ich nicht vorbei, was weitaus mehr als eine Reflexion des Lichts sei. Ich & Fiktion.

Die Ideen sitzen auf & in den Dingen, sie belagern sie, bilden Kolonien, erobern die Dinge, bis diese identisch sein werden mit den Ideen. Der Tod kann sich gegen das Ideewerden nicht wehren; der Schuh weiß nichts von seiner Idee, die zu uns spricht, wie der Tod, der zu uns spricht, denn die Ideen halten es ja nicht in ihren Dingen aus; sie stoßen in die Löcher, die Leeren, die die Dinge in der Welt aufreißen, um zu sprechen. Flüstertüte „Ding“. Von da aus wird geflüstert, postalisch. Etwas ist da, um kolonisiert zu werden. Waten durch Gesten, Szenen. Gehärtete Sätze wie Gebete. Ah!

Kontaktblumen im Sumpfgebiet. Ich hüte Sätze, die so nie ausgesprochen wurden, & beharre gar nicht auf deren gewesener Wirklichkeit, hüte sie aber trotzdem, als wären sie so ausgesprochen worden.

Es war einmal die Ideologie der Unaustauschbarkeit. Es waren einmal be-, gehütete Sätze. Es waren einmal Kolonial- Vernichtungsarmeen, die aus Mündern stürmten. Es war einmal eine Heldin, die jede & jeden kannte, die jede & jeder kannte. Es war einmal der maus-, haus-, beton-, himmel-, trampelpfad-, taubengraue Faden, der sich als Wolkenansammlung in Fenstern spiegelte. Es war einmal der Trugschluß.

Ob schön oder auch nicht schön, wo wir sind, bleibt es düster. Da jausen die Ideen, die in Körpern hausen, die sich gleichen.

Aus allen unseren Poren tritt unsere Lumpigkeit heraus. Eine Art der innerlichen Verlotterung west in uns. Es tritt unsre Prekariatsgenese aus uns heraus. Drum bleibt unser Sonntagsstaat im Schrank.

Der Ausweis der Zäune war eine Anweisung, daß dieser Platz nicht betreten werden dürfe, bis dann eines Tages die Zäune eine Öffnung aufwiesen, eine Eintrittsspalte da war, die führte. Die Tore: weg; die Scheiben der Eintrittskartenhäuschen: mausgrau, & innerhalb der Häuschen: Laubhaufen, als hätte die ein Mensch da hinein gefegt; die eine Bank: so, daß ein Sitzen auf ihr unmöglich wäre. Auf dem Ascheplatz wuchsen Un-, Wegkräuter, Giersch, Disteln, Schöllkraut, & Goldastern & Steinkraut etc. Fußballromantik sei dort anzutreffen, wo der Fußball seit langem nicht mehr bewegt werde, eine Idee sei.

Mitwirkende:
circa 4 Milliarden Idealistinnen
zig Jogginghosen
1 Pamphlet
circa 3 Ichs
7 Es war/Es waren einmal
0 Tänzerinnen
circa 11.200 Königinnen bzw. Souveräne
paar fixe Ideen
1 Stadtteil
25 unerwähnte Bierpullen (Pilsener)
circa 10.000 Tote
1 Mitschreiberin
1 Schiller
5 x Wildwuchs
0 Schafe
0 Fußbälle
0 Hexen
1 Trugschluß

 

Fix von Mariusz Lata wurde in Idiome – Hefte für neue Prosa Nr. 14 veröffentlicht. 

Plan

Die Geschichte einer Obsession: Ein Mann entwirft Pläne zur Umgestaltung seiner städtischen Umgebung. Aus dem zunächst harmlosen gesellschaftlichen Engagement erwächst die Wunschvorstellung der Übernahme politischer Macht und schließlich der autoritäre Traum von einer nach Plan funktionierenden, konfliktbefreiten Gesellschaft. So lautet der Klappentext zu Robert Stährs neuem Buch. Hier eine Leseprobe.

Ich erwache später als an anderen Tagen. Ein Blick auf die Armbanduhr zeigt mir, dass es schon Vormittag ist. Nur noch wenige Stunden bis zum Versammlungstermin, den ich um 14 Uhr angesetzt habe. „Siedend heiß“ fällt mir ein: Ich habe das Rednerpult samt Mikrophon und Lautsprecher zu besorgen vergessen. Ich besitze eine volltönende Sprechstimme, Verve und Engagement werden mich zur Hochform auflaufen lassen. Ein Pult wäre letztlich nur hinderlich im direkten Kontakt mit den Anwesenden.
Aus diesen Gedanken reißt mich das Läuten des Telephons. Also gut ich komme sagt Karla tonlos. Wann startet das Ganze? – Am Nachmittag um zwei stammle ich vor Überraschung. Als ich sie fragen will, ob sie zuvor in die Wohnung kommt, um gemeinsam mit mir zum Versammlungsort zu gehen, hat sie aufgelegt.
Duschen und Anziehen sowie Mundhygiene müssen an diesem entscheidenden Tag, besonders sorgfältig durchgeführt werden. Schließlich repräsentiere ich eine zukünftige Reformbewegung, deren Initialzündung heute, an diesem Nachmittag, erfolgen wird.
Voller Nervosität gehe ich zuerst im Arbeitszimmer, dann in der ganzen Wohnung auf und ab. Immer wieder schau ich aus dem Fenster: Im Park ist alles ruhig; Karla ist weder dort noch auf dem Gehsteig zu sehen.
Zum wiederholten Mal blicke ich auf die Armbanduhr. Als es ein Uhr Mittag geworden ist, beschließe ich, zum Versammlungsort zu gehen, um letzte Vorbereitungen zu treffen.
Auf dem Weg zur Versammlungsfläche im Park fallen mir weitere beschädigte und abgerissene Plakate auf. Auf den Bänken und Wiesen rund um die Fläche sitzen Menschen unterschiedlichen Alters und Geschlechts und reden angeregt miteinander. Es ist gut, wenn der Reformkonvent von vielen verschiedenen Menschen besucht wird. Leute aus allen Gesellschaftsschichten sollen sich meiner Bewegung anschließen.
In weniger als einer Stunde starten wir. Von mehreren Seiten nähern sich Passanten dem Veranstaltungsgelände. Erst jetzt fällt mir auf, dass die Klarsichthüllen mit den Hinweisen nicht mehr an Bäumen und Pfosten kleben. Wahrscheinlich haben interessierte Personen sie mitgenommen.
Eine halbe Stunde vor Beginn des Konvents sitzen etliche Leute, die meisten jüngeren Alters, auf der Wiese in der Sonne. Klima und Atmosphäre stimmen. Jemand ruft nach mir. Ich drehe mich um und erblicke einen der Nachbarn, die ich lange nicht gesehen habe.
Freut mich dass Sie sich Zeit nehmen sage ich und schüttle dem Nachbarn die Hand. Zeit wofür fragt der Mann und schaut mich verständnislos an. Für die Bürgerversammlung erwidere ich. Okay. Der Nachbar hebt die Hand zum Gruß und schlendert über die Wiese davon.
Kurz darauf läutet das Telephon in meiner Hosentasche: Karla. Wann kommst du frage ich gereizt; ich schaff das jetzt nicht treffen wir uns später im Cafe meint Karla unbekümmert. Ich unterbreche augenblicklich die Verbindung und bin versucht, das Telephon ins Gras zu werfen.
Knapp vor dem definitiven Start des Konvents vermeine ich erwartungsvolle Blicke auf mich gerichtet zu sehen. Mein ohnehin schon hoher Adrenalinpegel steigt weiter, ich spüre die Motivation, es gelingt mir, den Ärger über Karla zu vergessen.
Ein paar Männer, deren Alter schwer schätzbar ist, steuern auf mich zu. Sie wirken unsicher, nervös, als sie vor mir stehenbleiben und fragen, ob hier die angekündigte Versammlung stattfinde. Ich nehme Haltung an und bestätige den Männern, dass sie hier genau richtig seien; ich freue mich über ihr Erscheinen. Die Gruppe bleibt direkt vor mir stehen, umringt mich förmlich.
Ich entschuldige mich bei der Gruppe, es ist zwei Uhr und die Versammlung beginnt. Wir starten jetzt rufe ich in die verschiedenen Richtungen, wo die Teilnehmer auf Bänken und der Wiese sitzend warten. Zunächst reagiert niemand auf meinen Zuruf; ich muss lauter rufen, um mich gegen den im Park herrschenden Lärmpegel durchzusetzen. Die Männer der Gruppe schauen mich erwartungsvoll an.
Nach dem dritten Aufruf, bei dem mich der größte der Männer akustisch unterstützt, antwortet eine Frau, die mit einer Freundin auf der uns am nächsten stehenden Bank sitzt: Warum schreien Sie denn so? – Weil ich jetzt beginnen und die Leute nicht länger warten lassen möchte. – Beginnen … womit? – Wenn Sie nicht zu unserem Reformkonvent gekommen sind ersuche ich Sie woanders hinzugehen sage ich ungeduldig. Gehen Sie doch woanders hin wir wissen nichts von einer … Konvention keifen die beiden Frauen unisono. Von der Wiese ruft ein Mann herüber: Wir wollen unsere Ruhe haben!
Wenn auch, mit Ausnahme der Gruppe, bis jetzt niemand auf meinen Eröffnungsruf reagiert hat, räuspere ich mich – ein weiteres akustisches Zeichen setzend – entsprechend laut und beginne zu sprechen. Einige wenige drehen sich nach mir um und mustern mich von oben bis unten. Ich steigere die Lautstärke und lege größeren Nachdruck in die Stimme.
Langsam müssten diejenigen, welche auf der Wiese und den diese säumenden Bänken sitzen, aus ihrer Lethargie erwachen und sich um den Redner, mich, scharen. Der Konvent hat begonnen, ich halte die Eröffnungsrede. Unmittelbar vor und seitlich von mir steht die Männergruppe, der „harte Kern“ sozusagen. Ihre Mitglieder applaudieren nach jedem zweiten Satz, den ich sage. Sie fungieren als Anheizer; weiter weg stehenden und sitzenden Versammlungsteilnehmern verstellen sie allerdings die Sicht auf den Redner.
Erste Wortmeldungen, Zwischenrufe kom­men noch während meiner Rede. Ich unterbreche und ersuche die Betreffenden, ein paar Minuten mit ihren Diskussionsbeiträgen zu warten. Eine kleine Gruppe junger Frauen und Männer kommt näher. Was soll das Geschwafel lassen Sie uns in Ruhe die Leute hier – eine sich aggressiv gebärdende Frau, Wortführerin der Gruppe, beschreibt mit der Hand einen großen Bogen – wollen das nicht hören.
Meine Gruppe öffnet den Halbkreis, den sie um mich gebildet hat, und dreht sich nach der aggressiven Frau und ihrem Gefolge um; wollt ihr Streit sagt einer meiner Anhänger halblaut. Ich suche abzuwiegeln und ein Gespräch zu beginnen mit diesen Leuten, die einige Meter entfernt auf der Wiese stehengeblieben sind. Wenn auch nicht alle wegen des Konvents hier sind so glaube ich doch dass ich bei vielen Menschen Interesse wecken kann bemühe ich mich, ruhig zu bleiben. Für diesen Schwachsinn wollen Sie Unterstützer finden? Einer der Begleiter der Frau greift sich an die Stirn. Darauf brechen diese Leute in Lachen aus, drehen sich abrupt um und gehen davon. Einer aus meiner Gruppe macht Anstalten, ihnen nachzulaufen; ich halte ihn am Arm zurück.
Bevor ich weiterspreche, überblicke ich das Veranstaltungsgelände: Die Anzahl der Anwesenden ist … kleiner geworden. Haben sie schon genug gehört? Keine Lust oder Bereitschaft, sich einzubringen? Auf die können wir verzichten sagt einer aus der Gruppe stoisch. Ich schau ihn an, zucke die Achseln.
Die Kerngruppe meiner Anhänger hat sich um mich geschart. Von den Nachbarn ist keiner gekommen, auch niemand von den für die Stadtplanung Verantwortlichen hat sich blicken lassen. Nicht einmal die beiden Popmusiker, die im Mailverkehr ein gewisses Interesse an meinem Anliegen geäußert, es für cool befunden haben, sind gekommen.
Unter den gegebenen Umständen verzichte ich darauf, die Eröffnungsrede zu beenden. Aus Enttäuschung über die Ignoranz und Gleichgültigkeit der Menschen in dieser Stadt werde ich vorläufig keinen zweiten Termin für eine Versammlung ansetzen.
Eine Reformkeimzelle hat sich gebildet. Die Männer meiner Gruppe haben sich nicht verabschiedet, sie stehen – im wahrsten Sinn des Wortes – zu mir. Ich danke euch fürs Kommen sage ich und schüttle jedem der Gruppenmitglieder die Hand. Wir wollen mehr über deine Initiative erfahren sagt einer von ihnen. Unbedingt stimmen die übrigen Männer zu und nicken freundlich.
Ich betone meine Freude über die Unterstützung. Gleich morgen, schlage ich vor, könnten wir uns wieder treffen, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Wenn jeder aus der Gruppe bestimmte Aufgaben zur Umsetzung meiner … unserer Reformbestrebungen übernehme, sei ein Erfolg letzterer möglich, seien dringend notwendige Maßnahmen auch ohne breite Unterstützung realisierbar.
Erzähl uns morgen mehr dann schauen wir weiter sagt jener aus der Gruppe, der sich bis jetzt im Hintergrund gehalten hat. Wir vereinbaren ein Treffen für den nächsten Tag, ich schlage das Gasthaus in der Nähe meiner Wohnung vor und beschreibe den Männern den Weg. Als die Gruppe außer Sichtweite ist, laufe ich auf schnellstem Weg nach Hause.
Es ist höchste Zeit für die tägliche Ruhephase. Obwohl mein Atem vor Aufregung und Ärger unregelmäßig geht, schlafe ich auf dem Sofa nach wenigen Augenblicken ein. Als ich erwache, ist die Nacht hereingebrochen. Es ist Schlafenszeit, Kopfschmerzen und Übelkeit plagen mich. Ich gehe zum straßenseitigen Fenster, öffne es und atme tief durch.
Ich sitze zwei Stunden lang auf dem breiten Fauteuil im Dunkeln. Dann gehe ich zu Bett und versuche wieder zu schlafen. Erst im Morgengrauen verfalle ich in einen kurzen Schlummer.

 

Plan Robert Stähr
Passagen Verlag, Oktober 2020 Paperback, 140 Seiten, ISBN 978-3-7092-0435-1
www.passagen.at/gesamtverzeichnis/literatur/plan

Radio FRO-Beitrag über das Buch bzw. mit dem Autor Robert Stähr: www.fro.at/total

„Plan“ von Robert Stähr
Die Geschichte einer Obsession: Ein Mann entwirft Pläne zur Umgestaltung seiner städtischen Umgebung. Aus dem zunächst harmlosen gesellschaftlichen Engagement erwächst die Wunschvorstellung der Übernahme politischer Macht und schließlich der autoritäre Traum von einer nach Plan funktionierenden, konfliktbefreiten Gesellschaft. Im Takt seiner täglichen Routine, der nur durch die Variationen des immer gleichen Traumes unterbrochen wird, beobachtet, kommentiert und kritisiert der Ich-Erzähler seine Umgebung: Auf Spaziergängen durch den nahe gelegenen Park und die Straßen der Stadt, bei Treffen und Erledigungen wird der Mann mit Unregelmäßigkeiten konfrontiert, die er als Mängel der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung erlebt. Nach und nach entwickelt der Erzähler Pläne, um diese Ordnung zu reformieren. Je länger aber seine Bemühungen, Mitstreiter für sein Vorhaben zu finden, erfolglos bleiben, desto mehr wächst sich sein Engagement zur Obsession aus. Der Erzähler träumt von einer konfliktbefreiten Gesellschaft, einem perfekten sozialen Räderwerk, das von ihm und seinen imaginierten Helfern beherrscht wird.

Stadtblick

Foto Die Referentin

Leo Rothziegel und die Revolution

Die Referentin bringt seit mehreren Heften eine Serie von Porträts über AnarchistInnen, ProtagonistInnen von frühen ArbeiterInnenbewegungen und erste kämpferisch-soziale Bewegungen. In dieser Ausgabe schreibt Peter Haumer über einen der schillerndsten Revolutionäre, den 1892 geborenen Leo Rothziegel – und dessen 1918 verfasste Artikelserie zur sozialen Revolution.

Revolutionen sind Zeitfenster der Geschichte, sie eröffnen die Möglichkeit, neue Wege zu beschreiten. Die Geschichte gibt uns eine Chance auf ungeheure Ausdehnungen und Wirkungen. Unsere kapitalistische Welt steuert einmal mehr auf eine Katastrophe zu und es werden sich wieder Zeitfenster öffnen, in denen die Chance besteht, mögliche Alternativen zum drohenden Kollaps in die Tat umzusetzen. Die Gelegenheit zu nützen, um in den Lauf der Dinge einzugreifen – davor steht dann jede/r einzelne von uns, mit einer großen Eigenverantwortung!

Diese Situation ist nicht neu. Im Laufe der Geschichte öffneten sich immer wieder Gelegenheiten, aber für die davon betroffenen Menschen war, ist und wird dieser Umstand immer neu und oft überfordernd sein. Aber einen Blick durch vergangene Zeitfenster zu werfen, um daraus die eine oder andere Lehre zu ziehen, sei hier gestattet. Auch wenn die Warnung nicht oft genug ausgesprochen werden kann, dass vergangene Zeiten vergangen sind und jede Revolution neu begriffen werden und ihr jeweiliges Räderwerk neu erkannt werden muss.

Leo Rothziegel …
… wurde am 5. Dezember 1892 in eine proletarisch-jüdischen Familie in Wien geboren und arbeitete später als Buchdruckergehilfe. Er hat wie viele andere den Blick durch eines der Zeitfenster der sozialen Revolution geworfen und hat auch darüber geschrieben. Er war Mitglied der sozialdemokratischen Arbeiterjugend, wurde aufgrund seiner radikalen Ideen aus dieser ausgeschlossen und bereits 1910 von der Polizei als anarchokommunistischer Revolutionär registriert. Während des Ersten Weltkriegs wurde er zur Infanterie einberufen. Er desertierte, lebte illegal in Wien und kämpfte gegen den Krieg. Nach dem Jännerstreik 1918 wurde er erneut verhaftet und verbrachte sieben Monate im Gefängnis. Er wurde durch die Revolution Ende 1918 befreit, beteiligte sich am Aufbau der Roten Garde und war Gründungsmitglied der Föderation Revolutionärer Sozialisten Internationale (F. R. S. I.). Nach der Ausrufung der ungarischen Räterepublik am 21. März 1919 stellte er ein 1200 Mann starkes Bataillon auf, an dessen Spitze er am Kampf gegen die Konterrevolution in Debrecen teilnahm. Er hatte versucht, in den Lauf der Dinge einzugreifen, und er fiel am 22. April 1919 gemeinsam mit mehr als 720 Genossen des 2. Internationalen Roten Regiments der Wiener Kommunisten in Ungarn.

… und die soziale Revolution.
November 1918: Die österreichische Revolution ist noch jung, unerfahren und voller Widersprüche. Rothziegel stand mit Gleichgesinnten an der Spitze der F. R. S. I., deren Zweck es war, alle revolutionär-sozialistischen Kräfte zusammenzufassen. In ihrer Wochenzeitung Der Freie Arbeiter schrieben sie: „Das Ziel ist die soziale Revolution, das heißt die Überführung des Grund und Bodens, der Produktions- und Verkehrsmittel aus den Händen der Kapitalisten in den Besitz der Arbeitenden. Wir erstreben die soziale Republik der Arbeitenden durch Abschaffung der Klassenherrschaft.“1
Ihr Tätigkeitsprogramm bestand aus vier Punkten: „1. Verbreitung sozialistischer Erkenntnis und Erweckung revolutionären Kampfwillens. 2. Nachweis der Nutzlosigkeit des Kompromisses mit den bürgerlichen Parteien. 3. Bildung von Propaganda- und Tatgruppen in den Betrieben und Kasernen. 4. Schaffung von sozialistischen Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräten.“2
Rothziegel versuchte in der dreiteiligen Artikelserie „Die soziale Revolution“ dieses Tätigkeitsprogramm zu erklären – auch um sich selbst besser begreifen zu lernen! Sie redeten schließlich nicht über theoretische Eventualitäten. Im Gegenteil, sie befanden sich mitten in einem Sturmgewitter, um sie herum überzogen nationale und politische Revolutionen Europa und Asien, im zaristischen Russland stürzte eine soziale Revolution die Kapitalisten und Gutsbesitzer! Junge Republiken erstanden aus den Trümmern der Monarchien – die nationale und politische Revolution war auf der ganzen Linie siegreich.

Doch Leo Rothziegel stellte fest, dass der bisherige Verlauf der Revolution an den Grundlagen des wirtschaftlichen Lebens nichts geändert habe. Es solle niemand glauben, dass neben der Ära der politischen Freiheit nun auch die Zeit sozialer Gleichberechtigung angebrochen sei. Wohl wurden die Grenzen verschoben, Regierungen gewechselt, Verfassungen geändert, wirtschaftlich seien die Verhältnisse dieselben wir vor und während des Ersten Weltkrieges. „Sollen sie anders werden, muss eine soziale Revolution die Gesellschaft von Grund auf ändern.“3 Er fragte, was denn „soziale Revolution“ heiße, und er antwortete, dass dies die Besitzergreifung des Grund und Bodens, der Produktionsmittel und Werkzeuge, Bergwerke, Fabriken, Häuser und Verkehrsmittel, kurz des gesamten gesellschaftlichen Reichtums durch das arbeitende Volk bedeute.

„Diesen Zustand zu verwirklichen setzt aber voraus, dass die bisher Ausgebeuteten nicht nur imstande sind den jetzigen Zustand zu beseitigen, sondern dass sie auch die Fähigkeit haben, die Produktion und die Verteilung des Volksreichtums zu übernehmen. Wer da glaubt, durch die Veränderung der Regierung und durch Erlässe derselben die Realisierung des Sozialismus herbeizuführen, vergisst, dass dies eben nur eine politische, nicht aber eine soziale Revolution bedeute.“4 Die Vorbedingung einer sozialen Revolution sei daher die Durchdringung des Volkes mit sozialistischen Ideen. Die ArbeiterInnen müssten bereit sein, die Verwaltung der Fabriken zu übernehmen. Rothziegel stellte fest, dass in diesen Zeiten der Umbrüche die Menschen in einigen Tagen mehr lernen, als sie sonst in Jahren erkannten und es wäre dringend notwendig, die ArbeiterInnen aufzufordern, sich in ihren Betrieben zu vereinigen und mit der Möglichkeit der Übernahme der Produktion zu rechnen. „Durch die Wahl von Arbeiterräten soll diese Entwicklung organisiert und beschleunigt werden.“5

Rothziegel, der in Wien als selbstbewusster Revolutionsführer galt – großmäulig und wortgewaltig, elastisch und ausdauernd – war kein Träumer, und er erkannte, dass bis jetzt keine Organisation der ArbeiterInnen sich mit der Frage der Übernahme der Produktion befasst hatte. Die Gewerkschaften und die Sozialdemokratie hatten sich nie mit derartigen Möglichkeiten beschäftigt. In der sozialdemokratischen Partei war bereits 1918 der Gedanke der sozialen Revolution tot, die Ideale des Sozialismus längst begraben. Von ihr zu erwarten, den Sozialismus auf irgendeine Art herbeizuführen, wäre eine törichte Illusion. Aber die Sozialisierung der Gesellschaft wäre nur möglich, wenn der Gedanke des Sozialismus im Geiste der ArbeiterInnenklasse lebt, schafft und wirkt. Was also tun, um die Gunst der Stunde nützen zu können?

Rothziegel stellte fest, dass vierzig Jahre österreichische Arbeiterbewegung nicht imstande waren, die Gedanken und Handlungen des Proletariats mit sozialistischem Geist zu erfüllen, so dass im gegenwärtigen, entscheidenden Augenblick jede Aktion lahmgelegt, oder von denen, die sich Sozialisten nennen, hintertrieben und unmöglich gemacht wurde. „Wir stehen auf Brachland, oder was noch schlimmer für uns ist: im Sumpf,“6 und man sei daher gezwungen, von vorne zu beginnen. Jetzt komme es darauf an, dass die Bewegung sich nicht damit begnüge, neue Theorien auszuhecken, sondern das als richtig Erkannte in die Tat umzusetzen. „Heißt Sozialismus, dass Grund und Boden und Häuser in den Besitz des Volkes übergehen, so muss das Volk sich des brachliegenden Bodens und der leerstehenden Häuser bemächtigen, dieses Land bebauen, die Häuser bewohnen; die Bewohner eines Mietshauses müssten das Haus als ihren Besitz erklären und alle Abgaben an den Hausherrn verweigern.“7

Eine solche Bewegung hätte die Zukunft für sich. Sei bisher durch jahrzehntelanges Organisieren nichts in Richtung Verwirklichung des Sozialismus geschehen, so würde durch eine solche Bewegung der sozialistischen Tat das, was bisher graue Theorie war, in das Leben des Volkes eindringen. Durch die Tat würde in wenigen Monaten ein besserer Anschauungsunterricht erteilt werden, als es jahrzehntelange Erziehung zu leisten imstande war.

Rothziegel resümierte abschließend: „Wir scheinen am Beginn der sozialen Revolution zu stehen. Dies ist kein Werk von heute auf morgen. Jahre wird es dauern, bis alle Schäden des kapitalistischen Systems verschwinden (…) macht in den Fabriken, in denen ihr robottet, in den Häusern, in denen ihr Zins zahlt, den Sozialismus zur Wirklichkeit.“8

Rothziegel bezahlte seinen Aufruf zur Propaganda der Tat mit seinem Leben. Viele seiner FreundInnen rieten ihm ab, nach Ungarn zu gehen, sein Talent als Redner und Agitator sei in Wien gerade in der sozialrevolutionären Phase der österreichischen Revolution bitter von Nöten. Das Zeitfenster für die soziale Revolution in Österreich schloss sich ungenutzt dann wieder mit August 1919. Leo Rothziegel erlebte dies allerdings nicht mehr.

 

1 Der Freie Arbeiter, Nr. 3, Wien, 23. 11. 1918, S. 24
2 Ebenda.
3 Der Freie Arbeiter, 23. 11. 1918.
4 Der Freie Arbeiter, 30. 11. 1918.
5 Ebenda.
6 Der Freie Arbeiter, 7. 12. 1918.
7 Ebenda.
8 Ebenda.

Die Serie in der Referentin ist auf Anregung von Andreas Gautsch bzw. der Gruppe Anarchismusforschung entstanden, siehe auch: anarchismusforschung.org

Brückentaufe

Foto Die Referentin

Die Donahl
Wer’s noch nicht gehört hat: Die neue Donaubrücke wurde informell und im Vorfeld der Eröffnung von vielen LinzerInnen bereits liebevoll in „Die Donahl“ umbenannt.

Das Professionelle Publikum

Das Professionelle Publikum dieser Ausgabe bestehend aus: Ulrike Asamer, Amanda Augustin, Parisa Ghasemi, Silke Grabinger, Herta Gurtner, Julia Gutweniger, Nicole Honeck, Amina Lehner, Anna Rieder, Gerlinde Roidinger und Julius Stieber, hat wieder viele Kunst- und Kulturempfehlungen in Linz, Oberösterreich und darüber hinaus für unsere LeserInnenschaft parat.

Ulrike Asamer MA,
lebt und arbeitet in Ohlsdorf, Quellberuf Anästhesiepflege und Phlebotomistin, Studium raum&designstrategien an der Kunstuniversität Linz. In ihren künstlerischen Arbeiten verknüpft sie Ihre Disziplinen und upcycled medizinische Kanülen zu ihrer individuellen Formen- und Materialitätssprache.  www.ulrikeasamer.at

Ausstellung „Herz aller liebst“
MOCAK

Amanda Augustin
ist ein Kopf der Hydra, dem vielköpfigen Geschöpf aus der Linzer Unterwelt, welches Tag und Nacht für die Subkultur kämpft. Angesiedelt zwischen Kunst, Kultur und Bumbum ist sie stets auf der Suche nach dem Plus X, dem gewissen Etwas, das es noch zu entdecken gibt.

Holy Hydra
Elektro Guzzi „TRIP“ Album Release Show

© Closefilm

Parisa Ghasemi
ist Filmemacherin, Filmkuratorin und kulturpolitische Aktivistin. Sie engagiert sich für interkulturellen Austausch und kulturelle Veranstaltungen. Sie ist Mitbegründerin des Vereins Closefilm Film und Kultur, Initiatorin und Leiterin des Linz International Short Film Festival und Vorstandsmitglied der KUPF Kulturplattform Oberösterreich.

International Short Film Festival
Festival of Nations

© Christoph Liebentritt

Silke Grabinger
ist Künstlerin, Choreografin und Tänzerin verbindet in ihren Arbeiten und Konzepten urbanen und zeitgenössischen Tanz mit performativer und bildender Kunst.

SILK Fluegge – Unter_boden
Holy Hydra

 

© Daniela Wageneder-Stelzhammer

Herta Gurtner
ist Kulturaktivistin und pendelt zwischen dem Innviertel, Linz und Italien. Sie engagiert sich ehrenamtlich im Kunst- und Kulturbereich und mischt sich da und dort ein.

Vernissage OFF THE BANKS
Biennale musica – Festival of Contemporary Music – Venedig

 

© Florian Voggeneder

Julia Gutweniger
lebt und arbeitet als bildende Künstlerin und Filmemacherin in Linz.

COOP – Kunst ist täglicher Bedarf
Filmfestivalteilnahme SICHERHEIT123
forum presents: Diagnose: Lüth; Vernissage

 

© Reinhard Winkler

Nicole Honeck
lebt und arbeitet in Linz. Ist Kulturwissenschaftlerin und Mediatorin, liebt Schnittstellen und interessiert sich seit neuestem für Permakultur.

Verein „sagbar“
JO[URN]EY

 

Amina Lehner
ist interdisziplinär verstrickte Medienkünstler_in, Videographer, Cineast_in und Aktivist_in. In der eigenen künstlerischen Praxis will sie eine Weltwahrnehmung kultivieren, die die Verantwortung zur Veränderung als lustvollen Akt manifestiert. Am liebsten arbeitet Amina im kollektiv – meistens irgendwas mit bewegten Bildern und ist in der queer-feministischen Kultur­arbeit bei FIFTITU% aktiv.

WATER MAKES US WET

 

© Anja Kundrat

Anna Rieder
ist Festivalleiterin des Internationalen Jugend Medien Festivals YOUKI, im Vorstand der Kupf OÖ und auch sonst in dem einen oder anderen Kulturverein in Oberösterreich aktiv.

YOUKI – Internationales Jugend Medien Festival in Wels
Area for Virtual Art

 

© Bernhard Roidinger

Gerlinde Roidinger
ist Performerin und Kunstvermittlerin mit Schwerpunkt Tanz im ländlichen Raum. www.tanzland.at; tanzland | Verein zur Förderung von künstlerischem Tanz und zeitgenössischer Performancekunst im ländlichen Raum

tanztalk mit Ingrid Türk-Chlapek
Festival Pelzverkehr

 

© Stadt Linz

Julius Stieber
lebt seit 1990 in Linz, studierte Germanistik und Geschichte an der Universität Wien und ist seit 2010 Kulturdirektor der Stadt Linz.

Kinderkulturwoche Linz
Gebaut für alle.

 

Tipps von Die Referentin

 

 

Missstand, Bipolar Feminin
Klangspuren Schwaz Improv #1–#3
Festival music unlimited