Mitleid für das digitale Baby

An einem Freitagnachmittag im November fahre ich mit meinem fünf Monate alten Sohn mit dem Zug nach Linz. Als er etwas quengelig wird, spazieren wir durch die Zugabteile, sein Blick bleibt bei zwei Fahrgästen hängen, woraufhin ich mit ihm stehen bleibe. Ich komme mit den beiden ins Gespräch: Wie alt mein Sohn sei? Wie die gemeinsamen ersten Monate verlaufen waren? Ein übliches Gespräch, das ich als Mutter eines Babys bereits gut kenne. Als mein Sohn das Handy entdeckt, das am Tisch zwischen meinen GesprächspartnerInnen liegt, fixiert er es intensiv, sein Körper beugt sich ekstatisch in Richtung des Handys. Meine Gesprächspartnerin bemerkt das Interesse und die Vehemenz meines Sohnes, sie legt den Kopf schief und fragt in mitleidvollem Ton: „Ah … ist er mit dem Handy aufgewachsen?“. Im ersten Moment verstehe ich nicht, was diese Frage bedeutet – ob er ein Handy hat? Ich überlege eine Sekunde und antworte: „Nein …“. Die Frau sieht meine Verwirrung und wird deutlicher, ihr Ton mitleidvoller: „Naja… beim Stillen viel am Handy gewesen?“

Ich entnehme ihrer Frage eine gewisse Traurigkeit, ein Mitleid meinem Sohn gegenüber. Muss das arme Kind bereits in seinen ersten Lebensmonaten mit einer Welt fertig werden, in der Handys einen so hohen Stellenwert einnehmen? Eine Welt, in der die Mutter sich mit ihrem Handy beschäftigt und sich das Interesse des Kindes dadurch bereits so früh an digitale Geräte heftet? Dieses Mitleid, das sie meinem Sohn entgegenbringt, macht mich nachdenklich. Wie ist in unserer Gesellschaft die Nutzung digitaler Geräte durch Kinder organisiert? Ein Baby, das sich für ein Handy oder einen PC interessiert, löst anscheinend eher Mitleid aus; auch einer 3-Jährigen wünscht man nicht unbedingt Begeisterung für Fernsehen oder You­tube-Clips, zumindest nicht mehr als am Spielen mit Gleichaltrigen. Auch noch mit 12 sollen Kinder die letzten Züge ihrer unbeschwerten Kindheit genießen und nicht stundenlang Videospiele spielen. Zur gleichen Zeit, mit ungefähr 12 Jahren, sollen die Kinder dann jedoch Digital Natives sein bzw. müssen durch Digitalisierungsoffensiven an Schulen schnellstmöglich zu welchen gemacht werden. Und damit niemand „abgehängt“ wird, gibt es auch finanziellen Zuschuss für einkommensschwache Familien beim verpflichtenden Laptopkauf. Zwischen fünf Monate alten und 12-jährigen Kindern bestehen augenscheinlich völlig gegensätzliche Ansprüche und Wünsche – einmal von Technologie ferngehalten und einmal dazu verpflichtet. Wie geraten Kinder von dem einen Pol zum anderen? Wie ist dieser Wandel zu erklären?

Digitale Geräte sind aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken. Dauerhafte Erreichbarkeit, schnelle Kommunikation, freundschaftliche Vernetzung über digitale Medien durch Sprache, Text, Bilder und Videos. Die digitalen Möglichkeiten schimmern sozial, schön und nach Unterhaltung. Es hängt jedoch auch ein Schleier von Notwendigkeit über ihnen, sie sind schlicht zu praktikabel. Ohne Onlinebanking eine Geldtransaktion zu tätigen ist zeitaufwändig, wenn auch nicht unmöglich. Kein Handy zu haben? Sehr schwer. Keine E-Mail-Adresse? Unmöglich. Umschlossen von Selbstverständlichkeit hat sich eine Abhängigkeit eingestellt, die uns in einer Weise an moderne Technologie bindet, bei der Verweigerung das Leben teilweise unmöglich machen würde. Was hier nach Zwang schmeckt, ist der Umstand, dass digitale Geräte sich nicht wie andere Gebrauchsgegenstände nach Belieben und eigenem Ermessen wieder aus der Hand legen lassen. Ganz im Gegenteil müssen sie verwendet werden, um teilnehmen zu können. Der Philosoph Ivan Illich hat Geräte, die benutzt werden müssen, zu denen es keine Alternative gibt, als radikales Monopol bezeichnet. Er beschreibt damit die „Dominanz eines bestimmten Produkttyps“, der Menschen zu „Zwangskonsumenten“ macht, deren persönliche Autonomie der Nutzung einschränkt und so eine „spezifische Form des kulturell determinierten Verhaltens“ vorgibt. Handy und PC können als so ein radikales Monopol verstanden werden – wir sind von ihnen abhängig, um in der Freizeit wie auch in der Arbeitswelt teilnehmen zu können.

Wie erklärt sich vor diesem Hintergrund der Wandel, der sich gesellschaftlich bei der Handy- und PC-Nutzung zwischen einem Baby und einem 12-jährigen Kind vollzieht?

Kinder ab einem gewissen Alter sollen der Notwendigkeit der Teilhabe an einer digitalen Welt zugeführt werden, es scheint eine moralische Pflicht darin zu stecken „niemanden zurückzulassen“. Wenn es sich um Babys handelt, scheint die Moral zu diktieren, sie so lange wie möglich von dieser Abhängigkeit fernzuhalten. Ist das Mitleid mit meinem Sohn Ausdruck der impliziten Erkenntnis, dass wir uns der unbemerkten Zwangsläufigkeit dieser Geräte nicht entziehen können? Wird uns diese Unumgänglichkeit technologischer Geräte erst bewusst, weil es eben genau Babys sind, die Handys noch mit einer Zwanglosigkeit und nach eigenen Kriterien nutzen? Mein Sohn möchte ein Handy abschlecken und es durch die Gegend werfen und erlebt dadurch Freude, die für Erwachsene hinter dem Zwang einer vermeintlich selbstgewählten Nutzung verschwunden ist.

Die Autorin wurde vermittelt von Female Positions.
www.femalepositions.at

Longing for Home, Schwabo

Im Februar wurde der Film Longing for Home von Meinrad Hofer im Kliscope gezeigt, der ein Performancestück von Silke Grabinger zum Thema hatte. In beidem geht es um kulturelles Erbe, Tradition, Vermächtnisse, Verstrickungen, Flucht und die Geschichte der Donauschwaben – und um ein Sehnen nach einer verlorenen Heimat. Wenn ich Heimat höre, haben viele zuvor schon ihren Revolver entsichert, meint Tanja Brandmayr dazu.

Filmstill Longing for Home.

Der etwas unter 50minütige Film Longing for Home entstand im Zuge des Performanceprojekts Someone from Home. Das mehrteilig angelegte EU-Projekt zum Thema kulturelles Erbe war in Serbien, Rumänien, Bulgarien und Österreich angesiedelt. So setzt sich die Linzer Company SILK Fluegge in diesem Performanceprojekt „mit den Donauschwaben auseinander, die in den Gebieten Vojvodina (Region in Serbien), Banat (zwischen Serbien, Rumänien und Ungarn geteiltes Gebiet) und Bačka (in Serbien und Ungarn) leben, mit deren Geschichte, deren sozialem Gewebe sowie deren traditioneller Kultur“. Im Zuge dessen ist der begleitende Film Longing for Home von Meinrad Hofer entstanden, er wurde 2022 fertiggestellt und jetzt im Februar erstmalig gezeigt.

Was das Tanzperformanceprojekt betrifft, bestanden die Ebenen der Auseinandersetzung aus Volkstanzelementen, etwa zu live gespielten Gstanzln, sowie aus zeitgenössisch tänzerisch bis skulptural performativ wirkenden Settings zu elektronischer Musik. Das Stück involvierte Textfragmente auf der Bühne, die etwa auf Nationalismen referenzieren. Und das Stück zeigte sozusagen traditionell donauschwäbische als auch künstlerisch gestaltete Kostüme, ein mit Orden absurd übervoll dekoriertes Kostüm als Repräsentation der Monarchie; oder ein Kostüm mit Gewehren im schwarzen Tüll-Unterrock: Es symbolisierte Maria Theresia, die einerseits Schutz offerierte, andererseits einst die Menschen zur Absicherung der Grenzen und Gebiete in die Ferne geschickt hatte. Schutz und Kampf, diese Assoziationen führen dann im Doku-Film hin zu Massakern des Zweiten Weltkrieges, an denen Donauschwaben beteiligt waren. Aber zuerst zum Stück: Im Rahmen der Aufführungen wurde in Österreich und an öffentlichen Plätzen in Südosteuropa performt und es wurden Begegnungsmöglichkeiten zwischen anwesenden Menschen inszeniert, als emotionales und in Verbindung tretendes Element. Das Interesse war, der eigenen und gemeinsamen Geschichte als Volksgruppe nachzuspüren, als Element der Begegnung, Beteiligung und des gemeinsamen Tanzens. Der Film zeigte dies in Impressionen und montierte Proben, Aufführungen und Statements zur Intention und Entwicklung des Stückes zusammen. Dazu sprach vor allem die Donauschwaben-Nachfahrin Silke Grabinger, zum Tanz und der Authentizität der Bewegungsrecherche kam Company-Mitglied Gergely Dudás zu Wort. Diese an sich schon reichhaltige thematische Basis wurde im Film Longing for Home mit Oral-History-Elementen von Menschen ergänzt, die als Vertreter:innen der älteren und jüngeren Generation gerade wegen der wenig aufgearbeiteten Donauschwaben-Geschichte die jeweiligen Probe- und Aufführungsorte quasi wie von selbst zu finden schienen (O-Ton Regisseur: „Sie waren einfach da“).

Was vermutlich genau die Absicht des Projekts war – auch besonders in der Eigenschaft als Angebot auf Kommunikation. Es fanden Interviews statt, die von Meinrad Hofer gefilmt wurden, außerdem Gespräche mit Nachfahr:innen der Volksgruppe der Donauschwaben in Österreich. Gemeinsamer Grundton: den Donauschwaben geht es zwar irgendwie gut, aber es handelt sich oft um ein Leben zwischen Vergangenheit und Gegenwart, um eine gefühlte Leere zwischen Historie, Nationalitäten und dem eigenen Schicksal. Vor allem, was die jüngere Zeitgeschichte anbelangt, handelt es sich oft um ein Totschweigen. Man beziehe sich da geschichtlich lieber auf die Monarchie, so eine Interviewte. In den Gebieten hatte man immerhin in der Regel kaum Probleme miteinander, das Zusammenleben der verschiedenen Gruppen war „normal“. Dafür wurde man an entscheidenden Punkten der Geschichte umso brutaler instrumentalisiert. Im Film gab es etwa eine erschütternde Aussage über die Begeisterung von jungen Männern für die Nazi-SS, man durfte als junger, kriegsbegeisterter Donauschwabe etwa nicht zur Wehrmacht. Die Begeisterung legte sich mit den ersten Kriegstoten schlagartig. Oder ein Nachfahre erzählte vom Vater, der als SS-Mann nur wenige Tage nach Eintreffen in Ausschwitz ein Gesuch auf Versetzung an die Front abgab – er hatte bis dahin Auschwitz für einen großen Truppenübungsplatz gehalten. Was soll man dazu sagen? Der Film berichtete, dass in Serbien Donauschwaben an Massakern beteiligt waren, zigtausende von ihnen selbst getötet wurden und gegen Ende des Zweiten Weltkrieges wieder auf der Flucht nach Österreich und Deutschland waren. Mehrfach blitzt auf, wie komplex die Geschichte dieser Volksgruppe ist, wie ambivalent und wie unzureichend bewältigt – persönlich, individuell und kollektiv, als Spielball der nationalen und kriegerischen Interessen.

Neben einer Oral History beziehungsweise Zeitzeug:innen-Interviews erzählt der Film in einem längeren Teil als Stimme aus dem Off, und als eigentlicher Kern, die persönliche Herkunftsgeschichte, die Sehnsucht nach der eigenen Geschichte, dem Fremdsein und dem Longing for Home, über das Leid der Vorfahren, deren Suche nach Glück. Im O-Ton, um einen Eindruck zu geben: “My ancestors were sent by Maria Theresia to move to the Banat. They find themselves under a variety of people, a multiethnic state. (…) What they are able to carry, they carry with them. The land is very hard to farm. (…) A mixture between surviving and rebirth of a new home.”
Oder in Analogie zum tänzerischen Medium, nochmals Monarchie, Maria Theresia und deren Absicht, die Siedler als Schutzwall zu verwenden: “It was a politically well rehearsed choreography against the Ottomans”. In diesem erzählerisch-reflektierenden Abschnitt sind verschiedene Aufführungen mit tradierten und zeitgenössisch tänzerischen Elementen zu sehen. Die Stimme aus dem Off reflektiert weiter die persönliche Nachfahrinnen-Seite und den emotionalen Versuch, zwischen Heimat, Flucht, Vertreibung und Schuld die Geschichte der Vorfahren zu verstehen, auch von Seite des Tanzes und dessen Bedeutung: “They dance because they can. They dance because you can be in touch with someone. Words are not needed”. Oder von den Brüchen: “From one moment to the other there is a separation. (…) A weird exciting feeling to go to war (…) Out of tune.”
Die Erzählerin Silke Grabinger ertappt sich unter anderem in einer Komplizenschaft der Gesten, der tatsächlichen und symbolischen Steps, die gelernt werden müssen, auch wenn sich diese unter anderem gegen die eigenen Nachbarn richten: “It is my duty to make the steps, to defend my family (…) even if that means that my neighbour is my enemy”.

So werden Familiengeschichte, Zeitzeuginnen-Interviews, der Tanz als künstlerisches Medium sowie ein reflektierender Text zusammengeführt. Im Text zum Film heißt es etwa: „Dabei sind Fragen nach der Tradierung der Geschichte und den möglichen Auslassungen wichtig.“ Womit wir bei Fragen nach den Auslassungen des Dokumentarfilms selbst angelangt sind: Der Film setzt Interviews von Zeitzeug:innen und Nachkommen als Mittel ein. An die Stelle der komplexen politischen Faktenlagen oder dementsprechenden historischen Expert:innen-Stellungnahmen, setzt er weitgehend die künstlerische Dokumentation eines Tanzperformanceprojekts, das selbst von Leere und Auslassungen handelt. Der Dokumentarfilm wechselt etwa ab der Mitte zu einer essayistischen Erzählung. Diese thematisiert Abgetrennt-Sein und ein Wieder-in-Verbindung-Kommen. Gegen Ende des Filmes wird ein “everlasting longing for home” benannt: “We try to reconnect again (…) to fill the missing puzzles (… ) the void”.

Bei mir als Zuseherin bleibt die Faszination übrig, wie tief sich Familiengeschichte immer wieder über Generationen manifestiert. Andererseits bleibt zwischen Krieg, Massaker, Flucht und zwischen Gesten, Kostümen, Tanz, Text und Musik im Film eine gewisse Leere übrig: Zweifelsohne sind Tanz und Musik superpotente Mittel, auch in diesem Kontext. Und ich empfinde sogar Mitleid für Menschen, die das Potential von Kunst herunterspielen. Vielleicht gerade deshalb hätte ich mir im Film noch eine andere Involvierung der Donauschwab:innen verschiedener Generationen gewünscht, abseits herkömmlicher Interviews. Ich kann mir zwar vorstellen, dass das in diesem Setting schwer machbar gewesen wäre, und will das in dem Sinn nicht als Kritik verstanden wissen. Aber es bleibt für mich eine gewisse Unverbundenheit. Es bleibt eben ein Gap, vielleicht für mich als nicht-donauschwäbische Betrachterin in Form offener Stellen, vielleicht für Nachfahren und Nachfahrinnen als offene Wunden – oder als Sehnsucht nach bauschigen Röcken, Erzählungen der Großeltern oder nach den Gerüchen der Kindheit.
„Wie soll ich tanzen, wenn ich net amal a Stückl Brot hab?“, sagt an einer Stelle eine ältere interviewte Dame im Film. Und ich frage mich: Wie soll ich Fragen zu Volksgruppen und Heimat thematisieren, oder an ein Re-Connecten glauben, wenn Ermordete sich nicht mehr connecten können. Mir ist dann beim Nachdenken spontan der Satz eingefallen: „Wenn ich Heimat höre, haben viele zuvor schon ihren Revolver entsichert“ – und ich meine damit: Wer auch immer heute über Heimat spricht, muss wissen, dass dafür schon viele Waffen entsichert wurden. Und für eine psychopathische Idee von Heimat wurden von den Nationalsozialisten nicht nur Gewehre und verrückte Emotionen entsichert, sondern es wurde systematisch und akribisch der Massenmord in den Gaskammern organisiert. Geschehnisse, Beschädigungen, die überlagerten Emotionen, Schuld, Auslassungen bis hin zu den Vorteilen, die sich Menschen durch den Anschluss an „die Deutschen“ versprochen haben. Das ist aber wiederum eine Geschichte über die Geschichte der Donauschwaben hinaus, die alle oder sehr viele betrifft, die ihre Familiengeschichten betrachten – als Täter, Mitläufer und als Nachfahren-Bewohner:innen der Grauzonen in den Braunzonen.
Und dann stellt sich noch die Frage: Wie soll man dann noch tanzen? Das Problem hat Adorno schon ähnlich festgestellt.

Am Ende fällt mir noch das kurze Gespräch zu Beginn der Filmvorführung ein. Eine Bekannte berichtet, dass sie von Jugendlichen im Zuge einer Auseinandersetzung mit der Thematik zuletzt so angesprochen wurde: „He, du Schwabo, … äh Entschuldigung, … Sie Schwabo!“ Wir haben gelacht, ich kannte den Ausdruck nicht. Ich wusste auch nicht, dass sie Donauschwäbin ist, was mir im Sinne einer Festschreibung auf Identitäten auch völlig egal ist. Die Thematisierung von Herkunft und Tradition ist noch einmal eine ganz andere Diskussion. Aber ich kenne die undurchdringliche Gemengelage von Familie, Traumatisierungen und die immer unzureichenden Bewältigungsstrategien. Und denke: Gerade deshalb muss die Kunst ran. Und gerade deshalb sind Lücken in Kunstprojekten nicht nur schwer in Ordnung, sondern auch gut.

Das Film-Screening war am 17. Februar 2023 im Kliscope zu sehen.

Im März ist außerdem im Kliscope in der Glimpfingerstraße 8 die Produktion Pygmalion Nullpunktzwei zu sehen, siehe Referentinnen-Tipps am Ende des Heftes.
www.silk.at

Alles immer wieder anfangen

Die Referentin bringt seit mehreren Heften eine Serie über frühe soziale Bewegungen und emanzipatorische Entwicklungen. Hanna Mittelstädt über den Anarchismus, die Erfindung eines neuen Lebens und die Unzerstörbarkeit des Imaginären.

Alles wird immer wieder neu anzufangen sein
(Unsichtbares Komitee, 2017)

Anarchismus, das war für mich Anfang der 1970er Jahre etwas „Imaginäres“, ein „Mythos“, etwas Geheimnisvolles, Abenteuerliches, Anziehendes. Es war eine Verlockung, entwickelte sich aber auch zu einem Gebäude, das Schutz bot. Meine „Bezugsgruppe“, also die Leute, mit denen ich mich damals auf die Entdeckungsreise begab, und ich, wir entdeckten in verschiedenen kollektiven oder gemeinschaftlichen Zusammenhängen die Geschichte und Formen des Anarchismus. Sobald das Gebäude klarere Konturen bekam, wurden auch seine Grenzen sichtbar, die Institutionen, und andererseits eine Unendlichkeit an Diversität. Was passte nicht alles unter diese Bezeichnung, historisch und in der Jetztzeit, und was nützte oder bedeutete dann also dieser Begriff?
Wir lernten auch die Idee eines „Imaginären“ kennen, wie sie von Cornelius Castoriadis (der damals auf Deutsch und Englisch auch unter dem Namen Paul Cardan veröffentlichte) geprägt wurde, und die des „Mythos“ von Georges Sorel. In unserer Sichtweise erweiterten diese Vorstellungen von den Glutkernen der Revolte oder der Revolution das Verständnis der gesellschaftlichen Veränderung: Die Glutkerne enthielten die Erinnerung oder die Sehnsucht, den aufständischen Impuls, das, was über die konkreten Klassenbedingungen und Ausrichtungen der Klassenkämpfe hinausging. Sobald die handelnden Menschen das Imaginäre und den Mythos als gleichwertige Bestandteile der Kampfbedingungen anerkennen, neben den Ausbeutungsverhältnissen und den Unterdrückungsmechanismen, landen wir bei der Subjektivität innerhalb des kollektiven Sozialen.
Der „subjektive Faktor“ erfuhr innerhalb der vielfältigen Formen der anarchistischen Bewegung immer eine größere Beachtung als bei der kommunistischen, wenn man diese Spaltung hier so vornehmen will. Obwohl sogar in der von den Bolschewiki gekaperten Russischen Revolution natürlich das Imaginäre, der Mythos einer großen, den ganzen Menschen und seine Umgebung umfassenden Veränderung vorhanden war: der Traum von einer Sache, über die das Bewusstsein erlangt werden muss, damit sie verwirklicht werden kann.

Dabei ahnen wir wohl, wie es sein könnte, vom Paradiese her
(Franz Jung, 1922)

Der Traum, das Imaginäre, der Mythos, der Impuls zur Freiheit … einerseits. Andererseits seine Verwirklichung, die durch das Bewusstsein über die soziale Situation hindurch kollektive oder kooperative anti-staatliche und anti-nationale Organisationsformen findet, in denen das alltägliche Leben, die Produktion der lebenswichtigen Güter, die das Bekannte überschreitende Neugier, der gesellschaftliche Luxus in Form von Überschwang, Festen, Kultur für alle geschaffen werden können. Diese sozialen Formen herrschaftsfrei, also an-archistisch, zu gestalten, wurde tatsächlich, aber wiederum auch nicht nur, in der historischen anarchistischen Bewegung praktiziert.
Die Spanische Revolution von 1936, die als Verteidigung der gewählten Republik gegen einen faschistischen Putsch begann, konnte nur so weit kommen und so lange andauern, weil sie, also die kämpfenden Menschen, auf einer seit Jahrzehnten installierten, selbst geschaffenen und selbstbewussten Sozialstruktur aufbauen konnten: auf den Nachbarschaften, den anarchistischen Gewerkschaften, den anti-staatlichen Bildungsstätten und jeder Form von gesellschaftlicher Selbstorganisation und gegenseitiger Hilfe. Diese Strukturen wurden vor allem in Katalonien und Aragon zwischen 1936 und 39 als Teil der Revolution weiterentwickelt. Den „Widerhall zwischen verschiedenen Facetten der Bewegung“ nennt das Unsichtbare Komitee diese Wechselbeziehung zwischen den Strukturen der Bewegung und der Vielzahl neuer Momente und Formen, die sich ständig verändern.
In Katalonien waren, nach den Zahlen von Carlos Semprun-Maura, 70 % der Betriebe kollektiviert, es gab zahlreiche landwirtschaftliche Kommunen, Arbeitermilizen, revolutionäre Komitees in den Betrieben, Vierteln, Städten und Dörfern, Umwälzungen im alltäglichen Leben, in der Lage der Frauen usw. Der gestörte „Widerhall“ zwischen den anarchistischen Strukturen und der Bewegung selbst war, neben der vereinigten internationalen Konterrevolution, die den Krieg forcierte, eine Sollbruchstelle des Scheiterns der Revolution. Sobald sich Strukturen zu Institutionen verfestigen, schließen sie die Bewegung aus. Sie werden Organe der Herrschaft.
Unter den Bedingungen eines Krieges lässt sich kaum Freiheit herstellen, auch keine An-archie. Aber die Grundregeln der Herrschaftsfreiheit galten sogar im Spanischen Bürgerkrieg: die Milizen waren anti-autoritär organisiert. Und im „Hin­terland“ wurde weiter an der Praxis und den Zielen der Revolution gearbeitet. Das Scheitern war nicht nur die Unterlegenheit gegenüber den Kriegsmitteln der Konterrevolution, sondern auch das Paktieren der anarchistischen Organe mit der Macht. Die Organe waren Institutionen geworden, die scheitern mussten.

Das Spiel aller Menschen, die „bewegliche Ordnung der Zukunft“
(Raoul Vaneigem, 1962)

Wir haben seitdem weltweit unendlich viele dieser kollektiven Freiheitsimpulse beobachten oder an ihnen teilnehmen können. Die wenigsten bezeichnen sich als anarchistisch. Die Vorstellung der Räteorganisation taucht wieder auf, sobald die erste Revolte verbraucht, die wilde Demokratie von Platzbesetzungen und Demonstrationen ermüdet und die Handelnden über eine eigene Form der Zusammenkunft, des Zusammenhangs, der Zusammenarbeit nachdenken: Der Rätekommunismus ist auch ein historisches Modell einer herrschaftsfreien gesellschaftlichen Organisation. Spezifische regionale Bedingungen spielen eine Rolle, spezifische Bedingungen von Ausbeutung und Unterdrückung, gegen die sich die Aufstände richten.
Diese Vorstellungen sind als Folien wichtig, die historischen Versuche ebenso. Alle gescheiterten Versuche sind im Imaginären vorhanden und werden irgendwo auf der Welt praktiziert, sei es im Lakandonischen Urwald oder in Rojava, in Hongkong oder Teheran, in Frankreich oder Lützerath.
Für meine Bezugsgruppe und mich gab es noch einen weiteren wichtigen Impulsgeber, der uns aus dem anarchistischen Gebäude herauskatapultierte: die Situationistische Internationale. Diese Gruppierung, die die Welt nach den 1950er Jahren bis 1969 radikal attackierte, und zwar in Ost und West (der Süden blieb ihr eher verschlossen), stellte eine Begrifflichkeit bereit, mit der die Hysterie der kapitalistischen Entwicklung seit dem Zweiten Weltkrieg erfassbar wurde: Die Warengesellschaft war zur alle menschlichen Verhältnisse durchdringenden Gesellschaft des Spektakels geworden. Außerdem waren die situationistischen Positionen gegen jederart politische und kulturelle Institutionen neuartig und grundlegend: Die Welt sollte gänzlich neu gestaltet, Kunst, Politik und Alltagsleben sollten eins werden. Die situationistischen Ideen waren eine Art Geburtshelfer für die Vielheit an Aktions- und Organisationsformen, die sich seit dem Mai 68 weltweit entwickelten.

Sich an das binden, was man als wahr empfindet. Da anfangen.
(Unsichtbares Komitee, 2007)

Nachdem wir das anarchistische Gebäude verlassen hatten, durch das situationistische gerobbt waren (unsere Aneignung ihrer Gedankenwelt erfolgte durch das Übersetzen sämtlicher von ihr herausgegebenen Zeitschriften), schienen uns ideologische Zuschreibungen für die verschiedenen Initiativen der tiefgreifenden sozialen Veränderung überflüssig. Inzwischen gab es eine beschleunigte Kommunikation, in der die Aufstände der Welt in „Echtzeit“ ausgetauscht werden konnten. Wer wollte sich mit dem Kategorisieren abgeben? Die Sprache, die Zeichen, die Parolen, sie sind spezifisch, sie sind aber auch „kreolisiert“, sie sind ein Widerhall der globalen revolutionären Geschichte. Die alten Formen politischer Intervention sind verbraucht, wer glaubt noch den bestehenden Institutionen? Nicht nur die Formen des kapitalistischen Systems in West und Ost und Nord und Süd sind obsolet und in einem rasanten Niedergang begriffen, auch die integrierten Formen der Opposition (Parteien, Gewerkschaften etc.) sind es.
Die dezentralen Basisbewegungen, die Aktivitäten der gesellschaftlichen Ränder, die in die eigenen Hände genommene Produktion und Verteilung von Gütern: all das knüpft, zumindest für mein Verständnis, an die anarchistischen Traditionen an, geht aber ebenso über sie hinaus. Ob die Forderung nach „Land und Freiheit“ in Lateinamerika, Spanien oder der ukrainischen Machnowtschina nach der Oktoberrevolution als anarchistisch bezeichnet werden kann? Mir scheint das unerheblich. Die Unzerstörbarkeit des Imaginären, die weltweiten praktischen Erfahrungen der Selbstorganisation und Selbstbehauptung, der unbedingte Willen zur Erkenntnis über die Strukturen, die uns unterdrücken, und diejenigen, die uns ein gewaltfreies und herrschaftsloses Zusammenleben ermöglichen können, daran als überzeugte Staatsdelegitimierer*innen mit Experimentierfreude und Entschiedenheit zu arbeiten, das scheint mir ausreichend.

Literatur:
Carlos Semprun-Maura, Revolution und Konterrevolution in Katalonien (Hamburg, 1983) Situationistische Internationale, Der Beginn einer Epoche (Hamburg, 1995, 2008) Unsichtbares Komitee, Der kommende Aufstand (Hamburg, 2010); An unsere Freunde (2015); Jetzt (2017)

Im Frühjahr 2023 erscheint das Buch:
Arbeitet nie! Die Erfindung eines anderen Lebens. Chronik eines Verlags in der Edition Nautilus. Zehn Jahre nach dem Tod Lutz Schulenburgs blickt Hanna Mittelstädt zurück auf vier Jahrzehnte Edition Nautilus und erzählt eine kollektive Geschichte.

Die Serie in der Referentin ist auf Anregung von Andreas Gautsch bzw. der Gruppe Anarchismusforschung entstanden, siehe auch: anarchismusforschung.org

Zum Rostigen Esel

Viele Leute kommen, weil sie wissen, hier könnte es das Teil noch geben: Über Fahrradwerkstätten, kollektive Arbeit und die Herausforderungen auf zwei Rädern hat Magnus Hofmüller mit VertreterInnen des ersten Linzer FahrradmechanikerInnenkollektivs Zum Rostigen Esel gesprochen.

Magnus Hofmüller: Danke für die Möglichkeit zum Gespräch! Gleich zu Beginn: Eine kollektive Fahrradwerkstatt – wie kam es dazu und wie wurde die Idee geboren, wie schaut sowas aus?
Rostiger Esel: Max hatte in Wien schon einen Fahrradladen, der als Kollektiv funktioniert. Als er dann aus privaten Gründen nach Linz gezogen ist, hat er ein paar Leute aus dem Umfeld der Bike Kitchen* gefragt, ob wir nicht vor Ort eine solch kollektive Fahrradwerkstatt aufbauen und starten möchten. Es war im Jahr 2014, als wir mit der Planung begonnen hatten, und wir haben dann 2015 als Gruppe von 5 Personen begonnen. Das erste Geschäftslokal war in der Lessingstraße. Zu Beginn war es noch ein Einzelunternehmen mit Angestellten, wurde dann aber rasch zur Rechtsform der OG, der so genannten Offenen Gesellschaft – was einem Kollektiv viel mehr entspricht. Aktuell sind wir 7 beteiligte Personen an der OG, ein Lehrling und 2 Angestellte, die kurz davor sind, in die OG einzutreten.

MH: Eure Idee ist, dass alle MitarbeiterInnen auch Teil des Kollektivs sind und alle die gleichen Möglichkeiten und Anteile haben.
RE: Ja, genau. Dass alle gleich viel verdienen ist uns sehr wichtig. Im ersten Jahr gibt es aber so eine Art Probezeit in Form einer normalen Anstellung und auch zu einem fixen Stundensatz.

MH: Wie gestaltet sich der Alltag in einem Kollektiv von gesamt 10 Personen? Stichworte: Dienstplan, Geschäftsführung und so weiter …
RE:
Wir haben alle 2 Wochen ein Plenum innerhalb dessen wichtige Entscheidungen getroffen werden und viel besprochen wird. Der Dienstplan ist ein Kalender der „bespielt“ wird – keiner teilt Dienste ein. Er muss nur voll werden. Es gibt eine ungefähre Stundenpeilung jedes Mitglieds am Beginn des Jahres. Je nach Kapazität und persönlicher Planung. Je nachdem wird zwei, drei oder vier Tage pro Woche gearbeitet. Wir kennen ja unseren Gesamtbedarf an Stunden und können das dann gut einteilen und überblicken.

MH: Das heißt, der Anteil ist nicht in Stunden umgelegt, sondern kann individuell angepasst werden.
RE: Ja, das hat aber nichts mit dem Mitspracherecht zu tun, das ist uns besonders wichtig, jede Stimme zählt gleich viel. Egal, wieviel „Stundenleistung“ erbracht wird.

MH: Organisation?
RE: Der Bereich Organisation und Administration wird so gut wie möglich aufgeteilt. Der Backoffice-Bereich wird so gut wie möglich gestreut. Aber es wird auch je nach Vorlieben, aber auch Fähigkeiten intern verteilt. Und auch hier zählt die Stunde gleich: Egal ob Werkstatt, Organisation oder Office.

MH: Wie sieht das bei euch mit der Ausbildung aus?
RE: Wir haben Max mit einem Fahrradmechaniker-WIFI-Kurs, weil es bis vor zwei Jahren gar keine Möglichkeit für eine Lehre in diesem Bereich gegeben hat, und Gerald mit einer Fahrradmechatroniker-Lehre. Die anderen Teile unseres Kollektivs sind Autodidakten. Und nicht zu vergessen unseren Lehrling Veronika. Sie macht die Ausbildung von der Pike auf.

MH: Wo liegen eure Schwerpunkte auf Werkstatt und auf Shop Seite?
RE: Verkauf ist nicht unser Hauptschwerpunkt. Wir haben einen Teileshop, der möglichst effizient gehalten wird. Sättel, Schlösser und Ersatzteile stehen da im Vordergrund. Und natürlich alles, was zur Sicherheit und StVO gehört. Aber keine Kleidung, Fahrradtaschen oder ähnliches. Im Werkstattbereich machen wir mittlerweile alles – auch Tätigkeiten, die wir zu Beginn nicht im Angebot hatten. Das betrifft zum Beispiel Federgabeleinstellung, aber auch E-Bikes oder nachträgliche Elektro-Motorisierung von normalen Fahrrädern.

MH: Ein Fokus von euch sind ja auch Lastenräder – wie kam es dazu?
RE: Hier müssen wir Joe auf die Schulter klopfen. Der wollte Lastenräder in Linz verkaufen und wir haben ihn mal machen lassen. Im ersten Jahr ging es schleppend voran. Aber als 2016, 2017 die öffentliche Förderung von Lastenrädern beschlossen wurde, kam es zu einer deutlichen Veränderung. Da ging plötzlich mehr. Wir hatten nur zwei Vorführräder, ein Bakfiets und ein Bullitt. Und das Ladenlokal in der Lessingstraße wurde zu klein, wir mussten umziehen. Mittlerweile sind zwei Drittel des Shop-Umsatzes Lastenräder und seit fünf Jahren verdoppelt sich dieser jedes Jahr.

MH: Um drei Herausforderungen zu nennen: Corona, Lieferkette und Teuerung. Wie geht ihr damit um? Was betrifft euch besonders?
RE: Wir sind zu Beginn 2020 hier im neuen Ladenlokal in der Museumstraße eingezogen, hatten dann ab März gleich den Lockdown und wussten nicht, was wir durften und was nicht. Wir wurden dann aber recht rasch als systemrelevant eingestuft und durften öffnen. Und dann kamen die „Kellerräder“. Die Menschen haben im Lockdown ihre Wohnungen und Keller durchgeräumt. Es ist regelecht explodiert, wir hatten in diesem Jahr über 1000 Stunden mehr gearbeitet als im Jahr davor. Die Verfügbarkeit von Ersatzteilen ist völlig unzuverlässig geworden. Zum Bespiel mussten wir auf Ketten über sechs Monate warten. Wir sind aber auch gut im Improvisieren und haben ein Augenmerk auf Re-Use-Teile. Das macht uns auch unabhängiger. Viele Leute kommen, weil sie wissen, beim „Rostigen Esel“ könnte es das Teil noch geben.
Wir haben beobachtet, dass Fahrräder und das Drumherum nur 5% teurer geworden sind – also weniger als andere Güter. Also sind wir auch nicht so betroffen. Die Energieteuerung trifft uns fast gar nicht, wir brauchen wenig Strom und heizen mit Holz.

MH: Abschließend noch zum Randthema „Fahrrad und Linz“. Was meint ihr zur aktuellen Situation und zum Ausblick in die Zukunft?
RE: Linz ist eine Autopendlerstadt. Die Linzer Politik denkt, dass die Pendler aus den Umlandgemeinden ihre WählerInnen wären und nicht die LinzerInnen. Der Verkehrsfluss geht über alles. Es gibt kaum Schutz für RadfahrerInnen, keine Tempo-Kontrollen und Angst, Parkplätze umzuwidmen. Es fehlt einfach der Mut, Fahrradwege attraktiver zu machen und bei neuen Projekten den Fahrradverkehr auf Augenhöhe mitzuplanen. Linz ist hier wirklich nicht modern und auf der Höhe der Zeit. Es müsste einfach mehr Raum für alternative Verkehrskonzepte geschaffen werden. Hier wäre zum Beispiel die Nibelungenbrücke eine gute Möglichkeit.

MH: Danke für das Gespräch!

GesprächspartnerInnen: Die kollektiven Menschen des Rostigen Esels.

Fahrradwerkstatt Zum Rostigen Esel
Museumstraße 22, 4020 Linz
Montag bis Freitag 10:00–13:00 h, 14:00–18:00 h
www.rostigeresel.at

Das Professionelle Publikum

Tipps, Tipps, Tipps von Petra-Maria Dallinger, Astrid Esslinger, Fina Esslinger, Freundinnen der Kunst, Gabriela Gordillo, Ursula Hübner, Marie Jahn, Marie Andrée Pellerin, Bibiane Weber und Markus Zett. Im März: Raus aus dem Netz und auf die Straße!

 

 

 

 

© Martin Traska

Petra-Maria Dallinger
ist Literaturwissenschaftlerin und leitet das Adalbert-Stifter-Institut des Landes Oberösterreich / StifterHaus.

„Stifter: illustriert“
„Number two“, Werkschau von Anna Jermolaewa

 

© Otto Saxinger

Astrid Esslinger
lebt als freischaffende Künstlerin in Linz. Mitglied des Linzer Stadtkulturbeirats von 2014 bis 2021.

Astrid Esslinger: Wildwuchs – Malerei und Cut Outs
Im Auge der Infodemie

 

Fina Esslinger
ist Kunsthistorikerin, sie unterrichtet Kunst und Fernsehen in der Klasse zeitbasierte Medien an der Kunstuniversität Linz, arbeitet für DORFTV und das Nordico Stadtmuseum. Sie ist Obfrau und Programmboardvorsitzende des Festivals der Regionen.

Festival der Regionen 2023 Höchste Eisenbahn
20 Jahre Lentos I Birthday Party

© Reinhard Winkler

freundinnenderkunst
arbeiten seit 1999 als Künstlerinnenkollektiv in Linz.

Eröffnung GLASHAUSFANTASIEN der freundinnenderkunst
Werkstattgespräche mit Filmpionierinnen #4 Die Regisseurin und Kamerafrau Elfi Mikesch

 

© Sara Pineros

Gabriela Gordillo
ist bildende Künstlerin mit Schwerpunkt auf Sound, Medien, Performance und Partizipation. Sie arbeitet mit servus.at, maiz, dem Linzer artist-run space bb15 und velak in Wien.

Internationaler trans­feministischer Streik gegen digitale Ausbeutung
Karadi, von Ybalferran

 

Ursula Hübner
ist Bildende Künstlerin und seit 1998 Professorin für Malerei und Grafik an der Kunst­universität Linz.

THE BEAUTY OF LIFE
Parade im Rahmen OPEN DAY 2023

 

© Martin Eder

Marie-Therese Jahn
wohnt in Linz und ist Redakteurin im Freien Radio Freistadt und bei DORFTV.

Streaming young – das Jugendformat
Ship Of Fools – Eine Kreuz- und Querfahrt

 

Marie-Andrée Pellerin
ist Künstlerin und Forscherin aus Montreal (CA). Ihre Arbeit beschäftigt sich mit Sprache, Rhetorik und semantischen Feldern aus einer feministischen Perspektive und umfasst verschiedene Formate wie Video, Sound, Lecture-Performances, Installationen und Skulpturen. Derzeit ist sie an dem von Künstler*innen betriebenen Raum bb15 in Linz sowie an weiteren kuratorischen Projekten beteiligt. Infos: marieapellerin.info

„Alien-in-residency“ Workshop
Kepler Salon Cordula Daus

© Reinhard Winkler

Bibiana Weber
ist Kustodin und Kuratorin bei KUVA im Turm 9 – Stadtmuseum Leonding. Freischaffende Künstlerin. Seit über 20 Jahren ehrenamtliche Kulturarbeiterin im KulturCafe Pichl.

PAPIER, in Bausch und Bogen
…new to you?

 

© Timotheus Tomicek

Markus Zett
leitet gemeinsam mit Claudia Seigmann theaternyx*.

Fürsorgliche Städte. Utopien zum Mitnehmen.
Jetlag

 

 

Tipps von Die Referentin
Die Referentin

 

Identitti von Mithu Sanyal
Ulrichsberger Kaleidophon 2023
Raphael Miro Holzer Dialog in Blau
SILK Fluegge Pygmalion Nullpunktzwei

Editorial

Der Metabolismus der Stadt, die aktuelle Ausstellung im afo architekturforum, beginnt den Textreigen in dieser Referentin. Schöne erste Zeile im Ausstellungstext zu den Stoffwechselprozessen der Stadt: „Unter dem Asphalt wird der Platz knapp“. Ja, ist so. Damit an dieser Stelle eine Empfehlung, sich die hervorragend gemachte Schau anzusehen.

Gefühlt eng wird es auch über oder auf dem Asphalt – nämlich dahingehend, was sich überall an Verdauungs- und Rülps-Prozessen in der Stadt and elsewhere in der Welt zusammenbraut. So war im November zum Beispiel über dem Asphalt nicht nur das üble rechte Demonstrant:innengesocks der Identitären zu finden, samt erfreulicher linker Gegenpräsenz, also derer, die die Welt vor diesen Hasspredigern abschirmen wollen. Sondern auf dem Asphalt wurden auch – wie soll man das benennen? – Autodemonstrationen gesichtet, die vollkommen sinnbefreit gegen Preissteigerung und Ukrainekrieg „demonstrierten“, während sie aufs Gaspedal drückten.

Aber gut. Reden wir kurz über Preissteigerungen. Der Strompreis wird sich 2023 angekündigterweise um ein Vielfaches erhöhen. Man will es nicht richtig verstehen, was das ausschließlich mit dem Ukrainekrieg zu tun haben soll und hat das Gefühl, dass man sich nicht nur auf ein Dystopia von langen Kriegen einstellen muss, sondern in Zukunft den Strom für den eigenen Haushalt gleich selbst an der Börse kaufen muss.

Erwähnen wir auch kurz die erhöhten Kosten, die verschärfte Ressourcenlage und den prekären Arbeitsmarkt. Dies zwingt zum Beispiel unsere Druckerei, den Landesverlag, einen soliden Mittelstandsbetrieb, ihren Standort in Wels Mitte kommenden Jahres zuzusperren. Die Referentinnen-Redaktion war und ist immer noch schockiert und erinnert sich in diesem Zusammenhang an einen Redaktionsausflug in den Betrieb. Es wurde bereits damals (2015!) beim Rundgang erzählt, dass es zunehmend schwieriger wird, die Preise zu halten. Weil etwa Altpapier an der Börse gehandelt wird und man deshalb gezwungen sei, Altpapier, das hier gesammelt wird, zu Weltmarktpreisen zu kaufen.

Benennen wir deswegen auch kurz den Zusammenhang zwischen einem überkommenen Kapitalismus, der zwar schon mehr als tot ist, aber dennoch als superaggressiver Zombie weiterlebt. Und kombinieren wir das mit der Rede von den alten weißen Männern, die als Phänomen und Spezies zwar noch nicht ganz tot sind, aber richtig gut riechen tun sie tatsächlich auch nicht mehr. Wir meinen hier im Übrigen nicht Männer über 60, sondern diejenige autoritäre Macher-Spezies, die uns zwar in privaten, gesellschaftlichen und politischen Belangen den Scheiß eingebrockt hat, den wir jetzt vorfinden, aber immer noch so weitermachen möchte; oder etwa aktuell denjenigen jungen Leuten, die Püree oder sonstigen Brei auf Bilder werfen, salbungsvoll erklärt, dass es hier doch um humanistische Werte geht, die zu schützen seien, während die Ökologie den Umwelt-Sturzbach runterrauscht. Und ja, wir finden es eigentlich auch scheiße, dass diese Bilder angepatzt werden. Aber darum geht’s hier nicht.

In Linz gab es übrigens eine FP-Anfrage an die Museen, zu den Sicherheitsmaßnahmen zum Schutz unserer Bilder vor Gatsch. Und man möchte antworten: Ja, wenns um Sicherheitsfrage geht, dann ist die Kunst was wert. Zu Aspekten von Autorität und deren poetisch-groteske Durchbrechung seien hier exemplarisch zwei Texte erwähnt: Barabara Eder schreibt in ihrem Text über Alice im Wunderland über eine Kritik an den Autoritätsfiguren im viktorianischen England bzw. über den logischen Abgrund des Absurden. Und Thomas Raab, der einen „antiautoritären“ Sprachansatz bei Christian Steinbacher reflektiert, erwähnt ein Zitat von Oswald Wiener, das da lautet: „folgerichtigkeit, die den kontakt zur wirklichkeit verliert, erzielt bekanntlich eine starke poetische wirkung“. Ja, stimmt: Je weniger Kontakt zur Wirklichkeit, desto folgerichtiger wirkt der Wahnsinn.

Fragen wir uns noch kurz, was in der Kultur rundum los ist: Wir wissen es nicht wirklich. Wir sehen zum Beispiel unter der Woche reges Treiben in Bibliotheken, am Donnerstagabend gut besuchte Lesungen, Freitagabend zum Beispiel komplett leere Cafes, Samstagmittag flau frequentierte Einkaufspassagen und Samstagabend etwa volle Clubs. Und dazwischen sehen wir auch so einiges.

Über die Zusammenhänge und unterirdisch guten Verbindungen, die sich zwischen den Texten auftun, möge sich die werte Lese­r:in­nenschaft selbst ein Bild machen. Anmerkung der Redaktion dazu:

Unbedingt alles von vorne bis hinten lesen. Ist eh schon wieder so bald dunkel.

Die Referentinnen, Tanja Brandmayr und Olivia Schütz

Was frisst Linz, …

… und was scheidet es aus? Wie funktioniert eigentlich der Stoffwechsel von Linz? Im afo ist derzeit die Ausstellung Metabolismus der Stadt zu sehen. Georg Wilbertz über Ausstellung und Infrastrukturen der Stadt.

Unter dem Asphalt wird der Platz knapp. Foto Max Meindl

Mit der Utopie der Stadt (und damit sind keine utopischen Idealstädte gemeint) verbindet sich, seit es die Stadt als Siedlungsform gibt, die Idee, dass es sich letztlich um eine Art Heilsort handelt. Dessen Bedeutung geht weit über die bloße Gewährleistung von sozialer, politischer, ökonomischer und kultureller Versorgung und Identität hinaus. Die Stadt ermöglicht vielfältige Lebensformen und repräsentiert – in unterschiedlicher Ausprägung und mit unterschiedlicher Konsequenz – ein mehr oder weniger offenes System des verdichteten Zusammenlebens. In der Antike oder dem europäischen Mittelalter wurden häufig metaphysische Einrichtungen und „Installationen“ (Religion, Kult etc.) genutzt, um die Stadt im Bewusstsein ihrer Bewohner*innen zu einem sicheren und lebenswerten Platz zu machen. Gelang dies im realen Leben meist nur sehr eingeschränkt (privilegierte Kreise ausgenommen), so gewann die irdische Stadt zumindest als Abbild religiös motivierter, eschatologischer Modelle eine heilsbringende Bedeutung. Schließlich war es das Himmlische Jerusalem, das am Ende aller Zeiten im mythischen Raum des Jenseits all jene städtischen Ideale und Existenzträume, die hier auf Erden – bis heute – nicht zu realisieren sind, erfüllen sollte.

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Infrastrukturen als Heilsversprechen
Auch wenn für uns heute derartige Vorstellungen kaum noch von Bedeutung sind und wir unsere „Heilssuche“ längst in die „paradiesischen“ Pseudo-Realitäten digitaler Medien und Gemeinschaften auslagern: die Stadt ist nach wie vor (trotz aller weltweit zu beobachtenden Verwerfungen) der physische Ort, der am ehesten die Hoffnung auf persönliche Verwirklichung verspricht. Die zentrale Voraussetzung hierfür bildet im Idealfall das reibungslose Funktionieren der Stadt. Dieses wird seit der Industrialisierung vor allem gewährleistet durch Infrastrukturen und Apparaturen, die meist unsichtbar (fast wie die Wunderwirksamkeit des Religiösen) im Untergrund der Städte und Siedlungen – wie von Geisterhand – werkeln. Die Unterwelt unter der Oberfläche der Stadt war bis zur Verlagerung der lebenserhaltenden Infrastrukturen in den Untergrund im Verlauf des 19. Jahrhunderts nicht unbedingt eine positiv konnotierte Sphäre. Hier verbargen sich die bösen Kräfte, ihr entstiegen die krankmachenden Dämpfe und bis zu den strafenden Tiefen der Hölle war es auch nicht weit. Mit der Industrialisierung und den komplexen Prozessen der Großstadtwerdung fand eine auf funktionale Optimierung hin orientierte Umdeutung der Welt unter der Oberfläche statt. In ihr verbarg man die Versorgungskreisläufe, die den Organismus (durchaus wörtlich zu verstehen) Stadt am Leben erhielten. Seitdem verlaufen unter der Oberfläche unserer Städte die Arterien, die uns mit Wasser, Energie, Wärme, Information etc. versorgen. Ihnen stehen die Ausscheidungskanäle (z. B. für Abwasserentsorgung) gegenüber.
Die vom afo architekturforum in Auftrag gegebene und von Alexander Gogl (Innsbruck) sorgfältig kuratierte Ausstellung „Metabolismus der Stadt“ widmet sich, auf Linz und sein Umland bezogen, diesen meist verborgenen Ver- und Entsorgungssystemen. Der Begriff Metabolismus überträgt damit metaphorisch das Bild biologischer oder medizinischer Stoffwechsel auf den Organismus Stadt.1 Dabei stehen sechs Themenschwerpunkte im Ausstellungsraum des Erdgeschosses im Mittelpunkt: Abfallsystem, Abwassersystem, Erdgas, Energie, Fernwärmesystem und Trinkwasser. Mit installativer Eindrücklichkeit (Videos: Reinhard Zach) widmet sich das Kellergeschoss des afo dem sogenannten Donaudüker (duiker = niederl. Taucher), der unterhalb der Flusssohle der Donau diese kreuzt. Als eine der für die 1970er Jahre typischen Großstrukturen dient der 375 m lange und begehbare Düker mit separaten Röhren für Abwasserentsorgung und Frischwasserversorgung.

Ein- und Übergänge: Kanäle des Unbewussten
Neben der Darstellung von Funktionsweisen und der Nennung wichtiger statistischer Größen, die das Ausmaß der Versorgung (und damit unserer Abhängigkeit) verdeutlichen, bilden die Schnittstellen und Übergänge von Unter- und Oberwelt einen wesentlichen Aspekt der afo-Schau. Ausgediente Verteilerkästen, die sich zuhauf im städtischen Raum finden und die originalgroßen Frottagen von Kanaldeckeln verweisen auf die „Eingänge“ und Verbindungen des Oben mit dem Unten. Im Alltag beachten wir diese technischen Installationen kaum und wissen in der Regel nicht, womit und für was sie mit dem Untergrund verbunden sind. Unsere „Vertikalisierung des Bewusstseins“ (Thomas Macho) manifestiert sich weitestgehend unbewusst über Momente der psychischen Verdrängung. Was sich da unten alles dicht gedrängt abspielt, möchten wir eigentlich nicht genau wissen, solange der schöne Schein der benutzbaren Oberfläche weitestgehend intakt bleibt und die urbanen Funktionen ihren Zweck erfüllen. Die – altbekannte – Analogie der Stadt mit dem menschlichen Körper, seinem verborgenen Stoffwechsel und seinen Kreisläufen unter der Haut drängt sich unmittelbar auf.

Offene Städte mit offenen Grenzen: Netze
Längst haben sich die bis zum Einsetzen der Industrialisierung klar definierten, durch fortifikatorische Maßnahmen sichtbar umgrenzten Städte in offene, ausufernde Topographien verwandelt. Nicht nur die Stadtgrenzen sind kaum noch wahrnehmbar. Auch die Infrastrukturen bilden seit Langem Netze und Vektoren aus, die weit ins Umland hineinreichen und dieses existenziell mit der Stadt verbinden. Folgerichtig steht im Zentrum von „Metabolismus der Stadt“ eine von Alexander Gogl detailliert ausgearbeitete Karte von Linz und Umgebung, die diese Verbindungen und Abhängigkeiten eindrucksvoll verdeutlicht. Das Denken in funktionalen Netzen, die Räume verbinden, strukturieren und überspannen ist ein konstituierender Teil innerhalb der Moderneentwicklung. Die erst im 19. Jahrhundert intensiv einsetzende Netzbildung kennt prinzipiell keine Grenzen. Selbst Natur- und Landschaftsräume wurden von Beginn an als „Aufmarschzonen“ für die infrastrukturelle Entwicklung instrumentalisiert und dementsprechend gefährdet oder zerstört. Bereits das Netz des 19. Jahrhunderts war eng geknüpft und zeigte Tendenzen einer ersten, aggressiven Globalisierung. Stellt man die Verbindung des übergeordneten Netzes mit dem Kreislauf einer konkreten Kommune (z. B. Linz) her, wird deutlich, dass die Offenheit der Netze ganz konkret und über das Symbolische hinaus die soziale und kulturelle Offenheit der Stadt bedingen. Unsere Form gesellschaftlichen Lebens mit all ihren Freiräumen ist ohne das Netz undenkbar. Dies ist die positive Nachricht.

Postwachstumsgesellschaft
In Linz und seiner Umgebung dominiert die Linz AG monopolartig die beschriebenen Systeme. Linz stellt diesbezüglich sicher keine Ausnahme, sondern eher die Regel dar. Die wirtschaftlichen, gerade auf dem Energie- oder Digitalsektor weltweit immer dynamischer vorangetriebenen Konzentrationsprozesse galten lange als gewinnmaximierende, zugleich „sichere“ Strukturen. Sie wurden auch hinsichtlich ihrer negativen Wirkungen auf Gesellschaften und Demokratien mehrheitlich kaum in Frage gestellt. Kurator Alexander Gogl ist skeptisch, ob hinsichtlich der Fragen von Nachhaltigkeit und Effizienz derart großräumig angelegte Ver- und Entsorgungsstrukturen dauerhaft zukunftsfähig sein können. Er plädiert dafür, lokale Einheiten und Netze zu entwickeln oder zu stärken. Dies böte nicht nur die Möglichkeit, punktgenauer entsprechend der tatsächlichen Anforderungen die notwendigen Leistungen zu generieren und zur Verfügung zu stellen. Es hätte sicherlich auch ein stärkeres Bewusstsein für das eigene Handeln und die eigene Verantwortung innerhalb infrastruktureller Systeme zur Folge. In demokratiepolitischer Hinsicht eine längst überfällige Notwendigkeit. Corona und der unsägliche, verbrecherische Krieg des Diktators Putin führen uns diese Zusammenhänge gerade schmerzlich vor Augen. Diese Krisen mit ihren Boykott- und Blackoutszenarien verdeutlichen die Anfälligkeit der bisher als „alternativlos“ apostrophierten Großstrukturen. Aus der „heilbringenden“ Utopie einer aus dem Verborgenden sprudelnden, immer verfügbaren Versorgung durch städtische Netze erwächst inzwischen die – wie auch immer begründete – Dystopie gesellschaftsgefährdenden Totalversagens. Bei aller informativen Neutralität der afo-Ausstellung schwingen diese Aspekte untergründig mit. Sie passt deshalb bestens in unsere Zeit.

1 Thematisch hat die Ausstellung nichts mit der Bewegung der Metabolisten zu tun, die vor allem im Japan der 1960er Jahre mit ihren Utopien zur dynamisierten Stadt der (meist flexibel gedachten) Megastrukturen wichtige Beiträge zum Städtebaudiskurs nach 1945 leisteten. Georg Wilbertz ist Architektur- und Kunsthistoriker und lebt in Linz.

Metabolismus der Stadt Unter dem Asphalt wird der Platz knapp … Ein Blick auf die Leitungspläne zeigt, wie eng es im Unterbau einer Stadt tatsächlich zugeht. Fernwärme schmiegt sich an Abwasserkanal, dazwischen kreuzen sich Strom, Telefon- und Internetkabel. Wasser- und Gasleitungen drängeln sich durch den verbleibenden Raum. Das afo architekturforum oberösterreich verwandelt sich in eine Miniaturdarstellung des Organismus Linz und lässt den Besucher dessen ober- wie auch unterirdische Teile erkunden. Kurator: Alexander Gogl.

Ausstellung: 23 .09. 2022–27. 01. 2023
Eröffnung: 22. 09. 2022 | 19:00 h
Öffnungszeiten: Di–Fr, 15:00–19:00 h

afo.at/programm/metabolismus-der-stadt

Metabolismus extra im Dezember:
Metabolismus und Glühwein – Freiluftkino beim Wärmepol: Do, 15. Dez, 18:00 h
Metabolismus der Stadt – Kuratorenführung: Fr, 16. Dez, 14:00–15:00 h

 

Foto afo architekturforum

van Laak, Dirk: Alles im Fluss. Die Lebensadern unserer Gesellschaft – Geschichte und Zukunft der Infrastruktur. Frankfurt am Main 2018, S. Fischer, ISBN 978-3-10-397352-5

Feminismus ohne Geschlechtervielfalt?

Die Referentin hat Tinou Ponzer vom Verein Intergeschlechtlicher Menschen Österreich, VIMÖ, eingeladen, zur aktuellen „Gender-Debatte“ zu schreiben – und darüber, warum es Schutzräume für alle braucht.

Seit Monaten gibt es wieder mal in Medien und Politik eine sogenannte „Gender-Debatte“. Auslöser der aktuellen Aufregung scheint der deutsche Gesetzes-Entwurf zur Selbstbestimmung und Gleichstellung trans-, intergeschlechtlicher und nicht-binärer (TIN) Menschen vom Juni 2022 zu sein1. VIMÖ, der Verein Intergeschlechtlicher Menschen Österreich, begrüßt diesen sehr, weil er endlich die riesigen Hürden für Personenstands- und Namensänderungen abbaut und die Änderung dieser Daten als das anerkennt, was sie sind: bürokratische Verwaltungsschritte ohne pathologisierende Zuschreibungen und mühsame Gutachtenverfahren. Der Entwurf kündigt auch Schadensersatz für Körperverletzungen und Zwangsscheidungen von intergeschlechtlichen und transgeschlechtlichen Menschen an – ein so wichtiger Punkt, den niemand in der Debatte der Erwähnung wert findet. Gleichzeitig scheinen diejenigen, die behaupten, Frauenschutzräume seien durch so ein Gesetz gefährdet, den Entwurf gar nicht gelesen zu haben – denn dieser Auszug bezieht sich genau auf diese Sorge: „Es wird weiterhin darauf geachtet werden, dass Schutzbereiche für vulnerable und von Gewalt betroffene Personen nicht missbräuchlich in Anspruch genommen werden. Gewalttätige Personen gleich welchen Geschlechts haben z. B. wie bisher keinen Zugang zu Frauenhäusern. Zugangsrechte zu Frauenhäusern richten sich weiterhin nach dem jeweiligen Satzungszweck der privatrechtlich organisierten Vereine.“

Wer sich mit Lebensrealitäten von TIN Menschen befasst, weiß, dass sie im Gegensatz zur cis-endogeschlechtlichen Bevölkerung mehr Ausgrenzung, Diskriminierung und Gewalt ausgesetzt sind. Es geht bei diesem Hinweis nicht um „wer hat es schlimmer“, sondern um Realitäten, die da sind. Es geht um patriarchale, geschlechtsspezifische Gewalt, welche mit Homofeindlichkeit und Frauenhass durchsetzt ist – eine leider geteilte Erfahrung mit cis Frauen und Lesben. FrauenLesben machen genauso die Erfahrung in gesellschaftliche Strukturen mit Gewalt „passen“ zu müssen, aufgrund dessen, dass sie sind, wer sie sind – oder was ihnen zugeschrieben wird. Jeder Mord einer cis oder trans Frau ist einer zuviel!

Vulnerablen Gruppen wie trans Frauen werden Schutzräume und richtige Unterbringungen verwehrt, aus der Angst heraus, dass ein Gewalttäter in diese mit geändertem Personenstand und Namen und „als Frau verkleidet“ eindringen würde. Nachdem dies so oft als Argument gebracht wird: Wer fragt eigentlich danach, ob die Frauen in Frauenhäusern z. B. das auch so empfinden, dass Selbstbestimmung für trans, inter und nicht-binäre Menschen gefährlich ist für sie, und welche Bedürfnisse sie haben? Wo sollen TIN Menschen untergebracht werden, wenn sie in „männlichen“ Bereichen mitunter körperlich angegriffen werden und in „weiblichen“ Bereichen aber nicht untergebracht werden dürfen? Warum lässt man sie nicht selbst entscheiden, was das Beste wäre?

Gewalt gegen Frauen passiert jetzt schon – wie kann man hier Frauen auseinanderdividieren und die einen schützen und die anderen nicht? Wieso beschäftigt man sich nicht mit den notwendigen umfassenden Konzepten? Die Frauenhauskoordinierung e. V. in Deutschland hat sich im September 2022 ganz klar inklusiv positioniert. Aus dem Statement: „Ob cis, trans*, inter* oder non-binär: Passender, bedarfsgerechter Gewaltschutz darf niemals dem Zufall überlassen werden.“2

Alleine von einer „Gender-Debatte“ zu sprechen verharmlost, was hier passiert – seit Monaten diskutieren cis Menschen über trans Menschen, insbesondere trans Frauen, aber auch trans Männer. Dabei wird auch die – immer noch nicht annähernd ideale – Gesundheitsversorgung und Zugänglichkeit dazu für trans Jugendliche massiv in Frage gestellt. Weder wissenschaftliche noch community-basierte Quellen oder Quellen aus dem psycho-sozialen Fachbereich werden geteilt, um Stimmung gegen Spezial-Kliniken zu machen und den Eindruck zu erwecken, dass Trans-Aktivismus manipulativ sei und selbstbestimmte medizinische Unterstützung junge Lesben dazu bringe, medizinisch zu transitionieren und so ihre körperliche und psychische Integrität verletzt werde. Studien dazu zeigen, dass der Großteil der Menschen eine De-Transition durchführt, nicht, weil sie draufgekommen sind, dass sie nicht trans sind, sondern aufgrund von sozialem, gesellschaftlichem, familiärem Druck und Diskriminierung, und weil es für sie einfacher ist, mit der Dysphorie zu leben, statt sich permanentem Hass und Ablehnung auszusetzen. Durch die Möglichkeit, eine Transition durchführen zu können, wurden viele Leben gerettet und erheblich verbessert, allein durch die Möglichkeit der richtigen Behandlungen und durch die wichtige soziale Anerkennung!

„Es gibt nur zwei biologische Geschlechter.“ Diese Aussage hören wir in letzter Zeit oft. Dabei wird nicht nur Transgeschlechtlichkeit als biologische Wahrheit verneint, sondern auch intergeschlechtliche Menschen werden wieder vollkommen unsichtbar gemacht. Der langwierige, harte und schmerzhafte Weg, den inter Menschen gegangen sind, um auf die massiven Menschenrechtsverletzungen aufmerksam zu machen, welche passieren, damit intergeschlechtliche Körper in die biologischen Normvorstellungen passen, und dafür zu kämpfen endlich in ihrem Geschlecht und ihrer Geschlechtsidentität anerkannt zu werden, wird einfach beiseite gewischt und erneut unsichtbar gemacht. Die UN, die Europäische Kommission, das Europäische Parlament und einige Länder haben uns nach Jahrzehnten des Widerstandes gehört und uns unsere Rechte anerkannt, wir werden uns nicht von einem rechts-radikalisierten Movement diese Anerkennungen wegnehmen lassen. Und dabei brauchen wir Unterstützung und Allianzen. Die Gesellschaft braucht umfassende, entpathologisierte Aufklärung zur Vielfalt von Geschlecht, körperlichen Merkmalen und Identitäten – und einen positiven Zugang dazu, keinen gewaltvollen.

„Der Begriff Frau soll ausgelöscht werden …“. Geschlechter-inkludierende Sprache zu verwenden, heißt möglichst viele sichtbar, benennbar zu machen. Niemand verlangt dabei, dass der Begriff Frau nicht mehr verwendet werden darf – nur, weil darauf verwiesen wird, dass mit anderen Begriffen mehr Menschen benannt werden und daher nicht ausschließlich von Frauen gesprochen werden soll, wenn es beispielsweise um körperliche Voraussetzungen geht. Trotzdem wird behauptet, dass der Begriff Frau gelöscht werden soll. Woher kommen diese Behauptungen? Steht Angst dahinter, Angst etwas zu verlieren? Geht es um Machtpositionen und Ressourcen, die cis-endogeschlechtliche Frauen für sich jahrzehntelang erkämpft haben? Gespräche auf Augenhöhe über solche Ängste wären hier ein guter Ansatz, anstatt medial Gruppen, Personen anzugreifen und ihnen potentiell gewalttätiges Verhalten zu unterstellen. Es sollte um ein gemeinsames Kämpfen gehen – gegen weiße, patriarchale Machtstrukturen, um mehr Raum, mehr Sichtbarkeit, mehr Ressourcen zu erlangen.

Was in Österreich entschieden wird, entscheiden nicht die Minderheiten. Wer hat eine Plattform? Wer wird in der breiten Öffentlichkeit gehört? Wer hat Machtposition? Wer kann (mit-)bestimmen, Gesetze beschließen? Welche TIN-feindlichen Diskussionen werden – vielleicht ungewollt – befeuert? Es gibt genug Stimmen in der Regierung und den Oppositionsparteien, die über Geschlechtervielfalt und unsere Realitäten nichts wissen oder sogar aktiv unsere Existenz in Frage stellen und Gleichstellung und Verbesserung der Lebenssituationen verhindern. Gerade wenn trans, nicht-binäre, inter Menschen im Parlament angegriffen oder lächerlich gemacht werden, braucht es klare Positionen und Unterstützung! Die Konsequenzen einer trans- und interfeindlichen Rhetorik und Politik haben real die Betroffenen jeden Tag zu tragen. Vielen Menschen geht es die letzten Monate aufgrund dieser öffentlichen Debatte nicht gut. Es ist psychisch belastend, wenn über unsere Körper und Identitäten, über unsere Leben so verständnislos geredet wird und mehr die Emotionen von anderen als Fakten darüber entscheiden, welche Möglichkeiten TIN Menschen erfahren werden oder nicht. Gerade wenn gemeinsame feministische Zusammenschlüsse und Ziele so dringlich sind. Achtsamkeit für unterschiedliche Erfahrungen müssen wir alle immer bewusst haben. Aber niemandem wird dadurch etwas weggenommen, wenn wir auch Menschenrechte erfahren! Solidarität heißt aktiv unterstützen, Aktivismus und Politik machen, die gerade marginalisierte Gruppen miteinbezieht, intersektional wirkt und Menschen nicht gegeneinander ausspielt. Solidarität heißt auch, dass Betroffene nicht alleine gelassen werden, wenn Diskussionen um ihre Rechte und ihre Existenz geführt werden. Alles, was wir wollen, ist selbstbestimmt und in Ruhe leben können – gleichberechtigt und so, wie wir sind!

Der Artikel basiert großteils auf einem Statement von VIMÖ:
vimoe.at/2022/10/17/vimoe-statement-geschlechtervielfalt

1 www.bmfsfj.de/resource/blob/199382/1e751a6b7f366eec396d146b3813eed2/20220630-selbstbestimmungsgesetz-eckpunkte-data.pdf

2 www.frauenhauskoordinierung.de/fileadmin/redakteure/Publikationen/Stellungnahmen/2022-09-08_FHK_PositionierungGewaltschutzTransInterNicht-Binaer.pdf

www.vimoe.at
www.varges.at

Die Referentin tippt

Die IG feministische Autorinnen versteht sich als Labor sowie Interessensgemeinschaft von und für feministische und gesellschaftskritische Autorinnen. Derzeit werden Online-Veranstaltungen für Autorinnen und Literaturinteressierte aus ganz Österreich angeboten.

Online-Schreibgruppen: Du bist interessiert an gemeinsamer Textarbeit, theoretischen Inputs und stilistischem Feedback, an Austausch mit Schreibenden? Dann komm zu einer unserer Online-Schreibgruppen.

Schreibgruppe für Fortgeschrittene: jeden Montag, 18:00–20:00 h Schreibgruppe für Beginnende: jeden 2. Donnerstag, 17:00–19:00 h Schreibgruppe für Beginnende und Fortgeschrittene: jeden 2. Donnerstag, 14:00–16:00 h.

Offen für alle nicht-hegemonialen Geschlechter. In Koop mit dem Schwesternverein sprachkunst. Teilnahme: 10 € (Ermäßigung möglich) Anmeldung: support@igfem.at

www.igfem.at

Die kleine Referentin

© Terri Frühling