Memphis-Stream

Marlene Maier, Unreal Engines   

Foto Screenshot Stream, Startbild Unreal Engines

     

Referentin-Tipp auf die Online-Präsentation Unreal Engines im Stream des Projektraumes Memphis. Wir zitieren Maximilian Steinborn von der Kunsthalle Wien – von ihm ist ein Text zu Marlene Maiers Arbeit auf der Webseite von Memphis zu finden:

[…] Neben den berühmten Schattenfiguren der Philosophie, den Schatten, die verdunkeln, gibt es aber auch solche, die sichtbar machen: „Digital Shadows“ etwa sind Mitschriften unserer Aktivitäten im Internet, mithin die Form, in der wir im digitalen Raum in Erscheinung treten und für Unternehmen unterschiedlicher Couleur sichtbar – und vor allem verwertbar – werden.
In ihrer Filminstallation Unreal Engines spürt Marlene Maier der Dialektik des Schattens – als Metapher und Phänomen – entlang unterschiedlicher Erzählstränge nach. Wir sehen Schatten, die über eine Felswand huschen; scharfumrissene Schlagschatten auf den Terrassen einer scheinbar untergegangenen Stadt, die diskreten, kaum sichtbaren Schatten in den Unebenheiten einer Schneedecke; Schatten, die über das Fell eines Tieres gleiten. Maier entnimmt ihre Schattenimpressionen Videogames und unterschiedlichen 3D-Anwendungen. Es sind die flüchtigen, doppelt chimärischen Schatten des Digitalen, die sie interessieren.
Das Voice-Over ist eine Textcollage aus Fragmenten von Chatrooms und unterschiedlichen Tutorials, die Maier frei um- und weiterformuliert hat. Eine Quelle bildeten Onlineforen zu sogenannten Grafik-Engines, Programmelementen zur Generierung von 3D-Welten. […]

Marlene Maier, Unreal Engines
HD-Video, Farbe, Sound, 2019, 12:23 min
Online-Präsentation, Text und mehr Infos: www.memphismemph.is/memphis-stream-marlene-maier
Noch bis 26. Januar 2021

Memphis
Der Linzer Kunst- und Projektraum Memphis bietet seit 2014 Künstlerinnen, Filmemacherinnen, Theoretikerinnen und Autorinnen einen Raum zur kritischen Betrachtung zeitgenössischer Kultur. Ab Herbst 2020 präsentiert der Verein im Rahmen von Ausstellungen außerdem exklusiv für Memphis geschaffene Künstlerinnen-Editionen. Die Editionen sind käuflich zu erwerben. www.memphismemph.is

Die kleine Referentin

Juri & Terri Frühling

Mermaid On Your Side

„Schöne getreue Bertha! Ich bin nicht zu Deines Mannes Verderben erschienen. Ich vergebe ihm. Er ist ein Mensch, ängstlich, wie ihr alle seyd. Ich stellte ihn auf die Probe. Er hat sie nicht bestanden. Nun gebe ich alle Verbindungen mit Menschen auf.“1

Hulda wirft das Handtuch. Ein bissl entnervt und enttäuscht von Albrecht, der sich doch eher als Dolm erwiesen hat. Dabei hat Hulda, die Saal-Nixe in Christian Vulpius‘ Erzählung wie andere Wasserfrauen vor ihr, gar nicht so viel gefordert: 1. eine Affäre reicht völlig 2. Schweigen 3. Schweigen 4. Schweigen 5. gegebenenfalls das gemeinsame Kind bitte selbst und mit der Gattin aufziehen; sofern es ein Sohn ist, Töchter bleiben bei der Nixe.
(Möglicherweise hätte sich Hulda einfach gleich mit Bertha auf ein Packl hauen sollen, aber das wird eine andere Kolumne).

Erzählungen von europäischen Wasserfrauen sind voll von Entwürfen von Geschlechterkonstruktionen, die sich auf den ersten Blick einer patriarchal imaginierten Weiblichkeit widersetzen. So einfach ist die Sache bei näherer Betrachtung natürlich nicht, die Ausführung würde aber einerseits den Rahmen sprengen, andererseits darf ich hier ausnahmsweise ungschaut Aspekten von Wehrhaftigkeit und Widerständigkeit im Nixennarrativ nachgehen.

Seit Jahrhunderten ist Andersheit aus patriarchaler Sicht – auch – mit einer Imagination von Weiblichkeit verbunden, die sich nicht beherrschen, nicht kontrollieren lässt. Und aktuell wird sichtbar – ob in Belarus oder in Polen – nichts macht das Patriarchat wütender als eine Weiblichkeit, die sich ihrer körperlichen Autonomie und Macht bewusst ist, oder gar eine sich dem reproduktionsfähig und -willig imaginierten Konstrukt widersetzende Weiblichkeit. Selbstbestimmung mit einem patriarchalen Narrativ überschreiben – eine Strategie, die sich auch entlang der Entwicklung von Wasserfrauen festmachen lässt: Einer machtvollen, weiblichen Erzählung entnommen wurden sie in ein christianisiertes Korsett gepresst. Weibliche Identitätsfindung anhand von Nixen oder Undinen wurde ab dem späten Mittelalter so zum Irrlauf zwischen nicht verhandelbaren Archetypen: unberührbare Göttin vs. seelenlose Verführerin vs. bedürfnisbefreite Femme Fatale vs. rach­süchtiges Monstrum. Eine Suche, an deren Ende einzig die Position der unterwürfigen Gattin Ausweg versprach. Ein Bild von Weiblichkeit, in der sich Weiblichkeit spalten, doppeln oder auflösen sollte, um patriarchale Machtphantasie vom Dilemma des Geborenseins, der Herkunft aus einem weiblichen Körper zu befreien.2 Doch die Nixe schlägt in diesem Sommer zurück und schlägt sich auf die Seite der Protestierenden. Ausgehend von der Aneignung im Zuge der LGBTQ-Proteste im Sommer wurde in Warschau eine Replik der Bronzefigur von Ludwika Nitschowa, sie stellt die Warszawska Syrenka dar, auch zur Komplizin der Gegner*innen des verschärften Abtreibungsverbotes. Diese Figur ist eine stets mit Attributen der Verteidigung, des Kampfes ausgestattete Was­serfrau3, ihre Darstellung verweist auf die Gründungsmythen der Stadt, worauf sich auch das Manifest des Kollektivs Stop Bzdurom bezieht, das sich im Zuge der Proteste bildete:
„Die Warschauer Nixe hat ein Schwert und einen Schild in der Hand. Sie hat einen Regenbogen und ein Halstuch. Dies ist unser Aufruf zum Kampf. Solange wir mit dem Gedanken einschlafen, dass sich sowieso nichts ändern wird. So lange müssen wir daran erinnert werden, dass wir existieren. Dass wir nicht allein sind. Diese Stadt gehört auch uns. Kämpft!“4
Ein Blick auf die Gründungsmythen verdeutlicht und schärft den Bezug zur Nixe: In einigen wird die Warszawska Syrenka als Schwester der Kleinen Meerjungfrau5 beschrieben. Beiden wird die Stimme zum Kapital: Während Andersens Nixe die Stimme der Meerhexe gibt, um „Mensch“ zu werden, wird die Schwester gefangen genommen, um sie ihrer Stimme wegen zu verkaufen. Sie allerdings setzt die Stimme ein, um sich zu widersetzen, wird gerettet und dankt mit dem Versprechen, Warschau zu beschützen, hin und wieder aus der Weichsel an die Wasseroberfläche zu kommen, um die Veränderung der Stadt wahrzunehmen. Die Protestierenden erinnern nun die Nixe an dieses Versprechen eines wohlwollenden Blicks auf Veränderung. Die Wasserfrau wird so zu einer Erzählung von der Möglichkeit der Zugehörigkeit, bei gleichzeitiger Abgrenzung. Sie repräsentiert nicht länger ein Geschlecht, sie steht für ein Bezugssystem. Außerhalb der Regeln eines heteronormativen, patriarchalischen Gesellschaftskonstrukts zu stehen ist mit der Nixe an der Seite nicht länger gleichbedeutend mit dem Ausschluss aus dieser Gesellschaft. Die Nixe entscheidet, ob und wann sie sich entzieht. Und ohne die Nixe und ihren Blick auf die Stadt, in Warschau immerhin Gründungsnarrativ, hört die Stadt auf zu werden. So wird die Syrenka Komplizin im Sinne notwendiger, demokratischer Forderungen, gleichzeitig wird sie Erinnerung an und Echo von Weltentwürfen und Geschlechterkonstruktionen, die keiner patriarchal formulierten Norm entsprechen.
Mermaid on Your Side also – ach hätten Bertha, Berthalda in Undine oder die Prinzessin ohne Namen in der Kleinen Meerjungfrau – all die als „Rivalinnen“ der jeweiligen Wasserfrau also beschriebenen Nichtwasserfrauen – nur früher davon gewusst! Hulda und die Nixen-Meute würden sich sofort mit ihnen zusammentun – und das Patriarchat würde sich nie mehr davon erholen.

 

1 Vulpius, Christian August: Die Saal-Nixe. Eine Sage der Vorzeit. Leipzig: Rein, 1795
2 Vgl. Luce Irigaray, Devine Women, 1989
3 Die Bronzefigur Nitschowas – eine von zwei Darstellungen der Warszawska Syrenka im öffentlichen Raum – wurde vermutlich nicht ohne Grund gewählt: Modell für die Bronzestatue stand 1939 die Dichterin Krystyna Krahelska, die 1944 als Sanitäterin in einem der Warschauer Aufstände gegen die Okkupation der Nationalsozialisten starb.
4 www.facebook.com/stopbzdurom
5 archiwum.auslandsdienst.pl/3/22/Artykul/403052, Aus-dem-Archiv-Warschauer-Seejungfer

Wiltrud Hackl zum Thema Wasserfrauen
Kepler Salon, 14. Dez 2020, 19.30 h
„VON DEREN KUSS IHR ZU STERBEN FÜRCHTET, ZU STERBEN WÜNSCHT (…)“
Konstruktionen von Weiblichkeit und Wasser am Beispiel der Wasserfrau

ExistenzialistInnen- Sudoku

Von Widerstand, Protest und Totalverweigerung: Geschichte(n) des Kunststreiks

Ob radikaler Aufruf zum Generalstreik, politische Mobilisierung und Organisation oder stilles, temporäres Abwarten: In „Geschichte(n) des Kunststreiks“ erzählt die Kulturwissenschaftlerin und Künstlerin Sofia Bempeza, wie Streikpraktiken im Kunstbereich aussehen, an wen sie sich richten – und was sie erreichen können. Vanessa Graf hat die gerade erschienene Publikation gelesen.

Es wird gestreikt: gegen schlechte Arbeitsbedingungen. Gegen fehlende oder unzureichende Entlohnung, gegen ausbeuterische Machtverhältnisse, gegen die Spielregeln in einem System, das nur allzu oft Profit aus den Schwächsten schlägt, gegen nicht vorhandene Wertschätzung und überfordernde Arbeitszeiten. Der Streik funktioniert für Angestellte und Arbeiter*innen als Druckmittel, als Mittel zum Zweck, manche würden sagen: auch als Waffe. Wie aber formt sich Streik in Kunst und Kultur, wo feste Arbeitsverhältnisse die Ausnahme zur prekären Regel sind, Arbeit sowohl work, eine Tätigkeit, aber auch labor, Lohnarbeit, ist? Was ist der Streik für eine Künstlerin, wie geht Widerstand für einen Künstler?

Genau diesen Fragen geht die Kulturwissenschaftlerin und Künstlerin Sofia Bempeza in ihren „Geschichte(n) des Kunststreiks“ nach: anhand einer Vielzahl an Beispielen aus dem nordamerikanischen und europäischen Raum zeichnet sie nicht nur eine, sondern viele Geschichten des Streiks in Kunst und Kultur nach. Mit ihrer Arbeit schafft Bempeza damit nicht nur den geeigneten Rahmen, um über Kunst- und Kulturstreiks in der Vergangenheit und Gegenwart nachzudenken – sondern auch eine Aktualisierung des Streikbegriffs, der weit über die organisierte Arbeitsverweigerung im Kontext der Arbeiter*innenbewegung hinausgeht.

Kunststreik ist Kritik, Reform und Ablehnung auf einmal
Bempeza sieht dabei Kunststreiks als Angriffe auf die Produktionsregeln des Kunstsystems, „Ansätze, die die Produktion und Vermarktung von Kunst, ihren besonderen Status als eigenständige Arbeit innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise sowie das Künstlersubjekt als Arbeiter_in hinterfragen“. Damit zielen diese Proteststrategien immer auch auf jene, die das System erst ausmachen: Museen, Kulturinstitutionen und den Kunstmarkt. Kunststreiks leisten so außerdem Widerstand in einem Spannungsfeld, das von Kunst als Selbstverwirklichung über kreatives Denken als Dienstleistung bis hin zu überlebensnotwendiger Lohnarbeit reicht.

Mindestens genauso verzweigt und weitreichend wie dieses Feld der Kunst als Arbeit sind auch die Spielarten des Streiks, die Bempeza umreißt. Sie beginnt bei Beispielen aus den 1970ern, wie etwa jenes der amerikanischen Künstlerin Lee Lo­za­no, die den Protest nicht anders als total denken wollte, sich zur Gänze aus der Kunst zurückzog – und sich darüber hinaus ab Beginn ihres allumfassenden Generalstreiks vehement weigerte, mit Frauen zu sprechen oder auch nur in Kontakt zu treten. Besonders letztere, niemals öffentlich begründete Entscheidung wird, wie Bempeza beschreibt, bis heute intensiv diskutiert, wenig akzeptiert und trifft auch bei der Autorin selbst auf Unverständnis.

Über weniger totale, aber regelmäßig wiederkehrende und einander ähnelnde Streikaufrufe wie jene von Gustav Metzger, der Ende der 1970er eine dreijährige Schaffenspause forderte, führt das Buch schließlich bis hin zu jüngeren Protestaktionen in der Kunst. Diese bedienen sich zum Teil immer noch derselben Methoden von Verweigerung oder politischer Organisation (ein Beispiel wäre die litauische Protestveranstaltung Art Strike Biennial, einem Festival, das sich mit Improvisationen, Protestaktionen und Streik gegen die Kulturpolitik in Vilnius richtet), manche haben allerdings auch neue Formen gefunden. So zum Beispiel die Onlineplattform Art Leaks: die ursprünglich in Osteuropa entstandene, nun aber international agierende Protestplattform bietet Kunstschaffenden seit 2011 die Möglichkeit, Missstände in der Kulturarbeit anonymisiert zu veröffentlichen – und damit sichtbar zu machen.

Der Streik in drei Dimensionen
Spannend dabei: Bempeza denkt den Kunststreik über alle Beispiele stets in drei Dimensionen, die sich vermischen, gegenseitig stärken oder einander sogar benötigen. Da wäre zum einen die Verweigerung, ein bewusstes Nein-Sagen zu Arbeitsbedingungen, zum Versprechen von Sichtbar- und Aufmerksamkeit statt Entlohnung oder zum Ausnutzen von Kunstschaffenden als Ideen-Generator*innen für Industrie und Privatwirtschaft. Die zweite Strategie bezeichnet Bempeza mit „temporärer Adraneia“, aus dem Griechischen: ein Nicht-Tun, eine Inaktivität oder ein stilles Abwarten. Diese Strategie hat etwas mit Trägheit zu tun – Adraneia ist das zeitlich begrenzte Schweigen, Fühlen und Nachdenken. Die dritte Streikpraktik schließlich ist die politische Organisation, das Mobilisieren und Intervenieren, um Veränderung zu erzwingen. Bempeza sieht in ihrem Vorschlag der drei Dimensionen eine dringend notwendige Aktualisierung des Streikbegriffs – eine Aktualisierung, die das Denken (und Ausüben) von Streik über Arbeiter*innenstreiks hinaus auch im Kunst- und Kulturbereich miteinbezieht.

Genauso, wie die drei Dimensionen des Kunststreiks für Bempeza nicht vollständig voneinander zu trennen sind, vermischen sie sich auch mit anderen Streik- und Protestbewegungen: der Widerstand, der hier beschrieben wird, ist intersektional. Er kann solidarisch mit der Arbeiter*innenbewegung sein, manchmal kämpft er gegen Rassismus und Imperialismus, oft vermengt er sich mit der feministischen Bewegung und ab und zu steht er für Institutionskritik; in den meisten Fällen auch alles auf einmal.

Die Geschichte(n): viele Inseln im weiten Meer
So eindringlich und überzeugt auch von genau diesen Überlappungen, parallelen Entwicklungen und Verschränkungen geschrieben wird: beim Lesen sind es leider genau oft diese, die zu fehlen scheinen. Die Berichte und Erzählungen der einzelnen Streikpraktiken wirken wie schwindend kleine Inseln in einem riesigen Ozean, wenig vernetzt und mitunter ganz ohne Zusammenhang. Bempeza hakt in den Beschreibungen einen Streik nach dem anderen ab, ohne sich dazwischen ausreichend Zeit für eine Kontextualisierung und Vernetzung zu nehmen: wo also verstecken sich die Wechselwirkungen, auf die hier theoretisch so stark verwiesen wird? Wie lesen sich die verzweigten Geschichten zwischen den Streiks und Verweigerungen?

Zugegeben: Die Autorin gibt nie vor, eine einzige, definitive Geschichte des Kunststreiks erzählen zu wollen. Bereits der Titel verweist auf eine gewisse Vielstimmigkeit; Bempeza schreibt „Geschichte(n)“, ein zaghafter Plural also, und verweist auf Bewegungen und Streikpaktiken, die sich selbst beständig im Fluss befinden, vielleicht (noch) nicht abgeschlossen sind oder es gar nie sein werden. Dennoch: auch eine unvollständige Geschichte, eine Vielzahl an Geschichte(n), kann über lokal verankerten Widerstand, Protest und Aufbegehren blicken und das größere Ganze beleuchten.

Vielleicht ist es genau das, was Bempeza mit den zwei Berichten über die Strike Debt Bewegung in den USA und den Transnationalen Migrant*innenstreik in Wien am Schluss ihres Buches zumindest ansatzweise versucht. Im ersten Fall werden seit 2012 Überschuldung bestreikt sowie gleichzeitig Schuldenerlass gefordert, das Beispiel aus Wien hingegen befasst sich mit der Bestreikung von Alltagsrassismus, einer Normalität, die viele ausschließt, und – besonders spannend – die Sprache als eine „hegemoniale Sprache des Nationalstaates“ an sich. Es wären, so die Autorin, zwei Protestbewegungen, die sehr offensichtlich mehr als nur Kunst bestreiken – gemeinsam haben sie, dass sie beide Protestbewegungen sind, die ihr eigenes Umfeld ins Gericht nehmen, es radikal in Frage stellen und, ähnlich wie auch die besprochenen Kunststreiks, eine gewisse Performativität an den Tag legen. Der Vergleich zum Streik in der Kunst funktioniert besonders dann gut, wenn etwas zutiefst Grundsätzliches bestreikt wird – sei das die Kunst, das Schaffen und ihr Kontext selbst, oder, wie etwa beim Migrant*innenstreik, die Sprache an sich.

Von den großen Fragen der Sprache zum Protest im Kleinen
Bempeza schließt „Geschichte(n) des Kunststreiks“ also mit Überlegungen zu Protest und Sprache und knüpft somit an etwas an, was fast zweihundert Seiten zuvor ihr Buch eröffnete: ein Hinweis zur Sprache nämlich, der nicht nur einen äußerst sympathischen Einblick auf die Schreibweise und das Leseerlebnis gibt, sondern auch selbst als kleiner Protest agiert. „Es entspricht nicht allen akademischen Standards, die der deutschsprachige wissenschaftliche Raum vorgibt oder anerkennt“, warnt Bempeza gleich zu Beginn, die sich als Griechin nämlich dazu entschlossen hat, in einer Fremdsprache zu schreiben. Nur, um im nächsten Satz ohne Entschuldigung zu ergänzen: „Dieses Buch erscheint trotzdem auf Deutsch.“

Das scheint mir abschließend sehr dringend noch eine dritte Sprache zu erfordern: Chapeau!

 

Geschichte(n) des Kunststreiks Sofia Bempeza
mit einem Vorwort von Athena Athanasiou

Die Monografie Geschichte(n) des Kunststreiks versammelt historische wie gegenwärtige Positionen der Verweigerung, der Sabotage, des Dissenses und der politischen Organisation in der Kunst. Dabei ist es das erklärte Ziel der Autorin, zur heutigen Diskussion über (scheinbar) selbständige, kreative Arbeit im Kunstfeld beizutragen. Die von Bempeza diskutierten Kunststreiks setzen sich mit Museen, Kunstinstitutionen und dem Kunstmarkt auseinander – in Form radikaler Institutionskritik, in Gestalt symbolischer Kunstverweigerung und des ästhetischen Widerstands oder als organisierte kulturpolitische Intervention. Das Buch markiert außerdem das Verhältnis von Kunst zu produktiver und unproduktiver Arbeit. (Auszug Verlagstext)

transversal texts, Dezember 2019
ISBN: 978-3-903046-22-1
194 Seiten, 12,– €
Download auf: transversal.at/books/kunststreik

Die grüne Hydra

Im Oktober konnte Lisa Spalt mit dem Text Die grüne Hydra den Literaturwettbewerb Floriana für sich entscheiden. Hier ein Auszug.

Bild Lisa Spalt

Über mir saß wieder dieser bronzene Typ, der mir den Hintern des Pferdes zukehrte und in der Vorderansicht auch unzufriedene Mundwinkel hatte. In diesem Moment verstand ich, dass wir die Fremden fürchteten, weil sie im Gegensatz zu uns Mythen besaßen, die sie mit der Welt verbanden. Die unseren trennten uns von ihr und einander. Man erzog uns dazu, nach unserem Tod als Helden zu glänzen. Und so schufen wir uns eine Welt der Katastrophen, um zu beweisen, dass wir alle im Unterschied zu anderen darin überleben konnten. Ein junger Mann zeigte mir, als ich dabei war, dies zu denken, den Mittelfinger. Er erklärte mir auf diese Weise, dass er zu Calvin gehörte, zur Gruppe der Kleinen Calvinerinnen, die keine Kirchengebäude als Sehenswürdigkeiten anboten, sondern ihren Gläubigen gleißende Kleidung überzogen, welche die Wände heiliger Räume symbolisierte. Eine dieser mobilen Fortschrittskirche assoziierte Kosmetikmarke mit dem Namen Vichy Régime, welche beanspruchte, die neuesten Werte zu repräsentieren, lieferte den Anhängerinnen semitransparente, duftende Fläschchen, die die früheren Kerzen ersetzten. Sie wurden von den Auserwählten dazu benutzt, die Smartphones, über deren Bildschirme die Messen flackerten, daran anzulehnen, damit man die Hände freihatte, zum andächtigen Empfangen von mit göttlichem Fleisch belegten Brötchen.

Später, am Abend, lagen im Hotel Objekte auf dem Kopfkissen, die sich hintersinnig „Lebkuchen“ nannten. Ich kaute das Zeug und sah dabei eine Tiersendung über einen Süßwasserpolypen, der in Symbiose mit den Chloroplasten einer Alge lebt. Die dargebotenen Informationen reimte ich mir so halbwegs mit Hilfe der immer wieder ausgesprochenen lateinischen Bezeichnung des Tieres, anhand von einigen wenigen von mir beherrschten Wörtern der fremden Sprache – zum Beispiel die für „und“, „eins“ und „Gemüse“ – sowie durch intensives Surfen im Internet zusammen. Der Lernvorgang lief ziemlich interaktiv ab und ich kam, weil ich wenig verstand und die Worte in mir verschiedenste Bilder aus Vergangenheit, Gegenwart und Projektion verschmolzen, auf Gedanken, die nur durch eine starke Energie entstehen konnten. Ich vermutete zum Beispiel, es handle sich bei dem Süßzeug um Lebkuchen der Marke Sirius. Der Name hatte etwas mit den sich ankündigenden Hundstagen einer neuen Heißzeit zu tun. Er sollte aber, so tagträumte ich, auch ein Insider-Hinweis auf das Abmelken meiner Daten zum Vorteil einer weit entfernten Zentrale sein. Die Süßigkeiten enthielten relativ sicher essbare Wanzen, die mich nach dem Verschlucken von innen her abzuhören beginnen würden. Ein starkes „Rum-Aroma“, welches wahrscheinlich je nach Sprachzugehörigkeit besessene „Amor“ oder „Amour“ auslösen sollte, überdeckte den bitteren Geschmack der Mikro-Mikros. Die Verpackung der Dinger wiederum versprach, dass sie in die Kategorie Doppelabsahnstufe gehörten. „Gott versorgt dich mit allem, was du brauchst“, dachte ich, „nimm seinen Leib und iss ihn. Dann wird er in seinem Headquarter alias Über-Ich über dich wachen.“ Tatsächlich dachte ich schon seit Längerem, man lasse uns leben. Ich meine: Man ließ uns leben, wie man uns früher arbeiten hatte lassen. Mittlerweile waren unsere Auszucker ja wahnsinnig lukrativ. Und wir glaubten zwar immer noch, wir würden Liebe machen, die niemandem gehöre. Wir dachten immer noch, wir absolvierten – neben einem öffentlichen – auch ein wildes, privates Leben. Aber als ich die Herkunft des Wortes „privat“ gegoogelt hatte, das sich anscheinend vom französischen Verb „priver“ herleitet, – als ich verstand, dass es nichts anderes bedeutete als „jemandem etwas versagen“, wurde mir alles klar. Eigentlich bezog sich unsere Privatheit im Wortsinn der Beschränktheit nur noch darauf, dass die Arbeit, die wir durch unser Überleben leisteten, nicht mehr durch den Luxus schöner intimer Feiern des Umgangs aufgewogen wurde.

Gerade hatte sich im Zuge der Erderwärmung eine unbekannte Art von Flöhen ausgebreitet. Es wurden Gerüchte wiedergeflüstert, die in diesem Zusammenhang von Krankheiten sprachen. Man nannte die Botschaften „Rumors“ und wisperte von Menschen, die von diesen regelrecht besessen wären. In einer ersten Phase hielten die Befallenen alle anderen für Unbekannte. Dann behaupteten sie, die Platzhalter hätten es auf ihre Flöhe abgesehen, welche aber nur sie wegen deren winziger, also beinahe Nichtexistenz mit feinen Finanzinstrumenten liebkosen könnten. Lernten die Besessenen die Unbekannten schließlich näher kennen, misstrauten sie gemeinsam mit ihnen den noch Unbekannteren, bekämpften diese und entzweiten sich dabei mit den ersten Nummern, sodass sie wieder Unbekannte wurden. Bald predigten viele, ein einziges Gesetz durchwalte Mathematik und Natur. Die immer größer werdende Gruppe der Erkrankten wehrte sich aber dennoch gegen Linguistinnen, die das Wort „Ungeziefer“ von der „Ziffer“ herleiteten und erklärten, es meine etwas, das im Übermaß vorhanden sei. Die Berechnenden schlugen ein mathematisches Äquivalent zum Kreuzzeichen und monierten, die Anzahl der Flöhe wäre ganz im Gegenteil immer zu klein. „Manna“ riefen sie, es klang wie „Money“. Auch verwechselten sie zunehmend „Bucks“1 mit „Bugs“2 und sprachen in den höchsten Tönen vom sogenannten „Flohmarkt“. Gerüchte für Gerüche haltend, von denen sie glaubten, sie seien der Vermehrung der Flöhe günstig, marschierten sie daraufhin in Form von Armeen ein in Gebiete, die ihre Regierungen als unrein bezeichnet hatten. Es wurde behauptet, dort wohnten schmutzige Menschen, die die Flöhe unzulässigerweise an sich saugen ließen. Die Angehörigen des Militärs, die die Familie als Fleisch und Blut verlassen hatten, glaubten unterdessen, in den Soldatenröcken ihre Flöhe wie „Franken“, die Währung der Freiheit, mit sich zu schleppen. Doch waren die Tiere in den Taschen, wenn man nachsah, nie zu finden. Tatsächlich bekam man sie nur zu Gesicht, wenn sie im Zuge eines Sprungs vom Himmel fielen. Ein paar findige Köpfe verlegten sich daher darauf, auf dieses Erscheinen in der Abwärtsbewegung der parabelförmigen Kurse zu wetten. Und so begannen wir, während wir uns ganz nebenbei an die Behauptung gewöhnten, dass unauffindbare Werte die wichtigsten seien, den schlimmsten denkmöglichen Fall als „Glücksfall“ zu verstehen.

Der Kreislauf von „Pessimum“ – so die offizielle Bezeichnung der uns über die verschluckten Mikros abgezapften negativen Energie, die man mit den „Rumors“ beförderte – war bald auf nahezu bewundernswerte Weise geschlossen. Gut kalkulierte Geschichten sollten die Gegenwart zementieren, indem ihre Auswirkungen nur, wenn sie der nachhaltigen Produktion des von der Heimatpartei so genannten „Schlechtons“ dienten, von uns zugelassen wurden. Eine von niemandem verordnete, aber lückenlos rückwärtsgewandte dystopische Geschichtsschreibung lieferte die Modelle für unangenehme Figuren, die dadurch überproduktiv wurden. Ja, auch ich selbst verschmolz eines Morgens mit einem jungen, erfolgreichen Drogendealer aus der Folge einer Fernsehserie vom Vortag und konferierte, mit meinen eingeschmolzenen Pfunden wuchernd, mit auserwählten Performerinnen der Szene. Zur Begrüßung und zum Abschied rieben wir uns die Hände. Das Theater war perfekt. Professionell stellten wir den Markt dar, errichteten Stände und verwandelten unsere Gemeinschaft in eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung. Dann begann das Militär, hauptberufliche Storyteller anzustellen, die die phantastischsten Szenarien für zukünftige echte Kriege erdichteten, damit es sich dafür rüsten konnte. Wir erlebten das Beispiel der Folterer von Abu Ghuraib, die eine Folge der Fernsehserie „24 Hours“ für ihre Quälereien zum Vorbild nahmen. Die Produktion von Negativität durch die von ihnen verursachten Schmerzen war derart effizient, dass die ganze, nach dem Pessimum süchtige Welt mit der giftigen Lösung, die man jetzt als einen „Ausweg“ bezeichnete, versorgt werden konnte. Ja, es konnte sogar noch das Bekanntwerden des Zusammenhangs mit der TV-Serie für den Gewinn und die Versorgung weiterer Junkies fruchtbar werden. Alle Bestrebungen einiger Widerstand Leistender, Schlussfolgerungen aus den Vorgängen auf den Flohmärkten zu ziehen, die zu ihrer zukünftigen Eindämmung führen hätten können, wurden unterdrückt. Manche phantasierten noch, die berühmten „vertretbaren Sachen“, die an den Börsen als und mit Pessimum teuer verkauft würden, seien in Wirklichkeit Scheine. Wo wir Bares sahen, sahen sie schräge Bezüge. Für uns aber waren die Auftritte dieser „Realisiererinnen“, wie sich die Leute nannten, Anlass für so viele ärgerliche Gefühle, wie wir uns zum Wohle des allgemeinen Fortkommens gerade noch abpressen konnten. Wir zahlten uns jetzt richtiggehend aus, will sagen: Wir verausgabten uns. Und so sperrte man die Leute in unserem Namen weg. Überhaupt geschah jetzt vieles in unserem Namen. Hinter gepolsterten Türen begründete man dies mit einem im Falle des Zuwiderhandelns gegen den Willen der negativen, also irgendwie nicht vorhandenen Öffentlichkeit drohenden Zusammenbruch der Weltwirtschaft, die als eine Art Wirtshaus verstanden wurde, dessen Überleben vom Überfluss von Pessimum abhängig war, welches den davon trunkenen Menschen wie Milch und Honig aus den Mundwinkeln laufen musste.

 

1 Amerikanisch für „Dollar“
2 Englisch für „Flöhe“ Textauszug aus „Die grüne Hydra“ von Lisa Spalt.

Literaturpreis Floriana
Lisa Spalt gewinnt die FLORIANA 2020. Jury-Statement: „Der erste Preis geht an einen Text, der von seinem Rhythmus und Sound lebt. Dessen Autorin fest im Sattel ihrer Sprache sitzt. Das Chaos nach der modernen Apokalypse mündet in einer Dystopie, in der Ökonomie auf Ökologie prallt. Der Text erzeugt eine experimentelle Fläche, in der die Wirklichkeit als Suada wurzeln kann.“ Alle PreisträgerInnen: Lisa Spalt, Robert Woelfl, Melanie Koshmashrab, Förderpreis für oberösterreichische AutorInnen: Vanessa Graf
literaturpreis-floriana.at

„Es war ein Öko-Krieg“

Der Kraftwerksbau im oberösterreichischen Lambach und die Protestbewegung der 90er: Die Klischees wurden hier nicht bedient. Denn nicht nur „gewaltbereite AktivistInnen“ harrten drei eiskalte Monate auf der Baustelle aus, sondern auch AnrainerInnen und PensionistInnen. Silvana Steinbacher über ein gerade erschienenes Buch, das die Geschehnisse im Winter 1996 nachempfinden lässt.

Es waren drei dichte Monate, und allen, die im Camp dabei waren, sind sie abrufbar. Als im Jänner 1996 die Rodungsarbeiten für den Bau des Kraftwerks Lambach ohne Einbeziehung der AnrainerInnen in Gang gesetzt werden, beginnen UmweltaktivistInnen mit der Besetzung der Baustelle. Sie sollte drei Monate dauern. Thomas Rammerstorfer, er war selbst einer der Protestierenden, und Marina Wetzlmaier lassen in ihrem gerade erschienenen Buch Kampf um die Traun. Der Widerstand gegen das Kraftwerk Lambach diese Zeit wiederaufleben.
Abseits der Fakten und Ereignisse, die von den beiden aufgerollt werden, sind es die Erinnerungen einstiger AktivistInnen und vielleicht auch Rammerstorfers eigener Rückblick, die das Leben im Camp spürbar werden lassen: der Alltag, die eiskalten Winternächte in den Schlafsäcken, die Furcht, vom Feuer erfasst zu werden, an das sich die Frierenden so nahe wie möglich gelegt hatten. Und schließlich die Beschimpfungen durch BefürworterInnen des Kraftwerks, aber auch der Zusam­men­halt der Protestierenden untereinander, der einigen von ihnen bis heute im Gedächtnis geblieben ist. Wetzlmaier und Rammerstorfer gelingt es, diesen Alltag so dicht zu schildern, dass man den Eindruck erhält, dabei zu sein.

Thomas Rammerstorfer, damals 20 Jahre alt, war auch teilweise im Camp: „Sobald jemand davon redet, wird mir heute noch kalt. Es hatte minus 15 Grad im Jänner 1996, minus 10 Grad nahe am Feuer. Die Vielfalt der Demonstrierenden im Camp war ungewohnt. Es waren auch ältere Damen dabei, die Gemeinschaft war toll. Ich kann mich erinnern, dass es gut organisiert war, es wurden auch täglich Pläne für die Lager erstellt, drei bis fünf sind es gewesen. Natürlich befürchtete ich manchmal, dass die Bewegung ins Radikale abgleiten könnte, doch die ersten Anzeichen dafür wurden schnell gebremst. Insgesamt würde ich sagen, war dieses Ereignis nicht nur eine Niederlage. Die OKA hat ihre Politik geändert und registriert, dass es für ihr Image förderlicher ist, ein paar Millionen mehr in den Umweltschutz zu stecken als in Werbung.“

Chronologie der Ereignisse: (partiell)
Im März 1995 erlässt das Landwirtschaftsministerium einen positiven Wasserrechtsbescheid.

1996 beginnen die Rodungsarbeiten

Im April desselben Jahres wird aus Formalgründen der Wasserrechtsbescheid aufgehoben.
Im Herbst 1997 verliert Landeshauptmann Josef Pühringer (ÖVP) bei der Wahl die absolute Mehrheit. Die ÖVP beschließt dennoch mit den Stimmen der SPÖ, sie stellte sich während des Konflikts dezidiert gegen den Bau, die endgültige Errichtung des Kraftwerks.

Ende Mai 2000 wird das Kraftwerk Lambach offiziell eröffnet. In den folgenden Jahren entwickelt sich rund um den Bau ein Naherholungsgebiet.

Marina Wetzlmaier hat während dieses Konflikts noch die Volksschule besucht. Sie ist freie Journalistin und Autorin und hat sich in ihren bisherigen Büchern mit türkischen Moscheevereinen (Mitautor: Thomas Rammerstorfer) und mit der Linken auf den Philippinen beschäftigt. Das aktuelle Buch ist ihr erstes über ein österreichisches Ereignis.

„Mein Spezialgebiet sind soziale Bewegungen und die Frage, wie sie entstehen. Auch Gruppendynamik interessiert mich. Und so hat mich auch dieses Ereignis interessiert. Ich habe mir auch am Beispiel Lambach die Frage gestellt, wie sich Widerstand formiert, welche Formen von Aktivismus festzustellen waren. Der Widerstand auf der Baustelle hatte viele Facetten zu verzeichnen: Tradition, kreativer Widerstand. Es gab also auch kulturelle Aktivitäten während dieser Zeit.“

Die Faktoren
Der Konflikt um das Kraftwerk Lambach spielte sich auf mehreren Ebenen ab. Auf der einen Seite GegnerInnen, Firmen, die sich durch den Bau Profit erhofften, die Politik, vor allem durch die ÖVP und die OKO, heute Energie AG, deren Privatisierungspläne parallel zu den Konflikten um das Kraftwerk Lambach verliefen. Und auf der anderen Seite die im Camp Protestierenden, die zwar intensiv von Global 2000, den Grünen und einigen AnrainerInnen unterstützt wurden, aber gegen diese machtvolle Mauer der Befürwortenden kaum eine Chance hatten. Viele der Protestierenden von damals meinen heute: „Es war ein Okö-Krieg.“

Gerüchte und Verleumdungen
Die Phantasie einiger Befürwortender des Kraftwerkbaus entwickelte sich zur Hochform, wenn es darum ging, die Protestierenden zu verleumden.
Feierte das Gerücht über die Berufsdemonstrierenden damals seine Premiere? Jedenfalls begegnet es uns in schöner Regelmäßigkeit immer wieder, wenn sich eine Protestbewegung formiert. Hohe Summen wurden genannt, die angeblich pro Tag und Person ausbezahlt worden seien. Von wem eigentlich?
Den widerlichen Höhepunkt setzte wahrscheinlich der ehemalige Sprecher der Vöest, der eine namentliche Erwähnung nicht verdient. Er bemühte in einem Kommentar, den ich nicht wörtlich zitieren will, eine Nähe der Protestierenden zum Nationalsozialismus und zu Goebbels. Pühringer gratulierte ihm daraufhin in einem Leserbrief und meinte später, er hätte den Kommentar nicht gelesen.

Plötzliche Wende und weitere Ereignisse:
Mit einem Unfall beginnt eine aufrüttelnde Wende im Camp. Ein Pensionist hält sich an der Kante einer Baggerschaufel fest, stürzt, bricht sich eine Rippe und verliert das Bewusstsein. Der Fahrer wird im Prozess freigesprochen. Der Pensionist überlebt glücklicherweise ohne bleibende Schäden.

Ein weiteres Ereignis: Bei Baggerungsarbeiten werden menschliche Skelette gefunden, ein Baustopp wird beschlossen, schließlich klärt sich, dass diese Überreste über 300 Jahre alt sind. Vorherige Vermutungen, es könnten Skelette von ehemaligen KZ-Häftlingen sein, veranlasste einige, sich zu antisemitischen Äußerungen der übelsten Art hinreißen zu lassen.

In ihrem Resümee führen die beiden AutorInnen recht ausgewogen auch die Perspektiven dieses lange zurückliegenden Konflikts vor Augen.
Als der faktische politische Gewinner ging der damalige Landeshauptmann Josef Pühringer hervor. Bei der nächsten Landtagswahl verlor die ÖVP allerdings 2,51 Prozent, was natürlich nicht 1:1 aus dieser Thematik resultiert. Die Grünen schafften den Einzug in den Landtag. Unterstützt wurden die AktivistInnen damals von der gesamten Prominenz der Grünen, von Peter Pilz über Madeleine Petrovic bis zu Alexander van der Bellen, die alle ins Camp kamen, allerdings auch wesentlich durch die Umweltschutzorganisation Global 2000 mit ihrem damaligen Pressesprecher Lothar Lockl.
Auf kommunaler Ebene zog die Liste „Lebensraum Stadl-Paura“, die ein besonderes Naheverhältnis zu den ehemaligen KraftwerksgegnerInnen zeigte, mit 17,91 Prozent in den Gemeinderat ein.

Eine Niederlage mit „Gewinn“
Im Herbst 1997 fällt die Entscheidung: Die ÖVP beschließt mit den Stimmen der SPÖ, die sich immer gegen diesen Bau ausgesprochen hat, schließlich für die Errichtung des Kraftwerks.
„Problematisch war ganz offensichtlich die Ausgangslage“, stellt Marina Wetzlmaier fest. „Die SPÖ war innerhalb ihrer Fraktion gespalten, denn die Gewerkschaft akzeptierte den Bau mit dem Argument der Arbeitsplätze.“
Die Aktivistinnen hatten auf einigen Seiten übermächtige Gegner. Als Verlierende in diesem Konflikt sehen sich die meisten dennoch nicht. Lothar Lockl wird von Wetzlmaier und Rammerstorfer einige Male zitiert. Er habe in Lambach gelernt, wie sich unterschiedliche Menschen zu einer Gemeinschaft formieren könnten. Bei einigen der Protestierenden entwickelte sich erst durch diesen Konflikt eine ernsthafte Politisierung.
Nicht zu beschönigen ist allerdings auch die Tatsache, dass der Protest in der Bevölkerung teils tiefe Gräben aufgerissen hat, bis hin zu Zerwürfnissen innerhalb von Familien.
Wetzlmaier und Rammerstorfer bleiben in ihrem Buch Kampf um die Traun. Der Widerstand gegen das Kraftwerk Lambach aber nicht ausschließlich in der Vergangenheit, sondern streifen auch – und dies ist eine Qualität des Buches – die Gegenwart.
Das Kraftwerksprojekt Tumpen-Habichen an der Ötztaler Ache in Tirol soll trotz einer Petition mit mehr als 12.000 Unterschriften und anderer Proteste bis spätestens 2022 in Betrieb gehen. Zurück zu Lambach: Rund um den Bau des Kraftwerks entwickelte sich ein Naherholungsgebiet. Die Protestierenden nutzten den Konflikt, um ein Rückbauprojekt der Traun zwischen Welser Wehr und Alm-Spitz zu fordern. Für ihre Verdienste um den Rückbau erhielt die Bürgerinitiative Traun den Landespreis für Umweltschutz und Nachhaltigkeit 2012.
Das aktuelle Buch von Thomas Rammerstorfer und Marina Wetzlmaier präsentiert eine Chronologie der Ereignisse und zeigt auch Methoden und Wege auf, wie bei künftigen Projekten Erfolge erzielt werden könnten.

 

Thomas Rammerstorfer, Marina Wetzlmaier
Kampf um die Traun. Der Widerstand gegen das Kraftwerk Lambach
Verlag Bibliothek der Provinz (vierfärbig)
240 Seiten, 26,– Euro

Lambach.
Im Jänner 1996 begannen die Rodungen für den Bau eines Wasserkraftwerkes an der Traun zwischen Lambach und Stadl-Paura. Eine Protestbewegung wurde aktiv. Anrainer/innen und Umweltschützer/innen aus ganz Österreich besetzten den Wald und lieferten Polizei, Bauarbeitern und Kraftwerksbefürwortern ein dreimonatiges „Katz und Maus“-Spiel. Das Buch erzählt ein bemerkenswertes Stück Zeitgeschichte anhand ökologischer, politischer und ökonomischer Aspekte, und davon, welche Rolle Politik, Medien und Zivilgesellschaft dabei spielen. Das Umschlagen von verbaler in körperliche Gewalt, aber auch das Streuen von Gerüchten, Verbreiten von „Fake News“ und Verschwörungstheorien waren dabei auch im prä-digitalen Zeitalter Teil des Konflikts. Die Front der Kraftwerksbefürworter bemühten sich etwa stets, die Gegner/innen als professionelle und gar bezahlte „Protesttouristen“ darzustellen. Nach einem Baustopp bis Herbst 1997 wurde das Kraftwerk schließlich doch errichtet, allerdings nach ökologischen Gesichtspunkten deutlich optimiert. So endete der „Kampf um die Traun“ einerseits mit einer Niederlage, bewirkte andererseits aber weitreichende Erfolge der Umweltschutzbewegung und des zivilgesellschaftlichen Protests.

Stadt mit mobilen Persönlichkeitsstörungen

Der Stadt Linz, die in einem etwa 5 Quadratkilometer großen Gebiet wie Urfahr-Zentrum 10% der Fläche – also zirka 0,5 Quadratkilometer – ohne mit der Wimper zu zucken der Autobahn zum Fraß vorwirft, muss man im Jahr 2020 wohl zu einer umfangreichen Therapie raten. Magnus Hofmüller und ein semi-professionell angelegter und eher laien-psychologisch formulierter Versuch, 5 verschiedene Diagnosen zu stellen.

Foto privat

Fall 1: Ersatzhandlung(en)
Man will ja nicht den Finger in die offene Wunde legen, aber Linz hat ein Brückenproblem. Und zwar nicht ob ihrer Anzahl, sondern aufgrund der fairen Aufteilung zwischen den unterschiedlichen Mobilitätsformen. Dutzende nationale und internationale Studien böten ein fundiertes Rüstzeug, dieses Problem anzugehen. Aber diese werden nicht angefasst. Stattdessen werden Mikroaktionen gestartet, die eher hilflos wirken. „Aktion scharf“ gegen BrückenradlerInnen, die gegen die Fahrtrichtung unterwegs sind, ein LED-Geschwindigkeitssmiley, der das Schnellfahren eher game-ifiziert als es zu unterbinden, oder ein neuer Anstrich, der wohl dünnsten RadlerInnenspur in Europa. Am launigsten sind aber die Ersatzhandlungen, die aus den Schubladen von Freizeitparkdesignern zu kommen scheinen: Seilbahnen und Hängebrücken. Hier ist dringender Handlungsbedarf.

Fall 2: Prokrastination
Lösung C ist erst möglich, wenn A und B fertig sind. Ein Radstreifen auf der Nibelungenbrücke ist erst möglich, wenn die oder die Brücke fertiggestellt ist. Der belegte Fakt, dass mehr Autospuren mehr Autoverkehr evozieren, verhallt in den meisten Parteigremien in Linz wohl ungehört. Dass aber mutige und vielleicht kurzfristig unpopuläre Regelungen Abhilfe schaffen könnten, wie in anderen Kommunen, ist bis Linz noch nicht vorgedrungen. Das ist schade – Linz hätte mit seiner Lage das Potential, Arbeit, Kultur und Leben in Einklang zu bringen. Weil mit einfachen, aber scheinbar zu harten Eingriffen Wohnraum, Gewerbezonen, Freizeitflächen usw. durchaus miteinander und ineinander funktionieren könnten. Es wird einfach immer weiter – seit Jahrzehnten – vertröstet und weiter vertröstet.

Fall 3: Verleugnung
Die grundsätzlich positive Idee eines Radmotorikparks wird durch die vorgeschlagene Location konterkariert. Die Idee: Die Anlage unter den massiven Betonstützen der neuen Autobahnbrücken-Konstruktion zu verstecken. Nichts gegen eine sinnvolle Nutzung der Brachflächen, aber eine schon geschundene Spezies noch weiter vorführen? Radverkehr – egal ob als Verkehrsmittel oder Sportaktivität – braucht mehr Sichtbarkeit, Sicherheit und nutzbaren Raum. Eine Stadt sollte zu ihren RadfahrerInnen stehen und diesen – gleich wie dem Autoverkehr – die angemessene Wich­tigkeit zusprechen. Nicht Fahrradzonen verstecken, verschmälern oder ignorieren.

Fall 4: Selbstverzwergung – Mikroeingriffe anstatt Masterplan
Linz – also die Kommune – betreibt des Öfteren Selbstverzwergung und macht sich als Player im Zentralraum oft kleiner bzw. unwichtiger als die Stadt ist. Linz könnte die Spielregeln aktiver gestalten, was zum Beispiel Park-and-Ride, Verkehrsführung für PendlerInnen usw. betrifft. Stattdessen probieren die einzelnen politischen AkteurInnen mit eher reflexartigen öffentlichen Auftritten ihre jeweiligen Zielgruppen zu befrieden. Stichwort Spurverbreiterung/Busspur an der Donaulände oder Radweg auf der Nibelungenbrücke. Ein größerer Wurf wie z. B. ein Linzer Verkehrsgipfel, der von Fachleuten geführt wird und konkrete Maßnahmen nach sich zieht, steht wohl noch in weiter Ferne. Zu sehr ist man in seinen Klüngeln verhaftet und fürchtet sich vor unpopulären Eingriffen.

Fall 5: Toxische Beziehungen der VerkehrsteilnehmerInnen
Die nicht naturgegebene, aber in Linz dennoch problematische Beziehung unterschiedlichster VerkehrsteilnehmerInnen bzw. Interessengruppen wird nicht aktiv moderiert, sondern eher befeuert und für die eigene (verkehrs)politische Agenda genutzt. Wobei hier der Nutzen wohl eher kurzfristig ist als nachhaltig wirkt. Im Gegensatz zu toxischen Paarbeziehungen kann man diese Beziehungen nicht auflösen, sondern muss sie therapieren. Oder sie wird weiter eskalieren. Auch hier sollten parteipolitische Grenzen überwunden und das konstruktive Gespräch gesucht werden. Andere Städte schaffen das auch – und auch hier wieder die Hinweise auf ExpertInnen und deren Erkenntnisse. Nicht zuletzt: Verkehrs- Städte,- und MobiltätsplanerInnen sind oft auch gute TherapeutInnen.

Als Quintessenz und Analyse: ExpertInnen, ExpertInnen und ExpertInnen ranlassen. Das ist wohl das einzige Breitbandmedikament zur Lösung dieser Probleme.

Und, was in Linz noch nicht angekommen ist, auch wenn der Terminus Innovationsstadt durchaus oft erwähnt wird: Das Fahrrad ist ein modernes, zukunftsträchtiges und innovatives Verkehrsmittel.

StädterInnenblick

Foto Die Referentin

Sonja Großmann. Anarchistin im Schatten?

Die Referentin bringt seit mehreren Heften eine Serie von Porträts über frühe Anarchist_innen und den Anarchismus als eine der ersten sozialen Bewegungen überhaupt. Brigitte Rath beleuchtet dieses Mal das Leben und Wirken von Sonja Grossmann – und den Widerspruch, dass sich die anarchistischen Bewegungen in ihren Schriften für die Beseitigung von Hierarchien zwar einsetzten, aber wenige die Gleichstellung der Geschlechter gelebt haben.

Die 1884 im russischen Grodno (heute Weißrussland) geborene Sophie (später meist Sonja) Ossipowna Friedmann kam mit einer älteren Schwester nach England und lernte 1903 im Kreis um den russischen Anarchisten Petr Kropotkin den österreichischen Anarchisten Rudolf Großmann (1882–1942) kennen, besser bekannt unter seinem Pseudonym Pierre Ramus.1 1907 zogen die beiden nach Wien und veröffentlichten die Zeitschrift Wohlstand für Alle und später Erkenntnis und Befreiung. Ab ca. 1912 lebten sie in einem Haus in Klosterneuburg (Schießstättegraben 237), in das an Sonntagnachmittagen häufig Freund_innen und Aktivist_innen zu Besuch kamen. Die ältere Tochter Lilly2 kam am 5. Dezember 1907 zur Welt, die jüngere, Erwina, drei Jahre später. 1912 heirateten Sonja und Rudolf Großmann. Er erwähnte sie ausführlich in seinem stark autobiographisch geprägten, 1924 erschienenen Roman Friedenskrieger des Hinterlandes. Darin charakterisierte er sie „nicht als Gefährtin oder Weib, mit ihm in freier Vereinigung vermählt, sondern als Kameradin, als Anarchistin“.3 Ganz deutlich hob er ihre aktive Rolle im österreichischen Anarchismus hervor.

Überlieferung
Über Sonja Großmann sind wir vor allem indirekt informiert, d. h. sie wird in Briefen oder anderen Ego-Dokumenten erwähnt. Diese vermittelten Beschreibungen zeigen ihre Bedeutung für die österreichische anarchistische Bewegung rund um den charismatischen, aber auch umstrittenen Pierre Ramus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Selbst hat sie kaum schriftlich Spuren hinterlassen. Häufig waren Frauen in sozialen Bewegungen an wichtigen Schnittstellen tätig, ohne selbst schriftlich hervorzutreten. Ihre Tätigkeitsfelder sind schwer zu definieren, variieren und sind dennoch wichtig für die Herstellung und Aufrechterhaltung sozialer Beziehungen, auch wenn die Frauen nur allzu oft im Schatten der Geschichte agierten. Konstellationen wie die hier genannte führen zu Verzerrungen, die auch heute noch eine Rolle spielen – zu Ungunsten der Sichtbarkeit von Frauen. Für Sonja Großmann kann dies deutlich belegt werden.

Der rumänische Schriftsteller, Pazifist und Anarchist Eugen Relgis (1895–1987) beschrieb bei einem Besuch in Wien 1930, dass sie die Administration der Zeitschriften führte.4 Da ihr Name jedoch nicht im Impressum aufscheint, blieb diese Tätigkeit lange unsichtbar. Sie hat wohl auch Übersetzungen vorgenommen, Vorträge organisiert und sich in Diskussionen eingebracht. In den Erinnerungen ihrer Tochter Lilly sind diese Aktivitäten präsent: Manchmal fuhr Sonja mit Pierre Ramus auf Vortragsreisen, wie beispielsweise zu einem Kongress nach Lyon, aber nicht sehr oft, denn sie musste bei den Kindern bleiben. Außerdem übernahm sie die Verantwortung für den Druck von Erkenntnis und Befreiung, fuhr in die Druckerei und schrieb auch selbst. Bei den häufigen sonntäglichen Treffen in Klosterneuburg versorgte sie die Gäste mit Kaffee.5

Sie versorgte die Gäste allerdings auch mit Tipps zu neuer anarchistischer Literatur. In der Korrespondenz zwischen dem Ehepaar Misar und dem Ehepaar Großmann, die sich von 1917 bis 1930 nachweisen lässt, wird der häufige – freundschaftliche – Austausch sichtbar, wie eben auch bei sonntäglichen Treffen. Brieflich versicherte Olga Misar am 3. September 1921: „Ihre Frau dürfte sich aber nicht jedesmal auf Bewirtung einrichten, sondern wir bringen etwas mit + verzehren es gemeinsam.“6 Dieser Eintrag zeigt die Bedeutung und Verflochtenheit von politischer Diskussion und alltäglichem Handeln.

Pädagogisches Interesse
Das Ehepaar Großmann teilte das Interesse für neue, rationalistische, gewaltfreie und koedukative Erziehung, wie sie der spanische Pädagoge Francisco Ferrer (1859–1909) im Model der Escuelas Modernas vertrat. Die Umsetzung der Ideen Ferrers führten Robert Bodansky7, Olga Misar und Pierre Ramus in einem Komitee zusammen, das ein internationales Francisco-Ferrer-Erziehungsheim in Wien errichten wollte. Ein Aufruf, Erziehungsheime im Stile Ferrers zu errichten, erschien im März 1921 in Erkenntnis und Befreiung, dem die oben genannten sowie Malva (Malvine, geb. Goldschmied) Bodansky (1877–?),8 Sonja Ossipowna-Großmann und andere nachkamen und gemeinsam diskutierten.9 Die Verschränkung von privaten und politischen Interessen war einer der Gründe, sich für die Umsetzung dieser neuen pädagogischen Konzepte zu engagieren, denn alle der genannten hatten Kinder, die sie freisinnig erziehen wollten. Das Engagement der Ehefrauen trat dabei besonders zu Tage, da auch in anarchistischen Kreisen Kindererziehung als Aufgabenbereich aber auch Einflussbereich von Frauen galt. Die für das Projekt gespendeten 200 Dollar reichten jedoch nicht aus, ein Haus anzukaufen. Das Ehepaar Grossmann sprach sich daraufhin dafür aus, das Geld an die Kinderfreunde zu spenden.“10

Sonja Großmann war als Aktivistin im Bund herrschaftsloser Sozialisten vertreten. Nachweisen lässt sich ihre Teilnahme an der Landestagung am 25. und 26. März 1922 in Graz, wo sie aufgrund der Erfahrungen der russischen Revolution „umfassendste Landpropaganda“ forderte.11 Auch in der bildlichen Darstellung wird ihre wichtige Position sichtbar. Zentral ist sie in der ersten Reihe neben Ramus platziert, womit eine klare Hierarchisierung verbunden ist. Im Vergleich zu anderen fortschrittlichen politischen Bewegungen, in denen auch häufig die politische Mitarbeit von Ehefrauen nachweisbar ist, die jedoch auch in der bildlichen Darstellung verborgen bleibt, bezeugt diese Darstellung die Praxis ihrer politischen Einbindung.

Historische Un/sichtbarkeit
Auch wenn Ramus in seinen Schriften, beispielsweise in der 1921 erschienen „Neuschöpfung der Gesellschaft durch den kommunistischen Anarchismus“ Freiheit und Gleichheit thematisierte, sind doch komplementäre Rollenaufgaben für die beiden Geschlechter in der Praxis des Familienalltags festzustellen. Damit folgte ihre gleichberechtigte Aufgabenverteilung des „Ehepaars als Arbeitspaares“, wie es die Historikerin Heide Wunder für die frühneuzeitliche Gesellschaft festgestellt hat.12 Diesen Verteilungen liegt eine Trennung von öffentlich und privat zugrunde. Auch wenn sich solche Polaritäten oft vermischen und nicht klar zu trennen sind, übernahm Ramus die historisch sichtbaren Aktivitäten, wie Texte schreiben und sie namentlich zu zeichnen, Vorträge halten, bei internationalen Kongressen präsent zu sein. Dennoch sind die Aktivitäten von Sonja Großmann, oft auf der informellen Ebene angesiedelt und damit für die historische Forschung schwieriger nachweisbar, für den Aufbau und die Funktion von sozialen Bewegungen ebenso wichtig.

Überschreitungen dieser dualen Geschlechterkonzepte werden auch in dem Eintreten von Ramus für Vasektomie, eine Praxis der temporären Sterilisation des Mannes, deutlich. Dass sich Männer aktiv um Empfängnisverhütung kümmern, war zu jener Zeit auf jeden Fall eine Grenzüberschreitung – und ist es wohl, in veränderter Form, auch heute noch. 1933, in einem Prozess in Graz, bei dem Ramus für durchgeführte Vasektomien verantwortlich gemacht wurde, bekam er einen Freispruch, ein Jahr später jedoch eine zehnmonatliche Gefängnisstrafe.13

Auch eine Migrationsgeschichte
Sonja Großmann musste mehrmals in ihrem Leben migrieren und sich damit an neue Lebensverhältnisse anpassen. In ihrer Jugend kam sie von Russland nach England und dann weiter nach Österreich. 1938 gelang mit der jüngeren Tochter und deren Ehemann die Flucht nach London, dann nach Paris, wo sie ihren Ehemann Pierre Ramus zum letzten Mal traf. Er starb auf einem Schiff nach Südamerika ganz plötzlich an einem Schlaganfall. Über London gelangten Sonja und ihre Familie daraufhin in die USA, wo sie am 14. November 1974 in Los Angeles starb. Mit dieser Migrationsgeschichte, teilweise erzwungen, ging auch ein sprachlicher und sicher auch ein kulturell breiter Horizont einher.

Ihr Leben zeigt, wie schwierig es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war, auch in fortschrittlichen anarchistischen Zirkeln traditionelle Geschlechterzuschreibungen aufzubrechen. Wie sieht es heute mit Geschlechterzuschreibungen aus?

 

1 Biographische Verortungen dazu unternahm Reinhard Müller im Oktoberblatt des Kalenders Anarchistinnen aus Österreich 2017.
2 Dr. Elisabeth (= Lilly) Schorr.
3 Pierre Ramus, Friedenskrieger des Hinterlandes, Wien 2014, 222; von 219–239 beschrieb er ihre Erfahrungen mit seiner Kriegsdienstverweigerung.
4 Eugen Relgis, Evocando a Pierre Ramus, in: Hommage à la non-violence, Lausanne 2000, 21.
5 Lilly Schorr, „Mein Vater Pierre Ramus“ – ein Gespräch, in: Hommage à la non-violence, Lausanne 2000, 35.
6 IISG, Ramus Papers, 152, 96–97.
7 Robert Bodansky/Bodanzky Pseudonym: Danton, (1879–1923) Schriftsteller, Liberettist, Schauspieler und Regisseur.
8 Sie engagierte sich auch in der IFFF.
9 Erkenntnis und Befreiung, 3/14 (1921), 4.
10 Erkenntnis und Befreiung, 3/8 (1921), 3.
11 Erkenntnis und Befreiung, 4/20 (1922), 3.
12 Heide Wunder, „Er ist die Sonn’, sie ist der Mond.“ Frauen in der Frühen Neuzeit, München 1992.
13 Reinhard Müller, „Wer pessimistisch in die Zukunft blickt, offenbart seinen schwachen Willen“, Wien 2016, 11–15.

Die Serie in der Referentin ist auf Anregung von Andreas Gautsch bzw. der Gruppe Anarchismusforschung entstanden. Siehe auch: anarchismusforschung.org