Editorial

Foto Die Referentin

Wir beginnen die teilweise Wiedereröffnung der Kultur und die teilweise Wiedereröffnung dieser Referentin (kleiner Scherz) mit einer Textminiatur über die charmanteste Kultur-Mimikry in der Stadt. In den vergangenen Monaten bot die Kunsthalle Linz im Rahmen ihrer Reihe Szene Panorama den hiesigen Kulturspaces „eine Plattform für Interventionen und Lebenszeichen“. Alle zwei Wochen gab es in den zwei Kunst-Kuben (jeweils einer am Hauptplatz und einer beim Salonschiff Florentine) bis Ende Mai „neue, großartige Ausstellungen jeweils von einem anderen Verein zu sehen“ (O-Ton Kunsthalle). Die letzten beiden Ausstellungen von Szene Panorama wurden von Salzamt sowie Kapu am 15. Mai eröffnet: Das Salzamt eröffnete zuerst die Saliera am Hauptplatz, neben den Kundgebungs-Ungeheuerlichkeiten einer Horde Corona-Leugner. Dabei kam es zu folgendem kleinen „Meinungsaustausch“ am Rande des Geschehens, sprich in der Nähe der Saliera-Kunsthalle, die wiederum in unmittelbarer Nähe zum Eingang der öffentlichen Toilettenanlagen im Rathaus platziert ist: Es näherte sich ein in eine Österreich-Flagge gehüllter Typ dem Rathaus-Klo. Jemand rief ihm nach: „Derfn die Nazis jetzt schon ins Rathaus?“. Seine Antwort: „Wos host gsogt?“. Nochmal dieselbe Frage: „Derfn die Nazis jetzt schon ins Rathaus?“. Seine Antwort: „Und i bin stoiz drauf“. Es gab übrigens ein paar Tage vorher, am 8. Mai, einen anderen Zwischenfall im Rahmen einer anderen „Kundgebung“: Dort wurde ein Mann von der Polizei mitgenommen, der die Meute als Nazis bezeichnet hatte. Er wurde mitgenommen. Nicht die Komiker. Am 8. Mai. Aber gut, mittlerweile werden Hitler-Reden von diesen „Mahnern“ abgespielt: Totaler Kurzschluss im Hirn. Sozusagen 5G-gaputt. Damit wechseln wir wieder zum 15. Mai und zur Eröffnung der zweiten Kunsthalle. Bei der Florentine unter den Bäumen. Prä-Gastgarten-Stimmung mit winzigen Bieren und Sektchens. Prä-Post-Corona-Kulturinseln am Urfahrmarktgelände, das selbst größeren Umgestaltungsplänen entgegenharrt.
Wir sehen am Cover den noch verhüllten Kubus der Kunsthalle. Unter dem schwarzen Stoff befand sich das Werk Afterhour der schönen Kapu-Artists. Es war wenige Minuten später eröffnet. Das Werk war bis Ende Mai exponiert. Wir applaudieren im Nachhinein – und wünschen uns mehr Kunsthallen-Schauen im Herbst.

Schließen wir mit einer Lieblingspassage aus der Projektbeschreibung zu Afterhour: „Der Spannungsbogen […] verleiht dieser Arbeit das Element der Ewigkeit mit Hinweis auf die Gratwanderung zwischen Art Brut und Brutalismus.“

Und wir gehen exemplarisch zu einem thematisch anderen Lieblingssatz in dieser Ausgabe: „Solidarität und Support unter Frauen ist wichtig, aber das nimmt uns nicht das Schleudertrauma, wenn wir regelmäßig mit dem Kopf gegen gläserne Decken krachen.“ (Lisa-Viktoria Niederberger)

Und wir weisen mit einem Lieblingstitel dieser Ausgabe – „Über die Gegenfröhlichkeit und die Gemeinschaft der Schreibenden“ (Andreas Pavlic) – auf die Gemeinschaft der Autor:innen dieser Ausgabe hin.

Lieblingsbild dieser Ausgabe: Der Filmstill aus dem Crossing-Trailer.

Countdown 5, 4, 3, 2, 1

Wie immer gute Sachen.

Tanja Brandmayr und Olivia Schütz

www.diereferentin.at

Werden wir uns wieder­sehen?

Der diesjährige und letzte Höhenrausch, kuratiert von Martin Sturm und Rainer Zendron, präsentiert 35 künstlerische Positionen, die den Begriff Paradies aus sehr unterschiedlichen Perspektiven ins Bild setzen. Eine der gezeigten Arbeiten trägt den Titel „RISE. Turnton2047“ und wurde vom Linzer Künstler:innenkollektiv Time’s Up detailreich im OK eingerichtet.

Time’s Up, seit 1996 im Linzer Hafen verankert, weitet verlässlich die gebräuchlichen Grenzen der Disziplinen Kunst, Technologie, Wissenschaft und Unterhaltung aus und vernetzt sie miteinander. Als Labor zur Schaffung experimenteller Situationen modelliert es dem Alltag entlehnte Wirklichkeiten im Verbund mit möglichen Zukunftsszenarien zu raumgroßen, begehbaren, haptisch erlebbaren Erzählungen. Die interaktiven, transmedialen Installationen sind durch die Rezipient:innen intuitiv und spielerisch erfahrbar. Mehrfach wurde Turnton bereits für Ausstellungen in Museen und Galerien „verzimmert“ – eine Wortkreation von Time’s Up – und als begehbare Erzählung oder auch Physical Narratives aufgebaut. Letzteres sind ebenfalls Begriffsbildungen von Time’s Up.

Kulissen und Architekturen
möglicher Zukünfte Unter dem Titel „Ein sicherer Hafen in nächster Nähe“ heißt es in der Wochenzeitung „Turnton Gazette“, einer dem Projekt zugeordneten Zeitungsfiktion vom 13.–19. September 2047: „Im vergangenen Jahr erlebte die Hafenschifffahrt im Hafen einen massiven Aufschwung. Nur in 28 der 52 Wochen des Jahres gab es eine Medusozoa-Pest, sodass Schleppboote und andere Hafenfahrzeuge über viele Wochen hinweg in Betrieb bleiben konnten. Von den 24 Wochen, in denen ein Betrieb möglich war, war die Algenpest an einem Drittel der Tage so gering, dass ein normaler Schifffahrtsbetrieb aufrechterhalten werden konnte.“ Damit verortet sich „RISE. Turnton2047“ in einen möglichen Alltag im Jahr 2047, ist Entwurf einer fiktiven Hafenstadt und zeigt als immersive Rauminstallation eine von Umweltkatastrophen dominierte Welt. Das lässt sich als Klimaperspektive lesen, die eine soziopolitische Utopie in der ökologischen Dystopie darstellt.

Wir haben uns bereits in Bewegung gesetzt
Weitere News der Gazette von 2047: „Die Turnton Medical Association (TMA) reagiert auf die anhaltenden Luftfeuchtigkeitsschwankungen mit einer großzügigen Aufstockung ihrer Notdienstmitar­beite­r:in­nen und der engmaschigen Einrichtung zusätzlicher Hitze-Notstellen im Stadtgebiet. Es ist kein schönes Bild, aber leider schon ein vertrautes: Wer an einem der auffällig oft auftretenden schwülen Tage in letzter Zeit in Turnton unterwegs war, konnte fast darauf wetten, wieder einen Hitzekollaps auf offener Straße mitzuerleben.“
Doch anstatt sich dieser Dystopie hilflos zu ergeben, imaginieren Time’s Up in ihrer „Experiential Future“ eine Gesellschaft, die die kommenden Dekaden dazu genutzt hat, das Miteinander anstelle des Gegeneinanders ins Zentrum des Zusammenlebens zu stellen; und Pfade einzuschlagen, die ein „besseres Leben für alle“ realisieren.
Umgesetzt mit an Theater- oder Filmkulissen erinnernden Elementen, erweitert um Licht-, Duft- und Tonlandschaften, mit Hörspielen und medial und haptisch aufbereiteten Requisiten, schafft die Inszenierung einen Rahmen, um in diese Erzählung einzutauchen. Ihr Mittelpunkt ist die Medusa Bar, in einer nicht allzu fernen Zukunft beliebter Treffpunkt für ein bunt gemischtes Publikum im Hafenviertel von Turnton. Durchreisende, Ankommende und in der Stadt angesiedelte Menschen treffen aufeinander, lernen sich kennen und tauschen sich aus. Beim Genuss der regionalen Quallenspezialitäten informieren sie sich über Aktuelles, teilen Gerüchte, Anekdoten und Legenden, bekunden ihre Ängste und Sorgen, offenbaren ihre Hoffnungen und Freuden. Und das Publikum ist mittendrin.

Immersive Strategien
„In unserer Arbeit spielt Immersion eine wesentliche Rolle. Wir möchten Räume so inszenieren, dass man sich als Besucher:in beteiligen kann und interaktiv eingebunden wird“, erzählt Tina Auer, Mitglied von Time’s Up. „Das Sinnliche am Erfahren war schon bei unseren interaktiven Medieninstallationen relevant, und wir haben irgendwann begonnen, uns mit begehbaren Erzählungen auseinanderzusetzen. Gesellschaftspolitische Themen und deren Narration(en) wurden immer wichtiger, und die Idee möglicher Zukünfte. Daraus entwickel(te)n wir Turnton, eine Storyworld mit vielen Facetten.“ So ist in der Gazette auch von den Stars der diesjährigen Fashion Show die Rede, von der wiederkehrenden Modenschau des Department for Slow Fashion & Smart Textile Department der Turnton University. Diese präsentiert Arbeiten der Studierenden und damit die letzten Trends im Fashion-Universum. „Der Schwerpunkt wird dieses Jahr auf Mode aus Quallen-Leder liegen – man darf also gespannt sein auf eine erquickliche Bandbreite von Tauchmode bis hin zu kompakter Wintermode. Berücksichtigt wurde dabei besonders die steigende Luftfeuchtigkeit, die – so viel dürfen wir bereits vorab verraten – wegen spezieller Imprägnierungsverfahren keine besondere Rolle mehr spielen dürfte.“

Wiederverwertungs­geschichte(n)
Der Zeitungsartikel „Die bionische Begrünung“ erklärt uns, was wir vom Dunkelkäfer lernen können und dass die Süßwasseraufbereitung in Wüsten ein weiteres Einsatzgebiet im südlichen Afrika gefunden hat – und nun eine ehemalige Steppenregion begrünt wird. Und wir erfahren vom Travelmotel Turnton, das Reisenden einen 24 Stunden zugänglichen Rückzugsort in unmittelbarerer Nähe zum Hafen und Transkontinentalen Hauptbahnhof bietet. Wir begegnen Figuren wie der ehemaligen Meeresbiologin Fenfang Lin, die in Turnton zur Barbesitzerin wurde, und dem Radical-Recycling-Spezialisten Baron Trashy, indem wir lesen können, was „seit letzten Donnerstag fix“ ist: „Die Global Authority for Sustainability (GAS) genehmigt die ambitionierten Umbaupläne für das Turnton Radical Recycling Werk ohne weitere Auflagen. Müllverwertungslegende Baron Trashy scheint im Siebten Himmel zu schweben, ‚Wir haben es geschafft! Alle unsere zukunftsweisenden Vorhaben wurden von der GAS vorbehaltlos genehmigt. Ich glaube, hier wird gerade Wiederverwertungsgeschichte geschrieben!’“ Und wir lernen die auf ihre Weiterreise wartende Dokumentaristin Nele Rahimi kennen, die seit Jahren den emotionalen Bindungen zwischen Menschen und Maschinen auf den Grund geht. Und wir hören von der eingetragenen Partnerschaft des Kellners Collin, einer Künstlichen Intelligenz, mit einem Menschen.

„Change was our only chance“
Das in „RISE. Turnton2047“ entwickelte Szenario ist ein im Prozess befindlicher Organismus, der davon ausgeht, dass das Ökosystem kollabiert ist. Totzonen haben sich ausgeweitet und das Meer wurde zu einem lebensbedrohlichen Ort, sodass dieses nur mehr zum Teil und mit besonderen Schutzmaßnahmen für die Menschheit nutzbar ist. Doch: Anhand bereits im Heute existierender Konzepte und Visionen skizziert Time’s Up Vorschläge, die sowohl einen nachhaltigeren Umgang mit unserem Planeten erlauben, als auch ein besseres, faireres Leben für alle ermöglichen. Sie denken eine mutige sozial-ökonomische und soziopolitische Utopie, in der zunehmende Ungleichheit und Ungerechtigkeit als grundlegendes Problem erkannt und unterbunden wurde.

„Change was our only chance“, ist Auer überzeugt. „Prognosen geben wir keine ab. Wir greifen lediglich aktuelle Trends und Signale auf und projizieren diese Visionen und Ideen in eine mögliche Zukunft; es ist eine Bewegung zwischen Utopie und Dystopie und eine ‚Futuring Exercise‘, in der es darum geht, die Vorstellungskraft zu trainieren. Wir verwenden dazu ein ‚Scenario Development Tool‘ und gehen von der Frage aus: Wie möchten wir, dass diese zukünftige Zeit aussieht und welcher Schritte bedarf es im Jetzt?“ Auer verweist auf die Vielzahl an Themen, die sich in Turnton verdichten: Umweltverschmutzung, Klimawandel, Transport, Arbeitsweisen, Konsumationsmuster, Wirt­schaftssysteme, Reiseverhalten, Migration.

Glücklicherweise ist uns ein Licht aufgegangen!
„In den kommenden Wochen macht das Zeitgenössische Kunstmuseum Turnton mit dem Genre der ‚Physical Narratives‘ bekannt.“, heißt es in der Gazette. Der Text erhellt damit das Szenario, indem auf die Kunstgattung, deren Name in den 2000ern vom Künstler:innenkollektiv Time’s Up selbst geprägt wurde, Bezug genommen wird: „‚Physical Narratives‘ ähneln Filmsets, Bühnen und Tatorten gleichermaßen. Stets menschenleer, sind sie doch von der starken, manchmal auch unheimlichen virtuellen Präsenz facettenreicher, fiktiver menschlicher Charaktere geprägt. Von deren Existenz zeugen die zurückgelassenen Spuren in den Szenarien, die sich vor den Besucher:innen auftun und betreten werden sollen und wollen. Es wirkt, als seien die Menschen nur eben kurz aus dem Bild gegangen, um Zigaretten zu holen; als sei jeden Moment mit ihrer Rückkehr zu rechnen. Mitunter halten sich die Protagonist:innen der Erzählung offenbar nebenan auf, wie durch die geschlossene Tür aus einem angrenzenden Raum zu hören ist. (…) Mit dem – auch buchstäblichem – Begreifen der sorgfältig ausgesuchten und hergestellten multimedialen Requisiten greifen die Besucher:innen nach und nach die verschiedenen Erzählstränge auf, gelangen an ihre Enden und Knotenpunkte – und so allmählich zu einem Verständnis der materiell gefassten Geschichte, die im Szenario steckt.“

 

Der letzte Höhenrausch im Paradies:
TIME’S UP RISE. Turnton2047, 2016-2021 Installation, begehbare Erzählung, erfahrbare Zukunft
HÖHENRAUSCH. Wie im Paradies Noch bis 17. 10. 2021 OÖ Kulturquartier, OK Platz 1, Linz www.ooekulturquartier.at

Welt künstlerisch entwerfen

„Es wird keine Bilder mehr geben“ hieß es 1965 wörtlich im „Antiobjekt-Manifest“. Es wird keine Bilder mehr geben! war auch der Titel einer Ausstellung im Atelierhaus Salzamt zu künstlerischen Manifesten. Studierende und Lehrende der Kunstuniversität Linz stellten im April und Mai dort aus. Anna Maria Loffredo und Andreas Zeising berichten als Lehrende.

Eine beeindruckende Fülle an Manifesten begleitet im 20. Jahrhundert den Auftritt der bildenden Kunst. Von Dada und Expressionismus über die politisierte Kunst der 1960er Jahre bis zur postmodernen Retro-Avantgarde nutzten und nutzen Künstler:innen das literarische Medium für ihre Weltentwürfe. „Mit dem Glauben an Entwicklung, an eine neue Generation der Schaffenden wie der Genießenden rufen wir alle Jugend zusammen, und als Jugend, die die Zukunft trägt, wollen wir uns Arm und Lebensfreiheit verschaffen gegenüber den wohlangesessenen älteren Kräften. Jeder gehört zu uns, der unmittelbar und unverfälscht das wiedergibt, was ihn zum Schaffen drängt,“ hieß es etwa 1906 in einem Manifest der Künstlergruppe Die Brücke, das die „Elbtaler Abendpost“ als Inserat druckte. In nur zwei Sätzen war hier das Credo eines jugendbewegten Aufbruchs umrissen, wie er das Anliegen der Avantgarde lange prägte. Im Namen eines imaginären „Wir“ ging es darum, die bestehende Verhältnisse in Frage zu stellen, eine Umwertung aller Werte einzuleiten und die baldige Wiedergewinnung der Einheit von Kunst und Leben zu proklamieren.

In der Neoavantgarde, die nach den Katastrophenerfahrungen des Zweiten Weltkriegs diesen Faden wiederaufnahm, fand die Tradition der Künstlermanifeste rege Fortführung. Häufig waren es nun sozialistische Gesellschaftsutopien, die im Lichtschein vitalistischer Ideen von künstlerischer Verjüngung interpretiert wurden und die evolutive Überwindung, Auflösung oder Zertrümmerung des bürgerlichen Kunstbetriebs in Aussicht stellten. Diesen betrachtete man sozusagen als Modellfall der allgemeinen zivilisatorischen Erschöpfung, welche nur im Rückgriff auf die vermeintlich ursprüngliche Kreativität von Kinderzeichnungen, der „Bildnerei von Geisteskranken“ oder der Kunst nicht-westlicher Ethnien zu überwinden war. „Unsere Kunst ist die Kunst einer Umbruchperiode, gleichzeitig die Reaktion auf eine untergehende Welt und die Ankündigung einer neuen“, hieß es entsprechend 1948 im Manifest der Gruppe COBRA. Im Umkreis der Protestbewegungen und politischen Revolten der 1960er Jahre, die im Zeichen linker Ideale gegen das bürgerliche Establishment Sturm liefen, fanden solche Gedanken weithin Resonanz. Mehr und mehr wurde das Manifest zu einer eigenständigen künstlerisch-literarischen Gattung, deren utopisches Potenzial mit den Mitteln der Kunst im Grunde kaum noch einzuholen war.

Auf der Basis eines Close Readings ausgewählter Künstlermanifeste haben sich Studierende der Kunstuniversität Linz im Rahmen eines Projektseminars im Rahmen des Programms Art Researcher in Residence mit der Geschichte, Argumentation und Ästhetik von Künstlermanifesten beschäftigt. Gemeinsam haben sie Form, Stilistik und Rhetorik dieser oft eigenwilligen Programme erörtert, über deren gesellschaftlichen und künstlerischen Anspruch reflektiert und über ihre Anschlussfähigkeit an unsere Gegenwart diskutiert: Was soll und was kann Kunst aus Künstlersicht leisten? Welche Ansprüche behauptet Kunst, wenn sie sich nicht auf den ästhetischen Standpunkt eines l’art pour l’art zurückzieht? Wie und auf welche Weise erfüllt sich der im Manifest formulierte Anspruch letztlich im Werk, und welche Relevanz kommt diesem faktisch zu in unserer kulturellen Gegenwart, in der womöglich völlig andere Dinge tonangebend sind?
Die Residency als Format der Lehre besteht seit 2018 als Kooperationsvereinbarung zwischen der Kunstuniversität Linz und dem Atelierhaus Salzamt Linz. Außeruniversitäre Impulse können so in das Curriculum episodisch eingebunden werden, und die künstlerisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse werden in eine Ausstellung überführt, um öffentlichkeitsbildenden Austausch in der Stadt zu schaffen. Studierende aller Studienrichtungen finden sich interdisziplinär mit dem Residence-Gast, in diesem Jahr Andreas Zeising der Technischen Universität Dortmund, zusammen, lernen multiperspektivisch zu denken und miteinander Sachverhalte diskursiv auszuhandeln. Dabei ging die Initiative für diese Residency von der Abteilung Fachdidaktik in der künstlerischen Lehrerbildung aus, die seit 2015 von Anna Maria Loffredo an der Kunstuniversität Linz geleitet wird, um eine Klammer zwischen Leben und Kunst im Bildungsverständnis zu eröffnen.
In der Auseinandersetzung ging es heuer nicht darum, die Texte kunsthistorisch zu erläutern und noch weniger darum, eigene Künstlermanifeste zu verfassen, sondern diese als Impuls zum Weiterdenken zu begreifen und sie aus künstlerischer Sicht zu befragen – gleich ob nun in kommentierender, kritischer oder ironischer Absicht, um sie als historische Artefakte in den Blick zu fassen, oder aber in Form eigenständiger künstlerischer Versuche oder Experimente, die sich auf unsere gegenwärtige Lebenswelt beziehen. „Die Auseinandersetzung mit den künstlerischen Manifesten ist eine Bereicherung für meinen eigenen künstlerischen Prozess“, beschreibt der Student der Bildnerischen Erziehung und Inklusionspädagogik Rafael Kampl seine Antwort auf die gelesenen Künstlermanifeste, bei der er multisensuell ein eigenes Manifest geschrieben, vertont und dann in eine spiegelnde Setzung zu seiner großformatigen Malerei in der Ausstellung gebracht hat. Die Ausstellung macht bewusst nicht die historischen Texte zum zentralen Gegenstand. Sie gewährt vielmehr den Arbeiten der Studierenden Raum, die in einer offenen Versuchsanordnung in einen Dialog mit historischen Textzitaten treten. Zusammenhänge sind wie Spuren ausgelegt, die sich indes verlieren und überkreuzen.
Yara Bartel, Studierende der drei Studienrichtungen in der Lehrerbildung der Kunstuniversität Linz (nämlich Bildnerische Erziehung, Gestaltung: Technik. Textil sowie Mediengestaltung) stellt nach acht intensiven Arbeitswochen fest: „Das Untersuchen von Manifesten zeigte uns, und besonders mir, einen anderen Blickwinkel auf die Kunst der Avantgarde. Die Sprache als komplexes Konstrukt erzeugt neue Bilder und ist gerade in unserer bildhaften medialen Welt ein Kontrast.“ Dabei hat Bartel das „Manifest für die Mutter aller Schmerzen“ multilingual entworfen, lehnt den Weltschmerz der historischen Manifeste an die gegenwärtige Fatiguegesellschaft an und lässt regionale Bezüge zu den Sieben Schmerzen der Madonna auf dem Pöstlingberg anklingen. Steigende Leistungsanforderungen im Alltag bringen in uns neue Glaubensgrundsätze hervor. Der Glaube an den Wirkstoff gegen das Unheil, das Böse oder den Schmerz hilft uns, unseren Alltag zu ertragen und gesellschaftliche Normen zu erfüllen. Raphael Bella, Student der Fotografie & Visuellen Kommunikation nutzt den symbolischen Gehalt von Manifest-Positionen, indem er handelsübliche Stühle einer Gemeinde skulptural ineinander verkeilt und eine eigene Un-Ordnung erzeugt. Sie zu verfolgen und zu deuten, ist eine Aufgabe, die den Besucher:innen überlassen ist.
Der Titel unserer Ausstellung, „Es wird keine Bilder mehr geben!“, spielt dabei mit Bedeutungsebenen und pendelt bewusst zwischen den Polen der gewaltsamen Beseitigung, der dissidenten Verweigerung und der evolutionären Überwindung. Vor allem die Neoavantgarde der 1950er und 1960er Jahre lebte in der Überzeugung, dass in einer Zeit technischen Fortschritts, wie er damals durch die Kernphysik, die Raumfahrt und die Informationstechnologie verkörpert war, das klassische Tafelbild ausgedient habe. „Wir leben im Zeitalter der Physik und der Technik. Bemalte Pappe und aufgestellter Gips haben keine Daseinsberechtigung mehr“, verkündete Lucio Fontana 1948 mit dem Brustton der Überzeugung in seinem „Weißen Manifest“: „Durch Funk und Fernsehen werden wir künstlerische Ausdrucksformen von ganz neuer Art ausstrahlen.“ Heute, da sich die Kommunikation fast vollends in die Welt der Netze verlagert hat und die Wirklichkeit hinter digitalen Displays mehr und mehr verschwindet, mag man sich fragen, welche Rolle und Bedeutung der Kunst als materiellem handwerklichen Artefakt eigentlich noch (oder erneut) zukommt.
„Es wird keine Bilder mehr geben“ hieß es 1965 wörtlich im „Antiobjekt-Manifest“ der beiden Künstlergruppen SPUR und WIR. Ihnen ging es nicht allein um technische Innovationen, sondern auch um ein revolutionäres Denken – die Überzeugung, dass Malerei und Plastik mit der Überwindung der Beschränkungen, die der bürgerliche Kunstbegriff ihnen auferlegte, Potenziale gesellschaftlicher Veränderung entfalten würden: „Sie sind kein dekorativer Fleck an der Wand, sondern vielmehr Ausdruck einer Vitalität, die den Rahmen jeder isolierten Kunstform sprengt, um neue Kulturformen vorzubereiten.“ Dieses Spannungsverhältnis von Ich und Wir, Ego vs. Nos greift beispielsweise Lehramtsstudent Michael Kramer auf, der auch die 3D-Ausstellungstour zur Ausstellung im Salzamt erstellt hat, indem er einen Soundzirkel mit dem Ausruf „WIR“ für die Besucher:innen farbgesättigt inszeniert.
In den 1960er Jahren, einer Zeit politischen Aufruhrs, war das nicht nur eine unverbindliche Phrase. Die Situationistische Internationale um Guy Debord hat damals die widerständige Kraft des ästhetischen Spiels unterstrichen. Heute leben diese Ideen fort in subversiven Strategien wie Urban Intervention und Cultural Hacking, um im Zustand postdemokratischen Stillstands Veränderung von unten anzustoßen. Andere Künstler:innen der 1960er Jahre artikulierten ihren Protest gegen die Konsumgesellschaft in Form rigider Verweigerungsmanifeste. Der Erwartungshaltung eines Publikums, das seine bürgerlichen Normvorstellungen verabsolutierte, setzten sie eine minimalistische Reduktion von Zeichen, Gesten oder Formen entgegen, die den Betrachtenden radikal auf sich selbst verwies. Yvonne Rainers „No Manifesto“ kündet davon ebenso wie das Credo „Wir sind keine Maler“ der Gruppe B.M.P.T. um Daniel Buren, die 1967 eine Vernissage veranstaltete, bei der sie eben nicht ausstellte. Das mutet heute eher rührend an, verstand sich aber im damaligen Zeitkontext von Konsum-, Medien- und Systemkritik als eine eminent politische und provokante Haltung.

Bei alledem ist der Anspruch nach politischer Einmischung und Veränderung des gesellschaftlichen Status Quo nicht obsolet. Vielmehr spielt er im zeitgenössischen Kunstbetrieb, der sich an Globalisierung, Neoliberalismus, Postkolonialismus und anderen Problemen unserer unübersichtlich gewordenen Gegenwart abarbeitet, eine so bedeutsame Rolle, wie kaum jemals zuvor. Selten, soviel ist sicher, gab es mehr Anlass für Manifeste. Womöglich also eine gute Zeit, das literarische Format neu zu entdecken: www.keinebilder.at.

 

Es wird keine Bilder mehr geben! Eine Ausstellung von Studierenden und Lehrenden
Im vergangenen April und Mai 2021, Atelierhaus Salzamt, www.keinebilder.at
Ausstellung per 360°-Rundgang noch online: www.keinebilder.at/tour

FEMALE * UPGRADE

Umbenennung der Glaubackerstraße in die Agathe-Doposcheg-Schwabenau-Straße.

Illustration Sarah Braid

Das Projekt von Elisa Andessner fordert die Umbenennung der Linzer „Glaubackerstraße“ in „Agathe-Doposcheg-Schwabenau-Straße“: Mit dem künstlerisch-symbolischen Akt eines feierlichen Upgradings wird in Folge eine reale Umbenennung der Straße angestrebt. Mit der Umbenennung wird der bekennende Nationalsozialist und Künstler Franz Glaubacker aus dem Stadtbild entfernt, um die öffentliche Ehrerbietung an Agathe Doposcheg-Schwabenau zu übertragen.

 

Informationen und Texte über Agathe Doposcheg-Schwabenau und ihr künstlerisches Schaffen sowie kulturelles Wirken in Linz („Es war eben die Zeit, wo man aus Langeweile in Linz sterben konnte“) auf www.agathe-doposcheg-schwabenau-strasse.net

Eine erste Aktion erfolgte mit zahl­reicher Beteiligung von Initiativen, Repräsentantinnen und Artists am 29. Mai in der Glaubackerstraße 1 in Urfahr. Female*Upgrade geht weiter.

Versuch einer Visuali­sierung des Unfassbaren

Es ist schwer, sich diesen Film anzuschauen. Surviving Gusen von Gerald Harringer und Johannes Pröll läuft dieses Jahr bei Crossing Europe als einer der Eröffnungsfilme. Eindrücke von Melanie Letschnig.

Noch bevor eine Aufblende die gewaltig schäumende Gischt des Meeres aus Vogelperspektive zeigt, hören wir das Rauschen. Überlagert von sphärischer Musik, spricht ein Überlebender im Voice-over zu uns: „My name is Karl Littner. I was born in Auschwitz in Poland at January 15, 1924. I tell you something …“. Und er erzählt, dass ihm Ruth 1998 einen Computer gekauft hat, er aber keinen braucht, wofür braucht er einen Computer, fragt Karl Littner. Zu diesem Zeitpunkt befinden wir uns bereits in seiner Wohnstraße in Los Angeles, eine Kamerafahrt führt zu seinem Haus und da sitzt er und berichtet, dass er im Alter angefangen hat zu schreiben. Worüber, wird sich im Laufe des Films herausstellen.

Karl Littner ist einer von drei im Film porträtierten Menschen, die Gusen überlebt haben. Er, Stanislaw Leszczynski und Dušan Stefancic sind die Zeitzeugen, mit denen die Filmemacher Gerald Harringer und Johannes Pröll in Surviving Gusen sprechen. Der Ort, der heute um die 800 Einwohner_innen zählt, liegt in der Nähe von Linz, im Mühlviertel. 1939 wurde der Bau des Konzentrationslagers in die Wege geleitet. Gusen I und II und Gusen III in der Ortschaft Lungitz – nur wenige Kilometer entfernt – galten als sogenannte Nebenlager des KZ Mauthausen. Von 1939 bis 1945 wurden mindestens 71.000 Menschen nach Gusen deportiert. Wo früher die Lager I und II standen, wurde nach dem 2. Weltkrieg eine Einfamilienhaussiedlung errichtet. Die Regisseure veranschaulichen dies durch das Einblenden eines historischen Schwarz-Weiß-Fotos, dessen Areal mit den Häusern in Farbe überlagert wird. Die ehemalige Stätte der Menschenvernichtung wurde auf ein kleines Areal des Gedenkens zusammengeschmolzen, der Rest Opfer der Ortsgestaltung.

Todeswege, Lebenszeit
Ein Phantom Ride in der Nacht, der den Hintergrund für den Vorspann bildet, schält sich in einen trüben Tag, der eine Schneelandschaft freilegt. Ein Zug gleitet durch sie hindurch und die Stimmen von Peter Simonischek und Maria Hofstätter sprechen den ersten Augenzeug_innenbericht – unprätentiös ist der Ton der beiden Schauspieler_innen den gesamten Film über, kein betroffenes Outrieren, kein Dramatisieren. Was die beiden vortragen, ist von sich aus gewichtig. Die Rede ist von Zügen, die in Bahnhöfen stehen bleiben, weil das Lager Mauthausen überfüllt ist. Dazu erneut eine Vogelperspektive, die mehrere Schienenstränge ins Blickfeld rückt – ein abstrahierender Verweis darauf, dass das ab nun Gesagte mit Bildern eigentlich nicht zu fassen ist. Berichtet wird über die Kälte und das Zusammengepferchtsein im Waggon, über das Töten der Schwächeren, um Platz zu schaffen, während die Kamera ruhig, langsam und bestimmt über die Winterlandschaft zieht. Das Textmaterial, das mit den Bildern arbeitet, entnehmen die Regisseure biographischen Aufzeichnungen wie jener von Karl Littner, Büchern über die Geschichte der Zeit des Nationalsozialismus im Mühlviertel, Briefen, Interviews, einem Polizeibericht vom Jänner 1945 über die Maurerwirtin in Rainbach im Mühlkreis, die einen bei ihr durch die SS inhaftierten Häftling verbotener Weise mit Essen versorgte.

Die Visualisierungen und Klänge, mit denen Gerald Harringer, Johannes Pröll und Fadi Dorninger (verantwortlich für Musik und Sounds) die Unmenschlichkeit von Gusen vermitteln, sind vielschichtig. Sie evozieren Stimmungen und appellieren an ein wachsames Geschichtsbewusstsein. Beispielsweise, wenn historische Fotografien des Lagers Gusen mit Bildern der jüngsten Vergangenheit aus demselben Blickwinkel überblendet werden. Dort, wo früher das Jourhaus – der Haupteingang – von Gusen I stand, befindet sich nun ein herrschaftlich anmutendes Wohnhaus.1 Es ist nicht die Banalität des Bösen, die hier gezeigt wird, sondern die Architektur eines Staates, der Wiederaufbaucamouflage als Bewältigungsstrategie kultiviert. Durch die langsame Annäherung der Kamera und die wechselnden Perspektiven – aus der Luft, auf Augenhöhe, durch Fahrten – wird der Eindruck vom Ortsbild Gusens immer dichter.

Eindringlich und erschütternd sind die Schilderungen der Überlebenden vor der Kamera. Dušan Stefancic, der auf einer Parkbank sitzend erzählt, wie er im sogenannten Bergkristall-Stollen, zu dessen Errichtung die KZ-Häftlinge gezwungen wurden, für die Nazis in der Messerschmitt-Flugzeugproduktion zwangsarbeiten musste, als eine Sirene losgeht. Der Überlebende macht eine wissende Geste, schaut auf die Armbanduhr, sagt „Mittag“, und blickt in die Kamera. Es ist spürbar, in welcher Form sich dieses Geräusch in Dušan Stefancics Gedächtnis eingeschrieben hat und wie unbedeutend, höchstens nervig es für uns ist, die wir den Krieg nicht erlebt haben.
Stanislaw Leszczynski, der erzählt, wie er entkräftet während des Tragens von Schienensträngen zusammenbrach und auf einen Haufen Toter geworfen wurde, und wie ein Hilfskapo gesehen hat, dass er noch lebt, ihn vom Haufen runterzog und gemeinsam mit einem Anderen in die Donau tauchte, damit er sein Bewusstsein wiedererlangt.
Karl Littner, wie er in die Kamera sagt, sein Widerstand bestand im Überleben. Für alles andere fehlte die Kraft.

Immer wieder klingt diese schwerwiegende Erschöpfung durch, die die Menschen auf den Märschen und in den Lagern erfasst. Ein Augenzeug_innenbericht beschreibt den Wunsch, sich am Wegesrand niederzulassen und erschossen zu werden, weil Körper und Geist das qualvolle Sterben nicht mehr ertragen können. Kälte ist allgegenwärtig. Leben oder Tod entscheidet sich in den letzten Tagen des Krieges innerhalb nur eines Tages, als die SS-Leute das Lager schon verlassen, die Alliierten noch unterwegs sind.
Der Film endet dort, wo er begonnen hat – in Santa Monica, Los Angeles. Wir sehen das ruhige Meer und den wunderschönen Himmel, den weitläufigen Strand und hören, wie Peter Simonischek jene Passage aus Karl Littners Memoiren ‟Life Hanging on a Spider Web – From Auschwitz-Zasole to Gusen II“2 vorliest, in der der Autor seiner Liebe und Begeisterung für seine neue Heimat Ausdruck verleiht. Eine Überlebensgeschichte, die uns als Zuschauer_innen teilhaben lässt an dieser Freiheit.

Wir müssen
Es ist schwer, sich diesen Film anzuschauen. Aber wichtig ist es auch. Sehr wichtig. Weil die Zeug_innenschaft der Menschen, die sprechen und gesprochen werden, mit dem Fortschreiten der Zeit an Gewicht zu verlieren droht. Leugnung und Relativierung durch rechte Gruppen, auch durch die sogenannte Mitte wirkt seit Jahrzehnten an einer Aushöhlung von Substanz mit, die die systematisch Ermordeten und die Überlebenden Zeit ihres Lebens tragen müssen. Die derzeit allerorts um sich greifende Formierung demokratiefeindlicher Gruppen, die sich selbst über einen kruden Hyperindividualismus als Entrechtete definieren und damit die Geschichte derer in den Dreck ziehen, die getötet wurden, ist nur ein hinzugekommener Baustein in dieser Verdrehung der Sicht auf historische Ereignisse. Es ist zu begrüßen, dass sich von ziviler Seite Protest dagegen formiert. Die staatlichen Instanzen sind im Setzen von Maßnahmen gegen diese brandgefährlichen Tendenzen bekanntlich eher zögerlich.
Ignoranz, egal von wem, ist unangebracht. „Die Wahrheit muss gesagt werden“, so Stanislaw Leszczynski in einer der letzten Szenen des Films. Er sagt auch, es braucht Versöhnung, und für Versöhnung braucht es Vertrauen. Dieses Vertrauen setzt Dušan Stefancic in junge Generation, wie er Alexander van der Bellen in einem Gespräch mitteilt, das 2017 am Rande eines Gedenktreffens in Gusen stattfand.
Wir müssen diese versöhnliche Großzügigkeit der Überlebenden annehmen. Sie ist ein übermenschliches Geschenk.

 

1 An dieser Stelle sei auf die Webseite zum Film verwiesen, die neben den Produktionsdaten Hintergrundmaterial zur Verfügung stellt, das den_die User_in in den Komplex Gusen einführt www.surviving-gusen.com, aufgerufen am 1. Mai 2021.
2 Das Buch wurde herausgegeben von Rudolf A. Haunschmied und ist 2011 bei BoD – Books on Demand erschienen.

Das Filmfestival Crossing Europe wurde am 1. Juni in Linz eröffnet. Mehr zu allen Eröffnungsfilmen, zur diesjährigen Programmierung, zu Programmschienen und Schwerpunkten, zum Bewerb und zum Festival selbst unter: www.crossingeurope.at

18 Jahre Crossing Europe

Mit Crossing reist sie mit uns durch Europa: Christine Dollhofer kennt den europäischen Film wie kaum jemand sonst. 18 Jahre hat die gebürtige Welserin und Kosmopolitin das Festival Crossing Europe in Linz geleitet, ab Anfang November wird sie den Filmfonds Wien übernehmen. Silvana Steinbacher hat Christine Dollhofer getroffen.

Countdown und diesjähriger Festivaltrailer: GRÜN IN von Laurien Bachmann.
Foto Laurien Bachmann, Still Crossing Europe

Heuer werden Sie Crossing Europe zum letzten Mal leiten. In diesem Jahr startet das Festival pandemiebedingt erst am 1. Juni. Wie sehr müssen und mussten Sie denn inhaltlich gesehen das Festival reduzieren?
Das ganze Team und auch ich sind schon in Vorfreude ein physisches Festival abhalten zu können, und aus heutiger Perspektive schaut es ja gut aus. Wir haben diesmal „nur“ 123 Filme, etwas weniger als vergangenes Jahr. Konzeptuell hat sich wenig verändert. Wir haben die Highlights aus Europa, die Jugendschiene, die Local Artists also Filme mit Oberösterreich-Bezug, Filme zum Thema Arbeitswelten, Architektur und Gesellschaft. In allen Sektionen wurde etwas gekürzt, aber das Programmschema ist nach wie vor gleichgeblieben, so wie in den vergangenen Jahren.

Vom Ablauf können Sie nur eingeschränkt agieren, aber Sie haben sich Alternativen einfallen lassen.
Wir haben ein ausgeklügeltes Präventionskonzept, dass sich natürlich nach den gesetzlichen Vorgaben richtet: 50 Prozent Auslastung in den Spielstätten, Maske, Abstand, „Schachbrett-Platzvergabe“, aller Wahrscheinlichkeit Eintrittstests etc. Zum Glück können wir heuer das Central Linz als zusätzlichen Saal anbieten. Die Sperrstunde um 22 Uhr wird natürlich unsere Programmierung einschränken, die Spätvorstellungen müssen aus diesem Grund entfallen, aber stattdessen gibt es Frühstücksfestival ab 9:30 Uhr. Wir werden Talks, Preisverleihung auch auf DORFTV streamen: Für all jene, die noch nicht den Drang haben, ein Festival zu besuchen, stellen wir von 6. Juni bis 6. Juli auch ein Online-Angebot auf der österreichischen Streamingplattform KINO VOD CLUB zur Verfügung, das war mir sehr wichtig.
Bei den Einladungen der Filmgäste müssen wir natürlich auch Vorsicht walten lassen, und konzentrieren uns eher auf die Nachbarländer. Wir freuen uns aber, dass sich unter den gegebenen Umständen bereits zahlreiche Film- und Branchengäste akkreditiert haben.

Welche Bilanz dieser vielen Jahre, die Sie Crossing Europe geleitet haben, würden Sie ziehen?
Es war ein Pionierprojekt auf Initiative von Wolfgang Steininger, der mich nach meiner Leitung der Diagonale gefragt hat, ob ich nicht ein Festival in Linz aufbauen möchte. 2003 haben wir dann das Festival aus dem Boden gestampft. Wichtig war mir der Blick über die Grenzen hinaus, der Europaschwerpunkt, das innovative Kino aus Europa, vorwiegend Filme zu zeigen, die im regulären Kino nicht zu sehen sind; schließlich werden pro Jahr in Europa 1600 Kinofilme produziert. Es war die kuratorische Aufgabe, neue Blickwinkel auf Europa zu werfen, und wir wollten lokale Player mit an Bord haben. Innerhalb dieser 18 Jahre sind schöne Beziehungen entstanden. Rückblickend gesehen hatten wir viele Erstlingsfilme von Regisseur*innen im Programm, die mittlerweile eine internationale Karriere gemacht haben, beispielsweise Alice Rohrwacher, Maren Ade oder Ruben Östlund. Natürlich haben wir nicht deren Karrieren beeinflusst, aber doch ein gutes Gespür bewiesen.

Ist die Frage Ihrer Nachfolge schon entschieden?
Es wird noch einige Wochen dauern, bis wir eine Entscheidung über die Nachfolge getroffen haben. Das Moviemento als Hauptgesellschafter und Crossing Europe werden das über den Sommer gemeinsam erarbeiten. Jetzt gilt es zuerst einmal diese schwierige Festivalausgabe erfolgreich zu meistern.

Haben Sie eigentlich innerhalb dieser 18 Jahre, die Sie das Festival geleitet haben, einen ästhetischen Wandel, eine neue Herangehensweise an Filme beobachtet?
Es werden mehr Dokumentarfilme fürs Kino produziert, das liegt hauptsächlich an ökonomischen Bedingungen, denn die Produktionsmittel sind geringer und besser verfügbar, für Spielfilme benötigt es größere Budgets, und auch einen größeren MitarbeiterInnenstab. Dokumentarfilmkonzepte sind wendiger und können rascher auf aktuelle Ereignisse reagieren. Aber generell verschwimmen auch die Kategorien Dokumentarfilm und Spielfilm, der hybride Film ist stark im Trend, also das Arbeiten mit Laiendarsteller*innen, reale Settings werden fiktionalisiert.
Es wird auch viel mehr koproduziert, weniger Europudding, sondern mehr Augenmerk auf die Zusammenarbeit von Kreativen auf allen Ebenen, hier haben sicherlich auch die Creative Europe Programme der EU Vorschub geleistet.

Vergangenes Jahr musste Crossing Europe – wie auch andere Kulturfestivals – im Netz stattfinden. Wie würden Sie dahingehend Ihre Erfahrungen beschreiben?
Wir mussten kurzfristig alles absagen. Daraufhin haben wir zwei Angebote geliefert. Zuerst eine kleine Online-Edition, ein Querschnitt aus dem geplanten Programm. Im Herbst haben wir die Crossing Europe Extracts Reihe gestartet, und konnten dadurch noch zwei Drittel unseres Programms vor Publikum im Kino präsentieren.
Vergangenes Jahr waren alle froh, dass es Alternativangebote gab, jetzt freuen wir uns, wenn das Festival mit Publikum stattfinden kann.

Ein Schwerpunkt ist bei Crossing Europe den Arbeitswelten gewidmet. Welche Themen sind denn derzeit im Film virulent?
Auch schon in den Anfangsjahren stand der Strukturwandel – ein Dauerthema – im Zentrum. Weiters haben RegisseurInnen unter anderem den organisierten Kampf der ArbeiterInnen auf die Leinwand gebracht, Industrieregionen, die sich neu organisieren müssen. Hinzu kommen Dokus über Bewerbungsgespräche, Weiterbildung, die Ich-AGs, das „Sich-besser-verkaufen-Müssen“, die Abgehängten, die bei diesem rasanten Wandel nicht mehr mitkommen, Digitalisierung, Jugendarbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit. Doch es sind nicht nur problembehaftete systemrelevante Themen: Viele Filme stellen in verschiedenen Ausformungen ein Empowerment in den Mittelpunkt, Entwicklungen, die MutmacherInnen und „Best practice“-Modelle in den Vordergrund rücken.

Kommen wir zu Ihrer neuen Funktion, die Sie mit Anfang November beginnen werden und zu der ich Sie hier beglückwünschen will. Der Start in eine Leitungsposition, welcher Art auch immer, ist meist mit neuen Ideen und Konzepten der neuen Leitung verbunden. Welche sind Ihre Schwerpunkte in Wien?
Derzeit leitet Gerlinde Seitner noch den Filmfonds Wien, insofern möchte ich nicht mit Konzepten und Ideen reingrätschen. Eine Förderinstitution arbeitet gemäß den gesetzlichen Richtlinien, und somit sind Änderungen auch nur in Abstimmung mit der Politik und dem Kuratorium möglich.
Wir wissen, die gesamte Branche verändert sich rasant. Ich denke an die Streaming-Plattformen, die einen enormen Marktzuwachs verzeichnen. Auch bei den Fernsehkanälen beobachten wir einen Übergang vom vorgegebenen Sendeschema zur individuellen Auswahl durch deren Mediatheken. Nischenprodukte und Nischenanbieter sind wichtig geworden, die Herausforderung bleibt dabei sein Publikum zu finden. Auch für das Publikum ist es unübersichtlich geworden, sich zurechtzufinden. Die Kernfrage, die sich stellt, lautet daher: Wie findet das Publikum mich und ich mein Publikum?
Aufgrund dieses vielgestaltigen und rasanten Wandels ist der Blick in die Zukunft unvermeidlich. Modelle müssen entwickelt werden, wie man auf diese Veränderung reagieren kann.

Ich habe manchmal den Eindruck, manche TV-Filme könnten bezüglich des Drehbuchs und der Regie mutiger agieren. Ist der Ansatz, einen TV-Film auf ein Durchschnittspublikum „zuzuschneiden“, nicht von Anfang an zum Scheitern verurteilt?
Es hat jede und jeder andere Bedürfnisse. Manche wollen beim Einstieg schon wissen, was sie bekommen, andere lassen sich lieber überraschen. Daher hat der Unterhaltungsfilm genauso seine Berechtigung wie der innovative oder eher exzentrischere Film. Global gesehen ist mehr Diversität, Gendergerechtigkeit und Inklusion vor und hinter der Kamera, also auch inhaltlich ein Bestreben der Film- und Medienbranche.

Der Filmfonds Wien bezeichnet sich selbst mit 11,5 Millionen Euro Fördersumme pro Jahr als eine der höchstdotierten regionalen Filmförderstellen Europas. Dennoch sind immer wieder Klagen seitens der Filmschaffenden zu hören, es sei schwierig, in Österreich einen Film, welcher Art auch immer zu realisieren. Worauf führen Sie das zurück?
Ein klassischer Kinospielfilm braucht verschiedene Finanzierungssäulen, und das macht die Herstellung eines Films so komplex und langwierig. Es werden auch viel mehr Projekte eingereicht als noch vor einigen Jahren. Im Schnitt werden 50 Prozent der eingereichten Projekte gefördert. Der Wettbewerb ist generell überall sehr groß.

Das Kino wird seit Jahrzehnten totgesagt, jetzt durch die Pandemie und die monatelangen Schließungen haben sich diese Diskussionen noch einmal zugespitzt, wie stehen Sie dazu?
Ich denke es ist ein Zusammenspiel von zwei Komponenten. Ein Kinobesuch, so wie wir ihn kennen, bedeutet sich gemeinsam etwas anzuschauen, man besucht einen Ort, den man schätzt, wo man weiß, ich bekomme ein Programm geboten, das mir entspricht, ich treffe Gleichgesinnte. Kino ist niederschwellig, man muss sich nicht schön anziehen, kann sich spontan entscheiden. Das Kino der Zukunft muss sich immer wieder überlegen, wie kann ich mein Publikum erweitern, welche Angebote inhaltlicher und struktureller Natur – zum Beispiel auch gastronomische – soll ich schaffen.
Trotzdem, und das muss uns bewusst sein, wird sich einiges ins Netz verlagern, es wird eine Filmauswertung auch parallel stattfinden und sich die Rezeption von Filmen verändern. Aber auch die Theater, die Oper wurden schon totgesagt und genauso wie diese Orte der Kultur nach wie vor Bestand haben, wird auch das Kino überleben. Es wird das Eventkino mit seinen Special Effects, der tollen Tonqualität und Riesenleinwand genauso geben wie das „personalisierte“ Programmkino, das diverse Zielgruppen im Auge hat und stark kuratorisch arbeitet. Das muss jedoch auch entsprechend finanziell unterstützt werden.

Gibt es eigentlich Filme, die Sie nachhaltig geprägt oder fasziniert haben?
Meine Lieblingsfilme verändern sich immer wieder, dadurch fällt es schwer einzelne herauszugreifen. In jungen Jahren war das Fernsehen mit seinen vier Kanälen zentrale Bildungsanstalt. Hinzu kam das reale Kinoerlebnis, welches während meiner Studienzeit in Wien durch das große Angebot an Bedeutung gewonnen hat. Schließlich wurde die Liebe zum Film zum Beruf, beginnend mit der Leitung des Programmkinos Filmcasino in Wien.
Ich kann prinzipiell sagen, dass ich alle filmischen Formen und Genres schätze, in der Vielgestaltigkeit dieses Mediums liegt die Anziehungskraft. Mir ist ein handwerklich gesehen unvollkommener Film, der etwas wagt, im Zweifelsfall lieber als ein „perfekter“, bei dem ich nach ein bis zwei Szenen sofort weiß, welches „Strickmuster“ vorliegt und was in weiterer Folge passiert.

 

www.crossingeurope.at

CROSSING EUROPE Filmfestival Linz: 1. – 6. Juni 2021

CROSSING EUROPE VOD-Premieren auf KINO VOD CLUB: 6. Juni – 6. Juli 2021

Ab 20. Mai: Programm online & Start des Online-Ticketverkaufs

Nach dem Stillstand

Im Rahmen des Festivals FMR 21 wurde in den ersten Junitagen ein Symposium an einem ephemeren Ort des Donauufers eingerichtet: ein Büro für nützliche Fiktionen, ein Bahnhof und Flugplatz für neue Er­zählungen. Gloria Meynen und Gaby Hartel geben einen Vorgeschmack auf das Symposium mit dem Titel Dass die Welt auf ON springt. Utopien nach dem Stillstand. Und beleuchten hier Utopien, die es bereits vor dem Stillstand gab.

Das Festival FMR bietet digitale Kontexte. Bild Giacomo Piazzi / LINZ FMR

Utopien sind Orte, die man nur im Gedanken bereisen kann. Sie sind häufig durch das Meer vom Festland getrennt. Die Pandemie ist indes der Pazifik – das stille Meer, das Magellan in sechs Monaten und zwanzig Tagen durchquerte „mit nichts als Himmel und Salzwasser vor Augen“. Kein Ort, ein Zustand. Sie lässt uns müde und ratlos zurück, ganz so als blickten wir auf ein Meer ohne Inseln. Eine wüste, salzige Welt, soweit das Auge reicht. Der Schriftsteller Samuel Beckett hat in seinen Stücken, den späteren Prosatexten und Fernsehgedichten immer wieder den erzwungenen Rückzug in eine verwüstete Landschaft, in ein Zimmer, in einen Kopf oder Mund durchgespielt. Die Fünfziger- und frühen Sechzigerjahre lasen die kargen Weiten als atomare Trümmerfelder. Ab den Siebzigerjahren erinnerten die Gesichter der wüsten Landschaften und starren Figuren zunehmend an die Seelenzustände Traumatisierter. So verstörend wie Becketts Figuren zunächst wirken mögen, in den späteren Werken blitzt in Momenten der Lähmung und des Stillstands häufig die Möglichkeit einer Erzählung auf, einer Erinnerung und Reise im Kopf – starr und erschöpft beginnen sie zu träumen. Sie reisen in ein Land, das man nur im Gedanken erreichen kann. Also eine Utopie? Beckett würde es gewiss anders nennen. Ein Fenster in eine andere Welt? Eher ein erinnertes Bild, ein Ausblick, entstanden im Kopf seiner Figuren, in der Stille, die sie umgibt, der Starre, die sie befallen hat. Jede Generation liest Beckett anders, jede Zeit entwirft mit Becketts Texten eigene Bilder und Räume im Kopf. Von heute aus gesehen scheint es fast, als habe Beckett uns mit diesen Situationen Erzählexperimente und Übungsräume hinterlassen wollen. Können wir aufbrechen, die eigenen Innenwelten verlassen, um die Welt in zahlreichen Alternativen aus der Gegenwart, dem Meer der Erinnerung auftauchen zu lassen?

Die Gesichter verpixelt, die Bewegungen eingefroren. Ein Zimmer, ein Fenster. Und noch ein Fenster. Kein Ausblick, sondern ein Einblick in Fenster und fremde Zimmer. Die Gegenwart ist ein Warteraum zu noch mehr Zimmern und Fenstern, ein Leben in der Warteschleife. „Nichts … nichts … und wieder nichts“. So lautet auch Clovs Fazit in Samuel Becketts zweitem Theaterstück Endspiel, als er durchs Fernrohr den Ozean vor seiner Bleibe betrachtet. Und auch das Land auf der anderen Seite seines Beobachtungsfensters gibt nichts anderes her als einen gesichtslosen Nicht-Ort, irgendwo in einem grenzenlos sich ausdehnenden Nirgendwo. Nichts geschieht, außer, dass die Figuren Sprachfloskeln wiederholen, den Alltag in leeren Ritualen einrichten. Keine Frage: Clov und drei weitere Bewohner*innen eines nicht näher beschriebenen Schutzraums sitzen fest, auf einer Insel, die Zeit fließt zäh vorbei. Zwar spüren sie vage, dass „etwas seinen Lauf nimmt“, doch sie haben keinen Einfluss auf diese minimal kleine Entwicklung, sondern verharren im Warten darauf, dass ihre Situation einfach aufhören möge. Ihre Vorläufer in Becketts erstem Stück Warten auf Godot hängen auf einem kargen Plateau herum, müde und entmutigt, in der Hoffnung, dass ein Herr Godot sie abholt und in die alte Zeit wie den gewohnten alten Raum zurückbringt.

Wo liegt die alte Zeit? Wo ist der alte Raum begraben? Auf Godot warten wir immer noch. Und das schon ziemlich lang. Als Watts Erfindung das Reisen um 1840 unter Dampf setzte, sahen wir Godots Schatten, wenn auch nur einen Rockzipfel lang. Je engmaschiger die Linien der Eisenbahnen, Dampfschiffe und Flugzeuge die Welt umrundeten, desto mehr schwand seit dem frühen neunzehnten Jahrhundert die Überzeugung, dass Reisen ein Ziel, ein Stachel, ein Duft, ein Versprechen, eine einmalige und überraschende Erfahrung sei. Wartete man früher ungeduldig, dass die Reise begann, so glich von den ersten Eisenbahnnetzen bis zu Ryan Air das Reisen bald mehr dem Warten. Und das nicht nur an der Bushaltestelle, dem Security Check, in der Abfertigungshalle – sondern, Knie an Sitz, im Flugzeug, ohne jedes Gespür für Raum und Zeit. Jules Vernes Roman In 80 Tagen um die Welt hat das Warten sogar auf das Titelblatt gehoben. Wir warten 80 Tage, bis Phileas Fogg um den Erdball einen exakten Kreis gezogen hat – nach 37 Kapiteln den Zirkelschlag in der Savil Row, London, vollendet hat. Fogg, mehr Uhrwerk als Mensch, hat stets die kürzeste Verbindung gesucht. Ihn quälen weder Fernweh noch Neugier. Die Weltkarte kannte er auswendig, alle Wege waren ihm bekannt, die Ferne vertraut. „… und war ein Ort auch noch so weit entfernt, Phileas Fogg schien detaillierte Kenntnisse über ihn zu besitzen“. Der Blick in den Fahrplan nimmt die Ankunft schon vorweg. Jules Vernes Manuskript enthält die Abschrift eines Fahrplans. Mit Bradshaws Continental Railway Guide hat er die Reiserouten seiner Figuren in einem fiktiven Reisebüro geplant und gebucht. Seine Figuren reisen nicht, sie kommen an. Pauschalreisen, Postkarten, Fahrpläne und selbst der Lonely Planet, die Reiseführer für Individualreisende haben alle möglichen Routen, auf denen man den Erdball umrunden kann, schon durchgespielt. Soweit wir auch reisen – am fernsten Ort der Erde wurden wir vor der Pandemie schon erwartet, ehe wir einen Gedanken in die Ferne setzen können.

Der britische Schriftsteller Herbert George Wells, Essayist, Zukunftsforscher und auflagenstarker Vertreter der beschleunigten Fortbewegung, bezeichnet schon um 1900 die dampfbetriebenen Schwellen der Eisenbahnen und Schiffe Greater Britains als „transistory empires“. Ephemere Königreiche halten die Fremde auf Abstand. Eisenbahnabteile und Schiffskabinen sind Transiträume, provisorische Königreiche auf Zeit. Sie schicken das Empire auf Reisen, die die Inselbewohner*innen bis an die Enden der Welt transportieren. Die Folgen der Kolonialisierung haben sie nie am eigenen Leib erfahren müssen. Reiseabteile sind häufig Rückzugsorte – Schutzräume, die jene gegen die vermeintlichen Gefahren der Fremde isolieren soll, die die gleiche Sprache sprechen, dieselbe Hautfarbe besitzen, die Geld und Herkunft verbindet. Michel de Certeau findet in den reisenden Zimmern der transistory empires Spuren von Dürers Melancolia: „Im Innern die Unbeweglichkeit einer Ordnung. Hier herrscht Ruhe und wird geträumt. […] Draußen, eine andere Unbeweglichkeit, die der Dinge: aufragende Gebirge, weitläufige Grünflächen, stillstehende Dörfer, Gebäudereihen, schwarze Silhouetten im Gegenlicht der Sonne, das Glitzern von nächtlichen Lichtern auf dem Meer, das vor oder nach unseren Geschichten liegt“. Die Innenwelten der Fortbewegung sind Zeitkapseln, in denen die Geschwindigkeit gegen Null tendiert. Vor dem Stillstand reisten wir in Zeitkapseln, unsere Komfortinseln mussten wir nur selten verlassen.

Die Königreiche des Transits hat der Anthropologe Marc Augé „Nicht-Orte“ genannt und damit die ephemeren Schwellen und Zonen des Übertrags mit einer Negation bezeichnet. Die Nicht-Orte erschaffen eine Welt, „in der die Anzahl der Transiträume und provisorischen Beschäftigungen unter luxuriösen oder widerwärtigen Bedingungen unablässig wächst (die Hotelketten und Durchgangswohnheime, die Feriendörfer, die Flüchtlingslager, die Slums, die zum Abbruch oder zum Verfall bestimmt sind), … eine Welt, die … der einsamen Individualität, der Durchreise, dem Provisorischen und Ephemeren überantwortet ist“. Die Welt als Durchreise ist ein Nicht-Ort. Eine gesichtslose Schwelle, die selbst kein Ort ist, aber Orte verbindet, Beziehungen zu neuen Orten herstellt und verwaltet. Nichtorte sind Flughäfen, Bahnhöfe, Raumstationen, Drive-Ins, Freizeitparks und Einkaufszentren, so Augé, Orte, die jetzt seit über einem Jahr verwaist und leer sind.

Die ersten Autoren der Science-Fiction, Jules Verne und H. G. Wells, haben sich in den Warteräumen der Beschleunigung eingerichtet, die Vestibüle der Dampfmaschine mit Fauteuils, Aquarien und Kristalllüster möbliert. In Von der Erde zum Mond werden Vernes Figuren in einem Kanonenrohr zum Mond geschossen, in 20.000 Meilen unter den Meeren reisen die Passagiere der Nautilus auf einer dampfbetriebenen Schwelle. Draußen fliegende Landschaften, drinnen erstarrt die Zeit. Der Stillstand war schon vor dem Stillstand da, ein Effekt einer zunehmenden Beschleunigung, der mit den modernen Reisen aufkam. Doch jetzt ist alles anders. „Zusammenfahren ist lange her, wir fahren allein“, singen im Mai 2021 zahllose Busfahrer*innen der Berliner Verkehrsbetriebe in einem Werbespot. Seitdem die Pandemie die Innenwelten der transistory empires nach außen gekehrt hat, ist der Stillstand weder Ruhe noch Rückzugsort, sondern rasende Vernetzung: Kein Tag ohne blassblau erleuchtete Gesichter. Ein Zimmer, ein Fenster. Und noch ein Fenster. Die Fortbewegung in den rasenden Zimmern, den transistory empires, ist ein Reisen in und um die Zimmer gewichen. Die Träume der Innenwelten sind zerschlissen. Die Mythen der Beschleunigung können uns nicht mehr erreichen. Die Vermutung, dass seine Nicht-Orte mit den Utopien verwandt seien, die seit der Antike einsame Inseln bewohnen, hat Marc Augé 2019 auf einer Wiener Bühne fahrig zurückgewiesen. Seine Nicht-Orte kann man nicht nur im Gedanken, sondern mit Ticket und Koffer bereisen. Augé hat im Weichbild des Mauerfalls, jenem Augenblick, in dem die letzten Inseln des Reiseverbots vom Erdboden verschwanden, die Metamorphose der Orte und Nicht-Orte, das Provisorische und das Ephemere, die „verworrenen“ Spiele der Identität und Relation, als Gegenstand für eine Ethnologie der Nähe beschworen. Die Nähe ist eine wunderbare Insel, die wir seit wenigen Tagen wieder erreichen können.

 

Biennales Kunst-Festival FMR 21 – Kunst in digitalen Kontexten
1.–6. Juni, Mühlkreisbahnhof Linz-Urfahr
Heuer findet die zweite Ausgabe von FMR, dem biennalen Festival für Kunst in digitalen Kontexten und öffentlichen Räumen, statt. Mit FMR 21 wird das Areal rund um den Linzer Mühlkreisbahnhof von internationalen und lokalen Künstler:innen in einen Festivalraum verwandelt. Der Hauptteil des Programms besteht aus einer Ausstellung im öffentlichen Raum. Zu sehen sind Arbeiten aus den Bereichen Bildende Kunst, Medienkunst, Internet Art und Performance. Das Festivalprogramm umfasst außerdem eine Reihe von Künstler:innengesprächen, eine Aufführung von aufgezeichneten und live gestreamten Konzerten – und ein hochkarätig besetztes Symposium.

Symposium
Dass die Welt auf ON springt. Utopien nach dem Stillstand.
4.–6. Juni 2021, FLUT – Freiluft­universität am Urfahraner Marktgelände
Die Abteilung Medientheorien an der Kunstuniversität Linz ergänzt FMR 21 um ein Symposium, u. a. besetzt mit Richard Sennett, Gloria Meynen, Thomas Macho, A K Dolven, Adam Merki und weitere Expert:innen. Sie werden über Utopien nach dem Still­stand sprechen. Das Symposium findet von 4. bis 6. Juni 2021 in Verschränkung mit der „Open University“ der Kunstuniversität Linz statt, am Urfahraner Marktgelände.

linzfmr.at/de

Dick Pic

Foto Die Referentin

Die kleine Referentin

Bild Juri & Terri Frühling

Gläserne Museumsdecken

Zwischen investigativer Recherche und feministischem Manifest – seit dem 1. Mai ist Die Quote online und zeigt: In den Kulturinstitutionen des Landes OÖ und der Stadt Linz mangelt es Frauen an beruflichen Aufstiegsmöglichkeiten. Ebenso wird offengelegt, wie wenige Menschen schlussendlich unser „Kulturland“ prägen. Lisa-Viktoria Niederberger berichtet und spoilert: Es sind Männer.

Gläsern und hoch oben. Foto Die Referentin

„Auch wenn wir gerne alle lieber im Postpatriarchat Postfeministinnen sein wollen – die Quotenforderung ist immer noch notwendig” – sagt Oona Valarie Serbest, Künstlerin und Geschäftsführerin von Fiftitu%, einer Beratungsstelle für Frauen* in Kunst und Kultur. Warum es die Quotenregelung immer noch braucht, das zeigt das aktuelle Projekt Die Quote. Auf der gleichnamigen Homepage, dem Ergebnis ausführlicher Recherchearbeit, wird die Geschlechterverteilung in den großen kulturellen Einrichtungen des Landes Oberösterreich und der Stadt Linz mit intuitiven und leicht verständlichen Grafiken sichtbar gemacht. Die Landesmuseen, das Landestheater, der Posthof – Kulturstätten gestalten Gesellschaft, prägen und vermitteln Werte: Sie tragen zur Entstehung einer öffentlichen Meinung bei. Wollen wir eine offene, pluralistische Gesellschaft, in der Frauen, genauso wie marginalisierte Gruppen, eine hörbare Stimme haben und repräsentiert werden, muss dieser Leitgedanke einer offenen, pluralen Gesellschaft sich nicht nur in Sammlungen, Programmheften und Sonderausstellungen widerspiegeln, sondern auch in den Menschen, die diese Programme erstellen und Sammlungen kuratieren.

Die Quote zeigt, wie utopisch dieser Wunsch ist, wie realitätsfern. Beginnen wir bei Ergebnissen zu den Institutionen des Landes Oberösterreich. Seit der Umstrukturierung von der Landeskulturdirektion hin zur OÖ Landes Holding im Frühjahr 2020 wurden Tätigkeits- und Zuständigkeitsbereiche massiv verschoben. Das Ergebnis dieser Veränderung ist am deutlichsten bei der Landeskultur GmbH ersichtlich. Denn ihr alleinvertretungsberechtigter Geschäftsführer ist jetzt gleichzeitig auch wissenschaftlicher Direktor und Leiter von 22 Sammlungen, sowie aller 16 Standorte des Landesmuseums. „Ich sehe Die Quote primär als Materialsammlung, als Werkzeug um notwendige Fragen zu stellen”, erklärt Oona Valarie Serbest. Kritische Fragestellungen ergeben sich aus dieser neuen Struktur des Landesmuseums genug, beispielsweise: Kann das ein Mensch leisten? Fachlich? Zeitlich? Logistisch? Kann jemand tatsächlich Leiter von all diesen Sammlungen und Häusern sein? Was heißt das für die künstlerische Vielfalt? Wenn eine Person einzig und allein für alle Landesmuseen verantwortlich ist, ist sie gleichzeitig auch maßgeblich verantwortlich für die Kulturlandschaft des Landes. Diese Kulturlandschaft wird nun primär geprägt vom Kunstbegriff eines Individuums. Diese Riesenaufgabe trägt nicht nur eine große moralische Verantwortung, sondern ebenso eine finanzielle: Es stehen diesem Menschen dafür bis zu 36 Millionen Euro Steuergelder jährlich zur Verfügung. Und wer kontrolliert, was damit passiert? Im Gegensatz zur OÖ Theater und Orchester GmbH verfügt die Landeskultur GmbH über keinen Aufsichtsrat. Sie hat den alleinvertretungsberechtigten Geschäftsführer als Zentralgestirn.
Oona Valarie Serbest resümiert: „Es ist der Landeskultur GmbH wirklich sehr daran gelegen, dass diese Struktur so nirgends aufscheint. Die Vermutung liegt nahe, dass man als Holding nicht zu offensichtlich zeigen möchte, dass es da um eine Person geht, die eben nicht nur so viele Posten, sondern auch viel Geld verwaltet!“ Alle Zahlen, auf die sich das Projekt bezieht, sind im Internet auffindbar, nichts davon ist per se geheim, aber die Aufbereitung durch den Verein Fiftitu% zeigt: Hier gibt es Erklärungs- und Änderungsbedarf. Dem Zentralgestirn eine co-künstlerische Leitung w/d an die Seite zu stellen, nicht als seine Untergebene, sondern ebenso fix verankert in der GmbH wie er, wäre ein wichtiger erster Schritt und ist eine ebenso dringende Forderung des feministischen Vereines, wie die ehestmögliche Einsetzung eines Aufsichtsrates.

Die leere Mitte
Auch kaum zu übersehen: die leere Mitte, die im Zuge von Umstrukturierungen weniger werdenden Jobs in der mittleren Führungsebene. Wo sind sie, die Sammlungsleiterinnen, Kuratorinnen, die künstlerische Leitung? Und ja, auch wenn diese Entwicklung Männer und Frauen betrifft, hier wird bewusst ein generisches Femininum verwendet, denn diese Berufe, die auch in der Landesholding weniger zu werden scheinen, werden zu einem sehr großen Teil von Frauen ausgeübt. Der Frauenanteil in den Geistes- und Kulturwissenschaften liegt derzeit in Österreich bei 71 %. Was heißt das konkret für Frauen in Linz, die im Kunst- und Kultursektor Karriere machen wollen, und zwar nicht in der freien Szene, sondern etwa als Landesangestellte? Es gibt kaum Jobs! Schlichtweg, weil etwa Jobs einer Sammlungsleitung zu einer Projektleitung „downgegraded“ scheinen. Schlecht in einer Stadt, die mit Studiengängen wie Kulturwissenschaften, Kunstwissenschaften oder Medienkultur und Kunsttheorien jährlich hochspezialisierte und qualifizierte Absolvent*innen in die Arbeitswelt entlässt. Es werden ergo in Linz nach wie vor Menschen ausgebildet für Berufe, die sie in den bestehenden Strukturen kaum oder nur massiv erschwert ausüben können, weil es schlichtweg immer weniger Posten für sie gibt. Alleine der Wegfall der mittleren Führungsebene in den Landesmuseen: über ein Dutzend Arbeitsplätze für Geisteswissenschaftler*innen, die jetzt nicht mehr da sind. Das sieht auch Oona Valerie Serbest höchst kritisch: „Es muss eine zentrale Forderung von uns Kunstschaffenden bzw. Kunststudierenden sein, dass diese Posten wieder frei gemacht werden. Wir haben auch ein Recht auf Karriere!“

Hier erlebt man das Scheitern der neoliberalen Erzählung: Es ist eben nicht so, dass du ganz nach oben kommst, wenn du gut bist, dich bemühst, auch als Frau. Die Faktenlage zeigt: in dieser Branche, in diesem Bundesland, hast du keine Chance. Und das ist ein Armutszeugnis für ein Land, erst recht dann, wenn die Landeshauptstadt darin sich noch immer mit dem schon etwas verjährten Titel „Kulturhauptstadt“ rühmt. Parallel dazu der vom Land OÖ ausgeschriebene und auf 2000€ dotierte Frauenförderpreis für Unternehmen: Ein Witz, der wehtut.

Hausarbeit ergo Verwaltung
„Moment mal!“, könnten Kritiker*innen jetzt empört aufrufen, „Die Quote zeigt doch auch, dass sich der Frauenanteil in der Landesholding im Vergleich zu 2007 um ganze 19,9 % erhöht hat, jetzt bei 61,8 % liegt“. Ja, aber: Hier wird klar ersichtlich, dieses tradierte Köpfe-Zählen, um zu zeigen, dass eine Geschlechterausgewogenheit in Unternehmen besteht, ist der falsche Weg. Natürlich gibt es Frauen auch in den hiesigen Kulturinstitutionen: ab der unteren Führungsebene und als Mitarbeiter*innen in den Shops, als Garderobieren und als Museumsaufsichten – den schlecht entlohnten Jobs primär, den körperlich anstrengenden mit Arbeitszeiten abends und/oder am Wochenende. Das alleinige Vorhandensein einer hohen Frauenquote ist kein Garant dafür, dass diese Frauen auch in allen Positionen vertreten sind, oder eine valide Karriereoption haben. Der Anteil von Frauen in Führungspositionen beträgt in der OÖ Landesholding 9 %. Man findet die Frauen stattdessen in Bürotätigkeiten, sie gehen ans Telefon und koordinieren die Besuche von Schulklassen – „In institutions, housework is called administration“, wird hierzu auf Die Quote die feministische Theoretikerin Sarah Achmed zitiert.

Alles Einzelfälle?
Ein Vergleich mit Institutionen der Stadt Linz zeigt: auch hier vorwiegend „Boyclubs“, mangelnde Transparenz und ein großer Rechercheaufwand, um Männerüberschuss in Führungspositionen sichtbar zu machen: „Das AEC verwendet beispielsweise in seinem eigenen Organigramm nur Nachnamen, sodass mensch nicht merkt, dass es hier kaum Frauen gibt!“, erklärt Oona Valarie Serbest dazu. Das Unternehmen Ars Electronica Linz GmbH setzt in der obersten Führungsebene ebenso auf zwei Männer, beide sind außerdem eingetragene Geschäftsführer der übergeordneten Kreativität, Kultur & Veranstaltungen der Stadt Linz Holding GmbH. Zusätzlich ist einer der beiden noch Co-Geschäftsführer sowie künstlerischer Direktor des Ars Electronica. Auch hier werden also insgesamt drei Führungspositionen von ein und derselben (männlichen) Person besetzt. Von zehn möglichen Führungspositionen ist ausschließlich die administrative Leitung weiblich im „Museum der Zukunft“.
Es ginge aber auch anders, wie das Stadtmuseum Nordico zeigt: Sobald es Frauen in den oberen Führungsebenen gibt, findet man sie auch im Mittelbau, gibt es plötzlich eine weibliche Museumsleitung. Wir brauchen diese Positivbeispiele ganz dringend. „We rise by lifting each other up“, wird häufig auf feministische T-Shirts und Demoschilder geschrieben. Und natürlich: Solidarität und Support unter Frauen ist wichtig, aber das nimmt uns nicht das Schleudertrauma, wenn wir regelmäßig mit dem Kopf gegen gläserne Decken krachen.

Dass diese gläsernen Decken existieren, Posten für Frauen frei gemacht werden müssen, hat die Quote schmerzhaft sichtbar gemacht. Sie zeigt aber auch, wie wichtig Fiftitu% und ähnliche Vereine sind. Nur unabhängige Strukturen wie sie können derlei Missstände aufzeigen. Sie sind eine demokratiepolitische Wichtigkeit, der es durch den permanenten Kampf um Existenzberechtigung und Niedrigst-Förderungen massiv erschwert wird, noch mehr von dieser essenziellen, aufklärerischen Arbeit zu leisten. Und falls Fiftitu% nächstes Jahr zufällig die Subventionen von Stadt oder Land gekürzt werden sollten, dann wissen wir jetzt, warum.

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