Lesestoff auf zwei Rädern

Wahre Liebhaber, Freaks oder die Professionellen unter uns sind zwar saisonunabhängig auf dem Fahrrad unterwegs. Aber für viele andere gilt: Der Frühling kommt und damit die Fahrradsaison. Der Verkehr verlagert sich wieder etwas mehr auf zwei Räder, die wärmere Luft motiviert zu sportiven Langstreckenfahrten. Magnus Hofmüller hat Lesetipps rund ums Thema.

Das Fahrrad ist nicht nur Verkehrsmittel oder Sportgerät – mit seiner Geschichte und all seinen unterschiedlichen Ausprägungen ist es Kulturgut, Fetischobjekt und Projektionsfläche für Wünsche und Träume zugleich. Natürlich kann man das auch von Auto, Eisenbahn oder anderen Objekten sagen, die als technisches Hilfsmittel der Fortbewegung dienen. Jedoch ist das Fahrrad demokratischer, diverser, zugänglicher, verständlicher und natürlich auch leistbarer. Fahrräder bieten ein breites Feld zur Auseinandersetzung und daraus wiederum ergibt sich eine Vielzahl an Publikationen unterschiedlichster Art. Und da Mensch nicht nur nie genug Fahrräder haben kann, sondern dies genauso für Bücher und Hefte zum Thema gilt, ein paar Tipps zum geschriebenen Wort rund ums Fahrrad.

A Cycling Lexicon: Bicycle Headbadges from a Bygone Era (englisch)
Phil Carter, Jeff Conner
Gleich als Einstieg ein Werk für wahre Nerds: Auf knapp 400 Seiten werden Fahrradplaketten oder auch Steuerkopfschilder historischer Räder gelistet. Ein wahrer Augenschmaus und Wissensschatz – ein Lexikon der Fahrradheraldik. Es kommen natürlich Markenklassiker wie Schwinn, Peugeot oder Hercules vor. Aber auch Schätze aus asiatischer oder russischer Produktion aus den 1920er Jahren werden gezeigt. Ein ideales Geschenk für passionierte Fans von Retrofahrrädern.

Everyday Bicycling – How to Ride a Bike for Transportation (englisch)
Elly Blue
Ein kleines, feines Büchlein für den Alltag auf zwei Rädern. Der Satz auf der Rückseite „Rediscover the joy of getting around on two wheels“ trifft den Grundtenor des Buches perfekt. Es geht nicht um die sportliche Variante des Radfahrens, sondern ums Pendeln, Einkaufen und Transportieren mittels Fahrrad. Fahrradfahren als integraler Bestandteil des Alltags. Mit Tipps und Tricks von der Kleidung bis zum Bike.

Die Regeln (Orig.: The Rules) (deutsch)
Velominati
Hier kommen die sportiven FahrerInnen voll auf ihre Kosten. Quasi ein Muss in jedem Bücherregal. Fünfundneunzig Regeln, die ernst und humorig an das Thema heranführen sowie nützliches und unnützes Wissen bereitstellen, weisen den Weg in den Geheimbund der echten RennradfahrerInnen. Themenfelder wie rasierte Beine, Bräunungskanten und Espressoarten sind ebenso enthalten wie Material- und Trainingstipps. Also, wie Regel #90 sagt: „Bleib auf dem großen Blatt“.

Lob des Fahrrads (deutsch)
Marc Augé
Das zweite kleine Büchlein der Auswahl. Dieses ist weniger praktisch orientiert, sondern feiert die Fahrradrevolution von Kopenhagen bis Paris. Als LinzerIn liest man das natürlich mit einer gewissen Wehmut … aber Hoffnung ist wichtig! Allein Kapitelüberschriften wie „Vélo Liberté“ machen gute Laune – eine schnelle Lektüre für FahrradutopistInnen.

 

How to survive als RADFAHRER (deutsch)
Juliane Schuhmacher
Die Stadt und das Fahrrad – eine ewige Kampfzone? Ja und nein, wenn man der Lektüre von Juliane Schuhmacher folgt. Diese gibt Tipps, wie man möglichst konfliktfrei durch den RadlerInnenalltag in der Stadt kommt und Spaß dabei hat, Motivation gewinnt und sich sicher durch den Verkehr bewegt.

 

Strassenkampf (deutsch)
Kerstin E. Finkelstein
Die Autorin diagnostiziert eine ständige Zunahme des Autoverkehrs und eine immer gereiztere Stimmung unter den VerkehrsteilnehmerInnen. Und damit liegt sie natürlich richtig. Und deshalb fordert sie auf 200 Seiten eine eindeutigere und mutigere Verkehrspolitik und den Abschied von der autozentrierten Verkehrsplanung. Positiv argumentiert und konsequent in der Formulierung. So geht sie etwa in Bezug auf Fahrrad und Verkehr dem Gegensatz von Wirklichkeit und veröffentlichter Wahrnehmung in der medialen Berichterstattung auf den Grund. Fast eine Pflichtlektüre für alle verkehrspolitisch interessierten RadlerInnen.

Fausto Coppi (deutsch)
Walter Lemke
Eine umfassende Dokumentation des Lebens der italienischen Radsportlegende Fausto Coppi. Die von einem Bewunderer verfasste und akribisch aufgezeichnete Lebensgeschichte ist ein Zeitdokument des Radsports. Der unkonventionelle Sportler Coppi machte nicht nur durch seinen ungewöhnlichen Fahrstil auf sich aufmerksam, sondern auch durch sein durchaus bewegtes Privatleben. Dieses wird im Buch aber nie voyeuristisch betrachtet, sondern setzt es aus der Distanz betrachtet mit dem des Sportlers in Verbindung und erklärt Zusammenhänge.

Domestik (deutsch)
Charly Wegelius
Ein Bericht aus der Mitte des Rennradsports – ein Insiderreport. Der Autor fuhr jahrelang als Profi in internationalen Rennen mit: und zwar als sogenannter Domestik, das sind Helfer für Etappen-, Sprint- oder Gesamtsieger. Egal, ob als Versorger für Getränke und Nahrung oder als Windschattenspender – immer am Limit und immer im Dienst für andere Fahrer. Ein ungeschönter und direkter Blick in den Profisport.

Fahrradi Model MD (Marcel Duchamp)

Foto Hannes Langeder

Hannes Langeder hat ein neues Fahrradi- Modell entwickelt – das Fahrradi Model MD nach Marcel Duchamp. Mehr über das Hybridfahrzeug – Auto – Fahrrad – Kunst und über Duchamps Readymade „Fahrrad Rad“, mehr über Zigarrenform und die „unbemannten“ 0 km/h bei trotzdem „vollständig gegebener Funktion“ unter fahrradi-md.han-lan.com.

Die Presse berichtet, das Objekt ist aktuell in der Ausstellung „Posterwachsen“ der Galerie Knoll in Wien bis 20. April 2021 zu sehen: www.knollgalerie.at

Maja Osojnik oder „Was ist schön?“

Zum Beispiel kaputte Klänge, akustische Unfälle und hörbare Fehler, die dann keine mehr sind: Maja Osojnik greift in die Schatzkisten aller Arten von Musik – und wildert darüber hinaus im Bereich von Literatur und bildender Kunst. Lisa Spalt mit einem Porträt über eine Generalistin, die mit allen Mitteln kommuniziert.

Nach einem Lauf durch die Wohnungen, weil bei uns beiden das Netz so schlecht ist, treffen wir zweidimensional aufeinander. Maja Osojnik, freischaffende Komponistin, Klangkünstlerin, Sängerin und frei improvisierende Musikerin, hat Kopfhörer auf. Ihre Audioausgabe funktioniert nicht, und ich habe aufgrund des Bildes auf dem Schirm den Eindruck, sie höre mich nicht. Tatsächlich bildet die Situation ab, was Osojnik über ihre Erfahrungen in den letzten Monaten erzählt. Plötzlich ging man im Pyjama näher ans Leben heran und entdeckte, wie die Venen der Arbeit das ganze Dasein komplett durchwachsen hatten. Die daraus entstandene Lähmung, das Gefühl, dass es immer schwieriger wird, neue Musik aus dem Ärmel zu schütteln, verschwand im ersten Lockdown. Euphorie. Endlich konnte frau die gewonnene Zeit wieder spielerischer mit Musik gestalten. Die Kreativität kam zurück. Dann die ersehnte Öffnung, die ersten Konzerte. Aber obwohl das Publikum da ist, sich auch begeistert, entsteht bei der Musikerin das Gefühl, dass sie für niemanden spielt. Die Zuschauendenzahlen sind quasi elitär begrenzt. Und es gibt keine Outro nach dem Konzert, keine Feiern – nur die schwer zu lesenden Mienen hinter dem Mund- und Nasenschutz.
Dabei ist Osojnik eine Person, die gewöhnlich mit allen Mitteln kommuniziert. Sie ist Generalistin, wie sie selbst sagt, wildert im Bereich von Literatur und bildender Kunst, greift in die Schatzkisten aller Arten von Musik. Lange hatte sie deswegen Angst, niemals was auch immer auf den Punkt zu bringen. Dann kam sie endlich drauf, dass alles zu tun sie einfach ausmacht. Es mussten daher neue Bezeichnungen her für das, was sie produziert. Osojnik macht zum Beispiel „Cinema vor Ears“. Aber fangen wir am Anfang an.
Die Allrounderin erlernt im slowenischen Dorf Kranj das Spiel der Blockflöte, musiziert im Barockensemble. Als Jugendliche merkt sie zwar, dass sie, wenn ihr die Holzflöte aus dem Mund hängt, nicht gerade schick rüberkommt. Aber was solls? Als Mitglied einer Band ist sie andererseits die Coolste, und so betrachtet sie die Blockflöte, die zumindest zu Beginn des Lernens ein billiges Instrument ist, mit den Augen des Punk und Punkt. Als Osojnik neunzehn ist, kommt sie, die vor allem Grunge und Hardcore hört, auf die extravagante Idee, in Wien Blockflöte zu studieren. Mit dem Instrument in der Hand reist sie kurzerhand ins Ausland, geht, ohne je mit dem Professor Kontakt aufgenommen zu haben, zur Aufnahmeprüfung, wundert sich, dass sie am Montag drauf in die erste Unterrichtsstunde kommen soll. Ja, und irgendwie verschafft sie sich eine Übergangswohnung für einen Monat, etwas Kleidung, und dann ist sie Studentin und lebt im Ausland, hat von der Landessprache keine Ahnung. Da muss ihre Entwicklung etwas schneller gehen.
Osojnik definiert ihren Erfolg heute so: Sie macht, was sie will. Schon mit neun Jahren wollte sie „irgendwas mit Musik“, wenn auch nicht klar war, was für eine das sein sollte. Sicher war damals nur: Es macht ihr Freude, kreativ zu sein, kooperativ zu arbeiten, mit anderen gemeinsam Klang zu produzieren. Alles andere hat sich dann später durch den ihr eingebauten Zufallsgenerator gefügt, der ihr gewisse Menschen und Situationen bescherte. So legte sie die Blockflöte deswegen nicht früher weg, weil ihre erste Lehrerin begeisterte Barockmusikerin war. Ja, Osojnik kam irgendwann drauf, dass das nicht ihr Instrument ist. Sie sieht sich als eher laute Person, vielleicht als Tuba. Aber immerhin hat das leise Instrument sie gelehrt, sich zurückzunehmen.
Osojniks heutige Musik ist eklektizistisch. Cut and Paste, das ist wichtig. Sie verwendet aber auch viele selbst aufgenommene Samples. Was sie sammelt? Vor allem kaputte Klänge, akustische Unfälle wie Distortions oder ungewollte Phasenverschiebungen, alle Arten hörbarer Fehler, die dann keine mehr sind. 2009 ist ihr Computer kaputt. Bandkollege Matija Schellander versucht, ein paar Aufnahmen zu retten. Dass die sich als digital zerstört herausstellen, kommt Osojnik gerade recht. Glitches sind kostbar, und immer steht hinter der Arbeit die Frage, was das eigentlich ist, das Schöne. Geraten die Hörenden da nicht manchmal an ihre Grenzen?
Es sei schade, dass so oft gedacht werde, man müsse alles sofort verstehen, findet Osojnik. Die Geschwindigkeit sei das Problem. Es gehe beim Hören aber doch darum, sich Zeit zu lassen, sich einzulassen. Musik kann, meint sie, außerdem unterschiedliche Funktionen haben, bei jeder Art von Kunst sei das doch so. Romane sind vielleicht zum Mitgerissenwerden da, experimentelle Literatur spricht einen anderen Teil der Person an, der sich auch körperlich hingeben muss, der nicht sofort alles einordnen kann. Sich einzulassen ist eine physische Erfahrung, meint sie, eine sinnliche. Und die bietet Osojnik auf der Basis von drei Herangehensweisen: Erstens collagiert sie, bildet die Collage ab, die die Welt in ihrem Kopf hinterlässt. Das erzeugt Ironie, Humor, Sarkasmus. Zweitens spielt sie mit Distanzen, stretcht Noises, die aus der Entfernung wie Blöcke wirken, sodass man sie als komprimierte Melodien erkennen kann. Drittens wird der Sound „durchleuchtet“. Was kann alles weggelassen werden, damit nur noch eine Art Skelett der Musik übrigbleibt? Was ist die Essenz?
Bei allem Experiment arbeitet Osojnik aber dann auch wieder ganz traditionell. Sie notiert. Mit Bleistift auf Papier. Schreibt allerdings – vor allem grafische – Partituren. Da kann sie die Verantwortung über die Musik mit den Musizierenden teilen. Manche Parameter führt sie genau aus, bei anderen überlässt sie die Ausgestaltung den Leuten mit den Instrumenten.
Die visuelle Erscheinung ihrer Partituren hat schließlich auch zum Grenzübertritt ins Reich des Visuellen geführt, zur Zeichnung, zu Objekten. Als Osojnik von Claudia Märzendorfer eingeladen wird, ein Vogelhaus zu entwerfen, erinnert sie sich an einen Brief, den sie seit Jahren bei jedem Umzug wieder einpackt. Er stammt von einer Freundin, die ihn an einen Mann geschrieben hat, aber nicht abschicken wollte. Osojnik sollte ihn aufbewahren. Dann starb die Freundin. Was tun? Osojnik lädt schließlich Menschen ein, ihr ebenfalls einen geheimen Brief zu überlassen. Sie mischt den ersten unter die, die sie zugeschickt bekommt, schneidet alle in Streifen und flicht daraus ein Vogelhaus. Das Schriftstück hat nun die Chance, in Gesellschaft – und irgendwie an die Öffentlichkeit adressiert – von Wind und Wetter beerdigt zu werden.
Die bei diesem Projekt erstmals eingesetzte Technik des Flechtens setzt sie heute auch beim neuesten Produkt ein, der Single „Superandome – Super Random Me“. Zwei Jahre lang hat sie in einem Copy Shop Papierstreifen gesammelt. Nun erhält jedes Exemplar ein individuelles, geflochtenes Cover. Auf dem Tonträger festgehalten ist eine gemeinsam mit Matija Schellander erzeugte Collage aus dem in Zusammenarbeit mit Natascha Gangl entwickelten Klangcomic zu deren Buch „Wendy fährt nach Mexico“. Ja, meint Osojnik, das Projekt hat wohl zur Gründung des langsamsten Labels der Welt geführt. Immerhin musste Natascha Gangl erst einmal ein Buch schreiben, die Band mit ihr dann drei Performance-Programme ausarbeiten, daraus entstand dann eben kein Hörstück, sondern das Produkt „WENDY PFERD TOD MEXICO“ fürs Kunstradio, das 2018 den ersten Preis beim 9. Berliner Hörspielfestival gewann. Schließlich kam die Idee auf, den Klangcomic, in dem Laute zu Ausdrücken wurden und umgekehrt, in ein handfestes Objekt zu verwandeln. Das Label „MAMKA Records“ (Mamka = slowenisch für Oma) wurde gegründet.
Mit Matija Schellander arbeitet Osojnik übrigens bereits seit 2002. Zunächst im „Low Frequency Orchestra“, bei dem auch noch Angélica Castelló, Thomas Grill, kurz Herwig Neugebauer und Mathias Koch mitwirkten. Dann wurde die Rote Rakete – Rdeca Raketa – gegründet. Die Formation – ein elektroakustisches Duo, das sich ständig weiterentwickelt, – besteht jetzt seit 2008. Mit Schellander zu spielen, sagt Osojnik, ist inzwischen, als hätte man einen gemeinsamen Körper. Und dieser Körper ist ein politischer. Aber politisch ist Osojnik auch von allein. Da gibt es die Blaskapelle, die, anstatt öffentlich zu protzen, erst einmal unsichtbar auftritt und dann erratisch choreografiert wird. Das Stück „Die Wende“ wiederum nimmt Bezug auf die Ratschen, die im I. Weltkrieg verwendet wurden, um vor Gasangriffen zu warnen. Die Holzteile der Instrumente werden bei Osojnik durch Gummi ersetzt. Die Dystopie ist wahr geworden, wenn kein Warnen mehr möglich ist. In ihrem ersten Solo-Album „LET THEM GROW“ von 2016 geht es daher folgerichtig einfach um alles: um die seltsamen Verirrungen des Zwischenmenschlichen in unserer Zeit, die Entfremdung zwischen Individuum und Welt, um die Frage nach einer zeitgemäßen Definition von Emanzipation … Es geht um die Scherben innen und außen. Können sie im ultimativen Song zu einem klingenden Mosaik verbunden werden? Der Pressetext beschreibt das Album als „dreckig, sanft, lustvoll, verstört, komplex, kalt, sphärisch, schneidend und feminin“. Da ist alles drin. Hören! 

Maja Osojnik
maja.klingt.org

Neue Single SUPERANDOME – SUPER RANDOM ME
maja.klingt.org/news
mamka.klingt.org
mamka.bandcamp.com

 

Die Commune wird ihre Aufgaben erfüllen.

Die Referentin bringt seit mehreren Ausgaben eine Serie über frühe Anarchist_innen und frühe soziale und politische Bewegungen, die im Zeichen von kämpferischer Befreiung standen. Zur Communardin und Anarchistin Louise Michel und die Pariser Commune von 1871 ist ein Roman von Eva Geber erschienen. Darüber berichtet Andreas Gautsch.

„Im Namen des Volkes: Die Commune ist proklamiert.“ Es gab keinen Diskurs, kein Gegenwort, nur der Ruf: „Es lebe die Commune“ schallte über den Platz. Die Feier schloss mit den Worten: „Die Commune wird ihre Aufgaben erfüllen.“
So schildert Eva Geber in ihrem Roman den historischen 28. März 1871. Zehn Tage zuvor hatte sich die Bevölkerung von Paris erhoben, um ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Eine der berühmtesten Communard*innen war die Revolutionärin Louise Michel. Heute noch gibt es in Frankreich dutzende Plätze und Straßen, die ihren Namen tragen. Hierzulande ist sie weniger bekannt, vielleicht unter politisch und historisch Interessierten oder im überschaubaren Kreis von Anarchist*innen. 2018 erschien nicht nur Eva Gebers Roman über eine der wohl außergewöhnlichsten Persönlichkeiten der Geschichte, sondern sie hat in einem kleinen Begleitband Artikel und Reden von Louise Michel übersetzt und diese somit, nach mehr als 100 Jahren, erstmals einem deutschsprachigen Publikum zugänglich gemacht. Beide Bücher sind im libertären Wiener Verlag bahoe books erschienen.

Der Werdegang einer Revolutionärin
Der Roman erzählt Michels Geschichte detailreich. Geschickt eingewoben sind Verweise sowie Zitate aus ihren Tagebüchern, Artikeln und Gedichten. Er ist wie ein langer Monolog, in dem die Protagonistin als alte Frau, im Lehnstuhl sitzend, umgeben von ihren Katzen, die Ereignisse Revue passieren lässt. Ganz nah an der Erzählfigur wird man mitten ins Geschehen geführt und eine andere Welt eröffnet sich.
Am 18. Mai 1830, im kleinen Ort Vroncourt, in der heutigen Region Grand Est, wurde Louise Michel geboren. Sie war das uneheliche Kind von der Dienstmagd Marie-Anne Michel und dem Sohn des Schlossherrn. Zur Mutter hatte sie Zeit ihres Lebens ein inniges Verhältnis. Der Vater erkannte das Kind zwar nicht an, dessen Eltern jedoch nahmen sich ihrer an und erzogen die Enkelin im Geiste der Aufklärung. „Voltaire, Rousseau und katholischer Mystizismus – was für eine verwirrende, reiche und die Phantasie bestürmende Welt, aus der sich mein Wunsch nach Gestaltung, Veränderung, Revolution entwickelte, der ebenso zu fanatischem Eifer führte, wie es bei der Avantgarde nicht anders sein kann.“
So wurde aus dem aufgeweckten Mädchen, das als Jugendliche in Briefkontakt zu Victor Hugo trat (woraus sich eine lebenslange Freundschaft entwickelte), schließlich eine ausgebildete Lehrerin, die nach Paris ging und 1853 ihre erste Freie Schule eröffnete. Da sie das Schulgeld sehr niedrig ansetzte, konnte sie selbst kaum davon leben. Daneben gab sie mit Kolleginnen Kurse für Frauen, Mütter und junge Menschen im Sinne eines kritischen Geistes sowie einer grundlegenden Rechtskunde und engagierte sich gegen das autoritäre Regime von Napoleon III. Für Michel bedeutete dies auch eine erste nähere Bekanntschaft mit Polizei und Gericht. Aber die Samen proletarischer und republikanischer Bewegungen waren schon gekeimt.

Aufstieg und Fall der Pariser Commune
1870 zettelte Napoleon III. einen Krieg mit Deutschland an, verlor diesen und musste abdanken. Die 3. Republik wurde ausgerufen und es kam zu Wahlen. Die Armee von Kaiser Wilhelm I. stand aber nun vor Paris, und während die neue monarchistisch-konservative Regierung die Kapitulation ausverhandelte, erhob sich die republikanisch gesinnte Bevölkerung von Paris und rief die Commune aus. Die Regierung floh mit regierungstreuen Generälen und ihren Truppen nach Versailles. „Die radikalsten Kräfte forderten den sofortigen Marsch auf Versailles, er wurde dann aber nicht unternommen. Das Streben nach vollständiger Autonomie der Stadt überwog den Wunsch nach einer politischen Revolution in ganz Frankreich. Da die Versailler ja besiegt waren, folgten wir ihnen nicht. Das war der große Fehler.“
Eva Geber lässt die Ereignisse und Stimmung in der Stadt einprägsam wieder auferstehen und die Leser*innen an der in die Commune gesetzten Hoffnung teilhaben. „Wir sprachen über das Ende des Privateigentums ebenso wie über die Notwendigkeit, Heizmaterial aufzutreiben. Es ging um eine neue Form der Frauenarbeit und das Ende der ökonomischen Kluft. Dazu kam der Kampf auf den Barrikaden, Sandsäcke füllen, Organisation der Ambulanzen und der Suppenküchen.“ So viel gab es zu tun. Es ging auch um eine Veränderung des Schulwesens, es sollte öffentlich, obligatorisch und kostenlos sein und frei von religiösen Symbolen. Selbst 150 Jahre später ist in dieser Hinsicht die Pariser Commune unserem gegenwärtigen Bildungssystem voraus. In einem Appell im Pariser „Journal officiel“ vom 11. April forderten die Communard*innen grundlegend andere Produktionsverhältnisse:
„‚Wir wollen die Arbeit, aber das Produkt muss uns gehören, Schluss mit Ausbeutern und Herrn. Arbeit und gutes Leben für alle‘.“

Am 3. April zogen Louise Michel und andere Frauen mit dem 61. Bataillon schließlich nach Versailles, um die Regierung zu bezwingen. Der Versuch scheiterte. Ein Monat später fielen die Regierungstruppen mit Hilfe preußischer Artillerie in Paris ein. Barrikade für Barrikade wurde eingenommen. Louise Michel verteidigte mit ihrem Frauenbataillon eine der letzten in Place Blanche. Das Massaker der Regierungstruppen, bei dem 35.000 Menschen getötet wurden, ging als „blutige Maiwoche“ in die Geschichtsbücher ein. Anschließend kam es laufend zu Verhaftungen und Hinrichtungen. „Im diesem blutigen Mai und Juni starben die Schwalben von Paris, vergiftet von den Fliegen, die sich von den Leichen ernährten.“ In dieser Zeit der Kämpfe und Hinrichtungen dichtete Eugène Pottier den Text der Internationale „Völker hört die Signale!“

In der Verbannung in Neukaledonien
Louise Michel wurde ebenfalls verhaftet und mit anderen Communard*innen auf die Insel Neukaledonien verbannt. Auf dieser Überfahrt im September 1873, eingepfercht in einem Käfig, wurde Michel zur Anarchistin. Eva Geber lässt sie im Roman folgende Beobachtung über die korrumpierende Macht sprechen: „Jeder, der an die Macht gekommen war, wurde zum Verbrecher. Vor allem wenn er charakterschwach und gierig war. Das halte ich für die Regel.“ Diese Regel hat wohl immer noch ihre Gültigkeit, müsste jedoch damit ergänzt werden, dass vor allem ein opportunistisches Verhalten zur Macht führt.
Das Leben auf der Insel machte Michel wenig zu schaffen, sie fand viele neue Betätigungsfelder. Eines davon war die Niederschrift der Legenden, die ihr die Kanaken, so die Selbstbezeichnung der Einheimischen („Kanak“ bedeutet Mensch), erzählten. Einen Auszug davon hat Eva Geber übersetzt und in der von ihr herausgegebenen Textsammlung veröffentlicht.
Im Juli 1880 erfolgte die Amnestierung der Verbannten. „Aber später wollte ich zurückkehren, mein Versprechen einlösen, eine wunderbare Schule errichten, überdies selbst die Indigenen studieren, die Pflanzen, die Tierwelt und die wilde Landschaft genießen. Und die Zyklone. Eine Wilde unter Wilden. So antwortete ich aus voller Überzeugung: ‚Ich werde wiederkommen.‘“

Die Agitatorin
Wieder in Paris stürzte sich Louise Michel in politische Aktivitäten, die sich nun um eine antikoloniale Perspektive erweitert hatten. „Wie können wir für Gleichheit eintreten und diese Frage nicht mitdenken? Ich denke an die Kanak und an die Araber – gleichzeitig mit der Commune hatten die Algerier ihren Freiheitskampf begonnen. Ein großes Versäumnis der Commune war gewesen, dass wir keine Solidarität mit den Aufständischen geäußert hatten. Und wir waren auch nicht beschämt, dass Algerier uns ihre Solidarität mit der Commune versichert hatten.“
Am 9. März 1883 nahm sie an einer Demonstration von 15.000 Arbeitslosen teil, bei der es zu Polizeiübergriffen und Plünderungen kam. Michel kam vor Gericht und bewies dort ihre Schlagfertigkeit und Sympathie für Diplomatie. „Der Richter fragte mich, ob ich an allen Kundgebungen teilnähme? Ich antwortete: ‚An allen Demonstrationen der Elenden.‘ Dann wollte er wissen, welches Ereignis ich mir von besagter Demonstration erhofft hatte. Ich sagte, dass nie eine friedliche Demonstration zu einem Ergebnis führe, aber die Hoffnung bleibe.“

Das Ergebnis waren 6 Jahre Haft und 10 Jahre Polizeiaufsicht. Nach drei Jahren kam die Begnadigung und sie setzte ihre Agitationstätigkeit, zum Missfallen vieler, fort. Ein geistig verwirrter Mann verübte 1888 nach einem Vortrag ein Attentat auf sie. Eine Kugel traf sie an der Schläfe, eine blieb im Hutfutter stecken. Gegenüber dem Richter stellte sie anteilnehmend fest: „‚Der Mann braucht eher einen Arzt als einen Richter‘“. Der Attentäter wurde schließlich freigelassen. Zu den aufkommenden Attentaten, die in den 1890er Jahren von Anarchist*innen verübt wurden, nahm Michel in einem Interview Stellung. Ihr wären andere Methoden lieber, meinte sie, „zum Beispiel Tyrannenmorde, aber wir leben in dieser revolutionären Zeit.“
Michels Biographie ist vollgespickt mit Ereignissen, die ihrem unermüdlichen Eintreten für Gleichheit und Gerechtigkeit geschuldet sind. Diese Energie ist mitunter ansteckend. Doch auch das Herz einer Unermüdlichen verliert an Kraft. Trotz Erkrankungen und Erschöpfung reiste Louis Michel zwar von Vortrag zu Vortrag quer durch Frankreich. Aber sie war bereits gezeichnet. Ihre letzte Vortragsreise, auf die sie sich mit ihrer langjährigen Gefährtin Charlotte Vauvelle begab, führte sie 1904 durch Algerien. Am 9. Jänner 1905 starb sie auf ihrer Rückreise in Marseille. Auf ihrem letzten Weg auf den Pariser Friedhof Levallois-Perret wurde sie von 100.000 Menschen begleitet.
Eva Gebers biographischer Roman bietet eine gute Gelegenheit, sich mit Louise Michel, aber auch mit der Vergangenheit und der Gegenwart auseinanderzusetzen. Der Ruf, der vor 150 Jahren in Paris erschallte, klingt weiterhin nach. Denn die Aufgabe der Commune – die Befreiung von Herrschaft und der Macht des Kapitals – ist bis heute unerfüllt.

 

Literatur:
Eva Geber: Die Anarchistin und die Menschenfresser, bahoe books, 2019 (2. Auflage)
Eva Geber (Hg.): Louise Michel. Texte und Reden. bahoe books, 2019

 

Die Serie in der Referentin ist auf Anregung von Andreas Gautsch bzw. der Gruppe Anarchismusforschung entstanden.

STWST 2021 Sounds Like Anti-Anthropozän STILL More vs Less Sound in der STWST Konzerte für Niemanden – Konzerte für Jemanden

Im März werden 2 Abende im STWST-Saal unter völligem Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden. Wenn schon nicht anders möglich, dann wird die Essenz von Kultur und Kunst gleich radikal anders gedacht: Das Wichtigste ist, dass die Dinge passieren. Das heißt: Die STWST beschwört MusikerInnen, Bands, Soundartists, TechnikerInnen und den Sound, Haus, Mischpult und Lichtanlage, die On- und Off-Schalter, Stromkreise und die Discokugel an der Decke, das verschüttete Bier am Boden sowie den Putz an den Wänden, sprich: Es werden feierlich alle menschlichen und nicht-menschlichen Teile des Systems Sound angeworfen, um mit exqisiten Sound-Artists im Haus für NIEMANDEN und gleichzeitig fürs ganze Universum zu spielen.

Einen der beiden Abend werden Maja Osojnik und Peter Kutin gestalten: 17. März 2021 Be square, DON’T be there!

Vier Konzertabende im Mai sind aber dann doch für JEMANDEN und im Doppelmodus geplant: Die Konzerte werden als Live-Stream, bzw Concert-On-Demand zum Nachsehen bereitgestellt. UND: Falls möglich, auch mit Publikum!

Mehr unter: club.stwst.at

Das Professionelle Publikum

Diesmal stellen Renate Billensteiner, Fatima El Kosht, Andrea Ettinger, Rebekka Hochreiter, Anna Maria Loffredo, Renate Silberer, johannessteininger m.a. m a., ihre persönlichen Kunst- und Kulturtipps für die kommenden On/Off-Wochen vor. Watch out!

Renate Billensteiner
lebt und arbeitet in Linz. Fotografisch arbeitet sie an konkreten Darstellungen von Zuständen oder konstruierten Realitäten und an dem Versuch, diese der Sachlichkeit unterzuordnen.

PORTRAET
ÜberganG

Fatima El Kosht
(AR/EGY) studierte Bühnenbild in Buenos Aires, wo sie auch an zahlreichen musikalischen Projekten als Instrumentalistin und Sängerin teilnahm. 2005 emigrierte sie nach Linz. Nach ihrem Kompositions-Studium an der Bruckneruniversität Linz widmete sie sich verstärkt der Medienkunst und digitaler Dokumentation. Begleitend zum Studium der Zeitbasierten Medien an der Kunstuniversität Linz ist sie aktiv im Rahmen von Projekten im Bereich experimentelle Klanggestaltung, darstellende Kunst und elektroakustische Improvisation. Derzeit arbeitet sie an einer Video- und Klanginstallation zum Thema „Rekonstruktion von Welten“, eine Ausstellung, in der sie mit Foto-, Video- & Soundbeiträgen eine Zusammenfassung ihres bisherigen künstlerischen Werks schafft. In einem offenen Dialog zwischen auditiven und visuellen Elementen beleuchtet Fatima El Kosht mit Textfragmenten den entwurzelten Zustand im Niemandsland zwischen Kultur, Gesellschaft und Identität. Aktueller Beitrag zum Projekt „Travel Your Mind“ 2021: www.dorftv.at/video/35140

The Place of the Mind. Roger Ballen – Retrospektive
Next Comic Festival 2021

© honigkuchenpferd

Andrea Ettinger
ist Linzer Grafikdesignerin mit Mühlviertler Wurzeln. Als *honigkuchenpferd* gestaltet sie Gedrucktes wie Digitales in den Bereichen Kultur, Gemeinnütziges, Menschenrechte sowie Conscious Local Brands. Infos: www.honigkuchenpferd.net

The Trouble with Being Born
„My Ugly Clementine“

 

© Jakob Gsöllpointner

Rebekka Hochreiter
ist bildende Künstlerin, seit 2017 Co-Kuratorin der Kunsthalle Linz und Stv. Geschäftsführerin bei FIFTITU%.

Szene Panorama 2021
Tricky Woman/ Tricky Realities 2021

 

Anna Maria Loffredo
ist seit 2015 Professorin für Fachdidaktik Kunst im Lehramt an der Kunstuniversität Linz. Infos: www.blog.kunstdidaktik.com

Residency „Es wird keine Bilder mehr geben!“
Grenzen öffnen – Werte prüfen

Renate Silberer
lebt als freie Autorin in Linz. Sie schreibt Lyrik und Prosa.

Buchvorstellungen Silberer/Stähr
Ausstellung „Portraet“

 

johannes­steininger
m.a. m a ist ein aufstrebender oberösterreichischer Künstler, der seine einzigartigen räsonierenden Luft-Wand-Skulpturen im Inland sowie international ausgestellt hat. www.johannessteininger.at

PLASTICS-FABRICATION JOHANNES STEININGER | JELENA MICIC
BIRGIT ZINNER Lipsis und Limnis

Tipps von Die Referentin

 

Elisabeth Harnik „Earscratcher“
Bunte Steine – was bleibt

 

Editorial

Keine Corona-Tagebücher mehr, keine Balkonkonzerte – der zweite Lockdown ist ja doch nicht nur schlecht. Aber im Ernst: Vor und hinter den Kulissen hat sich Ernüchterung breitgemacht. Wir machen ja eh weiter, aber im Untergrund formieren sich die Dinge in einer unglaublichen Gemengelage von Krisen neu – irgendwo zwischen einem guten radikal Neuen, das wir noch nicht kennen können und einem schlechten radikal Neuen, das wir hoffentlich nicht näher kennenlernen werden (frei nach Gramsci: Wir wissen noch nicht, welches Balg da noch nicht geboren werden kann, wir hoffen aber das Beste). Vielleicht fragt sich jetzt so manche Leserin, so mancher Leser: Muss man denn überhaupt von „gut“ und „schlecht“ reden, muss es denn immer gleich „radikal“ sein? Tja, einerseits gab und gibt es schon Vorgeschmäcker und Tatsachen, Stichwort diverse todesgetriebene Gesellschaftsordnungen, die man radikal ablehnen muss, andererseits zerrinnt uns derzeit die Natur und die Umwelt quasi zwischen den Fingern; jenseits jeder Conspiracy und jedes Pathos. Sprich, diese und noch mehr Realitäten stellen sich derzeit durchaus radikal und noch schlimmer: existenzbedrohend dar. Andererseits, stimmt schon, ja … zumindest scheint man mit herkömmlichen Radikalreflexen und den üblichen schnellen Antworten nicht weiterzukommen, weniger denn je. Selbst Herbert Kickl, Chef-Charismatiker des superrechten Kleinhäusler-Agitprop-Jargons schlechthin, jammert nur mehr dahin, so weinerlich, als ob er irgendwo am Weg sein Mojo verloren hätte. Das fällt schon auf. Mindestens eine tiefe Skepsis durchzieht jedenfalls die Entwicklungen, während sich die meisten ins Notwendige fügen. Schlimm genug.

Zum Heft: Barbara Eder analysiert einen Digitalisierungs-Diskurs ausgehend vom neuen Kunstuni-Studiengang „Critical Data“, und die wohlfeil kalkulierten Interessen von Politik, Wirtschaft und Industrie rund ums neue digitale Gold. Ingo Leindecker kritisiert aus der Warte der Freien Medien das enorme Missbrauchspotential, das mit den neuen, an sich wichtigen Hass-im-Netz-Regulierungsgesetzen einherzugehen vermag. Aus diesem Zusammenhang stammt übrigens der am Titel zitierte Begriff des „Overblockings“. Eine international angelegte Geschichte von Kunststreiks thematisiert die Publikation von Sofia Bempeza, die Vanessa Graf gelesen hat. Lokalen historischen BürgerInnenprotest in Lambach hingegen hat Silvana Steinbacher anhand des ebenfalls neu erschienenen Buches von Marina Wetzlmaier und Thomas Rammerstorfer ins Visier genommen. Was alles im Heft sonst noch zu finden ist: Minimalismus, Anarchismus, Musik, Literatur, bitte sich hier selbst ein Bild machen. Die Redaktion kann jeden einzelnen Beitrag empfehlen. Hier an dieser Stelle aber noch eine besondere Empfehlung für die Ausstellung Amor Vincit Omnia – das am Cover abgebildete Feminist Until Death stammt aus der Reihe No-Polit Poster von Linda Bilda, der die Retrospektive im Lentos gewidmet ist.

Kleines Detail: Interessant ist, dass beim Professionellen Publikum die Kunstuni-Ausstellung „Best off“ drei Mal getippt wurde. Die Redaktion vertraut aufs freie Spiel der angefragten professionellen Kräfte. Deshalb auch von dieser Seite, ganz im Sinne dessen, dass das Starke noch populärer gemacht werden soll, von Redaktionsseite ungeschaut hier Empfehlung Nummer 4: Unbedingt hingehen!

Und finally: Wir freuen uns sehr, einen Auszug aus Lisa Spalts kontradiktorisch dirigiertem Siegerinnen-Text der Floriana abdrucken zu können. Und beschließen das Editorial mit einer Textstelle aus Die grüne Hydra:
Tatsächlich dachte ich schon seit Längerem, man lasse uns leben. Ich meine: Man ließ uns leben, wie man uns früher arbeiten hatte lassen.

In dem Sinne: Leben Sie weiter.
Ihre Referentinnen, Tanja Brandmayr und Olivia Schütz

www.diereferentin.at

Träumen Waren von Geld?

Zwischen Comics, Malerei, Manifest und einem ausufernden Gesamtwerk der früh verstorbenen Künstlerin Linda Bilda stellt sich die Frage: Kunst als Ware oder doch umgekehrt? Linda Bildas Bildgalaxie hinterfragt den Kapitalismus mit geschickten Kniffen. Die fertige Retrospektive Amor vincit omnia im Lentos durfte Comic- und Popkulturfachwerker Christian Wellmann bereits während des Lockdowns beschnuppern. Mit diesem Vorgeschmack kann die Ausstellung bald besucht werden.

Im Aschehaufen, in dem Kultur mittlerweile vollends unterzugehen droht, wartet geduldig ein bereits fix und fertig installierter Vulkan darauf, endlich auszubrechen. Aber auch für Vulkane gilt bekanntlich ein Ausbrechverbot. Eine mit dir und deinen Sinnen spielende Zur-Schau-Stellung einer alternativen Kunstwelt harrt geduldig im Finsteren darauf, endlich von Schaulustigen begutachtet zu werden. Eine Märchenwelt des ganz normalen neoliberalen Wahnsinns, mit Auswirkungen auf Marginalisierte. Darin ist alles ein Manifest.
Sobald die Museenlandschaft wieder ihre automatischen Glasschiebetüren öffnet, sollte ein ausgehungertes Publikum die äußerst bereichernde Amor vincit omnia-Ausstellung Linda Bildas im Linzer Kunstmuseum Lentos fix am Radar haben. Die Referentin durfte bereits vorab in den Lentos-Keller hinabsteigen, dorthin, wo nun vorzugsweise das subkulturelle Angebot des Hauses kredenzt wird. Dankenswerterweise nicht als prekäre Nischenrandexistenz, der Raum im Untergeschoss eignet sich für dieses, ähem, Subkulturelle vorzüglich, u. a. war das auch 2017 so bei der Turnton-Show von Time’s Up.  

Überraschend verstarb Linda Bilda im Sommer 2019. Nun wird die Wiener Künstlerin mit einer ersten Retrospektive gebührend gewürdigt. Die Ausstellung und der dazu erschienene Katalog präsentieren einen überbordenden Einblick in die schillernden Arbeiten einer faszinierenden Künstlerin. Eine tabubrechende Allrounderin, die in mehreren Kunstgattungen zugegen ist, stets nach neuen Formen der Gestaltung suchend. Ein unerschrockener Geist, der mehr in anarchistischen Zirkeln zu verorten ist, denn in der Kunstwelt. Ihr poetisch-politischer Pop ist Richtung Zukunft gewandt, und zeigt – mit dem Ausstellungstext gesprochen – fürwahr „emanzipatorische Bildpolitik“, durch die sich feministische Kapitalismuskritik als roter Faden zieht. Schonungslos und angriffslustig, sinnliche und politische Wahrnehmung vereinend. Was sie produzierte, formte sich organisch und ganz selbstverständlich stets zum Nächsten – beginnend mit Malerei, Lese- und Diskussionszirkeln, Aktionen im öffentlichen Raum, Zeitschriften, Manifesten, Comix bis hin zu einem von ihr entwickelten Leuchtglas. Alle diese Aspekte ihres Schaffens, die sie oft miteinander verknüpfte, sind in der Amor vincit omnia-Schau allgegenwärtig.
Bilda beschäftigte sich damit, was neoliberale Ökonomien, Arbeit, Waren, Geldflüsse oder Geschlechterverhältnisse miteinander zu tun haben und kritisierte den Kapitalismus bei jeder Gelegenheit. Slogans und Manifeste lassen Buchstaben in ihrem bildnerischen Universum förmlich brennen. Die Aufhebung der Kunst, hineintransformiert in das tägliche Leben und von der Situationistischen Internationale übernommen, sollte ab den 1980er-Jahren ihr künstlerisches Schaffen prägen. Spezielle Beachtung verdient das von ihr erfundene, patentierte und mit zahlreichen internationalen Preisen überhäufte LightGlass, mit dem Motive auf (farbiges) Acrylglas übertragen werden, um mittels Laserschnitt ausgeschnitten und als Intarsien in Glasplatten eingelegt zu werden: Es findet sich in neueren Werken, Glasbildern oder zig öffentlichen Arbeiten.  

Betritt man den ersten Bereich der Ausstellung, befindet man sich inmitten einer Installation, wo dieses patentierte LightGlass mit verblüffenden Lichteffekten ein wahres Raumerlebnis herbeizaubert. Die dreidimensionale, mit Tisch und Stühlen gefertigte Installation Die Goldene Welt lässt farbige Schatten zum Comic werden, der im Raum gelesen wird. Wie an Höhlenwänden, hier als Update für die digitale Konsumgesellschaft. Hinterglas-Malerei goes crazy. In der Goldenen Welt geht es um sehr viel Mammon – ein Vermögen von einer Milliarde Dollar wird FreundInnen mit der Auflage hinterlassen: Der oder die wird es bekommen, die innerhalb eines Jahres den meisten Profit daraus machen wird. Ein Spiel mit sieben Personen, inkl. Gevatter Tod, das zum Mitspielen einlädt. Dieses moderne Märchen ist Chronik und Beschreibung unserer Zeit, in der Ökonomie, Widersprüche, Entwicklungsmöglichkeiten und Destruktivität aufgezeigt werden: Die Welt des strahlenden Geldes und die Welt des Scheins. Inwieweit ist die Wirtschaft die Realität der Welt? Die Goldene Welt basiert auf einem (Print-)Comix und kann auch via interaktiver Webpage weiter erkundet werden1. Im Ausstellungsraum: Eine architektonische Form und kathedralenartige Bögen an der Wand geben der Skulptur den Rahmen. Flankiert wird dies alles von ungewissen Schatten werfenden Plexiglas-Skulpturen, wie Der apokalyptische Reiter, der einen argentinischen Polizisten darstellt. Eine Kakerlake, ebenfalls zur Ordnungsmacht entfremdet, wird zur ironischen Mutation – zum wabernden, angstverbreitenden Schattenspiel. Diese deformierten Boten der Hölle hinterlassen eine sich multiplizierende, schwer irritierende Lichtstimmung im Raum. Autorität und was dahintersteht. Dieses „Ensemble“ wurde nach einer Ausstellung Bildas im Salzburger Kunstverein (2009) rekonstruiert.
Im zweiten Raum zeugen u. a. Comix-Originale auf Transparentpapier, Covers und diverse Materialien des von ihr gegründeten Kunstfanzines ARTFAN, Malereien oder Caro Diario, ein aus Leinwänden gefertigtes Buch, von der Vielfältigkeit und Aktualität ihres Werks. Dazu kommt die besonders hervorzuhebende Serie Digital Questions, eine neuere Arbeit von 2018, die Schwarz-Weiß-Grau-Illustrationen mit LED-Licht-Einsätzen verwendet und den Gebrauch von Handys sehr sarkastisch „beleuchtet“. Das Handy als Ersatzorgan, das den Menschen bereits übernommen hat. Dazu läuft dezent im Hintergrund ein Film-Loop, der eine Aktion Bildas und ihrer Mitstreiterin Arianne Müller zeigt. Ihre Persönlichkeit wird faktisch im Raum präsent, und gibt dir das Gefühl, dass dich Linda Bilda irgendwie durch diese Ausstellung führt. Fast schon wie ein Hologramm …  

Der zur Lentos-Schau erschienene Katalog gönnt uns ein umfassendes Bild ihrer mannigfachen Aktivitäten, so heißt es passend auch im Vorwort: „Das Interesse dieser Publikation ist nicht, Linda Bilda als individuelle Künstlerin für einen Kunstmarkt posthum zu etablieren, sondern die Vielfalt ihrer Aktionsmöglichkeiten mit einer Vielzahl von Texten punktuell zu beleuchten und zu würdigen.“2 Was auch wirklich bestmöglich gelungen ist, es handelt sich um eine augenöffnende Publikation, die mit viel Liebe und Herzblut zusammenmontiert wurde. Das findet man in dieser Form nicht so oft, hierzulande. In dieser Monografie wird dann, auch durch etliche bissfest auf den Punkt verfasste Beiträge sowie durch ausführlichstes Bildmaterial tatsächlich das extrem breite Feld transparent gemacht, das Bilda sozusagen händisch beackert hat.
Seit 1987 schuf sie auch Comics. Korrekter Comix, also Underground-Comix, der Riot-Grrrl-, Free Tek- oder Hard­core (Punk)-Szene mit Sympathie zugewandt. Comix als logischer Weg, der ihre Ansätze perfekt verbindet: Malerei, Manifeste, Politik, Agitprop – in Zeichnung und Wort vereint, Amen. Ihre poetische Leichtigkeit, trotz „schwer verdaulicher“ Themen, beatmet die Bildfolgen mit utopischer Luft, trotzdem auch Optimismus versprühend. Damit ist sie in den Kanon bahnbrechender österreichischer Comiczeichnerinnen, wie Ulli Lust, Edda Strobl, Sibylle Vogel oder neuerdings Nina Buchner, einzureihen. Bildas Stil kommt hier sehr 1970er-mäßig rüber, aber mehr Angela Davis als Janis Joplin. Guido Crepax’ Ästhetik ist da auch nicht weit entfernt. „Da mir die Gesellschaft, die ihre Mitglieder ungleich behandelt, widerstrebt, unterstütze ich alle Ziele der Frauenbewegung und auch Projekte darin. Mir schien Comics ein adäquates Mittel, da oft Klagen über die Ernsthaftigkeit der Diskussionen von verschiedener Seite kamen“3, so Linda Bilda. Zu ihren Comix-Serien gehören NO Politcomics4, als Propaganda für eine fortschrittlichere Gesellschaftsform, Keep It Real5 oder Die Goldene Welt, die ja auch in der Ausstellung zu erfahren ist. Macht, Gewalt, Staat, Demokratie, Anarchie, Widerstand und Sabotage sind wiederkehrende Begriffe in ihren sequentiellen Erzählungen. Der Illusionscharakter der kapitalistischen Ökonomie gehört zu den Grundeinsichten, die LeserInnen und Publikum mittels visueller Denkprozesse vermittelt werden sollen, wie sie im Manifest für emanzipatorische Bildproduktion forderte. Neben diesen Comix veröffentliche sie auch die Zeitschrift Die weiße Blatt (sic!), die sich mit Kunst, Politik und feministischer Kritik beschäftigte. Wie man sieht, ist ihrem ausufernden Produktionsradius nur schwer beizukommen, vor allem in einem kurzen Teaser-Textchen wie diesem, aber Katalog und Ausstellung drehen den Kopf gekonnt in die richtige Richtung. Unbedingt nicht versäumen das.

 

1 www.thegoldenworld.com
2 Katalog Linda Bilda: Amor vincit omnia. Hg. ARTCLUB Wien, C. Schäfer u. H. Schmutz, Verlag für moderne Kunst, Wien, 2020. Vorwort von Hemma Schmutz, Seite 7.
3 Interview mit Linda Bilda: www.grrrlzines.net/interviews/nocomics.htm
4 Eigenverlag, erhältlich bei www.pictopia.at
5 Text- und Comicsammlung, Salzburger Kunstverein, 2009

LINDA BILDA. Amor Vincit Omnia
Viel zu jung und überraschend starb Linda Bilda im Sommer 2019. Das Lentos zeigt eine erste Retrospektive der Wiener Künstlerin. Bilda (geb. 1963) intervenierte bereits früh mit unerschrockenen Aktionen im öffentlichen Raum, gründete mehrere Zeitschriften, produzierte Comics und anmaßende Malereien, organisierte Lese- und Diskussions-Zirkel, schrieb Manifeste, erfand neue Bildtechniken für den öffentlichen Raum und hielt als Erfinderin internationale Patente für ein von ihr entwickeltes Leuchtglas. Ihre Arbeit ringt um eine „emanzipatorische Bildpolitik“.

Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen: Linda Bilda: Amor vincit omnia. Hg. ARTCLUB Wien, C. Schäfer u. H. Schmutz, Verlag für moderne Kunst, Wien, 2020.

Aktuelle Öffnungszeiten und mehr Infos: www.lentos.at

Malen nach Zahlen

Seit 1. Oktober dieses Jahres gibt es die erste und einzige Professur für Critical Data an der Kunstuniversität Linz. Eine genuin interdiszipli­näre Definition des Gegenstandsbereichs scheint dabei ebenso zu fehlen wie eine Open-Source-Strategie – analysiert Barbara Eder. Sie hat außerdem einen größeren Blick auf die Zusammenhänge von Industrie und IT im Land geworfen, und darauf, was im Digitalisierungsdiskurs derzeit alles schief läuft.

Malen nach Zahlen zwischen: 1 = Digitalisierungshimmelblau und 4 = Wirtschaftsstandortschwarz

„Hacker sind wie Künstler: Wenn sie mor­gens gut drauf sind, stehen sie auf und ma­len ein Bild“ – so beantwortete Wladimir Putin beim Sankt Petersburger Wirtschafts­forum im Juni 2017 die Frage des DPA-Journalisten Peter Kropsch nach dem mög­lichen Einfluss russischer Hacker auf den deutschen Bundestagswahlkampf. Der gedachte Vergleich scheint mit Blick auf die aktuelle Stellenpolitik an österreichischen Universitäten nicht allzu abwegig: Mit einer „Visual Culture Unit“, angesiedelt am „Institute für Art and Design“, bemüht die TU Wien sich seit 2014 um die Erweiterung ihrer technischen Studiengänge, unter dem Etikett „Künstlerische Forschung“ präsentierte die Wiener Universität für Angewandte Kunst einige Jahre später eine „Open Hardware Summit“ mit angeschlossenem „Hacker-Space“ und die Universität für künstlerische und industrielle Gestaltung Linz (UFG) springt derzeit mit einer neuen Professur für Critical Data auf den Zug der Zeit auf. Am Güterbahnhof „MINT“ – sprich: Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik – gibt es viel Fördergeld zu holen, weshalb die Beteiligung am Wettrennen auch für Kunstuniversitäten lukrativ ist. Was genau gemeint ist, wenn deren Exponent_innen von „künstlerisch-wissen­schaftlicher Aufarbeitung mit internationaler Beteiligung“ sprechen und was es zu bedeuten hat, wenn dieses ambitionierte Unternehmen in kritischer Absicht betrieben werden soll, ist jedoch nicht immer transparent.

Digitalisierung ist nicht einfach nur nichts Neues – die Telefonie ist etwa seit Mitte der Neunziger Jahre digital –, sondern auch ein Phänomen, dessen soziale Effekte oft und falsch einschätzt werden. Demgemäß ist in aktuellen Calls zum Thema – so etwa dem von der Wiener Kulturstadträtin Veronika Kaup-Hasler lancierten Fördertopf „Digitaler Humanismus“ und dem von der Arbeiterkammer Wien eingerichteten „Digitalisierungsfonds Arbeit 4.0“ – auch von vagen Ahnungen die Rede – obwohl seitens der noch jungen Disziplin der STS – sprich: Science and Technology Studies – derzeit ebenso brauchbare Hypothesen zum Gegenstandsbereich formuliert werden wie von technischer Seite. „Indem wir die traditionsreichen geisteswissenschaftlichen Hochschulen unserer Stadt und die EntwicklerInnen neuer Informationstechnologien miteinander verbinden, wollen wir den Menschen wieder ins Zentrum technischer Innovation stellen“, bemerkte Kaup-Hasler anlässlich der Erstversion des Calls von 2019 – ein Programm, das Wien im Zentrum der „neuen Ära der Digitalisierung“ positionieren soll. Den sogenannten „EntwicklerInnen“ – und damit auch denen, die von namhaften Institutionen zwecks Umsetzung ihrer tollkühnen Ideen zugekauft werden – kommt dabei nicht selten der subordinierte Part zu und auch in Kunstkontexten verhält es sich kaum anders: Die Kräfteverhältnisse sind bei der Arbeit am „Digitalen“ schon im Vorfeld festgelegt, im Zuge der Arbeitsteilung daran bleiben die Geschlechterrollen – Frauen repräsentieren, Männer programmieren – auf erstaunliche Weise analog.

Something is rotten in this digital Age of Hope – und die Missverständnisse sind zahlreich. Wenn Kulturwissenschafter_innen – so etwa Sybille Krämer in ihrem Artikel für ORF-Science vom 7. 10. 2018 – von einer „Virtuellen Maschine“ sprechen, meinen sie damit nicht etwa eine Virtualisierungsumgebung mit Zugriff auf ausgewählte Ressourcen eines Host-Systems, sie sprechen von Metaphern; beim Kommunizieren über Disziplinengrenzen hinweg – die Autorin dieses Textes steht dabei nicht selten auf beiden Seiten der Front – ist ein derartiger Einsatz von Begriffen jedoch nicht unproblematisch; die frisch berufene Professorin an der Kunstuni Linz, Manuela Naveau, scheint dahingehend kaum den entscheidenden Un­terschied zu machen. Laut Presseaussendung vom 12. Oktober 2020 sieht diese sich als „Begleiterin von Studierenden, die sich mit den aktuellen Herausforderungen der Digitalisierung beschäftigen“ – ein löbliches Anliegen, bei dem „der Mensch als Garant für Zufälliges in digitalen Netz­werken“ angesehen wird. Die elegante Ale­a­torik in der Positionierung digitaler Subjekte mag imponieren, in einem Punkt ist sie so beliebig jedoch nicht: Nachdem Wien sich bereits vor zwei Jahren zur Hauptstadt des „Digitalen Humanismus“ erklärt hat, will die oberösterreichische Landeshauptstadt es dieser nun gleichtun.

Am 28. August hat Kanzler Kurz verkündet, dass Linz eine Technische Universität (TU) bekommen soll – ein Vorhaben, das mit notwendigen Investitionen in den „Wirtschaftsstandort Oberösterreich“ be­gründet wird, der seit jeher mit der Voestalpine Linz verknüpft ist. Der weltweit tätige Stahlkonzern ist nicht nur der größte CO2-Emittent des Landes, sondern seit rund zehn Jahren auch von massiven Umsatzeinbußen betroffen – ein Umstand, dem mit der Verknüpfung von „Industrie-Wei­terentwicklung und Digitalisierung“ an der neuen Linzer Ausbildungsstätte begegnet werden soll. Während der Rektor der Johannes-Kepler-Universität (JKU) Linz, Meinhard Lukas, sich von der Idee des Digitalisierungsstandorts Linz restlos begeistert zeigt, kommen die kritischen Stimmen vor allem aus dem Präsidium der Technischen Universitäten – so verkündete Harald Kainz, Rektor der TU Graz, dass Österreich mit drei technischen Universitäten ohnehin gut versorgt sei und zieht dabei die Verteilung in der Bundesrepublik heran, die in drei Bundesländern von der Größe Österreichs – Bayern, Baden-Württemberg und Hessen – über je maximal zwei technische Universitäten ver­fügt. Vorangetrieben wird das Vorhaben der Linzer Digitalisierungs-Universität maß­geblich durch Industriellenvereinigung (IV) und Wirtschaftskammer (WKO), bereits im Präsidium der Wiener FH Technikum haben diese ihre Vertreter_innen – nebst jenen von Kapsch und Schrak – großzügig postiert; in Linz wird künftig auch der Handelsverband mitmischen.

Bis auf Weiteres würde es nicht wundern, wenn die Kunstuniversität Linz nebst der von Gerfried Stocker im Zusammenspiel mit der neuen Critical-Data-Professorin Manuela Naveau jährlich veranstalteten Ars Electronica die sanfte Vorbereitung für die harten Lektionen der Industrie leisten sollte – von offener Partizipation und freier Entfaltung war auch im Zusammenhang mit Stadtteil-Gentrifizierungen oft die Rede, als deren Avantgarde und erste Vertriebene seit jeher Künstler_innen fungierten; in den hellen Gängen des Studiengangs „Interface Cultures“ breitet sich schon jetzt der „kreative“ Geist der Maschine aus – nicht selten in Form von dauerparlierenden Dosen und bewegungssensitiven IP-Kameras, die jeder HTL-Schüler hacken kann; währenddessen wird über Big Data lamentiert und von Naveau mitunter beklagt, dass „Konzerne mit ähnlich gearteten Produkten“ sich zusammenschlössen, „um ihre Datenbanken zu koppeln und so noch bessere Kundenprofile für punktgenauere Produktplatzierung zu erstellen“ – cookiegetriebene Herdenwerbung funktioniert anders und von Koppelungen dieser Art würde man vielleicht nicht so leichtfertig reden, wenn man etwas über das Tabellenformat hinter dem Interface wüsste. Relationale Open-Source-Datenbanksysteme wie MariaDB oder MySQL machten dieses Wissen transparent, stattdessen wurde das kunstuniversitäre Areal jedoch mit Geräten der Firma Apple ausgestattet und besticht bereits die Erstsemestrigen „intutiv“ – mit studentischen Rabatten auf die Laptops und Tablets desselben Konzerns. Ihnen wird vorgesetzt, was gekauft wurde und damit der Grundstein für eine oft lebenslange Kundenbindung gelegt, die in Künstlerkreisen nicht selten als Synonym für technische Kompetenz gilt – damit man auch in Zukunft noch kräftig zubeißen kann.

Nicht immer sind Hacker wie Künstler – im Gegensatz zum Großmogulen-System der Meisterklasse absolvieren sie den Akt der Selbstautorisierung nicht selten hinter dem Bildschirm oder mit Bleistift vor einem weißen Blatt Papier. „Nun weißt Du die Antwort gewiß, und ich habe sie dir nie gesagt. Bei dieser Vorgehensweise gibt es keinen Weg, dich in die Irre zu führen oder die falsche Antwort zu geben“, heißt es etwa gegen Ende der im Februar 1985 verfassten Einleitung zu George Spencer-Browns „Laws of Form“. Im Anschluss an die Explikation der logischen Grundlagen schließen die Leser_innen ganz ohne Lösungsheft. Tätigkeiten wie diese überlässt die „Kreative Klasse“ jedoch gerne anderen. Wenn Manuela Naveau sich wünscht, „dass sie“ – gemeint sind die Maschinen – „hin und wieder nicht oder anders laufen“, nimmt sie kritische IT-Infrastrukturen von dieser Forderung hoffentlich aus. Nicht Künstler, sondern Hacker aller Länder sorgen seit jeher dafür, dass der technische Dauerbetrieb in Krankenhäusern und Rettungsdiensten ohne Unterbrechung funktioniert. Von Digitalisierung reden derzeit jedoch jene, die ein Betriebssystem noch nie von innen gesehen haben. Und der Kuchen, den es zu verteilen gibt, ist von vornherein knapp.

ufg.ac.at

Ein schlechter Tausch: Schutz vor Hass im Netz gegen Meinungsfreiheit

Das ursprünglich aus Radio FRO hervorgegangene Cultural Broadcasting Archive (CBA) organisiert sich neu und wird zum eigenen Verein. Auch aus diesem Anlass reflektiert Ingo Leindecker eine Meinungsbildung, die heute vor allem über das Internet stattfindet: Die gesetzlichen Bedingungen, unter denen wir dort debattieren, haben großen Einfluss auf unsere Meinungs- und Informationsfreiheit. Immer wieder sehen Gesetzesentwürfe weitreichende Einschränkungen vor, die besonders nicht-kommerzielle Initiativen in ihrer Existenz bedrohen.

Das Cultural Broadcasting Archive (CBA): Hier zum Beispiel gibt es überhaupt kein Problem zu lösen. Bild Screenshot CBA, Nov. 2020

Wenn wir heute an einer öffentlichen Diskussion teilnehmen, dann tun wir das vielfach auf den größeren kommerziellen Online-Plattformen, deren Monopolisierung im letzten Jahrzehnt die öffentlichen Diskursräume stark verengt hat. Abgesehen davon, dass diese Systeme ohnehin geschlossene Räume sind, tragen einseitige Algorithmen zusätzlich zur Bildung der bekannten „Filterblasen“ bei, sodass man von konträren Meinungen erst gar nichts mehr erfährt. Das dient vor allem der Profitmaximierung der Plattform selbst, wozu sie die persönlichen Daten ihrer User*innen systematisch sammelt und an Werbekunden verkauft. Derart werden öffentlicher Diskurs und Meinungsbildung zugunsten der ökonomischen Wertsteigerung eines Privatunternehmens reguliert. Die Nutzer*innen selbst verlieren dabei gleich zwei Mal: Sie verlieren wichtige Möglichkeiten zur qualifizierten Meinungsbildung und müssen sich einem Profiling sowie der Monetarisierung ihrer persönlichen Daten aussetzen, um überhaupt am Diskurs teilhaben zu können.

Dass sich diese Systeme neben dieser Instrumentalisierung auch für Missbrauch eignen, haben spätestens der US-Wahlkampf 2016 und der Skandal um Cambridge Analytica gezeigt. Hier wurde deutlich, wie leicht die kollektive Meinungsbildung und sogar der Ausgang von Wahlen beeinflusst werden kann, solange nur die finanziellen Mittel zur Verfügung stehen. Gleichzeitig wird der öffentliche Diskurs durch (gezielte und teils im großen Stil organisierte) Hasspostings und Trolling vergiftet und behindert. Damit wurde evident, dass es einer politischen Regulierung dieser Plattformen bedarf, die User*innen vor solchen Manipulationen und vor Hatespeech schützt.

Die Medienpolitik der Bundesregierung: Diskurs­behinderung statt Förderung von Gemeinnützigkeit, Qualität und unabhängigen Infrastrukturen
Ebenso zeigt es, wie wichtig die Förderung gemeinwohlorientierter, nicht-kommerzieller Infrastrukturen und Algorithmen wäre, um Meinungsfreiheit nicht von den Finanzierungsmodellen der großen Plattformbetreiber abhängig zu machen. Im Sinne der Medien- und Meinungsvielfalt sollten Anreize geschaffen werden, um möglichst demokratische Diskursräume und Beteiligungsmöglichkeiten zu schaffen, von denen öffentliche Meinungsbildungsprozesse profitieren. Daneben muss die Förderung von Qualitätsjournalismus auch endlich für Onlinemedien möglich werden.

Die Bundesregierung geht hier bislang einen anderen Weg: Einerseits werden traditionelle, kommerzielle und qualitativ minderwertige Medien unverhältnismäßig gefördert, während es nach wie vor weder für neue Formen des Digitaljournalismus noch für die dafür benötigten Infrastrukturen Förderinstrumente gibt. Andererseits werden Gesetze vorgeschlagen, die vielfach das Gegenteil dessen erreichen, was sie offiziell bezwecken sollen. Sie schränken nicht nur die Vielfalt im Netz weiter ein, indem sie gemeinnützige Plattformen unnötigen Risiken aussetzen, sondern führen mitunter zur hanebüchenen Umkehr von eigentlich außer Frage geglaubten Rechtsprinzipien wie der Unschuldsvermutung und zu einer völligen Privatisierung der Rechtsdurchsetzung. Die Frage nach der politischen Motivation dahinter drängt sich auf: Entweder man ist schlicht zu kurzsichtig, um Gesetze entlang der Medienrealitäten zu formulieren oder man will Medien- und Meinungsvielfalt bewusst einschränken. Beides sollte die Alarmglocken schrillen lassen.

Neue Gesetzesentwürfe gefährden die Grundrechte
Aktuellste Beispiele sind das Kommunikationsplattformengesetz (KoPl-G, „Hass im Netz-Gesetz“) und das Audiovisuelle-Mediendienste-Gesetz, die nur durch vehementen zivilgesellschaftlichen Widerstand im letzten Moment entschärft werden konnten. Sie sollen Plattformen dazu verpflichten, ihre Diskussionsforen besser zu moderieren. So soll ab einem jährlichen Umsatz von 500.000 € oder einer User*innenanzahl von 100.000 die Einrichtung eines Meldesystems Pflicht werden. Mutmaßliche rechtliche Übertretungen müssen überprüft und innerhalb von 24 Stunden – bei eingehender Prüfung innerhalb von 7 Tagen – gelöscht werden, noch bevor jemals ein Gericht damit befasst wurde, ob es sich tatsächlich um eine Rechtswidrigkeit handelt. Die Kosten dafür sollen die Plattformen offenbar selbst tragen. Bedroht werden Unterlassungen mit Strafen bis zu 10 Mio. Euro. Bei den globalen Megakonzernen mag diese Forderung insofern nachvollziehbar sein, weil ihnen einerseits fast unbegrenzte Mittel zur Verfügung stehen, sie andererseits aber ihre Moderationspflichten weitgehend vernachlässigen und gleichzeitig massiv wirtschaftlich von der User*innenbeteiligung profitieren.

Überraschenderweise wurde (im Gegensatz zum deutschen Netzwerkdurchsetzungsgesetz) im österreichischen Gesetzesentwurf aber kein Unterschied zwischen gewinnorientierten und nicht-kommerziellen Plattformen gemacht. Die anvisierten Untergrenzen sind so angelegt, dass ebenso Projekte wie WikiCommons, WikiData, Github, Respekt.net oder in nicht allzu ferner Zukunft auch das in Linz gegründete CBA – Cultural Broadcasting Archive1 uvm. unter diese Regelungen fallen würden2. Sie leisten einen wichtigen Beitrag zur Informationsfreiheit und Meinungsvielfalt, werden dabei aber weder zur Verbreitung von Hatespeech genutzt, noch haben sie nur ansatzweise die finanziellen Mittel, juristische Beraterstäbe und Moderationsteams zu beschäftigen. Sie werden massiv in ihrer Existenz bedroht, obwohl es hier überhaupt kein Problem zu lösen gibt. Denn Sorgfaltspflichten hinsichtlich rechtlicher Übertretungen ihrer User*innen gibt es für diese Plattformen bereits jetzt.

Neben der fehlenden Treffsicherheit ist es vor allem beunruhigend, welcher gefährlichen Logik die in letzter Zeit vorgeschlagenen Digitalgesetze folgen, die sehr weitreichende Konsequenzen für uns alle haben.

Das KoPl-G konnte zwar schließlich mit einer Ausnahme für nicht-kommerzielle Plattformen abgeschwächt werden. Die nächsten Angriffe auf die Meinungsfreiheit stehen aber bereits vor der Tür.
Ähnlich wie das in den beiden angesprochenen Gesetzen vorgesehen war, sehen auch die geplanten Uploadfilter eine Beweislastumkehr und eine Privatisierung der Rechtsdurchsetzung vor: Anstatt dass ein*e Kläger*in ein Gericht zur – in diesem Fall urheberrechtlichen – Klärung bemüht, ob ein Inhalt rechtswidrig ist, müssen sich User*innen gegen eine Löschung „freibeweisen“, damit der eigene Content überhaupt erst einmal veröffentlicht werden darf – und dann ist die Diskussion meist auch schon längst vorüber. Über die Rechtmäßigkeit bestimmt dann anstatt eines Gerichts ein privates Unternehmen. Das ist Schuldvermutung bei gleichzeitiger Aushebelung der Gerichtsbarkeit. Und abermals ist keine Ausnahme für nicht-kommerzielle Plattformen vorgesehen.

Die Folgen: Medialer Kahlschlag und enormes Missbrauchspotential
Die nationale Umsetzung der EU-Urheberrechtsrichtlinie muss daher mit Argusaugen beobachtet werden. Kommt das Gesetz so wie vorgesehen, werden viele Plattformen aus Angst vor Strafen dazu übergehen, sehr vieles erst gar nicht zu veröffentlichen („Overblocking“) oder auf öffentliche Diskussionsforen bzw. auf user-generated Content im Allgemeinen zu verzichten. Viele kleine Plattformen werden ihren Betrieb einstellen oder stark einschränken müssen. Neue Projekte werden aufgrund des hohen Risikos erst gar nicht mehr entstehen. Die großen Player wie Facebook oder Youtube, die man eigentlich zu erreichen vorgibt, arbeiten unterdessen bereits an selbstlernenden Algorithmen, die die rechtliche Beurteilung automatisiert für sie erledigen sollen. Dann wurde die Rechtsdurchsetzung nicht nur privatisiert, sondern auch noch einem Algorithmus übertragen, der in Zukunft völlig intransparent darüber bestimmt, welche Postings veröffentlicht werden und welche nicht.

Hinzu kommt, dass solche Gesetze erst wieder leicht missbraucht werden können, indem etwa politische Gruppierungen konzertiert missliebige Inhalte auf einer Plattform melden. So könnten im großen Stil Inhalte lediglich mit der Behauptung einer Rechtsübertretung bis auf Weiteres offline genommen werden.

Ein gutes Beispiel dafür liefert etwa der prominente Fall um die Autorin Stefanie Sargnagel 2017, die aufgrund ihrer politischen Äußerungen zur Zielscheibe von rechten Agitator*innen wurde, die auf diese Weise die Veröffentlichung ihrer Postings verhinderten. Dass solche Gesetze genauso indirekt von staatlichen Stellen missbraucht werden können, macht das Ganze noch beunruhigender.

Conclusio: Sobald Gesetze vorsehen, Meinungsfreiheit, Medienvielfalt und grundlegende Rechtsprinzipien gegen welches Interesse auch immer einzutauschen, gehen sie zu 100% an den Interessen der allgemeinen Öffentlichkeit vorbei und müssen daher vehement bekämpft werden.

 

Radio FRO Studiogespräch im Rahmen von It’s Up To Us: www.fro.at/medienvielfalt-staerken

1 www.cba.media, Österreichs größter, gemeinnütziger Podcastprovider der Zivilgesellschaft, der aus der Freien Radioszene heraus entstanden ist.
2 „Welche Online-Plattformen vom neuen ‚Hass im Netz‘-Paket betroffen sein werden“ epicenter.works/content/welche-online-plattformen-vom-neuen-hass-im-netz-paket-betroffen-sein-werden, 13. 11. 2020

Dieser Text erscheint anlässlich des 20jährigen Bestehens des Cultural Broadcasting Archive (CBA): Das CBA ist Österreichs größter, gemeinnütziger und zivilgesellschaftlicher Podcastprovider, der aus der Freien Radioszene heraus entstanden ist. Über 100.000 Podcasts können kostenlos gestreamed werden. Zum 20jährigen Bestehen wurde die Plattform kürzlich relaunched und ein Verein gegründet.
www.cba.media