… und die Gemeinschaft der Schreibenden: In diesem Frühjahr erschienen zwei inspirierende Bücher von Ilse Kilic und Eva Schörkhuber. Die Autorinnen erzählen über gerissene und verbindende Fäden, das Glück, darüber, was es mit Schelminnen auf sich hat und warum es neue Erzählungen braucht. Das Crypt-Pad-Gespräch führte Andreas Pavlic.
Die Gemeinschaft der Schreibenden im Online-Interview. Screenshot Andreas Pavlic
Liebe Ilse, in deinem neuen Buch „Fadenspannung. Eine Verbündung“ reflektierst du sehr persönlich dein Schreiben, Lesen und deine politischen Positionierungen. Gleich zu Beginn schreibst du: „Früher fürchtete ich mich, wenn jemand einen Text von mir las, dass er oder sie ihn beurteilen oder gar verurteilen könnte.“ Und in der Folge sich dieses Urteil auch auf deine Person erstreckt. Wie geht es dir heute mit dieser Furcht? Ist sie einer Lust gewichen?
IK: Also, es ist nicht ganz einfach, einen Text unter die Mitmenschen zu bringen und dabei ganz unabhängig von deren Urteil zu sein. Man dürfte sich ja dann „eigentlich“ auch nicht freuen, wenn der Text lobende Worte bekommt. Sobald ich mich über Lob freue, bin ich schon in Gefahr, den Tadel zu fürchten. Und, ja, es passiert mir beides. Ich freue mich über Lob und ich fürchte den Tadel. Immer noch. Aber vielleicht anders als früher, es stellt mich weniger infrage, als Person und als Schreibende. Und ich kann mir auch denken, naja, ist halt eine Meinung einer anderen Person, die kann ich einfach stehenlassen.
Und die Lust?
Ja die Lust. Also sicher ist es schön, wenn ich sehe, der Text spricht in anderen Menschen etwas an, das mir wichtig ist, sie verstehen es so ähnlich wie ich. Es ist die Lust des Teilens, die ich darin erlebe. Die Lust, sich zu begegnen auf dieser Lese- und Schreibebene.
Liebe Eva, dein neuer Roman „Die Gerissene“ ist ein Schelminnenroman mit Mira als Hauptfigur. Mit Geschick und Köpfchen schlägt sie sich durch, findet stets eine neue Geschäftsidee und reist von einem Land mit großer Revolutionsgeschichte zum nächsten. Die Enttäuschung folgt ihr auf dem Fuß. Es scheint, sie ist gleichsam auf der Suche nach individueller Befreiung und einem Eintauchen in eine revolutionäre kollektive Bewegung. Wie siehst du ihre Reise und wie geht sie weiter?
ES: Miras Reise führt genau an dieser Grenze entlang – sie befindet sich auf der Suche nach individuellem Glück und möchte dabei auch die Welt verändern. Ihre Vorstellungen davon, wie sie etwas Neues in Umlauf bringen, eine neue revolutionäre Bewegung in Gang setzen könnte, sind an historischen Überhöhungen beziehungsweise Verkürzungen ebenso geschult wie an dem neoliberalen Grundsatz, jede*r ist des eigenen Glückes Schmied*in. Diese Vorstellung, dass eine soziale Bewegung von Einzelpersonen ausgelöst oder „geführt“ werden könne, gerät auf ihrer Reise immer mehr ins Wanken. Schließlich bekommt sie eine Ahnung davon, wie kleinteilig und dezentral soziale Bewegungen organisiert sind, was wiederum mit den tradierten Helden- und viel seltener Heldinnen-Mythen kollidiert.
Eure Buchtitel – Fadenspannung und die Gerissene – scheinen miteinander zu kommunizieren und auf eine entgegengesetzte Richtung zu verweisen. Die verbindenden und gerissenen Fäden … hier das Anknüpfen an Erinnerung und Kolleg*innen und dort das Abbrechen von Beziehungen und der Aufbruch an neue Ufer. Was denkt ihr über diese beiden Bewegungen?
IK: Also ja, in meinem Buch – und das wäre ja eine Parallele – geht es auch darum, dass eben Verbindungen hergestellt werden zwischen Schreibenden, die die Kritik und Verbesserung der Welt zum Thema machen. Es geht einerseits um das Miteinander, die Anwesenheit der Anderen, die meinen Text erst vollständig machen. So wie alle Bemühungen letztlich ein Zusammenspiel ergeben, ein Zusammenspiel unserer Bemühungen, kleinteilig und doch – oder deswegen – sehr umfassend und, vielleicht – unendlich, weil es ja immer neue und weitere auffindbare Teile und Fäden gibt, an die ich anknüpfen könnte und die an mir und meinen Worten anknüpfen und ziehen, vielleicht auch zerren oder reißen.
ES: Mira knüpft ja auch buchstäblich Fäden, indem sie an den verschiedenen Orten, die sie bereist, mit Stoffen hantiert, die ihr wiederum erlauben, in Kontakt mit anderen Menschen zu treten – auf mitunter recht unterschiedliche Weisen. Das ist sozusagen die inhaltliche Ebene. Und dann gibt es auch in meinem Buch die Ebene, dass viele Texte von anderen miteingewoben wurden – allerdings stillschweigend und nur für diejenigen erkennbar, die die anderen Texte schon gelesen haben und deren Spuren im Roman finden können. Es ist einerseits schön zu wissen, dass ich beim Schreiben, obwohl es eine Tätigkeit ist, die ich alleine am Schreibtisch ausübe, nicht einsam bin: Ich bin in Begleitung vieler Texte und Autor*innen – Ilse, du nennst das in deinem Buch „die Gemeinschaft der Schreibenden“. Andererseits ist es im Falle so eines Romans auch eine Aneignung, die eben nicht das Gemeinsame mitverhandelt, sondern es stillschweigend voraussetzt.
IK: Ja und eine inhaltlich wichtige Frage, die sich in beiden Büchern auf verschiedene Weise stellt, ist jene nach dem erstrebten und imaginierten individuellen Glück. Wie kann es sich im Leben verwirklichen, wie sind die Vorstellungen davon. Und wie kann es zu einer positiven Kraft werden, die wiederum über das Glück des einzelnen Menschen hinausgeht, das es ja streng genommen nur gibt, wenn es eben nicht „individuelles Glück“ ist.
Dein Buch, Ilse, hat einen wunderbar sachlichen und lakonischen Tonfall. In einem Kapitel erzählst du eine Schlüsselszene, einen Wendepunkt in deinem Leben, und schreibst dann: „Oder auch nicht. Oder doch. Erinnerung ist das eine, Erzählung ist das andere.“ In mir stiegen sofort Erinnerungen hoch – Schlüsselszenen aus meinem Leben. Deine Verbindung von Tonfall und Gedanke ist sehr stimmig und lädt zum Mitdenken und Erinnern ein. Ist es die Melancholie oder die Schelmin, die dich im Schreiben führt?
IK: Ja, die Schelmin, die bin ich in gewisser Weise selber. Ich führe mich in die Irre und mache Kurven. Ein Labyrinth mit rotem Faden, ich weiß nicht genau, ob ich einen Ausgang suche oder einen Ausweg aus den Widersprüchen oder ob es vielmehr darum geht, sie aushalten zu können. Sich an einem Bier zu erfreuen im Bewusstsein der Widersprüche in den bitteren so genannten real existierenden Wirklichkeiten. Und mir darüber klar zu sein, dass ich diese Bitterkeit aushalten muss, die eigenen Problematiken und alle anderen, die ich nicht auflösen oder ad hoc verändern kann. Die Schelmin ist eine schillernde Person, die Heiterkeit, Zorn und Ironie vereinigt und auch manchmal sorglos tanzen oder springen möchte. Die Melancholie ist sozusagen eine Basis für die Fröhlichkeit, eine Art „Gegenfröhlichkeit“.
Dein Buch, Eva, beginnt mit einem melodischen Prolog, der uns und die Protagonistin vom Universum auf die Erde führt. Mira wächst in einem österreichischen Dorf auf, zieht als Jugendliche nach Marseille, dann nach Algerien, von dort in die Wüste und schließlich nach Kuba. Als Lesende reisen wir mit, im Kopf voller Bilder fremder Landschaften, Städte und Menschen. Wie gingst du beim Schreiben mit den kolonialen, post- und antikolonialen Bilderwelten um?
ES: Mira hat, wie sich im Verlauf ihrer Reisen herausstellt, ein Bild von der Welt im Gepäck, das Europa ganz selbstverständlich als den Nabel dieser Welt darstellt: Erst im Zuge unterschiedlicher Begegnungen fällt ihr auf, dass sie sich unter vorteilhafteren Umständen durch diese Welt bewegen kann als andere. Sie ist zunächst nicht einmal in der Lage, diese Unterschiede wahrzunehmen. Ich denke, das ist bezeichnend für ein europäisches Selbstverständnis, das in den Kolonialgeschichten begründet ist. Dieses Selbstverständnis gerät ins Wanken und das ist wiederum die Voraussetzung dafür, postkoloniale Verhältnisse und ihre Konsequenzen für Menschen, die im globalen Süden leben, zu begreifen.
Ilse, du schreibst in deinem Buch, dass wir neue Erzählungen brauchen. Was denkt ihr, brauchen wir auch ein neues Verlagswesen und neue Leser*innen?
IK: Also, ja neue Erzählungen, das heißt, wir tasten uns da mal vor. Es ist nichts Fertiges, wo ich jetzt sage, so geht das, das brauchen wir. Die Frage ist vielleicht auch, wer das „wir“ ist. Generell – aber das ist jetzt etwas verschwommen – könnte ich vielleicht sagen, wir brauchen einen anderen Begriff von Kunst, einen, der viel mehr Menschen miteinbezieht, also sowohl als Kunstschaffende als auch als Rezipierende, aber auch als jene, die in der Kunst vorkommen, also etwa in Büchern und auf Bildern, und deren Lebensrealitäten Thema werden dürfen. Es soll nicht so sein, dass ein Buch sich dann eben als Thema nimmt: „Jetzt spielt einmal eine behinderte Person mit“, und dann ist ihren Problemen der Text gewidmet, Thema „Behinderung“. Es müsste ganz normal sein, dass in Texten usw. eben ganz unterschiedliche Personen vorkommen, Menschen verschiedener Geschlechter, kranke und gesunde, alte und junge Menschen aus verschiedenen Weltgegenden.
ES: Insofern brauchen wir auch ein Verlags- und Vertriebswesen, das sich nicht an mehrheitlich durchgesetzten Repräsentationsformen orientiert – denn repräsentiert wird eben nicht „die Mehrheit“, die viel diverser ist als gängige Figurenrepertoirs, die sich immer noch häufig an einem ganz spezifischen sozialen Typus (weiß, männlich, globaler Norden) orientieren. Die Begründung, dass sich Geschichten mit diesem Figuren-Typus eben „gut verkauften“, basiert immer noch auf der Vorstellung, es handle sich dabei um ein „Universal“. Damit sollten wir gemeinsam aufräumen, in Verbindung von Künstler*innen, Institutionen, Leser*innen und eben auch Verlagen.
Die beiden Bücher:
Ilse Kilic, Fadenspannung. Eine Verbündung, Ritter Verlag, 2021
Eva Schörkhuber, Die Gerissene, Edition Atelier, 2021
Ilse Kilic ist Schriftstellerin, Zeichnerin, Film- und Radiomacherin, betreibt zusammen mit Fritz Widhalm das fröhliche Wohnzimmer („dfw.at) und ist Präsidentin der Grazer Autorinnen Autorenversammlung (GAV).
Eva Schörkhuber ist Schriftstellerin, Literatur- und Kulturwissenschaftlerin, Redakteurin von PS: Anmerkungen zum Literaturbetrieb/Politisch Schreiben und Mitglied im Papiertheaterkollektiv Zunder.