Genauso schwarz wie hier
Den Rauriser Förderungspreis 2020 zum Thema „Innehalten“ erhält Vanessa Graf für ihren Text „Genauso schwarz wie hier“. Eine Leseprobe von Vanessa Graf.
Als das mit dir anfing, besser, als ich es dann schließlich bemerkte, weil so etwas bemerkt man ja nicht von vorne weg, da braucht es Tage, Wochen, ein paar Besuche, jedes Mal ein bisschen anders, jedes Mal ein Stein im Weg, jedes Mal etwas, worüber ich beim Eintreten stolpern konnte – als man mir sagte, was eigentlich mit dir passierte, vergrub ich meinen Kopf in den Armen. Nahm das Gesagte und drückte es in die Ferne, weit, weiter weg von mir, eine abweisende Handbewegung, ein Schulterzucken, ein ausweichender Blick zur Seite. Nun, sagte die Frau hinter dem Schreibtisch, es gibt ja Optionen.
Optionen, dachte ich und fühlte die Möglichkeiten unter meinen Fingern gerinnen, sich über die Tischplatte ausbreiten, milchig-weiß bis hin zur Frau im Kittel gegenüber. Ein Heim, zum Beispiel, sagte die gerade, wie um mit ihrem Ärmel die Flüssigkeit auf ihrer Arbeitsplatte aufzusaugen. Betreuung, 12 Stunden, 24 Stunden, sie wischte ein Staubkorn vom Rande ihres Terminkalenders, oder wir können auch im Internet nachsehen, ich helfe Ihnen. Selbstverständlich.
Ich wollte nichts davon wissen, war verärgert. Wie können Sie nur, Sie haben sie ja nicht einmal gesehen, wollte ich schreien, blieb stattdessen stumm in der Ordination sitzen. Was heißt das jetzt für sie?, hörte ich mich schließlich doch fragen, während ich mental alle Anzeichen fein säuberlich verpackte, einsortierte, beiseiteschob. In Schachteln, was ironisch war, weil als ich es dann endlich wahrhaben konnte, lange nach diesem ersten Gespräch, erinnerte ich mich plötzlich wieder an all das, was ich damals so schön sorgfältig verschnürt an den Rand meines Bewusstseins stellte und verstauben ließ: Schachteln. So fing es nämlich wirklich an, mit Schachteln, und wäre ich weniger stur, weniger ängstlich, einfühlsamer oder einfach nur anders gewesen, hätte ich es vielleicht da schon bemerkt.
Der erste Tag, an dem ich deine Tür aufsperrte und meine Schuhspitze gegen etwas Hartes trat: nichts Außergewöhnliches. Ein Nicht-Ereignis, ein Un-Ding. Und trotzdem stand da etwas, eine kleine, schwarze Kiste, mitten in deinem Vorhaus, gerade so weit von der Türe entfernt, dass das Öffnen noch möglich war, das Eintreten aber bereits zum Über-Treten wurde. Ich stieg also darüber und gleichzeitig hinein in etwas, dessen Ausmaße ich weder erahnen noch mir vorstellen konnte, hätte ich es probiert. Ein schwarzes Loch, ein allesverschlingender Mahlstrom, unausweichliche Sogwirkung und ich ein Ästchen in der Brandung, ein falscher Zug und schon zerbrochen. Dass du damals eigentlich auch schon in Scherben vor mir lagst, das sah ich lange nicht. Ich trat also ein und darüber, über die schwarze Kiste, die Box in deinem Vorhaus, und dachte mir: Nichts. Nichts eigentlich, ich glaube nicht, dass ich sie damals überhaupt so wirklich wahrgenommen hatte, die Schachtel vor der Tür deiner Wohnung. Natürlich, ich sah die Falten in deinem Gesicht, jetzt klarer als vielleicht dort und dann an deinem Küchentisch, aber ich sah sie, die müden Augen, die schlaffe Haut, die Blässe. Komm, wir gehen spazieren, schlug ich irgendwann vor, raus an die frische Luft, die Sonne scheint. Du ziertest dich, deine Hände am Küchentisch wie ein Rettungsboot, während hinter dir der Dampfer in den Wogen versinkt und das Eiswasser deine Finger erstarren lässt, du wolltest nicht, nein, nein, ich war heute schon draußen, nein. Irgendwann gingen wir dann doch, du zögerlich in die Sonne blinzelnd, ich die Finger an den Blättern im Wald entlangstreichend. Ich kitzle den Wald und die Sonne kitzelt mich, lachte ich, du hinter mir, immer einen Schritt zurück. Ich dachte, du genießt. Du wusstest schon – du verlässt. Wir mussten beim Rausgehen auch über die Kiste gestiegen sein, die schwarze Box im Vorhaus, wir mussten die Tür einen Spalt aufgemacht haben, die Beine gehoben, eins, zwei, darübergestiegen sein. Davon weiß ich nichts mehr, wir redeten auch nicht darüber, nahmen sie nicht zur Kenntnis, taten so, als wäre sie nicht da. Keine Kiste im Vorhaus, keine Ringe unter deinen Augen. Rückblickend irritiert mich das, manchmal denke ich daran, wenn ich nachts wieder nicht schlafen kann.
Bei meinem nächsten Besuch waren es zwei.
Lange nur zwei.
Ich dachte nicht mehr daran, fand nichts merkwürdig, nur dich manchmal, wenn du dir wieder deine Augen riebst und verschlafen über die Tischplatte schautest. Wir sprachen noch immer nicht darüber, warum auch, zwei Kisten in deinem Vorhaus und eine Tür, die nicht mehr bis zum Anschlag zu öffnen war? Es gab Wichtigeres, Anderes: deine Mieterinnen, meine Beziehung, unsere gemeinsame Verwandtschaft, zum Schluss immer: unser nächstes Treffen. Wir redeten, anfangs noch stundenlang, wie früher. Es blieben immer Stunden, bis zum Schluss lange Stunden, aber das Reden war kürzer. Ebbte aus, bis wir gemeinsam, friedlich, wie ich dachte, auf der kleinen Bank auf deinem Balkon saßen und dem Nussbaum im Garten still beim Wachsen zusahen. Ich fand es schön, ich war zufrieden.
Mir fiel nichts auf, jetzt denke ich, mir hätte alles auffallen sollen: Die Art, wie du immer langsamer zur Tür schlurftest, die Klinke erst angriffst, dann kurz verharrtest, ehe du sie drücktest. Wie deine Worte, nicht alle, nicht einmal die meisten, aber manche, einige, gedehnter wurden. Leiser, das auch. Wie du die Augen niederschlugst und tief in deine Tasse starrtest. Wie die Farbe immer mehr aus deinen Wangen wich. Und wie lange ich das Leuchten in deinen Augen schon nicht mehr gesehen hatte.
Draußen – so nannte ich das, dann, nachdem ich es wusste, drinnen war bei dir, draußen war die Welt – draußen erschlug mich das Leben. Wo bist du, vibrierte meine Tasche, was machst du gerade, ich denke an dich. Eine Haltestelle später, ein Piepsen aus der Jacke, Sehr geehrte Frau und ich schreibe Ihnen weil, gleichzeitig ein Anruf, dazwischen wieder das Vibrieren: ich koche heute, wann kommst du, willst du, können wir, ich habe gerade, schau das, schau dies, wollen wir nicht, könnten wir, sollten wir.
Ich erzählte dir manchmal davon, vom Draußen, du nicktest stumm und nahmst noch einen Schluck Tee. Stille schlug mir ins Gesicht, das Vibrieren blieb in der Garderobe. Ich erzählte weniger, dann fast gar nichts mehr. Berichtete von anderem: Der Platz wird umgebaut, die Bahn hatte Verspätung, ich konnte heute nicht schlafen, der Sonnenaufgang war schön. Du antwortetest, die Rohre seien verstopft, das Essen war kalt, du schläfst schon lange nicht mehr.
Der Nussbaum begann, seine Blätter abzuwerfen.
Als es drei Kisten wurden, dann vier, fünf, sechs, schleichend immer mehr, sprach ich dich darauf an. Eine auf der Stiege, eine unter der Sitzbank in deiner Küche, eine am Balkon, Mama, was machst du, ziehst du um? Wieder der leere Blick, der Teekocher noch am Pfeifen, nichts, um die Hände zu beschäftigen, nichts, den Blick zu versenken. Ach, du, ich weiß nicht, was du meinst, es ist bloß, also, nichts. Mach dir keine Sorgen, magst du noch ein Keks? Was sind das für Kisten, fragte ich zwei Bissen später, was für Sorgen. Der Tee war fertig, du erzähltest mir vom Backen, ich erfuhr von Kilogramm Mehl und Vanillezucker und Ausstechformen, aber von den Boxen im Vorhaus, den Kisten am Flur erfuhr ich nichts. Kann ich dir helfen, probierte ich es später noch einmal. Du weißt doch, Stöbern, Aufräumen, ich liebe das. Komm, vielleicht finden wir noch was von Papa, zog ich dich vom Küchentisch in den Gang. Ich bückte mich zur nächsten Box, suchte die Öffnung, als du laut wurdest: Nein! Nein, nein, du drehtest dich auf der Stelle um, zurück in die Küche. Die Panik in deiner Stimme hallte in meinen Ohren nach wie eine Warnung: Lass mich. Ich blieb im Gang, setzte mich auf den Boden vor die Kiste. Hob sie, drehte sie in den Händen, schüttelte. Keine Öffnung, kein Geräusch, nur eine Kiste, sonst nichts. Willst du noch einen Schluck Tee, hörte ich dich vom Türrahmen fragen. Ja, nickte ich, gut, und ging zurück zu dir. Nach den Kisten fragte ich nicht mehr.